Geschichte als politische Argumentation

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„Geschichte als politisches Argument“
Wert und Bedeutung historischer
Argumentationen in der schweizerischen
politischen Kultur
Modul des Historischen Seminars der Uni Zürich
an der Berliner Humboldt Universität
mit Diskussions-Anregungen von Andi Gross
Historiker und Politikwissenschafter / NR und ER
[email protected] www.andigross.ch
Berlin, den 7.10.2006
(Noch) keine Geschichte der
Geschichte der Schweiz
Noch keine Darstellung des Umgangs mit der
Geschichte in der Schweiz seit 1848
Sie muss ebenso noch erarbeitet werden wie
die Geschichte der Zukunft,
die Darstellung der (uneingelösten, nie erlebten)
Zukunftsvorstellungen in der Schweiz seit 1848.
Versuch einer Gliederung
1. Zur Beziehung Geschichte/Politik
2. Mit welcher Art von Geschichte werden wir in der Politik
konfrontiert ?
3. Kehrte 1989 tatsächlich die Geschichte in die Politik
zurück ?
4. Geschichtliche Katastrophen und politische
Lernprozesse
5. Geschichte als Rückgrat der Politik
6. Erfahrungen schaffen Mentalitäten
7. Politik als Kampf um die Deutung der
Geschichte; Geschichtsdeutung zur
Legitimierung von Politik
8. Geschichtsträchtigkeit „blockierter“
schweizerischer Politikbereiche
9. Ohne Geschichte keine Auslotung
schlummernder besserer Zukünfte
Wie wird, kann, soll mit der
Geschichte in der Politik
umgegangen werden ?
Kann Politik überhaupt von der Geschichte
getrennt werden - kann Geschichte ohne
Politik gemacht werden ?
Geschichte als geronnene Politik - Politik als
noch nicht gewordene Geschichte ?
Die Gegenwärtigkeit der Geschichte
oder wie zahlreich heute in politischen Institutionen die
Auseinandersetzung mit „Geschichte“ ist als Steinbruch für politische „Argumente“ ?
NR/StR 2000-2006
ER letzte Woche
 Umgang der Schweiz mit
o










Kämpfern gegen Faschismus
Darstellung der Schweizer
Geschichte
Schweiz und Sklaverei
Denkmal für Juden vor
Bundeshaus
Komplizenschaft der Schweiz mit
Apartheid Regime in SA III
Feier WK Ende in Moskau
Geheimarmeen der Nato
Schweiz im 2.WK IIII
Schicksal der Verdingkinder III
Vergangenheitsbewältigung der
Türkei (Genozid) IIII
Schicksal der Flüchtlinge im 2.WK
Zukunft Kosovos in Serbien - wie
geht Serbien mit 30 Jahre
Unterdrückung K‘s um ?
o Stärkung von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit in den Staaten
auf dem Balkan
o Schicksal der Kurden in der Türkei
o Schaffung eines Europäischen
Zentrums für Opfer von
Verfolgungen und Vertreibungen
o Wie kann die Souveränität des
Libanons gestärkt werden ?
o Ankunft von Zehntausenden von
Flüchtlingen aus Afrika an den
Südküsten Europas
Geschichte ist nicht Geschichte
Wir müssen mindestens drei verschiedene
Funktionen der Geschichte unterscheiden:
In aktuell politischer Absicht bewusst
konstruierte Geschichte
2. Verdrängte (belastende) Geschichte
3. Unterdrückte (weil ursprünglich
bekämpfte) Geschichte
1.
1.In aktuell politischer Absicht bewusst konstruierte
Geschichte
2.Verdrängte (belastende) Geschichte
3. Unterdrückte (weil ursprünglich bekämpfte)
Geschichte
Ad 1: 1.August-Gründer-Mythos;Bauern & Berge Schweiz als Kontrastbild zur Modernisierung;
Heldenhafte Armee im 2.WK
Ad 2: Abgewiesene Flüchtlinge im 2.WK;
Kollaboration(en) eidg. Werk- und Finanzplatz
Ad 3: Direkte Demokratie als oppositionelle
Errungenschaft 1860-1890; Doppelter
Europabezug des gelungenen 1848
“Mit dem Umbruch 1989/90 kehrte in Europa
die Geschichte in die Politik zurück”
Peter Steinbach in aPuZg B28/2001
Für Deutsche “keine Überraschung”: Politik sei
seit 1945 vorrangig “Politikfolgenbewältigung”
(Claus Offe) gewesen
Für die Schweiz möglicherweise schon eher.
Zumindest der leichtfüssige geschönte Umgang
mit der Geschichte war vorbei.
H.A.Winkler: Statt vom „Ende der
Geschichte“ müsste man von der „Wiederkehr
der Geschichte“ reden mit Bezug auf 1989 Unvergangenes kommt wieder hervor....
Ob mit (D) oder ohne (CH) des gemeinsamen
Erschreckens über die (eigene) Katastrophe ob mit (D) oder ohne (CH) „heftige
Auseinandersetzungen um das eigene
Geschichtsbild“ (P.St.):
Eine gemeinsame Überzeugung von den
historischen Grundlagen der
Nachkriegspolitik bildete sich in beiden
Ländern nicht heraus.
„Die Deutung der Vergangenheit war (für beide ag)
oftmals ein Politikum.“ (P.St.)
Katastrophe - lernen - Geschichte:
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Wann lernen wir (besser/mehr) ?
Ohne Katastrophe ?
Nach einer Katastrophe ?
Und wenn ja, wann und wie ?
Und was heisst in diesem Fall lernen ?
Sich mit der Geschichte, die zur Katastrophe
führte, auseinanderzusetzen!
Ist dies ohne Katastrophe weniger nötig?
Die Schweiz erfuhr (glücklicherweise)
schon lange keine Katastrophe mehr unglücklicherweise glaubte sie
deswegen, auch das Lernen
verlernen zu dürfen
Ralf Dahrendorf, 3.10.2006:
„Es gibt Länder, die sich nach dem Ende der Diktatur
zunächst und vor allem mit ihrer Vergangenheit
beschäftigen. (...) Es gibt andere Länder, die sich
zunächst und vor allem an das Neue machen. Das Alte
überlebt ... wird aber zunehmend irrelevant.“
Hermann Lübbe (1983) : „Stille“/“Kommunikatives
Beschweigen“ als „nötiges Medium der Verwandlung
unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der
BRD,“ (zit. n. HA. Winkler, Zeit, 2004)
Was tat die Schweiz nach 1798 ? Oder nach
1815 ? Nach 1945 ? Oder die KK nach 1848 ?
“Was die Erfahrung aber und die Geschichte
lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen
niemals etwas aus der Geschichte gelernt und
nach Lehren, die aus derselben zu ziehen wären,
gehandelt haben.”
Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den „Vorlesungen über die Philosophie
der Weltgeschichte“, anfangs 19.Jh als Warnung vor bloss
vermeintlichen historischen Analogien
Dem gegenüber Heinrich August Winkler 2004 in einer
Hamburger Rede “Vom Nutzen und Nachteil der
Historie für die Politik” (Zeit 30.3.04):
“Es gab in der Zeit nach dem 2.Weltkrieg
durchaus erfolgreiche Lernprozesse”.
Beispielsweise die Überwindung alter deutscher
Vorurteile gegenüber der westlichen Demokratie.
„Es kommt längst darauf an, die
Voraussetzungen unserer gegenwärtigen
Politik aus historisch entstandenen
Befindlichkeiten, Erfahrungen und
Zwängen zu erkennen - also zu
akzeptieren, dass gegenwärtige Politik
immer (die Folgen vergangener Politiken,
ag) zu respektieren hat.“
„Die Vergangenheit bleibt stets
eine wichtige Rahmenbedingung,
wenn nicht das Rückgrat der
Politik“ (Peter Steinbach, aPuZg, 2001)
CH/EU ? CH/UNO ?
CH/Demokratie/Menschenrechte ?
Erfahrungen schaffen Mentalitäten.
Die Erfahrung erfolgreicher Politik schafft
eine hoch legitimierte Mentalität.
Neue Umstände erfordern unter
Umständen eine neue Politik.
Mentalitäten verändern sich aber
langsamer als die Umstände.
Deshalb ist das (Um)lernen nach
positiven alten Erfahrungen
schwieriger und dauert länger.
Umso mehr Auseinandersetzung mit
Geschichte benötigen wir - umso weniger
sind dazu rechtzeitig bereit.
Erfahrungen schaffen Mentalitäten.(II)
„Es gibt die Vorstellung, dass negative
Erfahrungen so etwas wie Veto-Instanzen bilden
die eine Wiederholung entweder unmöglich
machen oder erschweren...“
Georg Kreis, SZG 2006/3
„Die Metapher des Rettungsboots“
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„Historische Argumente setzen ein minimales
Wissen (und) eine emotionales
Vorstellungsvermögen voraus...“
„Wie die einen versuchen, mit der Geschichte auf
die Gegenwart einzuwirken, versuchen andere
aus einem bestimmten Gegenwartsverständnis
die Geschichte anders zu sehen.“
„In einem geschönten Vergangenheitsbild bildet
die Geschichte kein Veto gegen ihre
Wiederholung.“
Erfahrungen schaffen Mentalitäten.(III)
Die Geschichte wie die Gegenwart
sprechen eben nie für sich selber.
Damit sie etwas zum Ausdruck bringen ,
müssen sie erst befragt werden.
Je nach Interesse, fragt man anders. Und
je nach Frage, zeigen sich andere
Antworten.
„Historische Vorlagen könnten durchaus, wie JeanDaniel Gerber 2003 bemerkte, zur Selbstreflexion
herausfordern. Aber nur, wenn man sich wirklich darauf
einlassen will.
Die Geschichte selbst bewirkt gar nichts.
Die Kräfte, welche die Geschichte ins Spiel bringen,
können an ihr zwar Orientierung und Kraft gewinnen.
Der Wirkung ihrer auf die Geschichte bezogenen
Argumentation sind jedoch enge Grenzen gesetzt.“
Georg Kreis, SZG 2006/3
„Die Metapher des Rettungsboots“
Erfahrungen schaffen Mentalitäten.(IV)
„Alle Geschichte ist eine Geschichte
von Kämpfen um die Deutung von
Geschichte.“ (H.A.Winkler, 2004)
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„ Keine politische Richtung wird auf den Versuch
verzichten, ihre Position historisch zu untermauern.“
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„In einem demokratischen Gemeinwesen pflegen
mehrere Geschichtsbilder miteinander zu konkurrieren.
‚Geschichtspolitik‘ (*1986 / Historikerstreit) zielt darauf
ab, die eigene Deutung durchzusetzen.“

„Als Ergebnis solcher Deutungskämpfe kann sich
ein breiter Konsens hinsichtlich wichtiger Ereignisse
herausbilden. Ohne einen Minimalkonsens in Sachen
der eigenen Geschichte könnte eine Demokratie gar
nicht bestehen.“ (Alle Zitate, HAW, 2004)
„Eine Geschichtspolitik, die historische
Legenden pflegt und damit wissenschaftl.
Erkenntnissen widerspricht, muss
wissenschaftl. Kritik herausfordern.“
(H.A.Winkler, 2004)
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Das gilt vor allem dann, wenn sich eine bestimmte Lesart
von Geschichte zu einem Mythos verdichtet und (sich)
gegenüber wissenschaftlicher Kritik abzuschotten
versucht.
Im Zuge seiner Folklorisierung wird ein Mythos zu einem
kulturellen Besitzstand; wird er in Frage gestellt, löst er
die typischen Reflexe der Besitzstandwahrung aus.
Der historische Mythos ist eine gesteigerte Form von
Geschichtspolitik.
Die Geschichtswissenschaft , die in der Vergangenheit
selbst viel zur Mythenbildung beigetragen hat, muss
Mythen mit Entmythologisierung begegnen. Andernfalls
Verlust des Anspruchs. Wissenschaft zu sein.
„Politik, die in dieser Weise mit der
Vergangenheit verknüpft wird (ist),
(...)hat auch zunehmend die Deutung
der Vergangenheit als einen Faktor
gegenwärtiger politischer Auseinandersetzungen anzuerkennen.“
(Peter Steinbach, aPuZg, 2001)
Geschichte ist mehr als „Ergebnis
vergangene Politik“....
sondern eine bestimmte Deutung der
Vergangenheit...
und wird zur wichtigen Voraussetzung
für eine andere gegenwärtige Politik.
„ Geschichte ist mehr als die
vergangene Wirklichkeit....
sie ist auch das Bild, das Menschen
sich von ihr machen.“
(Peter Steinbach, aPuZg, 2001)
nach Bildern, die andere Menschen
bewusst mit der Geschichte gemacht
haben.
Geschichte ist ein Konstrukt, um
dessen Konstruktion gekämpft wird,
ebenso um dessen Dekonstruktion
zwecks Neukonstruktion....
Die heissesten geschichtsträchtigsten
Themen der gegenwärtigen Politik in
der Schweiz - die „blockiertesten“?:
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Schweiz und Europa:
EU-Beitritt der Schweiz
Zukunft der schweiz. Sicherheitspolitik:
Bedeutung der Armee
Das Verhältnis der Schweiz zu
Anderen/Welt: Zukunft der „Neutralität“
Einbürgerungen/Ausländerstimmrecht ?
„Konkordanz“/Bundesregierungsreform
Zukunft der Demokratie jenseits des
Nationalstaates?
Die in unserer Gegenwart
schlummernden Potenziale für bessere
Zukünfte erschliessen sich nur über
eine genaue Auseinandersetzung mit
der Geschichte
Was an besserer unausgeschöpfter Zukunft
(„konkrete Utopie“) real heute möglich wäre,
findet nur heraus, wer sich mit der Genese des
heute befasst ebenso wie mit der Begründung
der Mentalitäten, die bisher nicht ermöglichten,
das Mögliche möglich zu machen.
Nationalstaat weder Schicksal noch Verhängnis
(J.Tanner, 1998)
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