Prävention von Anfang an – Wunsch und Wirklichkeit Die Organisation des NeugeborenenHörscreening Prof. Dr. Günter Reuter Hannover 10.11.2007 Vortragsgliederung • Neugeborenen-Hörscreening • Wie funktioniert das Innenohr Transduktionsprozeß • Objektive Hörtests Otoakustische Emissionen, Hirnstammaudiometrie • Ergebnisse des Modellvorhaben in der Region Hannover • Flächendeckende Umsetzung in die Strukturen des sozialen Systems in Deutschland Folgen der frühkindlichen Schwerhörigkeit • Hören ist die notwendige Voraussetzung für die Hör- und Sprachentwicklung • Diese vollzieht sich in den ersten Lebensjahren • Eine Schwerhörigkeit führt ohne Therapie in Abhängigkeit vom Schweregrad zu einer unvollständigen oder ausbleibenden Hör- und Sprachentwicklung • Es gibt für alle Formen und Grade der Schwerhörigkeit wirksame Therapien. • Durch rechtzeitige, d.h. sehr früh beginnende Therapie können die Folgen der Schwerhörigkeit praktisch vermieden werden. Früherkennung und Intervention ist nun möglich aufgrund neuester technischer Entwicklungen: • • • • • automatische Screening Systeme neuer reliabler Methoden objektiver Audiometrie Fortschritte bei den Cochlea Implantate Fortschritte bei den digitalen Hörgeräten verbesserte Methoden der Habilitation Aktuelle Situation • 720 000 Geburten pro Jahr in Deutschland (2003) • Bundesweite Erhebung von 1998: – Häufigkeit der Schwerhörigkeit im Säuglingsalter: 0,1% bis 0,4% bzw. 700 bis 2800 pro Jahr – Durchschnittlicher Diagnosezeitpunkt: 23,3 Monaten • Derzeitiger Diagnosezeitpunkt viel zu spät für wirkungsvolle therapeutische Intervention Benefit des CI – Besuchter Schultyp Type of school used % 100 90 29 80 70 60 11 69 14 5 44 12 4 39 50 40 30 52 10 13 22 20 10 25 21 24 7 1 Group Group 2(2): Group 3(3): Group 4(4): CI 0-1.9 yr. CI 2-3.9 yr. CI 4-6.9 yr. hearing aid 1(1): (1) Average of grades 1 and 2 (6 to 8 years) (2) Average of grades 1 to 5 (6 to 11 years) (3) Average of grades 1 to 6 (6 to 12 years) (4) Average of grades 1 to 10 (6 to 16 years) Source: Parent questionnaire; n1=34, n2=43, n3=48, n4=33 Mainstream Integrated Hearing impaired Hearing impaired + Deaf Deaf Annahmen der Verbesserungen durch ein Neugeboren Hörscreening Universelles Neugeborenen-Hörscreening Zeitpunkt für Diagnose früher Zeitpunkt für Intervention früher Sprachkompetenz im Vorschulalter besser Bessere soziale Möglichkeiten, Bildungs- und Berufschancen Verbesserung von Hör-, Sprech-, Sprach- und Sozialkompetenz Eindeutiges Untersuchungsverfahren für Früherkennung (OAE, AABR) Gütekriterien: Sensitivität, Spezifität Krankheit (Hörschädigung) ja Testergebnis positiv negativ nein A B C D Problem: „Referenzverfahren“ Merkmale dieser Studie • Prävalenzstudie (hochrechnungsfähige Schweregrade von Hörstörungen bei Neugeborenen) • Erwartete Zahl von Verdachtsstellungen und typischer Screening- und Betreuungsverläufe • Subjektive Belastungen der Eltern durch Verdachtsstellungen • Prospektiver Wirksamkeitsvergleich • Gesundheitsökonomische Analyse für verschiedene Screening-Szenarien Zeitplan der Hördiagnostik • Erstuntersuchung der Hörfähigkeit durch OAE in der Geburtsklinik • Erstuntersuchung der Hörfähigkeit durch OAE beim Niedergelassenen (Hausgeburten und ambulante Geburten) Nachuntersuchung von hörauffälligen Kindern • 1. Woche • innerhalb des 1. Monats Zeitplan der Hördiagnostik • Diagnosesicherung und Einleitung der Therapie • Abgeschlossene Versorgung der Kinder mit Hörgeräten • innerhalb des 3. Monats • bis zum Ende des 6. Monats Machbarkeit • Effizienzüberprüfung der OAE – flächendeckender Einsatz – günstigster Untersuchungszeitpunkt bzw. möglicher Untersuchungszeitpunkt – leichte Anwendbarkeit durch angeleitetes Hilfspersonal – eindeutige Zuordnung in 'hörgesund' und 'nicht hörgesund' – ausreichende Sensitivität und Spezifität – ausreichende Effizienz Screeningaktivitäten in der Modellregion Anzahl der Lebendgeborenen N=21.900 Ambulante Geburten (Klinik) Stationäre Geburten N=2.478 N=19.422 Mögliche Messungen N=17.375 Erstmessungen in den HNO -Praxen N=1.783 (72%) Geme ssene in den Geburtskliniken N=16.251 (94%) Insgesamt Gemessene N=19.703 (90%) Verlegte N=1.800 Abgelehnte N=247 Gemessene in den Kinderkliniken N=1.669 (93%) Erfassungsquote der messenden Kliniken (Juli 2000- Dezember 2002) 100% 95% 90% 85% 80% 75% 70% 65% 60% 55% 50% Juli Dez Juni Dez Juni Dez Auffälligkeitsraten bei der Erstuntersuchung in Abhängigkeit der Untersuchungserfahrung über den Gesamtmesszeitraum 18 16 16,7 14,8 14 12 11,2 10 8,1 8 6,8 6 5,3 4 3,2 2 0 0,0 1. Quartil (bis 8 Unt.) 5,9 2,7 0,0 2. Quartil (8 - 42 Unt.) 3. Quartil (42 130 Unt.) 4. Quartil (>130 Unt.) Überblick der Durchdringung pro Untersucher 100% 90% Klinik 01 80% Klinik 06 Klinik 11 70% Klinik 16 60% Klinik 21 50% Klinik 26 40% Klinik 46 30% Klinik 51 20% Klinik 56 10% Klinik 61 0% 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Endgültiger Befund des OAE-Screenings unter Berücksichtigung von evtl. vorgenommenen OAE-Kontrolluntersuchungen Juli-Dez 2000 Juli-Dez 2001 Juli-Dez 2002 in Prozent 100 92,5 92,2 93,6 90 80 70 60 50 40 30 20 5,1 5,1 4 10 2,5 2,7 2,4 0 unauffällig li. oder re. beidseits Lebensalter bei Erstuntersuchung in den Geburtskliniken im Zeitvergleich (Mittelwert incl. 95 %KI) 3,4 3,2 3 3,2 3,1 3,0 2,8 2,7 2,7 2,6 2,6 2,7 2,6 2,6 2,4 2,2 2 Juli-Dez 2000 Juli-Dez 2001 Juli-Dez 2002 Endgültige Beurteilung der Risikokinder nach OAE-Screening und ggf. BERA-Nachuntersuchung 100 91,9 90 80 70 60 50 40 30 20 10 4,3 3,9 li. oder re. beidseits 0 unauffällig Lebensalter bei OAE-Untersuchungen der Risikokinder im Zeitvergleich (Mittelwert incl. 95 %KI) 42 37 32 36,2 30,7 27 22 25,1 22,3 19,6 17,2 16,9 14,0 17 12 10,8 7 2 Juli-Dez 2000 Juli-Dez 2001 Juli-Dez 2002 Bewertung des Neugeborenen-Hörscreenings aus Sicht der Eltern, n = 316 sehr wichtig 72,5 wichtig 25 eher unwichtig 1,9 0,6 unwichtig 0 10 20 30 40 % 50 60 70 80 Effektivität Wirksamkeitsvergleich Hannover – München Jedes Neugeborene mit einer nachgewiesenen beidseitigen therapiebedürftigen Schwerhörigkeit > 35 dB Hannover München • Systematisches Screening • Universell • Alle Geburtshilflichen Abteilungen • Alle Neonatalzentren • Qualifizierte HNO-Praxen • MHH HNO und Pädaudiologie • Opportunistisches Screening • Punktuell • Kinderarzt-Praxen • Einige Geburtshilfliche Abteilungen • LMU HNO • MRI HNO Gesamtübersicht Fallkinder Hannover Anzahl Fallkinder 18 well babies risk babies 10 8 Durch Screening erfaßt Nicht durch Screening erfaßt 16 2 Beidseitig hörgestört 18 Mittelgradige Schwerhörigk Hochgradige Schwerhörigk Taubheit 11 5 2 Durchschnittsalter Diagnose Durchschnittsalter Therapie 3,3 Monate 6,1 Monate Wirksamkeitsvergleich Hannover - München Hannover Fallmeldungen Inzidenz Zu erwartende Fallzahl Nicht entdeckte Fälle München 18 16 0,8 pro 1000 0,5 pro 1000 20 22 2 6 Alters bei Verdachtsstellung mittels OAE Eins - m i nus -Ü berl ebensfunktionen 1,0 ,8 ,6 ,4 ORT ,2 München H annover 0,0 -100 0 100 200 300 400 500 600 700 Alter Lebenstage bei Entdeckung (OAE-Erstbefund) Alter bei Diagnosestellung Eins - m i nus -Ü berl ebensfunktionen 1,0 ,8 ,6 ,4 ORT ,2 München H annover 0,0 0 100 200 300 400 500 600 Alter Lebenstage bei Diagnosestellung 700 Alter bei Therapiebeginn Eins - m i nus -Ü berl ebensfunktionen 1,0 ,8 ,6 ,4 ORT ,2 München H annover 0,0 0 100 200 300 400 500 600 700 Alter Lebenstage bei Therapiebeginn (HG) Age (in weeks) at confirmation of PCHI 100 90 81.8% 80 67.2% Annual identification timescales prior to NHSP 60 • 300 identified before 18 months 50 All % WBN 40 • 400 identified 18m–3.5 years 30 20 • 200 identified >3.5 years of age 10 Age in weeks 41 39 37 35 33 31 29 27 25 23 21 19 17 15 13 11 9 7 5 3 0 1 Cumulative % 70 Kinder mit bestätigter Hörstörung pro Alterskategorie – kumulative Prozent % 100 90 Hörscreening JA + NICHT BESTANDEN (137) Verzögerte Diagnose 75 Hörscreening NEIN (150) 50 25 0 0;6 1 1;6 2 2;6 3 3;6 4 4;6 Alter bei Diagnose in Jahren 5 5;6 6 6;6 Alter bei Diagnose (Median) Jahre 7 n=15 6 5 n=68 4 mit Hörscreening ohne Hörscreening 3 n=43 2 n=24 1 n=46 n=10 0 0 gering- mittel- n=40 hochgradig n=40 resthörig Grad der Hörschädigung Effizienz Durchschnittliche Dauer aller Aktivitäten der OAE-Messung (in Min. pro Kind) 0,3 Vorbereitung 0,6 Weg zur Messung 3,8 Reine Messzeit 0,7 Unterberechung 0,5 Weg zurück 0,7 Nachbereitung 3,3 Dokumentation 0 0,5 1 1,5 2 2,5 in Minuten pro Kind 3 3,5 4 Modelle für das Hörscreening in Deutschland Modell 1 Modell 2 Modell 3 kliniksorientiert praxissorientiert gemischt •Geburtskliniken •Neonatalabteilungen •HNO-Ärzte (begrenzt) •Kinderärzte (alle) •Neonatalabteilungen •Geburtskliniken •Neonatalabteilungen •Kinderärzte (qualif) •HNO+Ärzte (qualif) Hochrechnung Hörscreening (Deutschland) Modell 1 Hochrechnung Hörscreening (Deutschland) Modell 1 Reichweite Erfassung Sensitivität/ Spezifität Prävalenz 95% 0,065% Ambulantgeborene 47.006 90,51% erfasst 42.545 hörkrank 28 hörgesund 42.517 nicht erfasst 4.461 27 richtig positiv 1 falsch negativ 80% 34.014 richtig negativ 8.503 falsch positiv 6,4% 335 richtig positiv 95% 0,447% Lebendgeborene pro Jahr 734.475 11,6% Neonatal Betreute 85.199 92,72% erfasst 78.997 hörkrank 353 hörgesund 78.644 nicht erfasst 6.202 18 falsch negativ 90% 7.864 falsch positiv 95% 0,065% 82,0% 93,53% Stationärgeborene 602.270 erfasst 563.303 nicht erfasst 38.967 70.780 richtig negativ hörkrank 366 hörgesund 562.937 348 richtig positiv 18 falsch negativ 90% 506.643 richtig negativ 56.294 falsch positiv Hörscreening-Modelle in Deutschland Modell 1 Modell 2 Modell 3 Lebendgebore ne/Jahr 734.475 734.475 734.475 erfasst 684.845 718.329 729.351 nicht erfasst 49.630 16.146 5.124 Erfassungs quote 93,2% 97,8% 99,3% richtig positiv 1.327 1.383 1.394 falsch positiv 68.345 71.687 72.788 richtig negativ 615.104 645.186 655.096 falsch negativ 69 73 73 Screeningkosten incl. Abklärung Modell 1 Modell 2 Modell 3 Lebendgeborene 734.475 734.475 734.475 Erfasst 684.845 718.329 729.351 12,59 € -- 12,59 € Neonatalkosten pro Kind 13,82 € 13,82 € 13,82 € Praxiskosten pro Kind 26,53 € 31,23 € 71,45 € Abklärungskosten 1.685.062€ 1.766.828€ 1.793.142€ Gesamtkosten Screening 10.997.504 € 22.824.905 € 16.196.659 € Kosten pro gescreentem Kind 16,06 € 31,78 € 22,21 € Kosten pro entdecktem Fall 8.287,5€ 16.492€ 11.610,5€ Klinikkosten Kind pro Gesamtkosten der Modelle für Deutschland Gesamtkosten Modell 1 •Kosten pro gescreentem Kind: 16,13€ •Kosten pro entdecktem Fall: 15.560€ Modell 2 Modell 3 33,76€ 22,41€ 32.727€ 21.826€ Ergebnisse der Inkrementalanalyse Modell 1 vs. Modell 3 Im Vergleich zu Modell 1 werden in Modell 3 5,5% (39) mehr Fallkinder entdeckt bei 48% (5,3 Mio. €) höheren Kosten Ergebnisse I • Ein universelles Neugeborenen-Hörscreening (NHS) kann in das Gesundheitssystem implementiert werden • Die Inzidenz angeborener kindlicher Hörstörungen beträgt ca 1/ 1000 Neugeborene • Das NHS ist effektiv hinsichtlich eines signifikant früheren Zeitpunktes der Entdeckung, der Diagnosestellung und Therapieeinleitung angeborener kindlicher Hörstörungen • Mit Hörscreening ist das Alter bei Diagnose/Intervention unabhängig vom Grad der Hörschädigung • Hörscreening bei allen Neugeborenen - Verbesserung der Abklärung - Verbesserung der Nachsorge • Das NHS ist ökonomisch vertretbar Ergebnisse II • Auffälligenrate höher in der HNO-Praxis als in der Klinik • Prozentsatz erfaßter Kinder in der Klinik höher als in der ambulanten Versorgung • Gesamtkette von Früherfassung, Abklärungsdiagnostik und Frühtherapie beeinflußt die Effektivität • Das Hannover-Modell ist hinsichtlich der Effizienz kalkulierbar und vertretbar. Empfehlungen • • • • Systematisches universelles Hörscreening Aktives Tracking (Nachverfolgung) Screening-Zentrale Sicherstellung der gesamten Versorgungskette (integrierte Versorgung) • Angemessene fallbezogene Vergütung • Adäquater Zugang zu personenbezogenen Daten Universelles Neugeborenen-Hörscreening Zeitpunkt für Diagnose früher nachgewiesen Zeitpunkt für Intervention früher nachgewiesen Sprachkompetenz im Vorschulalter besser Nachweis fehlt Bessere Ausbildungs- und Berufschancen