Der totalitäre Ausweg Die deutsche Wirtschaft in Nationalsozialismus und Krieg Helga Schultz: NSWirtschaft 1 Literatur • Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: 1914-1949, München: Beck, 2003, S. 691-714, 915-927. • Mark Spoerer: Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“, in: Geschichte und Gesellschaft, 2005/3, S. 415-438. Helga Schultz: NSWirtschaft 2 Gliederung 1. Der Mythos von der Überwindung der Arbeitslosigkeit 2. Volksgemeinschaft und gelenkte Wirtschaft 3. Kriegswirtschaft 4. Debatten Helga Schultz: NSWirtschaft 3 1. Der Mythos von der Überwindung der Arbeitslosigkeit Helga Schultz: NSWirtschaft 4 Legitimationsfrage des Regimes • Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird zur Legitimationsfrage für Hitlers Regierung nach der Machtergreifung. • Die Arbeitslosigkeit war bis März 1934 schon um mehr als 3 Millionen gesunken. • Bei Umstellung der Wirtschaft auf die Rüstung ab 1936 herrscht partiell schon Facharbeitermangel. • Hitlers Überwindung der Arbeitslosigkeit wird zum Mythos. Helga Schultz: NSWirtschaft 5 Mittel Arbeitsbeschaffung •„Reinhardt-Programm“ 1933 : •Verkehrsbau, •Wohnungsbau, •Meliorationsprojekte, •bei Reichsbahn und Reichspost. •Aufwand: 650 Mio. Reichsmark Reichsautobahnbau Schandelah, 1936. (Quelle: Hastrabau) Helga Schultz: NSWirtschaft 6 Ausschlüsse und Manipulationen • Gesetz über die „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von April 1933 entfernt 30.000 jüdische und viele linke Beamte. Bereitet den Weg für Entlassungen in allen öffentlichen Einrichtungen. • Aus der Arbeitslosenversicherung werden ausgeschlossen: Landarbeiter, Fischereiarbeiter, Forstarbeiter, Dienstboten. • Handarbeit statt Maschinenarbeit verordnet. Helga Schultz: NSWirtschaft 7 Abkehr vom Frauenerwerb • Frauenarbeit verpönt, Kampagne gegen Doppelverdiener. • Verheiratete Frauen werden nicht mehr vermittelt. • Die Deutsche Bank frohlockt Ende 1933: „Erfreulicherweise ist bei der Weiblichkeit ein gesunder Wechsel vorhanden, da sie - sei es durch Verheiratung oder Zurückkehren in das Elternhaus - für ständige Fluktuation sorgen.“ (Gall, Deutsche Bank, S. 340.) • Die Frauenemanzipation der zwanziger Jahre wird revidiert, die Frauen werden in die traditionellen weiblichen Bereiche Haushalt, Familie und Kinder zurückgedrängt. Helga Schultz: NSWirtschaft 8 Zurück zu Heim und Herd • Das Frauenbild der Nationalsozialisten war konservativ und rassenideologisch. • Ehestandsdarlehen und Mutterkreuz förderten es. • Bund Deutscher Mädchen (BDM) und Reichsfrauenschaft verbreiteten es. Helga Schultz: NSWirtschaft 9 Arbeitsdienstpflicht seit 1935 Reichsarbeitsdienst in Parchim Helga Schultz: NSWirtschaft 10 Strukturwandel zuletzt 9% 5% 27% 14% 23% 22% Autoindustrie Autobahnen Chauffeure Garagen Zulieferer Handel Beschäftigungseffekte des Automobils bis 1938: 1,15 Millionen. Helga Schultz: NSWirtschaft 11 2. Volksgemeinschaft und gelenkte Wirtschaft Helga Schultz: NSWirtschaft 12 Volksgemeinschaft • Das Ziel der Volksgemeinschaft war der totalitäre Staat, durch die einzige Partei beherrscht und durchorganisiert nach dem Führerprinzip. • Das völkische Gedankengut der alldeutschen rechten Gegner der Republik verschmolz darin mit dem Nationalismus, der zerstörerischen Zivilreligion der Moderne. Helga Schultz: NSWirtschaft 13 Ständestaat statt Klassenkampf • Der Neo-Korporatismus der Weimarer Republik wurde aufgelöst, indem die Gewerkschaften schon zum 1. Mai 1933 verboten und durch die Reichsarbeitsfront ersetzt werden. • Die Wirtschaftsverbände werden – widerstandslos - gleichgeschaltet. • Die Ständegliederung – nur im Reichsnährstand ausgebaut - entsprach der organischen, antidemokratischen Staatsauffassung. Helga Schultz: NSWirtschaft 14 Reichsnährstand • Reichserbhofgesetz von 1933 verfügt das Anerbenrecht für alle Vollerwerbshöfe. • Ziel: Konservierung der Agrarstruktur und Erhalt der „nordischen Rasse“. • Der Reichsnährstand lenkt Erzeugung und Verbrauch und sichert per Zwangsmitgliedschaft die Gleichschaltung der Landbevölkerung. Helga Schultz: NSWirtschaft 15 Herr im Hause • Das Gefolgschaftsprinzip stärkt die Stellung der Unternehmer, die „Betriebsführer“ werden und so ihren „Herrn im Hause“-Standpunkt durchsetzen können. • Die starken Eingriffe in die Wirtschaft tasteten das Privateigentum der Unternehmer und ihre betrieblichen Entscheidungen nicht an, sondern eröffnen ihnen in Arisierung und Krieg neue Räume. Helga Schultz: NSWirtschaft 16 Arbeitsfront • Mit 23 Millionen Mitgliedern die größte Massenorganisation der NSDAP. • Unternehmen, darunter: – Wohnungsbau- und Siedlungsgesellschaften, – Banken, Verlags- und Druckereiunternehmen, – Volkswagenwerk. Helga Schultz: NSWirtschaft 17 Gelenkte Wirtschaft • Die gelenkte Wirtschaft entsprach dem Widerwillen der Nazis gegenüber dem liberalen System der Weimarer Republik, gegenüber der „Verwirtschaftung der Politik“. • Wirtschaft solle nicht eigenständige Ziele (Wohlstand, Wachstum) verfolgen, sondern der nationalen Politik dienen: „Gemeinwohl geht vor Eigennutz“. Helga Schultz: NSWirtschaft 18 Hjalmar Schacht (1877-1970) • Reichsbankpräsident 1923-30. • Als Mitglied der Harzburger Front drängt er Hindenburg zur Ernennung Hitlers. • 1933-45: Reichsbankpräsident, Wirtschaftsminister, Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft. Helga Schultz: NSWirtschaft 19 Der Neue Plan 1934 • Autarkiepolitik : – – – – Bewirtschaftung importierter Rohstoffe Devisenkontingentierung Exportförderung Ersatz durch synthetische Produkte (Buna) • Umorientierung der Außenwirtschaft von den USA und Westeuropa auf Skandinavien und Südosteuropa. – Bilateraler Austausch von Warenkontingenten (Barterhandel) zu Lasten der Satellitenstaaten im neuen deutschen Großraum Südosteuropas. Helga Schultz: NSWirtschaft 20 Finanzpolitik • Die Reichsbank wird der Regierung unterstellt – der Weg zu inflationistischer Politik ist frei. • Bankenaufsicht und Zinsdiktat – Arisierung von Vorständen und Aufsichtsräten. • Finanzierung der Rüstungswirtschaft durch Mefo-Wechsel (Briefkastenfirma Metallurgische Forschungsgesellschaft). • Die Wirtschaft trieb in die Inflation: Als die MefoWechsel fällig wurden, trat Hjalmar Schacht im Januar 1939 zurück. Helga Schultz: NSWirtschaft 21 Der Vierjahresplan 1936 • Etablierung eines zentralistisch aufgebauten Wirtschaftslenkungsapparates unter der Führung Hermann Görings. • Von allen rüstungswirtschaftlich interessierten Branchen getragen: Montan-, Chemie- und verarbeitende Industrie. • Umstellung der Wirtschaft auf Rüstungsproduktion vollzogen. Helga Schultz: NSWirtschaft 22 3. Die Kriegswirtschaft Helga Schultz: NSWirtschaft 23 Krieg als Ausweg und Ziel • Die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten Europas war ein von Anfang an verfolgtes Ziel, nicht vor allem als Siedlungsraum, sondern: – Als unerschöpfliches Rohstoffreservoir für die deutsche Wirtschaft, – Als Reservoir von Sklavenarbeitern, – Als Absatzmarkt für die deutsche Wirtschaft. • Was für Großbritannien Indien war, sollte nach Hitlers Willen für Deutschland Osteuropa bis zum Ural werden. Helga Schultz: NSWirtschaft 24 Die Rolle der Wirtschaft • Auch die Okkupation der besetzten Länder erfolgte mit Hilfe der Wirtschaft und durch private Finanzierung. Beispiel Deutsche Bank: • Nach dem Anschluss Österreichs und der Annexion des Sudetenlandes greift die Deutsche Bank auf das dortige Bankwesen zu: – die Böhmische Union Bank, – die Braunkohlenfelder des Peschek-Konzerns in Böhmen, – zahlreiche Filialen anderer Banken und die Werke, die von diesen Banken kontrolliert wurden. Helga Schultz: NSWirtschaft 25 Großraumwirtschaft • In Erinnerung an die verheerende Wirkung des Hungers im Ersten Weltkrieg wollten die Nationalsozialisten die Belastung der Zivilbevölkerung gering halten. • Die deutsche Kriegswirtschaft plünderte im besetzten Europa die Lebensmittelreserven und die Rohstoffe. • Mit Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion wurden die industriellen Kapazitäten dieser Länder in die deutsche Kriegswirtschaft einbezogen und ausgebaut. Helga Schultz: NSWirtschaft 26 IG-Farben-Werk Auschwitz Die IG-Farben sicherte die Versorgung der Armee mit Treibstoff, Buna, Sprengstoff und Giftgas. Seit 1940 Bau des Werkes in Auschwitz. Helga Schultz: NSWirtschaft 27 Hermann-Göring-Werke • Die Reichswerke Hermann Göring in Salzgitter: • Eine riesige, staatlich gelenkte aber privat finanzierte Holding, die die Wirtschaft ganz Ostmitteleuropas bestimmen sollte. • Ihre Expansion begann mit der breit angelegten Arisierung Österreichs. Helga Schultz: NSWirtschaft Die Skoda- Werke in Mlada Boleslav/Tschechoslowakei wurden Teil der Herrmann-Göring-Werke. (http://www.autointell.com/european_co mpanies/volkswagen/skoda/skoda1.htm) 28 Sklavenarbeiter • Die deutsche Kriegswirtschaft beruhte wesentlich auf der Arbeit von Zwangsarbeitern und konnte sich schon deshalb mit der Produktivität der amerikanischen Rüstungsindustrie nicht messen. • Zunächst waren es die deutschen Juden, dann die zur Zwangsarbeit verschleppten Polen, dann sowjetische „Ostarbeiter“, schließlich Kriegsgefangene aller unterworfenen Länder, die Landwirtschaft und Rüstung in Gang hielten. • Das Arbeitsvermögen der Frauen wurde aus ideologischen Gründen auch im Krieg nicht ausgelastet. Helga Schultz: NSWirtschaft 29 Bauer mit französischen Kriegsgefangenen im Rheinland Helga Schultz: NSWirtschaft 30 Verschleppt aus der Sowjetunion Ankunft in Westfalen (Quelle: Stadtarchiv Meinerzhagen, http://www.nrwzwangsarbeit.de/fot os/index.html) Helga Schultz: NSWirtschaft 31 Verurteilungen Helga Schultz: NSWirtschaft 32 4. Debatten Helga Schultz: NSWirtschaft 33 Modernisierung? • Verbarg das mythisch-reaktionäre Gewand (Blut und Boden, Germanenkult) einen modernen Körper? – – – – Massenkultur, Pseudowissenschaft der Rassenlehre, Medienpräsenz (Volksempfänger, UFA-Filme), Sozialstaat (mehr Urlaub, Arbeits- und Mütterschutz, 1. Mai), – Mobilisierung (Volkswagen). • Von Wirtschaftshistorikern wurden Scheinerfolge und Rückschritte herausgearbeitet. Helga Schultz: NSWirtschaft 34 Deformiertes Wachstum (Buchheim) • Im Zeichen der Rüstung eine überhitzte Konjunktur: Steigerung des BSP von 1933-39 von 58 auf 130 Milliarden Mark. • Innovationen und Investitionen im zivilen Bereich bleiben zurück. • Die Finanzierung der Rüstung erfolgte – Durch Staatsanleihen, – Durch die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung z.B. durch die Kontribution von einer Milliarde Reichsmark nach dem Pogrom am 9. November 1938. – Durch die Zweckentfremdung der Sparguthaben: „Eisernes Sparen“ für die Rüstung. Helga Schultz: NSWirtschaft 35 Arbeitsproduktivität Deutschland im Vergleich mit Großbritannien Prozent (Quelle: Spoerer, GG 2005/3, 424) 108 106 104 102 100 98 96 94 92 90 88 1925 Helga Schultz: NSWirtschaft 1927 1929 1931 1933 1936 1938 36 Gefälligkeitsdiktatur? • Götz Aly in seinem jüngsten Buch „Hitlers Volksstaat“ (2005): • Die Nationalsozialisten erkauften sich die Zustimmung der Deutschen durch sozialstaatliche Wohltaten (Kontinuität zur Nachkriegszeit!), niedrige Steuern und hohen Sold. • Die Umverteilung arisierten und in ganz Europa zusammen geraubten Eigentums machte den „kleinen Mann“ zum Komplizen des Regimes. • Die Ausplünderung der besetzten Länder und der Ruin von deren Währung deckte nicht nur die Kriegskosten sondern ermöglichte den Deutschen ein relatives Wohlleben: Kanonen und Butter. Helga Schultz: NSWirtschaft 37 Nationaleinkommen und Konsum Helga Schultz: NSWirtschaft 38 Staatshaushalt und Rüstung Helga Schultz: NSWirtschaft 39 Verteilung des Sozialprodukts • Der Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt steigt. • Der Unternehmeranteil vergrößert sich gleichfalls schon durch die Rüstungsprofite vor dem Krieg. • Der Anteil der Lohnabhängigen schrumpft. 100% 80% 60% 63 40% 20% 0% 23 58 24 14 19 1927/28 1937/38 Staat Lohnabhängige Selbständige Quelle: Spoerer, in: GG 2005/3, 426. Helga Schultz: NSWirtschaft 40 Sinkender Lebensstandard • Zur Vermeidung der Inflation wurde 1936 ein Lohn- und Preisstopp verhängt. – Die Reallöhne sanken durch wachsende Arbeitszeiten. – Die Einkommen der Bauern und des Mittelstandes stagnierten. • Die Umstellung von Konsum- auf Rüstungsgüter führten zu Versorgungsengpässen: „Fettlücke“. • Schon vor Kriegsbeginn wird die Rationierung von Lebensmitteln eingeführt. • Die Kindersterblichkeit (5-15jährige) stieg und das Größenwachstum stagnierte gegen den säkularen Trend. Helga Schultz: NSWirtschaft 41 Fazit: Von der Krise zur Katastrophe • Der totalitäre Ausweg aus der Krise, wie ihn die NS-Wirtschaftspolitik beschritt, war keine Erfolgsgeschichte und schon gar kein Wirtschaftswunder. • Sie setzte auf Krieg und mündete in der Katastrophe, die letztlich auch über das deutsche Volk und die deutsche Wirtschaft hereinbrach. • Diese gelenkte Wirtschaft war keine Marktwirtschaft, obwohl sie auf dem Privateigentum basierte und im Konsens mit den Unternehmern funktionierte. Helga Schultz: NSWirtschaft 42