Esho-Funi

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STUDIUM
Esho Funi
von Dr. Barbara Krausnick
Foto:Beat Streuli
“Die zehn Richtungen sind Umgebung (Eho),
und fühlende Wesen sind Leben (Shoho). Die
Umgebung ist wie der Schatten, und das Leben
ist der Körper. Ohne den Körper kann es keinen
Schatten geben. Genauso kann die Umgebung
ohne das Leben nicht existieren, obwohl das
Leben von der Umgebung erhalten wird.”
(Nichiren Daishonin in der Gosho “Gute Vorzeichen”)
Normalerweise nehmen wir die Realität unter
zwei verschiedenen Aspekten wahr: Aus der Sicht
unserer subjektiven Existenz einerseits, die unseren Körper, unsere Gedanken, Gefühle und Wünsche umfaßt, und bezogen auf unsere objektive
Umgebung andererseits, die für uns dort beginnt,
wo unsere Haut, als Grenze zwischen innen und
außen, aufhört. In der buddhistischen Terminologie bezeichnet “Shoho” das lebende Subjekt, das
eigentlich alle fühlenden Wesen umfasst, der Vereinfachung halber hier aber mit menschlichen
Wesen gleichgesetzt wird, und “Eho” die objektive Umgebung. Beide zusammengefasst sind “Esho”
oder “subjektives Leben und seine Umgebung”,
die in der Beziehung von “Funi” zueinander ste10
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hen. “Funi” wiederum hat die zunächst paradox
klingende Bedeutung von “zwei und nicht zwei”
und “nicht zwei und doch zwei”, beschreibt also
Getrenntheit und Einheit zugleich. Obwohl also
subjektives Leben und seine Umgebung auf einer
phänomenalen Ebene durchaus getrennt voneinander wahrgenommen werden können, sind sie
im Wesen doch eins und daher unauflöslich miteinander verbunden. Das Beispiel vom Körper
und seinem Schatten ist eine treffende Analogie
dazu: So wie es keinen Körper ohne Schatten gibt,
der Schatten den Körper reflektiert, sich aber
entsprechend den Bewegungen und Konturen des
Körpers mit diesem verändert, so gibt es auch kein
Leben ohne eine dazugehörige und für eben nur
dieses Leben spezifische Umgebung.
Was bedeutet dieses Prinzip aber konkret, welche
Konsequenzen hat es für unser Leben und im
Besonderen für die buddhistische Ausübung? Jeder Mensch hat eine bestimmte Umgebung, die
seinen ganz individuellen Lebensraum ausmacht.
Angefangen von der Familie, in die wir hineingeboren werden mit ihrem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld, unseren Freunden und Ar-
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beitskollegen, über den Ort, an dem wir leben mit
seiner Natur, das Land, durch das wir einer bestimmten Nationalität angehören, bis hin zum
gesamten Universum sogar, sind wir eingebunden
in ein bestimmtes Umfeld, mit dem wir uns in
einer ständigen Interaktion befinden: Ebenso wie
wir unsere Umgebung (z.B. Familie oder Arbeitsplatz) durch unsere Existenz mitgestalten, wird
auch unser Leben durch sie maßgeblich beeinflusst.
Gerade die Umgebung, in der wir aufwachsen,
prägt uns wie nichts anderes sonst in unserer Persönlichkeit und Identität, in unseren inneren Werten,
die wir leben und weitertragen; sie bestimmt uns
in unserem Aufgabenbewusstsein und in der Zielsetzung unseres Lebens. Damit ist nichts grundsätzlich Neues gesagt, denn die Interaktion zwischen Mensch und Umgebung ist allgemein anerkannte Tatsache und schon lange Erkenntnisgut
von entwicklungspsychologischen Forschungen.
Während aber in der Entwicklungspsychologie das
Umfeld, in das ein Individuum hineingeboren
wird, als Zufallsprodukt gilt, macht der Buddhismus die ganz andere und spezifische Aussage, dass
nämlich die Umgebung, in der ein Mensch sich
befindet, keineswegs zufällig, sondern karmisch
bestimmt ist und den inneren Lebenszustand und
die karmischen Tendenzen dieses Menschen reflektiert. Mit anderen Worten: Es gibt also immer
eine innere Entsprechung zwischen uns und dem
Umfeld, in dem wir uns bewegen, und diese innere
Entsprechung ist so exakt wie ein Spiegelbild, das
unser Leben im jeweiligen Moment in einer genau
dazu passenden Umgebung zeigt.
Solange es sich dabei um ein angenehmes und
mit unseren Vorstellungen übereinstimmendes
Umfeld handelt, mag das ein sehr schlüssiges und
akzeptables Konzept sein. Ganz anders verhält es
sich aber, wenn wir in unserer Familie, am Arbeitsplatz, in der politischen Lage unseres Landes oder
auch in der SGI Verhältnisse vorfinden, unter
denen wir zu leiden haben, die wir als ungerecht
empfinden und von denen wir sicher sind, derartige Zustände weder verdient noch verursacht zu
haben. Haben wir nicht schon oft gedacht, um
wieviel glücklicher unser Leben sein könnte, wenn
wir andere Eltern gehabt, andere Partner gefunden, eine andere Schule besucht oder einen besseren Chef gehabt hätten? Ein solcher Gedanke ist
natürlich auch nicht falsch, denn ganz sicher wäre
unser Leben mit anderen Eltern, Partnern, Chefs
etc. auch anders verlaufen – vielleicht nicht immer
nur besser, sondern auch schlechter – aber der
Gedanke ist müßig, weil er keine Veränderung
bewirkt, und aus buddhistischer Sicht auch falsch,
weil unser Leben bisher eben in keiner anderen
Umgebung existieren konnte als in genau der, in
der wir uns gerade befinden.
Wie so oft im Buddhismus klingt diese These,
die sich strikt am Kausalitätsprinzip von Ursache
und Wirkung orientiert, hart und kann missverstanden werden als Schuldzuweisung oder gar
Determiniertheit. Weder das eine noch das andere
ist aber gemeint. Nehmen wir noch einmal das
Bild vom Körper und seinem Schatten, in einer
Erklärung von Daisaku Ikeda: “Der Körper bewegt sich und verändert den Schatten, aber gleichzeitig wird der Körper gewissermaßen auch vom
Schatten gestaltet, denn der Körper wäre kein
Körper, würfe er keinen Schatten. Mit anderen
Worten, der Körper entsteht durch seine Umgebung und erhält so seine Identität als Körper und
umgekehrt.” Es geht also um eine Beziehung zwischen Leben und Umgebung, die zwar untrennbar, aber dynamisch ist und aktiv immer neu
gestaltet werden kann. Während wir die Phänomene in der Umgebung nicht immer konkret
bestimmen können, viele Dinge sich auch ohne
unseren Einfluss ereignen, können wir aber sehr
wohl unsere Reaktion auf diese Ereignisse bestimmen: Wenn der Körper sich bewegt, dann bewegt
sich auch der Schatten, wenn aber der Körper
stillsteht, dann steht auch der Schatten still. Der
Körper steht für das Subjekt, also den Menschen,
der Schatten für das Objektive, die den Menschen
reflektierende Umgebung. Indem der Einzelne sich
bewegt, bewegt sich auch sein Umfeld. “Bewegung” ist hier zu verstehen als Handlung, wie sie
sich nach buddhistischem Verständnis nicht nur
im konkreten Tun, sondern gerade auch durch
Worte und Gedanken, im Sinne von innerer Einstellung gegenüber einer bestimmten Situation,
äußern kann. Buddhistisch gesehen ist bei jeder
Form des Handelns entscheidend, von welchem
inneren Lebenszustand sie geleitet wird, denn davon
hängt die erzielte Wirkung ab. Insofern hat die
Änderung des Lebenszustandes stets Priorität und
sollte grundsätzlich Ausgangspunkt allen Handelns sein.
Natürlich ändert sich ein problematisches Umfeld
nicht deshalb sofort, nur weil wir aus einem starken Lebenszustand heraus handeln – schließlich
geht es im Buddhismus nicht um Magie oder
Hexerei. Immer hat die Umgebung, in der wir uns
befinden, eine tiefe Bedeutung für unser Leben
und ist verknüpft mit der Aufgabe, die wir in
dieser Welt zu erfüllen haben. Denken wir an
Nichiren Daishonin auf der eiskalten, kargen und
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menschenverlassenen Insel Sado: Sein ungebrochenes Handeln im Bewusstsein seiner Aufgabe
als Ausübender des Lotos Sutra hat zwar nicht
dazu geführt, dass die Verbannung sofort wieder
aufgehoben wurde (dies geschah erst zweieinhalb
Jahre später), aber durch die Kraft seines Glaubens und seiner Ausübung konnte er sie trotz der
äußeren Härten mit Freude annehmen und verwandeln. Es tauchten Menschen auf, die ihn mit
Nahrungsmitteln, Kleidung, Papier und Tinte
versorgten und damit sein Überleben sowie die
Weitergabe seiner Lehre sicherten. So konnte er
eine Umgebung, die von den objektiven Bedingungen her ein Ort der Verzweiflung und der
tödlichen Gefahr war, in das “Land des Buddhas”
verwandeln, das nicht nur der Ermutigung aller
seiner Schüler diente, sondern auf einer tieferen
Ebene auch der Enthüllung seiner eigentlichen
Identität als ursprünglicher Buddha (im Sinne der
ursprünglichen Erleuchtung durch Nam-MyohoRenge-Kyo) und dem Beweis der Richtigkeit der
im Lotos Sutra verkündeten Lehren.
Durch das Chanten von Nam-Myoho-RengeKyo zum Gohonzon können wir sofort und unmittelbar Zugang zu der unserem Leben immanenten Buddhaschaft bekommen. Wir kehren zu
unserem Ursprung zurück. Wie auch immer Buddhaschaft sich im Leben jedes einzelnen von uns
manifestieren mag, sie verändert stets den Blickwinkel gegenüber einer bestimmten Situation, macht
ihn weiter und klarer und lässt Weisheit entstehen, die sich konkret in unseren alltäglichen Handlungen zeigt. Die Phänomene der Umgebung verändern sich ständig, das gehört zur Natur des
Lebens, wir als Menschen haben aber immer die
Möglichkeit, uns in einer bestimmten Weise dazu
zu verhalten, aktiv-herausfordernd oder nur passiv-klagend. Uns anders zu verhalten, als es die
Umgebung, in der wir uns befinden, nahelegt
oder gar fordert (bspw. in einem Milieu der Gewalt eben dieser zu entsagen), ist schließlich die
Freiheit, die jeder Mensch hat und die im Lichte
der Buddhaschaft als der “Buddha der grenzenlosen Freiheit” in Erscheinung tritt.
Die optimistische Aussage des Prinzips von
Esho Funi liegt also in der Möglichkeit des Einzelnen, gerade weil sein Leben mit der jeweiligen
Umgebung karmisch verbunden und im Wesen
eins ist, durch die Änderung seiner inneren Haltung und durch konkrete Aktivitäten die Umgebung in entsprechender Weise zu beeinflussen. Es
geht also keinesfalls um passives Erdulden und
Erleiden, denn Buddhismus bedeutet immer Hand12
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lung und Veränderung. Wichtig ist aber, dass die
Bewegung vom handelnden Subjekt, dem einzelnen Menschen ausgeht und keinem blinden Aktionismus folgt, sondern von Weisheit und einem
klaren Ziel getragen ist. Die persönliche Entwicklung, um die wir uns durch kontinuierliches Praktizieren bemühen, dient insofern nicht nur dem
eigenen Ego, sondern impliziert stets die sofortige
Reflexion dieser Entwicklung in der Umgebung.
Wenn ich glücklich bin, dann zeigt sich dieses
Glück auch in meinem Umfeld, egal wie problematisch es sein mag, wenn ich aber unglücklich
bin, wird sich dieser Zustand eben auch in meinem Umfeld widerspiegeln, selbst wenn es eigentlich positiv ist. Die Beziehung zwischen Subjekt
und Umgebung ist also immer auch von der jeweiligen Wahrnehmung des Menschen abhängig und
daher subjektiv. Jemand, der verliebt ist, wird eine
trüb-graue Novemberlandschaft vielleicht romantisch
und Streß am Arbeitsplatz belebend finden, während jemand, der Liebeskummer hat, in beiden
Situationen wahrscheinlich das genaue Gegenteil
empfinden wird, obwohl die Umgebung selbst
völlig identisch ist.
Was im “Kleinen”, also in Bezug auf unsere
persönliche Umgebung gilt und sich als konkrete
Erfahrung fassen lässt, gilt aber ebenso im “Großen”, wenn es um die Veränderung der politischen Verhältnisse eines einzelnen Landes und
sogar der ganzen Welt geht. Die konsequente
Auslegung der Kernaussage von Esho Funi reicht
weit über den persönlichen Radius unseres Lebens
hinaus und bestimmt die Möglichkeiten des Einzelnen in Hinblick auf die viel ferner erscheinenden, aber ebenso untrennbar mit dem eigenen
Leben verbundenen politischen Angelegenheiten
der gesamten Menschheit. Der berühmte Satz
Daisaku Ikedas über die Menschliche Revolution:
“Die innere Veränderung eines einzelnen Menschen verändert das Schicksal einer ganzen Nation und schließlich das der ganzen Welt”, ist weder
naiver Idealismus noch politische Utopie. Er veranschaulicht einfach, dass gemäß der Untrennbarkeit von Subjekt und Umgebung jede Veränderung, auch in politischen, wirtschaftlichen und
sozialen
Systemen,
letztlich
von
der
Bewusstseinswandlung und dem entschlossenen
Handeln einzelner Menschen ausgeht. Alle Religionsgründer oder Persönlichkeiten wie Gandhi beweisen dies, nur können wir uns mit solchen Menschen meist nicht identifizieren, weil sie “die Großen”
sind. Der berühmte Ruf der ehemaligen DDRBürger “Wir sind das Volk”, der letztlich zum Fall
der Mauer führte, steht uns da schon näher. Auch
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hier waren es viele einzelne Menschen, die zunächst über Jahrzehnte hinweg scheinbar nichts
gegen den totalitären Anspruch des SED-Regimes
bewirken konnten, sich dann aber, als die Zeit reif
war, zusammenschlossen und den gesamten Staatsapparat zu stürzen vermochten.
Aus der Sicht des Buddhismus Nichiren
Daishonins wird die entscheidende Veränderung
im Inneren des einzelnen Menschen durch die
Aktivierung der Buddhaschaft hervorgerufen, die
eben nicht nur ein persönliches gutes Lebensgefühl bedeutet, sondern ein völlig neues Verständnis über das Leben, seine Gesetzmäßigkeit und die
tiefe Verbundenheit aller Phänomene miteinander eröffnet und auf der Basis eines tiefen Respektes den Einzelnen auch anders handeln läßt. Die
ständige Bemühung, durch die buddhistische Praxis diesen Lebenszustand immer wieder in sich zu öffnen und lebendig zu halten, wie auch die Bemühung,
anderen Menschen die buddhistische Sichtweise des Lebens zu vermitteln, ist nach
Nichiren Daishonin die Basis der stetigen
Veränderung der jeweiligen Gesellschaft
und schließlich auch der ganzen Welt.
Dabei dürfen wir aber niemals vergessen,
dass jede gesellschaftliche – und auch persönliche – Entwicklung ein mehr oder
minder langer Prozess ist und wir, je tiefgreifender sich die angestrebte Veränderung auswirken soll, in umso längeren
Zeiträumen denken müssen.
zustand entspricht, tatsächlich grundlegend verändern. Das ist der wirklich revolutionäre Aufruf
des Buddhismus zur Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen. Wir allein sind dazu in der
Lage, niemand anderes sonst.
❍ Angesichts des Konzeptes von der Ewigkeit
des Lebens und damit einer ununterbrochenen
Kontinuität müssen wir gerade in Hinblick auf
grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen aber
in viel größeren Zeitdimensionen denken, als wir
es sonst gewohnt sind. Auch in Bezug auf unser
persönliches Leben geht es immer um Prozesse,
die ihre Zeit benötigen. Glauben bedeutet meiner
Ansicht nach, dies zu akzeptieren und darauf zu
vertrauen, dass jede Bemühung eines Tages ihre
Früchte zeigen wird, gerade auch in Hinblick auf
die Umgebung, in und mit der wir leben.
Abschließend möchte ich folgende
Aspekte für die praktische Bedeutung des
Prinzips von Esho Funi hervorheben:
❍ Die Aussage, dass Leben niemals
unabhängig von einer bestimmten Umgebung existieren kann und es eine
karmische Beziehung zwischen beiden gibt,
betont die Notwendigkeit, die Lebenssituation, in der wir uns gerade befinden,
als unsere jeweilige Realität anzunehmen
und uns damit auseinanderzusetzen. In
Bezug auf das Konzept von Karma hat
jede noch so problematische Umgebung
einen tiefen Sinn, der unmittelbar mit
unserer Aufgabe in diesem Leben verbunden ist.
❍ Da wir durch unsere Handlungen
(Gedanken, Worte und Taten) die Ursachen unseres Lebens ständig neu gestalten, können wir eine bestimmte Umgebung, die unserem gegenwärtigen LebensFORUM September 1999
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