Evangelische Akademie Tutzing Schmerzen ohne Organbefund oder: Der Organismus ist intelligent! Hanne Seemann Medizinische Psychologie im Zentrum für psychosoziale Medizin Uniklinik Heidelberg Konzepte • Schmerzen ohne Organbefund und andere psychosomatische / funktionelle Störungen können sehr unterschiedlich erklärt werden.. • Diese verschiedenen Erklärungskonzepte haben alle einen richtigen theoretischen Kern. • Sie sind aber mehr oder weniger brauchbar für die Arbeit mit dem Patienten. ICD-10 Klassifikation der somatoformen Schmerzstörung Diese Definition ist aus systemischer Sicht: Eine Landkarte mit vielen Wegweisern, die nirgendwohin führen ICD-10 Die somatoforme Schmerzstörung: • Wiederholte Darbietung körperlicher Symptome • hartnäckige Forderungen nach medizinischen Untersuchungen • trotz wiederholter negativer Ergebnisse • trotz der Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind • Dennoch gesteigerte Suche nach medizinischer Betreuung und persönlicher Zuwendung ICD-10 Die somatoforme Schmerzstörung: • Die somatischen Symptome erklären nicht das Leiden und die innerliche Beteiligung der Patienten • Dagegen: • Es liegen emotionale Konflikte oder psychosoziale Probleme zugrunde, die als ursächliche Einflüsse gelten. Die ICD-10 Definition der somatoformen Schmerzstörung ist nicht falsch aber unproduktiv! (internationale Klassifikation psychischer Störungen, Dilling et al. 1994) Was denken die Patienten, wenn ihre Behandler so denken? • • • • • Sie fühlen sich als Simulanten verdächtigt sie gehen von einem Arzt zu anderen sie fühlen sich nicht verstanden und sie legen entweder alle möglichen Konflikte gleich auf den Tisch • oder sie verweigern die Konfliktsuche - wenn sie klug sind Wie kann der Patient seine Schmerzen verstehen? Als Klage und Protest seines Organismus, der gehört und beachtet werden will. Er weist seinen „Besitzer“ durch den Schmerz auf etwas hin, was ihm fehlt, was er braucht. Der Organismus hat eine eigene Intelligenz, um seine Funktionsfähigkeit autoregulativ aufrecht zu erhalten. Die autonomen Funktionssysteme des Organismus haben eine eigene Intelligenz. Sie kennen ihren wohlgeordneten Zustand und identifizieren Abweichungen von ihrer (individuellen) Ordnung. Sie haben aber „normalerweise“ die Fähigkeit zur Autoregulation. Was sagt uns der Organismus durch den Schmerz? • Ich komme allein nicht mehr zurecht • Hilf mir! Oder: • Du störst mich und versklavst mich • Gib mir Ruhe, bzw. die Bedingungen, die ich brauche, um gut zu funktionieren! Psychosomatische Symptome sind Zeichen einer gestörten Beziehung • zwischen den unwillkürlichen Funktionen des Organismus –metaphorisch „Körper“ • und den Willkürfunktionen der betroffenen Person –metaphorisch „Ich“ Das „Unwillkürliche“ bei Georg Groddeck 2. Psychoanalytischer Brief (1923): • Der Satz: „ich lebe“ ist nur bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphänomen von der Grundwahrheit aus: „Der Mensch wird vom Es gelebt.“ • Der größte Teil unseres Lebens hat nicht das mindeste mit dem Ich zu tun. • Nicht unser Ich lässt das Herz im Rhythmus schlagen, nicht unser Ich ernährt die Zellen, nicht unser Ich wählt unter den Sinneseindrücken aus, was Wahrnehmung werden soll, nicht unser Ich schafft unsere Erkrankungen oder unsere Genesungen, nicht unser Ich lässt uns lieben, hassen, schlafen, wachen, sondern etwas anderes tut das, .... das man gerade seiner Unbestimmtheit wegen das Es nennen kann. Aufgabe der Therapie Es gilt, eine Beziehungs- d.h. eine Kommunikationsform zu finden, die den Teil, der die Störung ausdrückt, den Körper, befriedet und zufrieden stellt, damit er mit seiner Klage (Symptom) aufhören kann • Bei psychosomatischen Schmerzen geht es nicht um Bewältigung! Aufgabe der Therapie • „Körper“ und „Ich“ sollen aufeinander hören und miteinander verhandeln, um gegenseitig zu merken, was jeder braucht. Erstgespräch 1. Schmerzanamnese (Problemanalyse) • Wann, seit wann, wo, wie, wie lang .... tut es weh? 2. Therapie (Lösungsanalyse) • Wann, wo, unter welchen Bedingungen ist (war) es besser oder ganz in Ordnung? (aktuell, retrospektiv) • Was fehlt Ihnen? / Was brauchen Sie? (prospektiv) Die Ausnahme / Lücke im Schmerzgeschehen suchen • Wenn man eine „Lücke“ findet, so weiß man, dass der „Körper“ es fertig bringt, ohne Schmerzen zu sein: • Frage:Welches ist die Bedingung dafür? • Frage: Zu welcher Zeit, an welchem Ort, unter welchen Umständen zieht der Schmerz sich zurück? Psychosomatische Schmerzen als Ordnungsstörung Störung der zeitlichen Ordnung – Rhythmusstörung • • • • Anfall, Attacke (z.B. Migräne) Unbeweglichkeit, Erstarrung vegetative Erschöpfung, Schwäche Reaktivierung, Körpergedächtnis (flash back) Psychosomatische Schmerzen als Ordnungsstörung Störung der räumlichen Ordnung „Alexithymie“ • Dysbalance von Außen- und Innen-Orientierung im Sinne von • Dominanz der Außenwelt • Defizit bzw. Unterrepräsentanz der Innenwelt Ordnung in die gestörten Funktionssysteme bringen • Unordnung kann als Imbalance ausgedrückt werden • Balance sollte nicht mittels Reduktion des „Zuviel“ erfolgen • Balance (Homöosthase) muss durch Ausgleichsbewegungen, d.h. Hinzufügen des „Zuwenig“ wieder hergestellt werden Literatur: Psychosomatische Schmerzen aus systemtheoretischer Sicht • Seemann, H. (2002) Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen. Über den Umgang mit psychosomatischen Schmerzen. Pfeiffer bei Klett-Cotta, 3.Auflage • Sacks, O (1994) Migräne. Rowohlt, 2. Auflage • Weiner, H. (1991) Der Organismus als leib-seelische Funktionseinheit – Folgerungen für eine psychosomatische Medizin. Psychotherapie und Medizinische Psychologie 41:465-481 • Groddeck, G. (1990) (Ersterscheinungsjahr 1913) Die Natur heilt. (natura sanat –medicus curat) Die Entdeckung der Psychosomatik. Ullstein Sachbuch