Amyotrophe Lateralsklerose Mihaela Jardan Definition • ALS wurde im 19. Jahrhundert definiert: ein charakteristisches klinisches Syndrom das neuropathologisch aus einer Läsion des - kortikospinalen Trakts - Der Vorderhornzellen - der bulbären motorischen Hirnnervenkerne besteht Myatrophe Lateralsklerose, Lou-Gehrig-Syndrom, Charcot-Krankheit Epidemiologie • Die Inzidenz 2 pro 100.000/Jahr • Die Prävalenz: 6 bis 8 pro 100.000 • M>W 1,6:1 • 45-65 Lj Ätiologie • Unklar-Sporadische Fälle 90 % • Genetische –familiäre Form-5 % • Selten: Paraneoplastisch, monoklonale Gammopathie und lues Spinalis: symptomatische ALS • Endemisches Auftreten: Eingeborene der Insel Guam (50fach häufiger) in Kombination mit präseniler Demenz und akinetischem Parkinsonismus Ätiologie • Die ALS –motorische Systemdegeneration • für nur etwa 1% der Erkrankungen verantwortlichMutationen im Gen der zytosolischen Cu/ZnSuperoxiddismutase (Cu/Zn SOD) (Rosen et al. 1993, Andersen 2006) • Es hat sich in den letzten Jahren herausgestellt, dass diese Mutationen auch bei klinisch autosomaldominantem Erbgang nicht immer kosegregieren Ätiologie • etwa 5% aller ALS-Kranken eine klinisch deutliche frontale Demenz entwickeln (Schreiber et al. 2005) • Gibt es Überlappungen mit anderen neurodegenerativen Erkrankungen besonders häufig treten diese mit dem Parkinson-Syndrom, aber auch den zerebellären Degenerationen auf Krankheitsbild • im Anfangsstadium – sehr variables Krankheitsbild • Asymmetrische Paresen mit Spastik - beginnend meist an der Hand, dann Unterarm, Beine, Hirnnerven • Muskelatrophie • Faszikulationen und schmerzhafte Muskelkrämpfe Typisch sind auch Fibrillationen der Zunge • Bulbare Symptome (Dysarthrie, Dysphagie, Sialorrhoe, Zungenatrophie, Zwangslachen und weinen) • Lähmung der Atemmuskulatur • Sensibilität meistens intakt, keine vegetativen Symptome Krankheitsbild Faszikulationen Prognose: • Sehr schlecht • Mittlere Überlebenszeit ca. 3 Jahre • Nur 10 % überleben 10 Jahre und länger • Beginn mit bulbärer Symptomatik-besonders ungüstig Prognoseparameter Pathophysiologie Progressive Degeneration des: • Gyrus praecentralis, BETZRiesenpyramidenzellen und Pyramidbahnen • Motorischen Neurons (Vorderhornzellen, αMotoneurone des Rückenmarks und Hirnnervenkerne) Erster Motoneuron und der zweite Pathophysiologie • In Motoneurone-Vakuolisierung des Zellsomas, der Dendriten und proximalen Axone, die von den Mitochondrien ausgeht. • Erste Verluste der Muskelkraft treten gleichzeitig mit dem Auftreten dieser Schädigung der Mitochondrien auf • Später im Verlauf -Mikrogliaaktivierung einer reaktiven Astrogliose und schließlich nach Verlust von 30– 50% der Neurone: Paresen Morphologische Merkmale der ALS Pathophysiologie • Kernspintomographisch -Veränderungen des Gyrus praecentralis und der Pyramidenbahnen; (Hecht et al. 2001) Hohe Sensitivität, geringere Spezifität • Protonenspektroskopie-Reduktion der NAcetylaspartat-Konzentrationen im motorischen Kortex • Positronenemissionstomographie – Reduktion des Glukosemetabolismus auch in anderen Regionen als dem Motorkortex (Ludolph et al. 1992), Reduktion striataler Dopamintransporter (Borasio et al. 1998) Pathophysiologie • Klinisch-neurochemisch- unspezifisch. Es gibt aber kaum eine neurogene Läsion, die so konstant mit einer leicht erhöhten Kreatinkinase assoziiert ist • Das Liquoreiweiß -in Abhängigkeit von der Aggressivität des Krankheitsprozesses erhöht. Diagnostik • Die Kenntnis von Subformen der Erkrankung mit günstigerer Prognose ist essenziell (z. B. Kennedy-Syndrom, primäre Lateralsklerose) • Ein unerwarteter Verlauf („Stillstand“ , „ Besserung“ ) oder das Auftreten untypischer Symptome macht eine Fehldiagnose wahrscheinlich • Die El Escorial-Kriterien sind als wissenschaftliches Hilfsmittel anzusehen El-Escorial-Kriterien Definitive/sichere ALS Schädigungszeichen des 1. und 2. Motoneurons in 3 von 4 Regionen (bulbär, zervikal, thorakal, lumbosakral) Wahrscheinliche ALS Schädigungszeichen des 1. und 2. Motoneurons in 2 von 4 Regionen, wobei die Schädigungszeichen des 2. Motoneurons rostral der Schädigung des 2. Motoneurons liegen müssen Wahrscheinliche, laborunterstützte ALS Schädigungszeichen des 1. und 2. Motoneurons in einer von 4 Regionen (oder nur des 1. Motoneurons in einer Region) und Denervierungszeichen im EMG in mindestens zwei Extremitäten Mögliche ALS Schädigungszeichen des 1. und 2. Motoneurons in einer von 4 Regionen Die Diagnose einer ALS erfordert das Vorhandensein von: Zeichen der Läsion des 1. Motoneurons Zeichen der Läsion des 2. Motoneurons (inklusive EMG-Veränderungen in klinisch nicht betroffenen Muskeln) Progredienz Die Diagnose einer ALS erfordert Gefühlsstörungen, Sphinkterstörungen, Sehstörungen, Autonomer Dysfunktion Parkinson-Syndrom, Alzheimer-Demenz oder Syndromen, die der ALS das Fehlen von: ähnlich sind Die Diagnose einer ALS wird gestützt durch: Faszikulationen in einer oder mehreren Regionen, Neurogene Veränderungen im EMG, Normale motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeiten, Fehlen von Leitungsblöcken Diagnostik Obligate Untersuchungen • Klinisch-neurologische Untersuchung - Muskeleigenreflexsteigung mit Muskelatrophie, Pyramidenbahnzeichen • Elektromyographie - Riesenpotentiale - Fibrillationspotentiale, PSW • NLG: meist normal Befund • MRT-Bildgebung, falls differenzialdiagnostisch sinnvoll Elektromyographie Obligate Untersuchungen • Vitalkapazität, eventuell Blutgasanalyse • Körpergewicht, Body-Mass-Index • Die Basislabordiagnostik sollte die Bestimmung der BSG, des CRP, DBB, GOT und GPT, TSH, T3 und T4, Vit B12 • Methylmalonsäure, Homocystein, Serumeiweiß- und Immunelektrophorese • CK, Kreatinin, Elektrolyte (Na+, K+, Ca2 +, Cl– , PO43– ) Glukosespiegels Fakultative Untersuchungen • Liquoruntersuchung • Muskelbiopsie • Neuropsychologische Testung, falls klinischer Demenzverdacht • Bei Demenz: VLCFA (very long chain fatty acids) im Serum, Arylsulfatase A im Serum • Magnetstimulation des motorischen Kortex • Spinales und kraniales MRT • Erweiterte Labordiagnostik: Angiotensin-Converting-Enzym (ACE), Hexosaminidase A und B,Gangliosid-GM-1-Antikörper, ANA, anti-DNA, anti-Hu, anti-MAG, anti-AchR, anti-MUSK Fakultative Untersuchungen • Serologie (z. B. Borrelien, Lues, HIV), Ak gegen K+-Kanäle) • Bence-Jones-Protein und Knochenmarkbiopsie • Lungenfunktionsprüfung • Untersuchung der Schluckfunktionen • BIA (bioelektrische Impedanzmessung) zur Erfassung des Ernährungszustands • HNO-ärztliche Untersuchung (bei ausschließlich bulbärer und pseudobulbärer Manifestation, Differenzialdiagnose von Sprech- und Schluckstörungen) Eine genetische Testung • ist nur bei Patenten mit positiver Familienanamnese sinnvoll • SOD 1-Gen (nach Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik) • Androgenrezeptorgen bei entsprechendem klinischen Verdacht auf Kennedy-Syndrom Differentialdiagnosen Bulbär Myasthenia gravis Okulopharyngeale Muskeldystrophie Hirnstammläsionen (Tumor, Infarkt, Demyelinisierung) Erstes Motoneuron Spondylotische Myelopathie or Radikulopathie Familiäre spastische Paraparese HTLV-I assoziierte Myelopathie Funikuläre Myelose Adrenoleukodystrophy Multiple Sklerose Zweites Motoneuron Postpolio-Syndrom Spinale Muskelatrophie Benigne monomele Amyotrophie Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy Hexosaminidase A Mangel Multifokale motorische Neuropathie Einschlusskörpermyositis Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy • seltene x-chromosomal -rezessive • Die Degeneration der unteren Motoneuronen die hüftnahe Beinmuskulatur, sowie die Gesichts-, Zungen- und Schlundmuskulatur • Die Faszikulationen -an den Extremitäten und der mimischen Muskulatur auf. Im Verlauf Sprechstörungen (Dysarthrie) und Schluckstörungen • die Symptome können über Jahre bis Jahrzehnte fortschreiten Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy • sind nur Männer von der Erkrankung betroffen • manifestiert sich zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr • Patienten haben zudem eine Gynäkomastie, Hodenatrophie • Androgen-Insensivität deutlich vermindert • Die Gehfähigkeit bleibt lange erhalten • Die Lebenserwartung der Patienten ist normal Spinale Muskelatrophie • • • • • • zweites motorisches Neuron EMG mit spontaner Faszikulationen Dystrophie (Muskelbiopsie), CK erhöht Muskelatrophie Erlöschen der Muskeleigenreflexe Bluttest: fehlendes oder verändertes SMN1-Gens bei ca. 95 % der Betroffenen sowie verminderte Anzahl vorhandener SMN2-Kopien • Skoliose bei Typ I, Typ II und teilw. auch Typ III Spinale Muskelatrophie • SMA Typ I - Werdnig-Hoffmann (Akute infantile SMA) • SMA Typ II - chronische infantile SMA (Intermediäre SMA) • SMA Typ III - Kugelberg-Welander (Juvenile SMA) • SMA Typ IV - Adulte SMA: -Erkrankungsbeginn > 30 Jahre -Unterschiedliches Fortschreiten -Normale Lebenserwartung Spinale Muskelatrophie • Typ Aran-Duchenne -Beginn mit einer Schwäche und Muskelatrophie an der Handmuskulatur • Tritt zuerst eine Schwäche der Fußheber auf, wird vom Peronäustyp der spinalen Muskelatrophie gesprochen • Typ Vulpian-Bernhardt -Beginn in der SchulterMuskulatur • progressive Bulbärparalyse - die Sprech- und Schluckmuskulatur betroffen. Die Muskeln der Arme und Beine sind ausgespart. PRIMÄRE LATERALSKLEROSE • Erkrankungsbeginn - 50 • betroffen sind beide Geschlechter • Frühsymptome: - Spastik im Bein - Feinmotorikstörung der Hand, initial oft asymmetrisch Im weiteren Verlauf: -spastische Paraparese, Dysarthrie - Dysphagie Verläufe bis zu 25 Jahren PRIMÄRE LATERALSKLEROSE Nach Monaten bis Jahren: -Beinbetonte Tetraspastik und wechselnd ausgeprägte -Zeichen einer kortikobulbären Degeneration -Störungen der Augenfolgebewegungen und der Mimik. -Massive Dysarthrie und Dysphagie Therapie und Betreuung • Prinzipiell ist zwischen einer kausal orientierten pharmakologischen Therapie und einer palliativen Behandlung, die auch symptomatische Therapieansätze mit einschließt, zu unterscheiden • Die Betreuung durch ein multidisziplinäres Team an einer erfahrenen Klinik verbessert die Lebenserwartung (Traynor et al. 2003, Chio et al. 2004) Pharmakologische Therapie • Die neuroprotektiven Therapieansätze sind nur im Fall von Riluzol in doppelblinden plazebokontrollierten Studien belegt • Riluzol ist ein Glutamat-Antagonist (2 × 50 mg) • Riluzol erhöht dosisabhängig die Wahrscheinlichkeit, das erste Therapiejahr zu überleben, um 6,4– 12,1% (Miller et al. 2001) • Eine retrospektive Studie -ein früherer Einsatz des Medikaments zu einem langsameren Verfall der motorischen Funktionen führt (Riviere et al. 1998) Pharmakologische Therapie • Retrospektive Analysen von großen Datenbasen haben gezeigt, dass der lebensverlängernde Effekt in den beobachteten Patientengruppen zwischen 6 und 20 Monaten liegt • Auf hepatische Toxizität sollte vor allem zu Beginn der Behandlung geachtet werden • die pragmatischen Therapieansätze mit Antioxidanzien und Kreatin haben sich inzwischen als unwirksam erwiesen (Groeneveld et al. 2003, Graf et al. 2005) Symptomatische (palliative) Therapie • Frühzeitige Aufklärung des Patienten nach Diagnosesicherung, auch im Beisein der Angehörigen • Patientenverfügung (Diskussion alle 6 Monate) und Vorsorgevollmacht, falls vom Patienten gewünscht Chronische respiratorische Insuffizienz • Folge der Muskelschwäche mit chronischen alveolären Hypoventilation. • Die pulmonale Leistungsfähigkeit regelmäßig untersuchen • Das primäre Ziel der nichtinvasiven Heimbeatmung ist die symptomatische Therapie und die Erhöhung der Lebensqualität, nicht die Lebensverlängerung. • Patienten mit spinaler Symptomatik profitieren deutlich mehr von der nichtinvasiver Heimbeatmung als Patienten mit bulbärer Symptomatik Chronische respiratorische Insuffizienz • Mukolytika, evtl. Euphyllin bei obstruktiver Komponente; ggf. tragbares Gerät zur Hustenunterstützung („ home suction device“ ) (Sancho et al. 2004) • Achtung: Invasive Beatmungstechniken (Tracheostoma) nur nach ausführlichen Gesprächen mit dem Patienten und seinen Angehörigen einsetzen! • Notfallintubationen ohne Aufklärung und Einwilligung sollten vermieden werden Therapie der Dyspnoe • Bekämpfung der Ursache (z. B. Antibiose bei Bronchopneumonie), in der Terminalphase je nach Wunsch des Patienten ggf. rein symptomatische Therapie Morphin beginnend mit 2,5– 5 mg alle • 4 Stunden p. o. oder 1– 2 mg s. c./i. v., Dosierungsschema: - 1– 2 mg Morphin s. c. alle 4 Stunden Pneumonieprophylaxe • die Kontrolle der Bronchialsekretion • der möglichste gute Funktionserhalt der Atemmuskulatur • Auch die Kontrolle der Hypersalivation • praktisch immer in mittleren und späten Stadien der Erkrankung notwendig Behandlung der Hypersalivation • TTS Scopoderm (alle 1– 3 Tage), alternativ: Amitriptylin (25– 50 mg, bis zu 3x täglich), • Atropintropfen 1% sublingual, 1– 2 Tropfen bis zu 3x täglich, Belladonnysat als Spüllösung • Botulinumtoxin-Glandula parotidea, je Glandula submandibularia • Die früher durchgeführte Bestrahlung der Speicheldrüsen (Einzeldosis 7– 8 Gy) Behandlung von Laryngospasmen • Beim Kennedy-Syndrom -50% (Gdynia et al. 2006) • bei der ALS bei bis zu 19% • Mögliche Auslöser sind gastroösophagealer Reflux, emotionale Reize, starke Geruchs- und Geschmacksempfindungen oder kalte Atemluft • Protonenpumpenhemmer oder Prokinetika Behandlung von Schluckstörungen • Der Ernährungszustand des ALS-Patienten ist ein unabhängiger Risikofaktor für das Überleben (Desport et al. 1999) • Therapie: perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) • die Mortalität in den ersten Monaten nach Anlage einer PEG erhöht ist (Forbes et al. 2004, Ludolph et al. 2006) Behandlung von Depressionen • Depressionen sind bei der ALS seltener als bei anderen schweren neurologischen Erkrankungen und treten häufiger zu Beginn der Erkrankung auf (Kuebler et al. 2006, Lulé et al. 2008) • Antidepressiva (z. B. Amitryptilin, Serotoninwiederaufnahme-Hemmer) • Psychotherapie Behandlung von Affektstörungen bei Pseudobulbärparalyse • Diese begleiten häufig die Zeichen der Affektion des ersten Motoneurons (Pseudobulbärparalyse) • Amitryptilin, evtl. SerotoninwiederaufnahmeHemmer, z. B. Fluvoxamin • Chinidin in Kombination mit Dextramethorphan (Brookes et al. 2004) Schmerztherapie • Schmerzen-in fortgeschrittenen Stadien ein häufiges Begleitsymptom der ALS • Nicht narkotisch wirkende Analgetika, nichtsteroidale Antiphlogistika als Initialbehandlung • Opioide (ggf. subkutan, transdermal) Behandlung von Muskelkrämpfen/Faszikulationen • Muskelkrämpfe und Faszikulationen sind häufig vorübergehender Teil des frühen Krankheitsbildes • Magnesium, Chininsulfat , Carbamazepin • Gabapentin hat keinen Effekt Andere • • • • • • Krankengymnastik und Ergotherapie Thromboseprophylaxe Behandlung der Spastik Dysarthrie Angststörungen Psychosoziale Betreuung Referenzen 1. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Trigeminusneuralgie. Leitlinien der DGN; 2008 2. Neurologie und Psychiatrie für Studium und Praxis 2009/2010 Gleixner, Müller, Wirth 3. Adam‘s and Victor‘s Principles of Neurology 8th 2005 4. Amyotrophic Lateral Sclerosis: Carmel Armon, MD, MSc, MHS, Professor of Neurology, Tufts University School of Medicine; Chief, Division of Neurology, Baystate Medical Center Danke für ihre Aufmerksamkeit!