Schon 1995 war deutlich, dass Deutschland mit einer wirt

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1
29 Von der Euro-Hegemonie zur Standortkrise
 1990, im Jahr der Vereinigung, herrschten Phantasien von
Deutschland als einer Weltwirtschaftsmacht vor.
Deutschland galt als großer wirtschaftlicher Hoffnungsträger, der Wachstumsimpulse für die europäische Wirtschaft und die Weltwirtschaft geben sollte und
die ökonomische Misere des realen Sozialismus in Europa tatkräftig
reparieren helfen sollte.
Die drei Großen der Weltwirtschaft, die USA, Japan und Deutschland, sollten
die Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in eine neue Ära der
Prosperität führen.
2

Schon 1995 war deutlich, dass Deutschland mit einer wirtschaftlichen Führungsrolle in Europa angespannt, wenn nicht
überfordert war. Die wirtschaftliche Vereinigung wurde kein
Selbstläufer. 2004 wurde wieder über eine Sonderwirtschaftszone diskutiert.
Die Kosten erwiesen sich als exorbitant. Finanztransfers in Höhe von jährlich
ca. 90 Mrd. € addierten sich bis 2003 auf 1250 Mrd. € auf.
Das lenkte die vormalige dominante Wirtschaft in Westeuropa auf den Weg
wachsender Staatsverschuldung und heftiger Verteilungskonflikte.
Die simplen Additionen der Altbestände von Bundesrepublik und DDR, wie sie
1989/90 üblich gewesen waren, hatten sich als nicht haltbare Kapazitätsberechnungen und Wunschdenken erwiesen.
3
Mrd. €
Aufbau Ost und Abstieg West
€
120
7000
100
6000
5000
80
4000
60
3000
Brutto-Transferleistungen in die neuen Bundesländer
40
2000
Pro-Kopf-Verschuldung in Westdeutschland** ( € )
20
1000
0
0
1991
93
95
97
Quellen: IWH (Transfer) und Bundesbank (Verschuldung)
99
01*
2003
* vom IWH für 2001 keine Daten
erhoben
** Länder und Gemeinden
4
 Der Anstieg der Bevölkerungszahl von 61 auf 79 Millionen und
das Wachstum des Staatsgebiets um 30 Prozent waren zwar feste
Größen, die allerdings nicht allzu viel über die gemeinsame
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aussagten.
Deutschland stellte vereinigt 23 Prozent der Bevölkerung der EG-12 und
15 Prozent der EG-Fläche, vorher waren es 11 Prozent gewesen.
Die alte Bundesrepublik hatte 1989 mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP,
Gesamtheit der aus der Wirtschaftstätigkeit resultierenden Güter und
Dienstleistungen) mit 1 193 Mrd. Dollar vor Frankreich mit 942 Mrd. Dollar
gelegen.
Zählte man das Bruttoinlandsprodukt der DDR nach dem Stand von 1989
hinzu, ergab sich ein gesamtdeutsches Bruttoinlandsprodukt von 1419 Mrd.
Dollar.
Tatsächlich erreichten die neuen Bundesländer im Jahr 1991 nur 31 Prozent
des BIP der alten Länder, bis 1995 stieg das erwirtschaftete BIP auf
52 Prozent des Westniveaus.
5
 Auch bei der Exportleistung war Gesamtdeutschland voreilig
optimistisch eine erhebliche Steigerung zugerechnet worden.
Die westdeutschen Exportwerte waren 1989 mit 341 Mrd. Dollar fast doppelt
so hoch wie die Frankreichs mit 177 Mrd. Dollar. Die Spitzenstellung in Europa
war unangefochten.
1986, 1987, 1988 und 1990 war die Bundesrepublik sogar Exportweltmeister
vor den USA. In den Jahren danach konnte mit fallender Tendenz Platz zwei
gehalten werden.
1993 hatte Japan fast gleichgezogen, der deutsche Vorsprung beim Export
betrug nur noch 2 Mrd. US-Dollar. In der regionalen Betrachtung wird der
Europaschwerpunkt des deutschen Exports deutlich.
6
S34: Die deutsche Handelsbilanz 1989-2009 in Mrd. Euro
Mrd. Euro
200
180
*vorläufige
Welt
Werte
EG/EU
USA
Japan
160
140
120
100
80
60
40
20
0
-20
Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die BR Deutschland, div. Jg.
1989
91
93
95
97
99
01
03
05
07
2009*
7
Deutschlands Exporte 1995 und 2009 nach Bundesländern
138.6
Nordrhein-Westfalen
82.5
125.0
Baden-Württemberg
63.4
124.0
Bayern
57.1
56.9
Niedersachsen
30.2
43.1
Hessen
24.5
34.9
Rheinland-Pfalz
20.0
31.3
Hamburg
Sachsen
8.2
19.5
2009
3.5
15.0
7.0
11.2
11,0
10.8
7.0
10.7
1.8
10.5
6.1
10.3
2.1
9.0
2.1
5.1
1.3
Schleswig-Holstein
Saarland
Bremen
Brandenburg
Berlin
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Meckl.-Vorpommern
0
1995
Quelle: Statistisches Bundesamt
25
50
75 Mrd. €
100
125
8
 Die starke Stellung der DDR-Wirtschaft auf den Märkten des Ostens
hatte voreilig optimistisch zu der Annahme einer weiteren Verstärkung der deutschen Exportmaschine verführt. Doch gerade
dieser Trumpf der DDR-Wirtschaft erwies sich als Lusche.
Die Exporte aus den neuen Bundesländern in den Osten brachen so tief ein,
dass von einem vorübergehenden Verlust der alten Ostmärkte gesprochen
werden musste.
9
Die Warenausfuhren der neuen Bundesländer in die Ex-Sowjetunion
schrumpften z. B. von 1989 bis 1992 auf ein Drittel, bei den Reformländern in
Osteuropa war der Einbruch noch drastischer. Erst 1994 wurde die
Trendwende geschafft.
Das Exportniveau von 1989 blieb allerdings noch Fernziel. Um gar die
westdeutsche Exportintensität zu erreichen, müssten die ostdeutschen
Ausfuhren von 12 auf 150 Mrd. DM steigen. Die Regionalstruktur der Exporte
aus den neuen Bundesländern hatte sich so verändert, dass der Ostanteil auf
40 Prozent zurückgegangen war, der Westanteil hingegen auf 42 Prozent
angestiegen war.
10
 Mitte der neunziger Jahre kam der gesamtdeutsche Osthandel
wieder in Gang, das Exportwachstums in den Neuen Länder blieb
schwach.
Was an Ostexport aus den neuen Bundesländern übrig geblieben war, musste
zum größten Teil durch Exportbürgschaften abgesichert werden.
Es entstand ein wirtschaftlich längerfristig unhaltbares Phänomen, dass z. B.
Güter für Russland aus Arbeitsplatzgründen bei der Herstellung subventioniert,
für den Export kreditiert und wegen der nur bedingten Zahlungsfähigkeit der
Abnehmer längerfristig wohl auch abgeschrieben werden müssen.
Dies lief auf eine hochgradige Politisierung des Russlandhandels hinaus.
Wirtschaftlich gesehen war der Export in dieser Form für die deutsche Kasse
ein doppeltes Verlustgeschäft.
11
 Der Ostexport der DDR hatte die gleiche Branchenstruktur wie in
der BRD aufgewiesen, was die Anpassungsleistung für die Unternehmen in den neuen Bundesländern erheblich erschwerte.
Der technologische Rückstand war exorbitant, die Produktivität erreichte 1991
lediglich 31 Prozent des Westniveaus, 1995 waren es 68 Prozent.
Die verfügbaren Einkommen stiegen von 46 Prozent des Westniveaus im Jahr
1991 auf 68 Prozent im Jahr 1995 an. Das war aus Gründen des inneren
wirtschaftlichen und politischen Friedens unerlässlich, für den Export stellte es
eine schwere Hypothek dar.
Unter diesen Konditionen wurden die Länder Osteuropas mit ihren Lohnkostenvorteilen schneller zum Konkurrenten, als dass sie wieder aufnahmefähige
Märkte für nun teure ostdeutsche Waren werden konnten.
12
 Die regionalen Arbeitskostenunterschiede bewirkten einen Trend
zur Auslagerung lohnintensiver Produktion aus Deutschland in
das östliche Umfeld.
Die Arbeitskosten pro Stunde in der verarbeitenden Industrie betrugen 1993/94
im Westen Deutschlands 43,97 DM, in Ostdeutschland 26,53 DM. Die
Vergleichswerte für Ungarn lagen bei 4,54 DM, für die tschechische Republik
bei 3,01 DM, für Polen 3,45 DM und für Russland 0,92 DM.
Das Arbeitskostengefälle bewirkte z. B. in den fünf Jahren von 1989 bis 1994
eine Verdoppelung der deutschen Ausfuhren zur Lohnveredelung nach
Osteuropa, vornehmlich nach Polen, Tschechien und Ungarn.
Nach dem Beitritt zur EU wird das Lohnniveau in Ostmitteleuropa zwar
langsam wachsen. Der Lohnkostenvorteil gegenüber Deutschland wird aber
mittelfristig noch bestehen bleiben.
13
14

Deutsche Direktinvestitionen in die östlichen Nachbarstaaten
sind stark gewachsen, in die GUS fließen sie noch nur
tropfenweise. Der Schwerpunkt der deutschen Direktinvestitionen im Ausland liegt wie beim Warenexport auch in
Westeuropa (EU), dann folgten die USA.
15
16
 Mit Russland hat Deutschland seit 1990 ein Schuldenproblem. Der
Russlandhandel wies starke Schwankungen auf.
1993 entfielen allein 80,6 Mrd. DM auf die GUS. Der Preis für den Abzug der
Sowjetarmee aus der DDR schlug mit 18,98 Mrd. DM zu Buche, die
Kreditgarantien und Hermesbürgschaften betrugen 41,65 Mrd. DM, die
unbezahlten Exportüberschüsse der DDR gegenüber der Sowjetunion beliefen
sich auf 17,1 Mrd. DM, Investitionen aus der DDR ergaben zusammen
2,9 Mrd. DM.
Im April 2002 einigte sich Bundeskanzler Schröder mit dem russischen
Präsidenten Putin darauf, dass Russland dafür 500 Mio. Euro an Deutschland
zahlen werde.
Der deutsche Steuerzahler sah von den Altschulden also wenig wieder. Der
Großteil musste de facto als externe Kosten der Vereinigung abgeschrieben
werden. Russland war ein notorischer Umschuldungsfall.
17
 Angesichts des fortdauernden Übergangschaos in Russland waren
nur noch die Rohstoffexporte (Gas, Öl, Diamanten, Gold) relativ
zuverlässige Einnahmequellen.
Auf dieser Basis war der deutsche Russlandexport nach 1990 eingebrochen
und stagnierte auch Mitte der neunziger Jahre noch auf weniger als der Hälfte
des Niveaus von 1990.
1997 war mit 16,4 Mrd. DM ein neues Spitzenjahr des Russlandexports, 1999
erfolgte wieder ein Einbruch auf 9,8 Mrd. DM.
18
Mrd. €
Deutscher* Export nach Osteuropa
MOE+GUS
Mrd. €
160
40
35
Polen
140
Ungarn
30
Tschechien**
Russland***
25
MOE + GUS****
120
100
20
80
15
60
10
40
5
20
0
Quellen: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die
BR Deutschland bzw. Außenhandelsstatistik, div. Jg.
85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07
**Bis 1993 ehem. Tschechoslowakei. ***Bis 1993 ehem. Sowjetunion. **** ohne Malta, Zypern, Türkei
0
19
 Gesamtdeutschland ist also in der Bilanz von 2002 durch die
Vereinigung außenwirtschaftlich nicht stärker sondern schwächer
geworden.
Die wirtschaftliche Integration der neuen Länder musste über interne
Umverteilung finanziert werden und kann nicht durch wachsende Exporterlöse
ausgeglichen werden. Der Modernisierungsrückstand im Osten belastet den
anstehenden Strukturwandel im Westen zusätzlich.
Deutschland bekam also zurecht wieder einmal eine Standortdebatte, mittlerweile schon die vierte. Aus der Sicht der Unternehmen müssten in erster Linie
die Arbeitskosten begrenzt werden, aus der Sicht der Gewerkschaften ging es
um Besitzstandswahrung beim Lebensstandard im Westen, im Osten um ein
schnelles Gleichziehen.
Neben dem außenwirtschaftlich bedingten Verteilungskonflikt in einer Rezessionsphase traten also erhebliche strukturell bedingte interne Verteilungskonflikte. Deutschlands Rolle als Euro-Hegemon und Nummer drei in der Welt
nach den USA und Japan war dadurch angeschlagen.
20
 Entwicklungspolitische Leistungen für die armen Länder konnten
deshalb bei allem guten Willen und Lippenbekenntnissen zur
Hilfsbereitschaft nicht weit tragen.
Das von der UNO gesetzte Ziel eines 0,7-Prozent-Anteils am Bruttosozialprodukt für die öffentliche Entwicklungshilfe aufzuwenden wurde Deutschland
deshalb auch nicht erreicht. Schon die alte Bundesrepublik war Mitte der
achtziger Jahre lediglich auf 0,45 Prozent gekommen.
1999 wurden 0,26 Prozent erreicht. In absoluten Zahlen waren dies 1998
6,2 Mrd. US-$. Deutschland gehörte damit zu den Hauptgeberländern. Es lag
an vierter Stelle hinter den USA (11,5 Mrd. US-$), Japan (10,8 Mrd. US-$) und
Frankreich (6,6 Mrd. US-$).
21
Doch nicht nur leere Kassen standen hier im Weg, ebenso die konzeptionelle
Ratlosigkeit, wie Entwicklung angesichts schlechter Regierungsführung und
korrupter Staatsklassen in den meisten armen Ländern wirksam angestoßen
werden kann.
Das Scheitern der großen Theorieentwürfe und das Ende der entwicklungspolitischen Systemkonkurrenz hatten eine Renaissance für marktwirtschaftliche
Lösungen in der Form von „Hilfe durch Handel“ ausgelöst. Das ergibt aber nur
für Länder mit handelbaren Gütern Sinn. Hilfe erhält so tendenziell nur noch
den Stellenwert einer Restkategorie für aussichtslose Fälle, quasi als
Weltsozialhilfe auf möglichst niedrigem Niveau.
22
 Wie die Analyse der deutschen Absatzmärkte aufgezeigt, wird
Reichtum aus dem Außenwirtschaftsverkehr vornehmlich im Westhandel verdient.
Das macht für die deutsche Außenwirtschaft in den neunziger Jahren die
Entwicklung der Europäischen Union und den Grad der Offenheit im Welthandelssystem zu den entscheidenden Parametern.
Die Bezeichnung EU statt EG wurde zum 1. 11. 1993 mit dem Inkrafttreten des
Vertrages über die Europäische Union geändert. Der EU-Binnenmarkt ist für
die deutsche Exportwirtschaft von zentralem Interesse.
Hier dürfen keine Anteile verloren gehen, sie müssen vielmehr gesteigert
werden, wenn die neuen Bundesländer einbezogen werden sollen und aus
eigener Kraft zum Aufbau wesentlich beitragen sollen. Die Überwindung der
konjunkturellen Rezession im EU-Raum und die Nutzung des Binnenmarktes
ist dabei von zentraler Bedeutung. Beim Osthandel zählten vor allem die
Beitrittskandidaten.
23
 Die wachsende deutsche Staatsverschuldung und das damit
verursachte hohe deutsche Zinsniveau zur Wahrung der DMStabilität offenbarten die Zielkonflikte. Bislang hatte die deutsche
Mark als Stabilitätsanker im EG-Währungsraum gewirkt.
Diese Rolle war angeschlagen, weil sie einer schleichenden Ostsklerose
unterlag. In den achtziger Jahren war die Bundesbank von den Partnerstaaten
immer wieder dafür kritisiert worden, eine stabilitätsmanische Geldpolitik zu
betreiben, sie erbrachte damit für das westeuropäische Währungssystem aber
eine positive Hegemonialleistung, die auf monetärer Disziplin in der
Binnenwirtschaftspolitik beruhte.
Als die Bundesbank aus Binnendruck heraus Anfang der neunziger Jahre
vorübergehend weichere Geldpolitik betrieb, erfuhr sie von außen Kritik aus der
Gegenrichtung. Die deutsche Währungspolitik hatte hier zu lavieren.
Binneninteresse und europäische Erforderungen waren weniger leicht in
Einklang zu bringen als in den achtziger Jahren. Die Entwicklung des Kurses
der Mark gegenüber dem US-Dollar verdeutlicht den Aufstieg der deutschen
Währung.
24
S: 08 Dollarkurs in DM 1953-1998 ab 1999 Eurokurs in US- Dollar
4.5
4.20
4
3.5
2.94
3
2.51
2.5
1.88
2
1.75
1.81
1.37
1.5
1.24
1.43
DM
1
1.39
1.06
0.89
Euro
0.5
Quelle: Economic Report of the President, vers. Jg.
* Durschnittswert für die ersten 3 Quartale
0
53
68
72
76
78
80
82
84
86
88
90
92
94
96
98
00
02
04
06
08
25
26
 Bei der Europäischen Währung hatten Bundesregierung und
Bundesbank deshalb auch auf Zeit gespielt. Einen Automatismus
für die Währungsunion im Jahr 1999 sah der deutsche Finanzminister beim Treffen der EU-Finanzminister Anfang April 1995 in
Versailles noch nicht.
Beim Disput um den Namen für die geplante Europawährung wurden im
Sommer 1995 ECU, Franken, Euro und Solidus gehandelt. Bei der Auswahl
ging es um mehr als nur um einen Streit über Symbole.
Besonders die deutsche Regierung wollte das Kürzel ECU nicht, statt dessen
aber einen Namen, der bei der deutschen Bevölkerung die Vorstellung von
einer harten Europawährung bekräftigte. Deshalb favorisierte sie Euro-Mark
oder Euro-Franken.
27
Beim regulären, halbjährigen Treffen der EU-Finanzminister im spanischen
Valencia Ende September 1995 optierte der deutsche Finanzminister Theo
Waigel für das schlichte Kürzel Euro. Die FAZ kolportierte dies mit der bissigen
Bemerkung dann könne man die künftige Währung ebenso gut „Theo“ nennen.
Allgemein galt die Europäische Währungsunion den Partnern in Europa als
„eine Möglichkeit, die deutsche Vorherrschaft zu beschneiden; in der Tat ist
dies die wichtigste Begründung.“
28
 Gegensätze gab es auch in der Handelspolitik. Nationale Wiederaufbauinteressen in den neuen Bundesländern, regionales Integrationsinteresse und weltwirtschaftliches Öffnungsinteresse stimmten keinesfalls automatisch überein.
Die modernsten Sektoren in Westdeutschland müssen in der Triade mit den
USA und Japan mithalten. Dafür brauchen sie globale Absatzmärkte.
Im Osten Deutschlands und in den strukturschwachen Regionen der EU geht
es um nachholende Modernisierung. Dafür gibt es eine Schutzlobby und im
Interesse dieses Ziels sind auch vorübergehende Protektionsmaßnahmen zur
Strukturanpassung erforderlich.
Solche Schutzpolitik ginge zu Lasten der Einfuhren aus Japan, aus den
Schwellenländern und auch von einigen exportstarken Branchen in Osteuropa.
Im letzteren Fall würde dies z. B. Stahlimporte und Einfuhren von Energierohstoffen treffen.
29
 Der Interessenkonflikt zwischen Freihändlern und Protektionisten
geht also jetzt mitten durch Deutschland hindurch.
Nicht mehr nur die alte Agrarlobby sondern auch die Industrie in den neuen
Bundesländern ist auf Subvention und Schutz angewiesen.
Noch ist sie im außenwirtschaftspolitischen Entscheidungssystem Deutschlands schwach vertreten, ihr Einfluss hat im Verlauf der neunziger Jahre kaum
zugenommen. Damit wurden auch die vor allem südeuropäische Protektionsfront in der EU in Brüssel nicht verstärkt.
Dennoch könnte das noch kommen und die die Verteilungsprozesse in Brüssel
erschwert sowie die transatlantischen Handelskonflikte und erst recht die mit
Japan zunehmen.
Deutschland dürfte dabei nicht mehr ungebrochen die alte liberale Bannerträgerrolle der Bundesrepublik aus den achtziger Jahren weiter spielen können.
30
 In der EU ist Deutschland der Nettozahler Nr. 1, zugleich aber auch
Empfänger von EU-Hilfe aus dem Strukturfonds.
So konnten die fünf neuen Bundesländer zwischen 1993 und 1999 knapp
30 Mrd. DM von 350 Mrd. DM erhalten. Das ändert aber nichts an einem für
Deutschland ungünstigen Verteilerschlüssel bei den Bruttobeträgen, die sich
am Bruttosozialprodukt (BSP) orientieren.
Danach würden die deutschen Bruttozahlungen von 22 Milliarden DM im Jahr
1990, über 41,8 Milliarden 1994 auf 54,7 Milliarden im Jahr 1998 steigen. Als
einsamer Spitzenreiter, der mehr in die Euro-Kasse zahlt als Frankreich und
England zusammen, brächte eine Beitragsberechnung nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, wie das deutsche Präsidiumsmitglied des Europäischen
Rechnungshofs, Bernhard Friedmann, vorschlug, erhebliche Entlastung.
Die Forderung nach einer Revision mit Beitragsentlastungseffekten für
Deutschland ist unausweichlich, Widerstände der Profiteure der herkömmlichen Regel auch. Angesichts der Osterweiterung und ihrer Kosten liegt eine
deutliche Entlastung in weiter ferne.
31
S 37:Deutsche, französische und britische Anteile am EU-Haushalt
(in Prozent)
35
Quelle: EU-Kommission, Allocation of EU operating
expenditure by Member State, div. Jge.
30
D
F
06
07
GB
25
20
15
10
5
0
1994 95
96
97
98
99
00
01
02
03
04
05
08 2009
32
 Von einer neuen deutschen handelspolitischen Ambivalenz könnte
auch das Welthandelssystem betroffen sein.
Die erst nach zähen Verhandlungsrunden abgeschlossene Runde im
Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) zeigte die Schwierigkeiten
zwischen den drei Zentren USA, Japan und Westeuropa auf.
Trotz eines neuen Handelsregimes, der World Trade Organization (WTO), sind
die Freihandelsinteressenten in den USA und in Europa schwächer geworden.
In Japan haben sie dagegen an Einfluss gewonnen, sind aber insgesamt dort
gegenüber der strategischen Handelslobby eindeutig in der Minderheit.
33
Nach dem Wegfall des gemeinsamen Gegners auf dem Feld der Sicherheit gibt
es einen Trend in der Weltwirtschaft zur Regionalisierung, die auf verschärfte
Verteilungskonflikte zwischen den drei großen Zentren hinauslaufen kann.
Doch auch die Interdependenz zwischen den drei Räumen hat zugenommen,
dies ging aber zu Lasten von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppen,
die ihre eigenen Interessen härter verfechten als früher.
Frankreichs Verzögerungspolitik im GATT, um die französische Landwirtschaft
zu schonen, war ein deutliches Beispiel. Ein besonderer deutsche Einsatz in
der laufenden Doha-Runde steht noch aus. Es wurde er leise im EU-Chor
mitgesungen.
34
 Europa und voran Deutschland als die regionale Nummer eins
weisen deutliche Defizite bei den sogenannten Zukunftstechnologien auf, in der Kommunikationstechnik, bei der Mikroelektronik,
bei Software, bei der Biotechnik und bei neuen Materialien.
Auch bei traditionellen Technologien wie etwa im Automobilbau liegen
Konkurrenzschwächen im Vergleich mit den Wettbewerbern vor. Die Doppelbelastung bestehend aus dem Wiederaufbau im Osten und dem scharfen
Wettbewerb mit asiatischen Konkurrenten ist eine enorme Herausforderung für
die Wirtschaftsregion Europa.
35
2004 war die Binnenmarkteuphorie wieder in einen vorsichtigen Euroskeptizismus umgeschlagen. Selbst den Anhängern des Binnenmarktes ist unwohl
bei der Frage, ob er mehr der europäischen Industrie oder der amerikanischen
und japanischen Konkurrenz nutzen wird.
Während lange eher die Chancen einer Osterweiterung der EU propagiert
wurden, war ab 2002 auch die Betrachtung der Grenzen und Belastungen en
vogue. Ein mittelfristiger deutscher Misserfolg bei der wirtschaftlichen
Vereinigung, der mit einer Ostsklerose der deutschen Wirtschaft einhergeht,
weil die Dauerlast der Milliardentransfers in die neuen Länder das Vertrauen
untergräbt, bringt erhebliche wachstumsmindernde Negativimpulse für die
gesamteuropäische Wirtschaft mit sich. Deutschland wirkt nicht mehr als
Wachstumslokomotive sondern als Bremsklotz.
36
 Ob die EU als westeuropäische Wohlstandszone erfolgreich
bewahrt, ausgebaut und schnell nach Osten ausgeweitet werden
kann, lässt sich 2010 immer noch schwer abschätzen.
Die Herausforderungen sind enorm, die Chancen sind real groß, die Gefahr
des Scheiterns wird allerdings nicht nur von Miesmachern beschworen.
Ob die deutschen nationalen und die regionalen europäischen Institutionen die
erforderliche Kraft zur Veränderung aufbringen oder in einer institutionellen
Sklerose den erforderlichen Wandel lähmen, wird sich herausstellen.
Ohne die Aufgabe alter Privilegien wird es keine neuen dynamischen
Wachstumschancen geben können. Jegliche einschneidende Umverteilung
wird zu Lasten von Hochlohngruppen und wohlfahrtsstaatlichen Spitzenleistungen gehen.
Der Standort Deutschland wird Spitzenverdienste durch Strukturwandel und
Produktivitätssteigerung verdienen müssen, sonst unterliegt er zuerst der
ersten Stagnation und dann der Auszehrung.
37
 In den neuen Bundesländern sind die alten industriellen Kerne
schon auf kleine Reste geschrumpft.
Mit einer Gewaltkur in die nächste industrielle Revolution, in das Kommunikationszeitalter, werden völlig neue High-Tech-Branchen entstehen müssen, um
eine eigene industrielle Exportkapazität aufbauen zu können.
Aus den alten Kombinaten konnten keine modernisierten Großkonzerne
werden, da selbst im Westen die Industriedinosaurier in die Krise geraten
waren.
Eine beträchtliche Binnenwanderung von Arbeitskräften und die Abwanderung
in neue Branchen und neue kleinere Unternehmen wird nicht zu vermeiden
sein. Das alles wird bei einer hohen Sockelarbeitslosigkeit von statten gehen.
Der Strukturwandel in Westdeutschland, der sich über Jahrzehnte gestreckt
hat, lief im Osten Deutschlands im Zeitraffertempo ab.
38

Die soziale Abfederung dieses Prozesses konnte wegen des
relativen Reichtums in Westdeutschland weit über dem
osteuropäischen Niveau vonstatten gehen. Sie erfolgte aber
weit unter den Erwartungshorizonten eines Großteils der
ostdeutschen Bevölkerung.
Der Verteilungskonflikt bei den Soziallasten wurde bislang zugunsten der
gegenwärtigen Wähler und zu Lasten der nächsten Generation abgeschwächt.
Deutschland steht keine bequeme Erntephase bevor, sondern eine härtere Zeit
des Ackerns und Säens.
39
Das politische System und die gesellschaftlichen Institutionen stellen sich erst
langsam und mühsam darauf ein. Wie nicht anders zu erwarten, wandeln sie
sich nur unter starkem Druck. Die Wahl eines Nachfolgers für den politische
erstarrten Helmut Kohl im September 1998 erwies sich nicht als Modernisierungsaufbruch.
Die alte sozialbürokratische Beharrungsklientel dominierte das erste Kabinett
Schröders. Der Kanzler selbst war durchaus reformwillig, aber ihm fehlte die
dynamische Basis in Partei und Gesellschaft.
40
 Das politische System und die gesellschaftlichen Institutionen
stellen sich erst langsam und mühsam darauf ein.
Wie nicht anders zu erwarten, wandeln sie sich nur unter starkem Druck.
Das politische System ließ hier im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen
und politischen Erfordernissen wachsende Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau
zu.
Westdeutschland hatte dabei immer unter dem europäischen Durchschnitt
gelegen. Gesamtdeutschland hatte sich dem hohen Arbeitslosenniveau in
Europa angeglichen.
41
S 38: Arbeitslosenquoten im Vergleich: Bundesrepublik,
Europäische Union und USA 1992-2010
%
23
Quelle: Eurostat (D/ EU/ USA), Arbeitsagentur (alte/neue
* Daten für Gesamtdeutschland, EU und USA
21
nach ILO- bzw. EU-Definition harmonisiert
(zwecks internationaler Vergleichbarkeit)
19
17
15
13
D*
alte BL
EU 15*
USA*
neue BL
11
9
7
5
3
92
93
94
95
96
97
98
99
00
01
02
03
04
05
06
07
08
09
10
42
 Das Selbstverständnis der neuen gesamtdeutschen Republik als
erfolgreicher Handelsstaat, der durch ein hohes Leistungsniveau
verdient und nicht allein durch bequeme Rente genossen werden
kann, müsste wieder wachsen.
Wenn die deutsche Gesellschaft weg von larmoyanter Zukunftsangst einerseits
und der Spaß- und Erlebnisgesellschaft andererseits zum wirtschaftlichen
Leistungswillen aufzubrechen in der Lage ist, sind die deutschen Karten besser
als die vieler Nachbarn.
Ohne einen neuen deutschen wirtschaftlichen Ehrgeiz wird das aber nicht
gehen. Besitzstandswahrung und Teilung als zentrale Wertekoordinaten
reichen jedenfalls nicht. Erforderlich wäre eine Attitude, die Dynamik in den
Vordergrund stellt und dafür überkommene Starrheiten überwindet.
43
 Für weitere postmaterialistische Vergnügungen und zusätzliche
soziale Wohltaten fehlt die Substanz.
Die deutsche Gesellschaft hat in ihrem Hochlohnland eine enorme Herausforderung bei der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu meistern. Die
Globalisierung schwächt zugleich die staatliche Steuerungsfähigkeit.
Etatistische Lösungen verlieren an Wirkungskraft, der gewachsene deutsche
Korporatismus, die alte Deutschland AG, die die Erfolge der alten Bundesrepublik ermöglicht hatte, ist als Rezeptur immer weniger tragfähig.
Für die neue Wirtschaftswelt des Informationszeitalters ist die von Verlustängsten geprägte verwöhnte deutsche Gesellschaft in West und Ost schlecht
vorbereitet.
44
Dennoch hielt sich Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 2007/08
recht gut. 3 Gründe gab es dafür:
1. Standortverbesserungen davor,
2. Konjunkturprogramme am Anfang der Krise und
3. die schnelle Rückkehr der Exportstärke in der Krise.
Allerdings legte die Krise Probleme und Regelungsschwächen in
der Eurozone offen. Das Regelwerk erwies sich als nicht
krisentauglich. Die Schuldenländer im Süden mussten durch
Bürgschaften vor Staatspleiten gerettet werden und es fand ein
Einstieg in eine Transferunion statt. Deutschland als
dominierende Ökonomie musste Verpflichtungen für die
Schuldenmacher übernehmen, die politisch im Lande schwer
vermittelbar waren.
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