Vortrag zur Europa-Woche Work-Life Balance im europäischen Vergleich Prof. Dr. Birgit Pfau-Effinger Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse Direktorin, Centrum für Globalisierung und Governance Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Universität Hamburg Zentrale Fragen In welchen Formen kombinieren Eltern kleiner Kinder in europäischen Gesellschaften die Erwerbstätigkeit und die Betreuung ihrer Kinder? Welche spezifischen sozialen Risiken sind damit jeweils verbunden? Wie lassen sich die Differenzen im Vergleich europäischer Gesellschaften erklären? Gliederung 1. 2. 3. 4. 5. Gängige Interpretation der Entwicklung und ihre Problematik Ein multi-dimensionaler Ansatz zur Analyse der Organisation von Kinderbetreuung Differenzen in der Organisation der Kinderbetreuung im europäischen Vergleich und soziale Risiken Erklärung der Differenzen in Europa Schluss und Ausblick 1. Gängige Interpretation der Entwicklung und ihre Problematik “Formalisierung” der Kinderbetreuung Kinderbetreuung als Form gesellschaftlicher “Arbeit” Informell: Traditionelle Kinderbetreuung: privat, unbezahlt, versteckt in der Familie, ausgeführt durch die Hausfrau, Grundlage für Marginalisierung von Frauen in Erwerbsarbeit und Gesellschaft, Bewertung als “rückständig” (s.a. Cousins 1998) versus Formell: Moderne Kinderbetreuung: öffentlich, professionelle und bezahlte Erwerbstätigkeit, ermöglicht den Müttern volle Erwerbsbeteiligung und damit Gleichstellung, Bewertung als “progressiv” Problem: dichotome Konstruktion wird der Entwicklung nicht gerecht 1. Gängige Intepretation der Entwicklung und ihre Problematik Work/Life Balance – ein populärwissenschaftliches Alltagskonzept (z.B. European Commission) Probleme: „Life“ meint im allgemeinen eigentlich „Kinderbetreuung“ einseitig am Konzept des voll in den Arbeitsmarkt integrierten Arbeitsbürgers ausgerichtet ignoriert den Charakter familialer Kinderbetreuung als „Arbeit“ (z.B. Daly/Lewis 2001) der Fall der fehlenden „Balance“ nicht näher spezifiziert 1. Gängige theoretische Konzepte und ihre Problematik „De-Familisierung“ (Esping-Andersen 1999; Lister 1997) Probleme: normativ: größtmögliche „De-Familisierung“ der Kinderbetreuung per se als positiv angesehen eindimensional: wird Vielfalt an gängigen Formen der Vereinbarkeit nicht gerecht 2. Ein multi-dimensionaler Ansatz zur Analyse der gesellschaftlichen Organisation der Kinderbetreuung Analyse der Kinderbetreuung im Hinblick auf die relative Autonomie verschiedener Dimensionen gesellschaftlicher Bereich, in dem sie stattfindet Grad der Formalisierung Bezahlung Art der geschlechtlichen Arbeitsteilung In Europa vor allem 5 Formen der Kinderbetreuung relevant Formelle Kinderbetreuung in Organisationen, staatlich organisiert oder zumindest finanziert Informelle, bezahlte Kinderbetreuung als Schwarzarbeit in privaten Haushalten, meist durch Migrantinnen Semi-formelle Kinderbetreuung durch Eltern im Rahmen wohlfahrtsstaatlicher Programme (Mutterschutz, Elternzeitregelungen u.ä., teils bezahlt, sozial abgesichert) Informelle unbezahlte Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie Informelle, unbezahlte Kinderbetreuung durch Eltern außerhalb wohlfahrtsstaatlicher Programme 3. Differenzen in der Organisation der Kinderbetreuung im europäischen Vergleich Daten-Basis Internationales EU-Projekts „Formal and Informal Work in Europe. A Comparative Analysis of their Changing Relationship and their Impact on Social Integration‘ (FIWE) mit Forschungsteams in sechs Ländern: Finnland, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Polen, Spanien (Koordination: B. Pfau-Effinger) Stream 2 „Reconciling Employment and Family“ des Network of Excellence „Reconciling Work and Welfare in European Societies“ (RECWOWE) Internationale Repräsentativbefragungen (ISSP, European Social Survey, European Value Survey, Eurobarometer, OECD) 3. Differenzen in der Organisation der Kinderbetreuung im europäischen Vergleich Drei Typen der (faktischen) Kombination von elterlicher Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung (“Vereinbarkeitsmodelle”) 1: Vollzeitmodell auf der Basis externer Kinderbetreuung 2: Vollzeit-/Teilzeitmodell mit mütterlicher Teilzeitbetreuung 3: Vollzeitmodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie Tabelle: Vereinbarkeitsmodelle in europäischen Ländern Anteil formelle Kinderbetreuung (1) Erwerbstätigkeit von Müttern Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kindern unter 3 Jahre (2) Anteil der teilzeitbeschäftigten Mütter mit einem Kind an allen erwerbstätigen Müttern mit einem Kind (3) Typ 1: Vollzeitmodell mit externer Kinderbetreuung Finnland 42.9 52,1 8,6 Frankreich 67.8 49,2 23,7 Ostdeutschland 71,0 45,1 14,3 Typ 2: Vollzeit-/Teilzeitmodell mit mütterlicher Teilzeitbetreuung Norwegen 45.3 18,0 33,5 Westdeutschland 31,0 21,7 43,2 Großbritannien 23,2 49,2 46,6 Typ 3: Vollzeitmodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie Spanien 17.4 52,6 17,4 Polen 13.5 45,0 (15,1) European Social Survey 2005; Statistisches Bundesamt 2004; OECD 2007 3. Differenzen in der Organisation der Kinderbetreuung im europäischen Vergleich Vereinbarkeitsmodelle in Europa - Typ 1 Typ 1: Vollzeitmodell mit externer Kinderbetreuung Grundlagende Merkmale Erwerbstätigkeit der Eltern Beide Haupt-Formen der Kinderbetreuung Extern Länder Dänemark Finnland Frankreich Ostdeutschland Eltern: relativ kontinuierlich in Vollzeit (hoch) Semi-formell (niedrig-mittel) 3. Differenzen in der Organisation der Kinderbetreuung im europäischen Vergleich Vereinbarkeitsmodelle in Europa - Typ 2 Typ 2: Vollzeit-/Teilzeitmodell mit mütterlicher Teilzeitbetreuung Grundlegende Merkmale Erwerbstätigkeit der Eltern Männer: Haupt-Formen der Kinderbetreuung Extern Länder Westdeutschland Großbritannien Norwegen Vollzeit Frauen: längere Erwerbsunterbrechung und Teilzeit (mittel) Semi-formell durch Mütter (mittel) und Väter (gering, aber Zunahme) Informell durch Mütter/Väter 3. Differenzen in der Organisation der Kinderbetreuung im europäischen Vergleich Vereinbarkeitsmodelle in Europa - Typ 3 Typ 3: Vollzeitmodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie Erwerbstätigkeit der Eltern Grundlegende Merkmale Beide Eltern: Relativ kontinuierlich in Vollzeit (Trend) Haupt-Formen der Kinderbetreuung Erweiterte Familie (mittel-hoch) Schwarzarbeit von Migrantinnen als „ErsatzFamilienmitglieder“ (mittel –hoch) (Zunahme) Länder Spanien Polen 3. Differenzen in der Organisation der Kinderbetreuung im europäischen Vergleich Mögliche soziale Risiken im Kontext der Vereinbarkeitsmodelle Typ des Vereinbarkeitsmodells soziale Risiken Typ 1: Vollzeitmodell mit externer Kinderbetreuung Mangel an professionellem Personal Qualitätsprobleme durch neue Cash-for-care Systeme Typ 2: Vollzeit-/Teilzeitmodell mit mütterlicher Teilzeitbetreuung Typ 3: Vollzeitmodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie Soziale Marginalisierung/Exklusion von Migrantinnen Finanzielle/personelle Abhängigkeit von Frauen in der männlichen Versorgerehe begrenzte Karrierechancen von Müttern/Eltern Altersarmut von Frauen Armut von Alleinerziehenden 4. Erklärung der internationalen Differenzen Zentrale Erklärungsfaktoren: Kulturell: Typ des Vereinbarkeitsmodells maßgeblich geprägt durch das vorherrschende kulturelle Modell der Familie Institutionell: Ausmaß der sozialen Risiken in den Vereinbarkeitsmodellen vor allem abhängig vom Typ des Wohlfahrtsstaates 4. Erklärung der internationalen Differenzen – kulturelle Differenzen Tabelle: Einstellungen der Bevölkerung zum Wohlergehen von Kindern einerseits, zum Wohlergehen von Frauen andererseits Anteil derjenigen, die voll zustimmen ... Ein Vorschulkind leidet, wenn seine Mutter arbeitet Arbeit ist das Beste für die Unabhängigkeit von Frauen Westdeutschland 55,6 77,7 Spanien 52,2 80,4 Frankreich 42,4 80,7 Großbritannien 38,4 55,3 Ostdeutschland 32,7 83,8 Norwegen 31,4 80,2 Dänemark 23,7 62,5 Quelle: ISSP 2002 4. Erklärung der internationalen Differenzen – kulturelle Differenzen Differenzen in den kulturellen Leitbildern zur Familie nach Typ des Vereinbarkeitsmodells Vorherrschendes Vereinbarkeitsmodell Dominierendes kulturelles Leitbild der Familie 1: Vollzeitmodell mit Doppelversorgermodell mit externer externer Kinderbetreuung Kinderbetreuung (Dänemark, Finnland, Ostdeutschland) 2: Vollzeit-/Teilzeitmodell mit mütterlicher Teilzeitbetreuung Männliches Ernährermodell mit Teilzeitbeschäftigung von Frauen Doppelversorgermodell auf der Basis von Teilzeitbeschäftigung (Großbritannien, Niederlande, Norwegen, Westdeutschland) 3: Vollzeitmodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie Doppelernährermodell auf der Basis der Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie (Spanien, Polen) 4. Erklärung der internationalen Differenzen – wohlfahrtsstaatliche Politiken Soziale Risiken in den Vereinbarkeitsmodellen nach Typ des Wohlfahrtsstaates (nach Esping-Andersen 1990, 1999) Soziale Risiken nach Typ des Wohlfahrtsregimes Liberales und mediterranes Wohlfahrtsregime Konservatives Wohlfahrtsregime Sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime Typ 1: Vollzeitmodell mit externer Kinderbetreuung - mittel (Ostdeutschland) niedrig (Dänemark, Finnland) Typ 2: Vollzeit-/Teilzeitmodell mit mütterlicher Teilzeitbetreuung hoch (Großbritannie n) mittel - hoch (Westdeutschland) niedrig (Norwegen) Typ 3: Vollzeitmodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie hoch (Polen, Spanien) - - 5. Schlussfolgerung Entwicklung der Kinderbetreuung „Work-Life“ Balance: im wesentlichen als Frage der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit verstanden. Erosion der Grenzen zwischen formeller und informeller Kinderbetreuung: neue, hybride Formen der Kinderbetreuung Differenzen in Vereinbarkeitsmodellen im europäischen Vergleich . Erklärung internationaler Differenzen Kulturelle Differenzen als wichtige Grundlage für Differenzen in den Vereinbarkeitsmodellen Wohlfahrtsregime-Typen als wichtige Grundlage für Differenzen im n den sozialen Risiken im Kontext der Vereinbarkeitsmodelle Prof. Dr. Birgit Pfau-Effinger, Chair on Social Structure Analyses, Institute for Sociology, University of Hamburg Publikationen (Auswahl) Bücher Pfau-Effinger, Birgit; Flaquer, Lluis; Jensen, Per H. (2009)(Hg.): The hidden work regime. Informal work in Europe, London, New York: Routledge (im Erscheinen) van Oorschot, Wim; Opielka, Michael; Pfau-Effinger, Birgit (Hg.), 2007: Culture and Welfare State. The Value of Social Policy. Cheltenham/UK ; Northampton/ MA, USA, Edward Elgar Pfau-Effinger, Birgit, 2004: Culture, Welfare State and Women’s Employment in European Societies. Aldershot: Ashgate. Wissenschaftliche Aufsätze Pfau-Effinger, Birgit 2009: Varieties of undeclared work in European societies. British Journal of Industrial Relations, 43, 1: 166-189. Pfau-Effinger, Birgit (2009): Entwicklungspfade und Zukunft der Kinderbetreuung, Zeitschrift für Familienforschung, 2009 (im Erscheinen) Pfau-Effinger, Birgit (2005): Welfare State Policies and care arrangements. European Societies 7, 2, 321-347. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! [email protected] Tabelle 1: Typen von „Vereinbarkeitsmodellen“ als Kombination von elterlicher Erwerbstätigkeit und Formen der Kinderbetreuung Typ 1: Doppelernährermodell mit externer Kinderbetreuung Typ 2: Vereinbarkeitsmodell auf Basis Teilzeit Typ 3: Doppelernährermodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie Erwerbstätigkeit der Eltern Beide Eltern: Relativ kontinuierlich in Vollzeit Männer: Vollzeit Frauen: längere Erwerbsunterbrechung und Teilzeit Beide Haupt-Formen der Kinderbetreuung Extern (hoch) Semi-formell (niedrigmittel) Extern (mittel) Semi-formell durch Mütter (mittel) und Väter (gering, aber Zunahme) Erweiterte Länder Dänemark Finnland Frankreich Ostdeutschland Westdeutschland Großbritannien Niederlande Österreich Norwegen Spanien Polen Mögliche Widersprüche/ Konflikte Mangel Finanzielle Soziale an professionellem Personal in öffentlicher Kinderbetreuung Qualitätsprobleme durdch neue cash-for-care systeme Abhängigkeit von Frauen in ErnährerEhe Altersarmut von Frauen Eltern: Relativ kontinuierlich in Vollzeit (Trend) Familie (mittelhoch) Schwarzarbeit von Migrantinnen als „ErsatzFamilienmitglieder“ (mittel –hoch) (Trend) Marginalisierung/Exklusion von Migrantinnen