Nationenbau: Eine Skizze der Entwicklungslinien und Kontinuitäten

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Albert F. Reiterer
Nationen
Die politische Organisation der
Weltgesellschaft
Dimensionen sozialen und politischen
Verhaltens
Soziale Persönlichkeit
Dimensionen
Identität
Interesse
Wertorientierung
(Orientierung in der Welt)
(Materielle) Ansprüche
Nutzung der Welt
Politik
als
Kampf um
Hegemonie
Kampf um
Ressourcen
Nationenbau: Eine Skizze der Entwicklungslinien und Kontinuitäten
Nationenbau als internationaler Prozess.
Das „westfälische System“
Nationenbau findet statt als Prozess des Aufbaus eines politischen
Weltsystems nach Zentrum und Peripherien
Internationales System („Westfälisches System“)
Nationenbildung
Nationales Projekt
nachnationales Verständnis
Nation in der globalisierten Welt
Heutige Versuche der Organisation: UNO und UNO-“Familie“
Wie aber gehen diese selbständigen politischen Einheiten miteinander um? Braucht
es da nicht Regeln, wenn nicht ständig Anarchie und Gewalt pur herrschen soll?
Das internationale System: „Völkerrecht“
Die souveränen Staaten müssen (sollen) sich an gewisse Regeln des zivilisierten Umgangs
miteinander halten, die vom „Naturrecht“ – d. h. vom allgemeinen Verständnis der Zeit von
Gerechtigkeit und Dezenz – vorgegeben sind.
Hugo Grotius 1609: Mare Liberum
Hugo Grotius 1625: De Jure Belli ac Pacis
Samuel von Pufendorf 1672: De jure naturae et gentium
Suche nach Gewissheit in einer säkularisierten Welt von Einzelstaaten, nach Sicherheit in
der Beziehung zwischen partikularen Souveränitäten:
«Vernunft» und «die Übereinstimmung Aller» (oder auch nur «Vieler») enthüllt Naturrecht
und Naturgesetz: Die menschliche Gattung ist eine Einheit, daher gibt es ein allgemeines
Recht.
Europäischer Suprematismus: christliche Offenbarung legt ebenso Regeln fest wie das
„Naturrecht“
Doch was heißt das: „souverän“?
Souveränität
Der Staat wird in der frühen Neuzeit zum autonomen System gegenüber und über der
Gesellschaft:
Ein Regierungssystem mit einer Bürokratie beansprucht
höchste Gewalt über Leben und Tod der Untertanen?
Jean Bodin ehemaliger Mönch, dann Rechtsgelehrter und Bürokrat, 1576:
Les six livres de la Republique (Lateinische Fassung: De Republica libri sex):
Staat („la republique“, respublica) ist „eine richtige Regierung in voller Souveränität über
mehrere Haushalte sowie das, was ihnen gemeinsam ist“. Bodin‘s „Souveränität“ ist eine
Ideologisierung des Herrschers im frühen Absolutismus.
Problemstellung: In der fortschreitenden Entwicklung konstituiert sich die Autonomie des
politischen Systems. Das fördert bürgerlichen Emanzipation und Individualisierung.
Herrschaft muss gerechtfertigt werden (Legitimationsproblematik). Wie? Jean Bodin sagt
einfach: Die Bürger (francs subiects) sind dem Herrscher Gehorsam schuldig.
Warum?
Legitimität - der „Gesellschaftsvertrag“
Thomas Hobbes 1651: Leviathan
Im Naturzustand herrscht Krieg Aller gegen Alle (Bellum Omnium contra Omnes)
Das erfordert zum Überleben des Einzelnen eine Friedensordnung
John Locke 1690, Zwei Abhandlungen über die Regierung
Wenn die Herrscher ihre Verpflichtungen nicht einhalten, gibt es ein Widerstandsrecht
Jean-Jacques Rousseau 1762: Der Gesellschaftsvertrag
erzeugt einen Allgemeinwillen
Der “Naturzustand” ist “jene elende Kriegssituation, die – wie wir sahen – aus den natürlichen
Leidenschaften der Menschen folgt wenn sie nicht von einer sichtbaren Macht in Schrecken
gehalten und durch Angst vor Strafe zur Einhaltung ihrer eigenen Abmachungen und zur
Beobachtung der Gesetze der Natur gezungen werden” (Hobbes 1651, Teil 2, Kap. XVII).
Es gibt kein „Fehderecht“ mehr, der Staat hat ein „Gewaltmonopol“.
Der „Gesellschaftsvertrag“ ist keine Beschreibung eines wirklichen Geschehens, sondern ein
Denkmodell mit normativem Charakter. Er baut auf der Idee des autonomen Individuums auf –
ein gewaltiger Sprung zu allen traditionalen (vormodernen) Auffassungen!
Volkssouveränität:
Wo aber liegen die Grenzen des „Volks“?
Weder Bodin noch die Kontraktualisten beantworten die Frage nach den richtigen Grenzen.
Nach außen werden Grenzen gezogen durch:
das politische Projekt
Sprache
Religion, Weltanschauung
ethnische und nationale Identität
Staatsbürgerschaft
Wirtschaftssystem
„Le desir d‘être ensemble“ (Ernest Renan 1882): die alltägliche Entscheidung (un plebiscite de tous les
jours), zusammen zu bleiben, macht die Nation aus.
Nation wird durch nationale Identität als Trägerin eines politischen Projekts zur
abgegrenzten „Gemeinschaft“
Die radikale Entscheidung auf das Scheitern nationaler Projekte ist „exit“, eine
häufigere wäre „voice“ (Opposition).
Identität: Person und Individuum als
Einheit
René Descartes (1596 – 1650): Cogito, ergo sum Ich denke, also bin ich.
Baruch de Spinoza (1632 – 1677): Hunderten von Definitionen, Festlegungen und Aussagen
geben ein komplexes System der Welt. Doch auch er hängt dieses System am einzig sicheren
Ich an die Wirklichkeit der Welt an.
Erikson 1973:
„Das bewusste Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen
Beobachtungen: Der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in
der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und
Kontinuität erkennen. … So ist Ich-Identität unter diesem subjektiven Aspekt das
Gewahrwerden der Tatsache, dass in den synthetisierenden Methoden des Ichs eine
Gleichheit und Kontinuierlichkeit herrscht“ (18).
„Menschen, die derselben Volksgruppe angehören, in derselben geschichtlichen Zeit leben
oder auf dieselbe Art ihr Brot verdienen, werden auch gemeinsamen Vorstellungen von gut
und böse geleitet. … Aus der Wahrnehmung, dass seine individuelle Weise, Erfahrungen zu
verarbeiten (seine Ich-Synthese), eine erfolgreiche Variante einer Gruppenidentität ist und
im Einklang mit der Raum-Zeit und dem Lebensplan der Gruppe steht, muss das
heranwachsende Kind ein belebendes Realitätsgefühl ableiten können.“ (16 f.)
Gemeinschaft(lichkeit) versus Gesellschaft(lichkeit)
DO ut DES
o
o
o
o
o
o
Face-to-face-Gruppe
Mikrogruppe
Abstrakte Großgruppe
Soziale-systemische
Regulierung
Ethnizität: Zugehörigkeit und ihre Mystik
Zur Definition von Ethnizität
genus proximum
differentia specifica
Benennung
Soziale Identität als
objektiver Sinnzusammenhang
“mechanische Solidarität” als
austauschbare Perspektive
Funktion
Integration
Abgrenzung
 1. Schar, Haufe; 2. Geschlecht, Volk, Volksstamm, Menschenklasse; NT [= im Neuen
Testament]   Heiden„ (Gemoll – Griechisches Wörterbuch 1959)
Moderne Ethnizität ist eine weitgehend abstrakte soziale, oder kollektive, in aller Regel durch
Zuschreibung erworbene – in diesem Sinn „angeborene“– Identität.die sich auf größere
soziale und / oder politische Einheiten bezieht; die Zugehörigkeit zu ihnen grenzt sie meist an
bestimmten, aber beliebigen Merkmalen ab, wobei zu den Außenstehenden ein deutlicher
sozial-mentaler Abstand gehalten wird. – Ethnizität ist eine Sinnwelt, über die ein Mensch
seine Stellung in seiner Gesellschaft und deren Situation wahrnimmt.
Nationale Identität als Trägerin des Politisches
Projekt Nation
Aus einem Kampflied königstreuer preußischer Truppen 1848:
“Das waren Preußen, schwarz und weiß die Farben …
Da schnitt ein Ruf ins treue Herz hinein;
’Ihr sollt nicht Preußen mehr, sollt Deutsche sein.’
…Heil uns, sie wollen nicht mehr Preußen sein.
Schwarz, Roth und Gold glüht nun im Sonnenlichte,
der schwarze Adler sinkt herab entweiht …
so treu wird keiner wie die Preußen sein.“
In der Berliner Revolution von 1848 standen sich Progressive und KonservativReaktionäre gegenüber. Sie suchten jeweils nach anderen politischen Identitäten.
Die Reaktionäre in Berlin, der Hauptstadt Preußens, nannten sich „Preußen“. Die
Progressiven sprachen von sich als „Deutsche“. Die nationalen Identitäten
symbolisierten also verschiedene politische Programme.
Nationalismus
Struktur
Ideologie
Nation
Nationalismus
„Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“
Marx: Kritik der Hegel‘schen Rechtsphilosophie, 1843
Die Ausgeschlossenen von der Nation:
Die Frauen
Olympe de Gouges stellte der Männerrechtserklärung schon 1791 eine Erklärung der
Frauen- und Bürgerinnenrechte (Déclaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne)
gegenüber. Überall, wo in der Menschenrechtserklärung "hommes" steht, setzt
Olympe de Gouges "femme" oder "femmes et hommes" ein, je nach Kontext: "La femme
naît libre et demeure égale à l'homme en droits.“
1792 Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Woman
In ihrer intellektuell anspruchsvolle Abhandlung fordertdie britische Autorin
Gleichberechtigung ein.
Das Wahlrecht für Frauen kam überall sehr spät:
Neuseeland 1893
Finnland 1906 (der Reichstag hatte aber keinerlei Bedeutung)
Sowjet-Russland 1917
Österreich 1918
Deutsches Reich 1918
Großbritannien in Etappen zwischen 1918 und 1956
Schweiz (auf Bundesebene) 1971
Die Ausgeschlossenen von der Nation:
Die Unterschichten
Dienstboten und Unselbständige überhaupt sind politisch rechtlos, weil sie ja nicht
„unabhängig“ seien und daher keinen eigenen Willen hätten.
Der Habsburgerstaat als Beispiel für politische Mitsprache und ihre Entwicklung:
1873: Das direkte Wahlrecht für den Reichsrat wird eingeführt, doch es gilt ein 10-GuldenZensus: Nur Menschen mit einer Steuerleistung von mindestens 10 Gulden dürfen wählen
1882: Auch „Fünf-Gulden-Männer“ dürfen wählen
Wahlgesetz Cisleithaniens vom 14. Juli 1896 (RGBl 168):
Der Zensus wird auf 4 Gulden Steuerleistung pro Jahr herab gesetzt, eine „allgemeine
Kurie“, wo alle Männer über 21 Jahre Wahlrecht hatten, wird eingeführt. Die Zahl der
Wähler verdreifacht sich. Bei der Wahl 1901 bedurfte es für 1 Mandate an Stimmen:
In der Handels- und Gewerbekammer
26 Wähler
Großgrundbesitzer
64 Wähler
Städtische Kurie
4.193 Wähler
Landgemeinden
12.290 Wähler
Allgemeine Kurie
69.503 Wähler
1845 Benjamin Disraeli schreibt den Roman: „Sybil or: The Two Nations“
Die Sprache und die Sprachen
Intellektuelle beginnen früh die Volkssprache zu nützen und zu reflektieren
Dante Aleghieri: De vulgari eloquentia, um 1305
Joachim du Bellay : La défense et illustration de la langue française, 1549:
Auch die Volkssprachen sind für Kultur und Literatur geeignet und « schön ».
Die sprachliche Standardisierung, meist als Übersetzung heiliger Texte, war seit je
das effizienteste Mittel der Sprachplanung.
Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen der frühen Neuzeit (zumindest das
„Neue Testament“)
1382 (88) Englisch: John Wycliffe und Schüler
1522 (NT) bzw. 1534 (AT) Deutsch: Martin Luther
1530 Französisch: Jacques Lefèbre d’Etaples
1548 Finnisch: Mikael Agricola
Um 1585 Slowenisch: Jurij Dalmatin
Volkssprache – Nationalsprache
J. G. Herder, Über den Ursprung der Sprache 1772: Es ist die ausgebildete Sprache, welche
den Menschen vom Tier unterscheidet. Doch:
Sprache gibt es in der Mehrzahl, es gibt Sprachen!
Herder ist Universalist: „In so verschiedenen Formen das Menschengeschlecht auf der Erde
erscheint, so ist's doch überall ein und dieselbe Menschengattung .“
(Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1780 – 1790)
Der Marquis de Condorcet (1743 – 1794), Aktivist der Französischen Revolution, wollte
dagegen eine Universalsprache aufbauen.
Sprache ist „quintessential symbol“ (J. Fishman) für die Nation und ihre Einheit. Die Nation
wird im 19. Und 20. Jahrhundert fast überall (Ausnahme: Schweiz) zur Sprachnation.
Junge Nationen glauben daher bis heute, sie müssten unbedingt eine eigene Sprache haben :
Aus dem Serbokroatischen wurde so im letzten Jahrzehnt: das „Serbische“; das Kroatische“;
das „Bosnische“, vielleicht bald das „Montenegrinische“
Bulgarisch unterscheidet sich politisch von Makedonisch; Rumänisch von Moldawisch
Es gab Sprachwiederbelebungen: symbolisch in Irland (Gälisch), erfolgreich in Israel (Iwrid).
Kleine und große Vaterländern
Intellektuelle wollen riesige Nationen
haben, nicht lokale Gesellschaften
Ernst Moritz Arndt
Was ist des Deutschen Vaterland?
(1813, von 1841 stammt ein Zusatz)
Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist´s Preussenland ? ist´s Schwabenland?
Ist´s, wo am Rhein die Rebe blüht?
Ist´s, wo am Belt die Möwe zieht?
O nein, nein, nein!
Sein Vaterland muß größer seyn.
Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist´s Baierland ? ist´s Steierland?
Ist´s, wo des Marsen Rind sich streckt?
ist´s, wo der Märker Eisen reckt?
O nein, nein, nein!
Sein Vaterland muß größer seyn.
Was ist das Deutsche Vaterland?
So nenne endlich mir das Land!
So weit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt,
Das soll es seyn!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein.
Das ist das Deutsche Vaterland,
Wo Eide schwört der Druck der Hand,
Wo Treue hell vom Auge blitzt
Und Liebe warm im Herzen sitzt,
Das soll es seyn !
Das, wackrer Deutscher, nenne dein.
Das ist das Deutsche Vaterland,
Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand,
Wo jeder Franzmann heißet Feind,
Wo jeder Deutsche heißet Freund,
Das soll es seyn !
Das ganze Deutschland soll es seyn!
Chauvinismus: „Auserwählung“ – Außenfeind
„Somit ist unsre nächste Aufgabe, den unterscheidenden Grundzug des Deutschen vor den
andern Völkern germanischer Abkunft zu finden, gelöst. Die Verschiedenheit ist sogleich bei
der ersten Trennung des gemeinschaftlichen Stamms entstanden, und besteht darin, daß der
Deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die
übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber
todte Sprache.“
„Naturgemäßheit von deutscher Seite, Willkürlichkeit und Künstelei von der Seite des
Auslandes sind die Grundunterschiede. ... Alle die Uebel, an denen wir jetzt zu Grunde
gegangen, [sind] ausländischen Ursprungs .“
Der „ertödtende Geist des Auslands“, die ständige „Ausländerei“ ist die Wurzel allen Übels.
Johann Gottlieb Fichte 1808: Reden an die Deutsche Nation
Integraler Nationalismus existierte jedoch in allen europäischen Nationen:
Frankreich: Maurice Barrès (1862 – 1923) und Charles Maurras (1868 – 1952)
Italien: Giovanni Pascoli (1855 – 1912) und Enrico Corradini (1865 – 1931)
Griechenland: Ion Dragoumis (1878 – 1920) und Athanasios Souliotis-Nikolaides (*1878)
Norwegen: Knut Hamsun (1859 – 1952); Usw.
Nationale Homogenisierung –
ethnische Säuberung
... und nach der ethnischen Säuberung durch die
türkischen Truppen 1974
Zyprern vorr...
Nationenbau: ein Zentralisierungsprozess
Nationenbau ist auch ein Zentralisierungsprozess bisher unverbundener lokaler und
regionaler Kleingesellschaften, in politischer wie in sozialer Hinsicht.
"Eine ungeheure Zentralgewalt [hat] in ihre Einheit alle Bestandteile von Einfluss und
Autorität an sich gezogen und verschlungen... Nicht nur die Provinzen gleichen einander
mehr und mehr, sondern es werden auch in jeder Provinz die Menschen der verschiedenen
Klassen, zumindest alle diejenigen, die außerhalb der Masse des Volkes stehen, trotz aller
Standesunterschiede einander immer ähnlicher... Durch die noch vorhandenen
Verschiedenheiten schimmert die Einheit der Nation hindurch; die Gleichförmigkeit der
Gesetzgebung lässt dies erkennen" (Tocqueville 1978 [1861], 25 und 87).
"Es leuchtet ein, dass die Zentralisierung der Regierung eine gewaltige Macht erhält, wenn sie
sich mit der Verwaltungszentralisierung verbindet. Solcherweise gewöhnt sie die Menschen
daran, von ihrem Willen vollkommen und beständig abzusehen; nicht nur einmal und in einem
Punkt, sondern durchwegs und täglich zu gehorchen... Sie gibt sie der Vereinzelung preis und
bemächtigt sich daraufhin jedes Einzelnen in der allgemeinen Masse. Diese beiden Arten der
Zentralisierung [der Regierung und der Verwaltung] stützen sich wechselseitig, sie ziehen sich
gegenseitig an; aber ich kann nicht glauben, daß sie untrennbar sind." (Tocqueville 1978
[1861], 98 f.)
„Postnation“: Ziel oder Illusion?
„Tod der Nation“?
Die liberale Schule will zuerst Assimilation der „Unterentwickelten“ (J. St. Mill), dann eine
universelle Gesellschaft, denn sie ist gegen „Partikularismus“.
Der Marxismus stellt die Klassenidentität über die nationale Identität.
Die neuere politische Theorie schließlich konstatiert ein Kongruenzproblem:
Die Reichweite des nationalen Staats fällt nicht mehr mit der Regelungsnotwendigkeit für soziale
und politische Probleme zusammen – es bedarf daher supranationaler Institutionen (Zürn).
Problem: Kann ein Staat, auch ein supranationaler, für seine Legitimität, Kohäsion und seine
Umverteilungsprozesse auf den gemeinschaftlichen Aspekt verzichten?
Politische Identitäten sind auch in Westeuropa (EU) – noch? – vorrangig national bestimmt:
Nationale und europäische Identität: EU-15, 2003 (Eurobarometer)
In der Nahen Zukunft, sehen Sie sich da ... (in %)
Gesamt
... nur als (Nationalität)
40
... als (Nationalität) und als Europäer/in
45
... als Europäer/in und als (Nationalität)
8
... nur als Europäer/in
4
weiß nicht
3
Zusammen
100
Eine vornationale Struktur: Das Osmanische
Reich
Hintergrund des Prozesses war der Abstieg des Osmanischen Reichs. Das Osmanische Reich war
keine Nation. Aber es kannte ethnisch-religiöse Strukturen mit Selbstverwaltung (milet). Der
miletbaşi / Ethnarch der Orthodoxen Christen war der Patriarch von Konstantinopel / Istambul.
Polen: gescheiterter Staatsaufbau –
später Nationenbau
Ein mittelalterliches „Reich“ von Mieszko (10. Jh.) bis zu Ladislaus Wasa (17. Jh.)
Die „Goldene Freiheit“ des 17. Und 18. Jahrhundert ist Adelsanarchie und führt zu den
Teilungen 1772, 1793 und 1795 zwischen Russland, Preußen und Habsburg.
Im 19. Jahrhundert entsteht eine polnische Nation im Protest gegen Russland und Preußen in
einer kleinen Gruppe von Intellektuellen: „Until the very end of the [19th] century, the
‘Polish question’ concerned only a minority of those we might categorize as Polish, with few
peasants demonstrating any interest in independence “ (Porter, zit. in: Auer 2004).
Die erste polnische Republik (von polnischen Historikern als „zweite Republik“ bezeichnet)
von 1918 bis 1938 scheiterte in der pseudofaschistischen Militärdiktatur des Jozef Piłsudski,
lang bevor die Nazis das Land überfielen und in Besitz nahmen.
Die zweite polnische Republik (1952: Volksrepublik Polen) begann ihre Existenz 1945 in
Abhängigkeit von den Sowjets, die jedoch im Land keine große Unterstützung hatten – eine
Existenz in Abhängigkeit.
Die dritte polnische Republik begab sich selbst in Abhängigkeit, und zwar in eine potentiell
konfliktreiche, nämlich einerseits der USA (in der NATO) und andererseits der EU.
Zentrum und Peripherie: Das neue
Weltsystem
Westeuropa
Mittel-, Nordeuropa; europäisierte Außenposten
Osteuropa
Lateinamerika
Arabische Welt
China
Indien
Afrika
„Zeitzonen“ ist ein metaphorischer Ausdruck Ernest Gellners, welcher die langsame
Verbreitung des politischen Modells Nation und ihren Ausbau sinnfällig machen soll
Großbritannien: Die erste bürgerliche Nation
Das feudale England verleibt sich
schon im 12./13. Jh. Wales ein,
erobert dann Irland und vereinnahmt schließlich, endgültig
1706, Schottland. So entsteht im
18. Jahrhundert, eine
anglobritische Nation aus einer
Koalition von aristokratischem
Landbesitz sowie der Handelsund Industriebourgeoisie.
Im 19. Jh. wird England Zentrum des Weltsystems.
Das 20. Jahrhundert bringt den schnellen Abstieg der parassitären Macht.
In der Gegenwart existiert die britische Nation aus der historischen Erinnerung sowie als
europäischer Lakai der USA.
Der deutsche Sprachraum: Ein Gegenprojekt zur
Moderne verkleidet sich als Nation
Modernisierung im revolutionären Frankreich
Reaktion in Preußen und im Habsburgerreich: Koalitionskriege („Freiheitskriege“) 1792 bis
1814
Die siegreiche Heilige Allianz gestaltet Europa bis 1848
Zwei konkurrierende Projekte in Mitteleuropa:
„Deutsche Republik“
Preußen-Deutschland
1848 / 1849 Die „Deutsche Republik“ steht auf und geht unter
1866 – 1871 Preußen-Deutschland wird kontinentaler Hegemon
1914 – 1918 Preußen-Deutschland will die Weltherrschaft und bricht zusammen. Doch die
alten Eliten bleiben weiter dominant: „Das Reich zerfiel, die Reichen blieben.“
1933 – 1945 Nazi-Deutschland stilisiert sich zur Fundamentalalternative zur sozialen Moderne
1945 – 1991 Wieder konkurrieren zwei Paradigmen: Die BRD geht siegreich aus der SystemKonkurrenz hervor und wird so zur Deutschen Nation. Die Alternative DDR scheitert und
verschwindet weitgehend diskreditiert.
Gegenwart: Die Berliner Republik wird (wieder) zum Nationalstaat mit einem
„Mittelmachtkomplex“.
Frankreich: Nation als Folge von
politischen Projekten
1789 – 1795 „Franzose“ ist jeder (Maskulinum!), der die Revolution als politischen Entwurf
mitträgt, er mag kommen, woher er will, zumindest, solange er weiß ist.
Doch: Der loyale Franzose spricht Pariser Französisch, nicht etwa Bretonisch u. dgl.
1799 – 1812 Die Grande Nation lebt mit Napoleon aus ihrem (militärischen) Erfolg
Ende des 19. Jahrhunderts sind zwei Nations-Konzepte im Widerstreit:
Ernest Renan 1882: „La nation est une plebiscite de tous les jours“
Maurice Barrès: „Le culte de moi“+“l‘âme de la terre“+ Autoritarismus
Es ist eindeutig Barrès, der die Oberhand behält und den Ton angibt
1914, 1938, 1944 „Vive la France!“
Doch dazwischen liegt 1941 – 1944: Marschall Petain und sein Vichy
1945 – 1958 Ein gewöhnliches Frankreich verliert den Großmachtstatus
1958 – 1979 De Gaulles Frankreich entsteht aus einem Staatsstreich und formiert sich zum
legalen autoritären Nationsprojekt, das mit Gesten der Eigenständigkeit erneut die Grande
Nation fingiert.
1980 ff.: Frankreich „normalisiert“ sich
Gegenwart: Die Franzosen zwischen Nation und Postnation
Die USA: Nation als Gegenentwurf zu Europa –
der Vertragsstaat
“When in the Course of human events, it
becomes necessary for one people to dissolve
the political bands which have connected them
with another, and to assume among the powers
of the earth, the separate and equal station to
which the Laws of Nature and of Nature's God
entitle them, a decent respect to the opinions
of mankind requires that they should declare
the causes which impel them to the separation.
....
These United Colonies are, and of Right ought
to be Free and Independent States; they are
absolved from all Allegiance to the British
Crown, and all political connection between
them and the State of Great Britain, is and
ought to be totally dissolved; ...“
Nationale und ethnische Minderheiten –
Was heißt „nationale Homogenität“?
Macht
Ohnmacht
Mehrzahl
MEHRHEIT
UNTERWORFENE
Minderzahl
ELITE
MINDERHEIT
Auch Mehrheitsentscheidung bedeutet Herrschaft und muss folglich legitimiert
sein. Die Existenz von Minderheiten stellt demokratische Legitimität in Frage.
„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen
Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese
Chance beruht. ... Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl
bestimmten Inhaltes bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“
(Weber 1976, 28).
Nordeuropa zwischen erster und dritter
„Zeitzone“: Schweden – Dänemark;
Norwegen – Finnland
Schweden-Dänemark: ein frühneuzeitliches Großreich, die Kalmarer Union (1397 – 1523),
wandelt sich – zwei Nationen enstehen
1523 wird Schweden unabhängig und entwickelt sich im 17. Jahrhundert zur Großmacht
Im Dauerkrieg gegen Russland steigt es wider zum nun friedlichen Kleinsaat ab.
1809 – 1815
Finnland, nämlich die “schwedischen Ostgebiete” wird zaristisches Großherzogtum und
entwickelt im 19. Jahrhundert eine eigene, schließlich finnische Identität
Dänemark verliert 1814 Norwegen an die schwedische Krone und wird zum Kleinstaat
Norwegen wird zuerst zur schwedischen Peripherie und entwickelt dabei eine eigene
nationale Identität. 1905 wird das Land mit britischem Wohlwollen unabhängig.
Schweden konzentriert sich im 19. Jahrhundert langsam auf sich selbst, entdeckt dabei die
Vorteile des vergleichsweise Kleinen (im regionalen Zusammenhangjedoch Hegemons)
und steigt dabei zum sozialen und wirtschaftlichen Musterland Europas auf.
Dänemark, Finnland und Schweden ordnen sich der EG / EU unter. Norwegens
Bevölkerung wählt gegen den Willen der eigenen politischen Klasse die Selbständigkeit
und bezahlt dafür allerdings einen erheblichen Preis in Form von der EU erzwungenen
Transfers.
Die „Dritte Zeitzone“ – Lateinamerika;
der Balkan
Der Balkan war die erste Großregion in Europa, in der „kleine Nationen“ nach nationaler
Selbstbestimmung suchten und Staaten gründeten. Etwas vorher ging ein ähnlicher Prozess in
Lateinamerika vor sich.
„Balkanisierung“ wurde zum Schimpfwort, vergleichbar dem heutigen englischen
„tribalism“. Die Großmächte und ihre Ideologen können und konnten in der nationalen
Selbstbestimmung kleiner Nationen nur Rückschritt erkennen.
Todorovna: „Die Erfindung des Balkan“ war ein Akt der Abwertung nichtwestlicher
Nationen.
Lateinamerika löste sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts, unterstützt von britischen
Handelsinteressen, von Spanien und Portugal. Die Idee einer einzigen „kolumbianischen“
Nation scheiterte schnell.
Simón Bolívar, 24. Juli 1783 Caracas – 17. Dez. 1830 Santa Marta (Kolumbien): El
Libertador wollte die Einheit des ehemaligen Spanisch-Südamerika erhalten. Noch vor
seinem Tod zerfiel Großkolumbien, das ohnehin nur aus Peru und Venezuela bestand.
Die erste „kleine Nation“ des Balkans:
Griechenland – Westeuropa erfindet eine Nation
1814 In Athen und Odessa werden Geheimbünde (Filiki Etiria) gegründet und organisieren Aufstände gegen die
Osmanen. Sie hoffen auf russische und britische Unterstützung.
1822 Der Nationalkongress in Epidauros proklamiert die griechische Unabhängigkeit. Philhellenen im Ausland
feiern diese Proklamation. Insbesondere Lord Byron wird dabei zur Symbolgestalt.
1826 wird die vernichtende griechische Niederlage bei Misolunghi zum entscheidenden politischen Sieg für die
Aufständischen. Die westeuropäischen Mächte Frankreich und Großbritannien greifen gegen die Massaker ein.
1827 Sie schlagen die ägyptisch-türkische Flotte bei Navarino vernichtend.
1830 Der unabhängige griechische Staat wird auf der Londoner Konferenz anerkannt.
1832 Otto I., Sohn König Ludwig I. von Bayern, wird zum König von Griechenland gemacht
14. Jänner 1844: Rede des Ioannis Kolettis in der Nationalversammlung: „Megali idhea“: Die Grundidee eines
expansiven griechischen Nationalismus will Istambul wieder als Hauptstadt. Der griechische „Universalismus“ ist
ein besonders weit gedehnter Herrschaftsanspruch. Die griechische Verfassung wird verabschiedet.
Bis zum Ersten Weltkrieg dehnt Hellas sein Gebiet ständig aus. „Greece emerged from the Ottoman empire not as a
Western nation with a long history but as a commercial class and a provincial peasantry in a Middle Eastern scheme
of society“ (A. Toynbee, zit. in Spiliotis 1998, 67). - Ständige Aggressionen gegen die Pforte
1912 Im 1. Balkankrieg gewinnt das Bündnis Serbien, Bulgarien, Griechenland, Montenegro gegen die Pforte.
Diese soll im Londoner Frieden 1913 alle ägäischen Inseln abgeben.
1924 Nach einer vernichtenden Niederlage griechischer Truppen in Kleinasien wird der Vertrag von Lausanne
geschlossen und ein „Bevölkerungsaustausch“, d. h. gegenseitige Vertreibung von Griechen und Türken vereinbart.
1936 General Metaxas bildet durch einem Staatsstreich eine faschistische Regierung („Regme des 1. August“).
1941 Das Deutsche Reich erobert Griechenland. Georg II. flieht nach London und gründet eine Exilregierung.
1967 Die Armee putscht. General Papadopoulos wird Ministerpräsident. Die Obristenjunta bricht 1974 zusammen
1981 Griechenland wird Mitglied der Europäischen Gemeinschaft
Serbien, Bulgarien:
„Historische“ Ethnonationen gegen die „Türken“
1804 Befreiungskrieg der Serben des Georg Petrovič, genannt Karadjordje, gegen die
Türken
1817 Serbien unter Miloš Obrenovič autonom, d. h. quasi-selbständig
1878 Serbien wird vom Berliner Kongress als unabhängig anerkannt .
1914 – 1918 Als Sieger im Ersten Weltkrieg kann Serbien die Kroaten und die Slowenen
vom Sinn eines gemeinsamen Staats überzeugen: Jugoslawien entsteht.
1876 Der Aprilaufstand der Bulgaren wird von den Osmanen blutig nieder geschlagen
1878 Berliner Kongress: Ein Teil Bulgariens ist unabhängig, der andere untersteht
völkerrechtlich weiterhin dem Sultan, wird aber 1885 von Zar Alexander II. an Bulgarien
angeschlossen.
1912 – 1913 Bulgarien besiegt in einer Koalition mit Griechenland, Serbien und Montenegro
die Osmanen (Erster Balkankrieg). Bei der Aufteilung der Beute kommt es zum Streit. Im
Zweiten Balkankrieg wird Bulgarien von seinen bisherigen Verbündeten geschlagen.
1914 – 1918 Bulgarien schließt sich den Mittelmächten (Deutsches Reich, Habsburgerstaat)
und gehört zu den Verlieren. Im Vertrag von Neuilly verliert es Gebiete und muss hohe
Reparationen auf sich nehmen.
Rumänien und die Erfindung einer langen
Tradition in Abhängigkeit
1861 Einigung der „Donaufürstentümer“ Moldau (Hauptstadt Iaşi) und Walachei (Hauptstadt
Bukureşti) unter Alexandru Ioan Cuza
1878 Auf dem Berliner Kongress unter Auflagen – Bürgerrechte auch für Juden – unabhängig.
1881 Karl von Hohenzollern erklärt sich zum König
1914 – 1918 Im Ersten Weltkrieg erleiden rumänische Truppen zwar eine schwere Niederlage.
Doch sie stehen auf Seite der Sieger. 1918/19 können sie also ihr Ziel Großrumänien (mit dem
Anschluss von Siebenbürgen, der Bukowina und der Moldau) durchsetzen.
„Jene Deutung, wonach alle soziale Unruhe im Europa der Zwischenkriegszeit vom Versailler
Vertrag ausgegangen sei, geht für Rumänien fehl“ (Heinen 1986, 40)
Vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt das Land mit der „Legion Erzengel Michael“ bzw. der
„Eisernen Garde“ seinen eigenen Faschismus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt das Land unter sowjetischen Einfluss. In einem zähen
Bemühen kann es sich wesentlich mehr Handlungsfreiheit erringen als die anderen
Sowjetsatteliten.
1989 Als einziges Land der sowjetischen Einflusszone erlebt Rumänien eine Art Revolution.
Der Staats- und Parteichef wird in einem Kurzprozess zum Tode verurteilt und, mit seiner
Frau zusammen, erschossen.
Der Berliner Kongress:
Das europäische Konzert der Großmächte
Das internationale System Europas war auch im 19. Jahrhundert zwischenstaatlich stark
reguliert:
Der Berliner Kongress war eine Konferenz zwischen Vertretern des Deutschen Reiches,
Russlands, Österreich-Ungarns, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und des
Osmanischen Reiches vom 13. Juni bis 13. Juli 1878 in Berlin. Der habsburgische
Außenminister Gyula Andrássy ergriff nach den Wirren am Balkan die Initiative und lud die
europäischen Großmächte zu einer Konferenz. Den Vorsitz führte der deutsche
Reichskanzlers Otto von Bismarck.
Der Kongress ersetzte die in San Stefano festgesetzten Beschlüsse durch die Berliner
Kongressakte. Bismarck gelang es als „ehrlichem Makler”, von Russland Zugeständnisse
zu erhalten (Berliner Frieden vom 13. Juli 1878). Serbien, Rumänien und Montenegro
erlangten ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich. Das Gebiet, das ihnen im Vertrag
von San Stefano zugesichert worden war, wurde jedoch erheblich verkleinert. Bulgarien
wurde in ein autonomes Fürstentum im Norden und eine osmanische Provinz geteilt. Neben
den armenischen Gebieten Batum und Kars erhielt Russland das rumänische Bessarabien
(Moldau). Als Ausgleich wurde Rumänien das türkische Territorium des südlichen
Dobrudscha zugesprochen. Die beiden osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina
wurden Österreich-Ungarn, Zypern der britischer Verwaltung unterstellt.
Der Erste Weltkrieg:
Imperialismus als Nationalismus
Der Erste Weltkrieg ist nicht aus „nationalen Konflikten“ entstanden, wie häufig behauptet
wird. Er entstand aus der Konkurrenz zweier Gruppen von Mächte um Märkte und Herrschaft.
„Co-existent empires following each its imperial career of territorial and industrial
aggrandisement are natural necessary enemies“ (J. A. Hobson, Imperialism, 1902)
„Der Kapitalismus ist zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller
Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll
‚fortgeschrittener‘ Länder geworden, ... Die die ganze Welt in ihren Krieg um die Teilung
ihrer Beute mit hineinreißen“ (Lenin, Imperialismus 1916/17 [Werke 22, 195])
„Die Ideologie des Imperialismus .... blickt auf das Gemenge der Völker und erblickt über
ihnen allen die eigene Nation ... Die nationale Idee [ist] als Triebkraft in den Dienst der Politik
gestellt“ (Rudolf Hilferding, Finanzkapital, 1910, 458 f.).
Europa in der Zwischenkriegszeit:
„Kleine Nationen“ werden selbständig
Die übernationalen Gebilde werden durch ihre Niederlage im Weltkrieg zerschlagen:
Habsburgerstaat, Zarenreich, Osmanisches Reich.
Es entsteht eine größere Anzahl von Kleinstaaten, welche „nationale Homogenität“W
anstreben und dazu zugespitzt nationalistische Politik betreiben:
Finnland, die Baltischen Staaten, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, ... (in
Westeuropa übrigens auch Irland.
Im Lauf von ökonomischen Krisen übernehmen in den meisten dieser Staaten
(Ausnahme: Tschechoslowakei, Finnland) durch Staatsstreiche und ähnliche Mittel
faschistische Parteien und Diktatoren die Macht.
Der Völkerbund (League of Nations) löste das „Europäische Konzert“ ab und sollte
eine weltweite Friedensordnung garantieren. Er war zwar vom US-Präsident Wilson
initiiert worden, doch aus kleinlichen innenpolitischen Motiven verhinderte der
Kongress schließlich den Beitritt der USA. Als eine Reihe von Staaten faschistisch
wurden und Angriffskriege zu führen begannen, traten sie aus dem Völkerbund aus
(Italien, Japan, Deutsches Reich).
Eine „vierte Zeitzone“: Die Dritte Welt
„16. bis 18. Jh.: Europäische Mächte suchen nach Schätzen im Rest der Welt und
finanzieren ihren so Luxusbedarf
die Entwicklung von Unterentwicklung beginnt
und führt zur Aufteilung der Welt:
Vertrag von Tordesillas 1494 (Spanien und Portugal lassen sich vom Papst die Welt teilen)
Usw.
19. Jh., zweite Hälfte: Imperialismen teilen sich die Welt neu auf
Widerstand
Kleine Elitengruppen führen in der arabischen Welt, Indien, China und schließlich auch im
subsaharischen Afrika einen von der europäischen Politik abgeleiteten Diskurs:
Modernisierung, Nationenbau und Nationalismus, Entwicklung heißt das Thema.
„Nationale Befreiungsfronten“ vom Indischen Nationalkongress über die algerische FLN
(Front de Liberation Nationale) bis zur vietnamesischen FLN setzen auf
europäische Modelle und indigenes Engagement
.
Die Türkei: Kemalismus als Nationenbau von
oben
Nationalismus als „abgeleiteter Diskurs“
Mustafa Kemal „Atatürk“ (1881 – 1938), General,
nationalistischer Führer, führte den Widerstand
gegen den Vertrag von Sévres, erster Präsident der
Republik Türkei (1923 – 1938). Den Namen
Atatürk („Vater der Türken”) nahm er 1934 an.
Die sechs Prinzipien des Kemalismus:
Nationalismus
Laizismus: Der Islam darf keine politische Rolle mehr spielen
Republikanismus
Populismus: Mobilisierung der Massen,
Revolutionismus: gewaltsame wie gewaltfreie gesellschaftliche Umgestaltung
Etatismus: Der Staat gibt ein politisches Entwicklungsprogramm vor und setzt es durch
„Arabische Nation“?
Karte: arabophone Welt
China: „Kulturkreis“ oder Nation?
Karte: China mit Provinzgrenzen
Indien: Religiöser oder nationaler
Kommunalismus?
Karte: Südasien
Die Erfindung neuer Nationen und alter
Traditionen: Ghana, Mali, Zimbabwe
Die Sowjetunion bis 1989:
Ein a-nationaler Ansatz
Sowjetunion (UdSSR)
15 Unionsrepubliken: RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik)
Ukraine, Weißrussland, Estland, Lettland, Litauen, Moldau; Kasachstan, Turmenien, Usbekistan,
Kirgisien, Tadjikistan; Armenien, Georgien, Aserbaidjan.
Darin inkorporiert, der Großteil in der FSFSR:
20 Autonome Sozialistische Republiken (16 davon in der RSFSR, eine in Usbekistan, 2 in Georgien
und eine in Aserbaidjan); weiters
8 Autonome Gebiete und
10 Autonomen Bezirken.
Art. 72 der (Breschniewistischen) Verfassung von 1977 stipuliert ein Sezessionsrecht:
„Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht auf freien Austritt aus der UdSSR gewahrt.“
Dieses theoretische Recht erscheint bereits in der Verfassung von 1924, mit welcher die
Sowjetunion als föderale Struktur begründet wurde, und auch in der Stalin‘schen Verfassung
von 1936.
Jugoslawien 1945 – 1990:
Kompromiss zwischen a-nationalem
Programm und nationalen Ambitionen
Europa nach 1945: Spaltung und globale Lager
drängen nationale Politik in den Hintergrund
4. – 11. Februar 1945 „Yalta“: Die Sieger des Weltkriegs teilen Europa und tendenziell
die Welt in Einflusssphären auf – nationale Konkurrenz wird zur Störung des
Weltsystems
Die meisten der Staaten aus der Zwischenkriegszeit (Ausnahme: Die Baltischen Länder)
entstehen wieder.
Doch sie sind nunmehr in die „Systemkonkurrenz“ eingebunden. Ihre Politik wird
bestimmt von den globalen Hegemonialmächten, der „Supermächten“.
Das System der UNO mit der zentralen Institution Vereinte Nationen und vielen
Fachorganisationen, die organisatorisch selbständig sind (UNESCO, UNIDO, FAO, ILO,
...) löst den Völkerbund ab und wird zum Ausdruck des internationalen Systems.
EWG / EG / EU: Regionale Integration –
postnationale Struktur
9. Mai 1950 Schuman-Plan: Die Blaupause für die EGKS und die EWG allgemeiner
1952 EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl – „Montanunion“
25. März 1957 Römer Verträge: Die EWG startet mit 6 Mitgliedern Anfang 1958
1986 Einheitliche Europäische Akte (einheitlicher Binnenmarkt)
1991 Maastrichter Vertrag legt die Einrichtung der „Europäischen Union“ mit 1. Nov.
1993 fest
1998 Vertrag von Nizza
2003 Europäischer „Verfassungsvertrag“ entworfen
Europa nach 1989
„Symbolische Nationalität“:
Die Zukunft der Nationen?
Gans 1985: „Da die strukturellen Funktionen von ethnischen Kulturen und Gruppen an
Bedeutung abnehmen und Identität die hauptsächliche Weise ist, in der man ’ethnisch’ ist,
bekommt Ethnizität eher eine expressive als eine instrumentale Funktion im Leben der
Menschen, wird so mehr und mehr zu einer Freizeit-Aktivität und verliert an Relevanz z. B. für
die Regulierung des Familienlebens oder den Lebensunterhalt. Expressives Verhalten kann
viele Formen annehmen; es beinhaltet meist auch die Nutzung von Symbolen eher als Zeichen
denn als verhaltensleitenden Mythen …“
Wird in analoger Weise die europäische Nation zur Verwaltungseinheit ohne Integrationskraft?
Nationale Identität war in Europa bisher Voraussetzung für Integration, für demokratische
Selbstbestimmung, und für politisch konsensfähige Umverteilung in einer Sicherheits- und
Wohlfahrtsvergemeinschaftung (fast) Aller. Bisher ist keine supranationale Struktur erkennbar,
die dies auch schaffen könnte.
Literatur in Auswahl
Aus der Fülle der Literatur werden hier nur wenige analytische Beiträge
angeführt.
Da Nationalismus eine Intellektuellenbewegung war, sind wesentliche Texte
aus dem 19. und 20. Jahrhundert als Zeugnisse angeführt.
Aus Dokumentationsgründen ist es schließlich nötig, einige in den
Präsentationen erwähnte Werke anzuführen, auch wenn diese nicht als
erstrangig bedeutsam zu betrachten sind.
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