Diätetisch bedingte Mehrkosten der Ernährung bei Zöliakie

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Wissenschaft & Forschung | Begutachtetes Original
Peer-Review-Verfahren | Eingereicht: 19. 3. 2009
Akzeptiert: 30. 4. 2009
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Die Kosten einer glutenfreien Kost bei der vorliegenden Diagnose Zöliakie
müssen vom Patienten selbst finanziert werden. Der folgende Artikel zeigt
einzelne Kostenblöcke in einer Übersicht auf.
Diätetisch bedingte Mehrkosten
der Ernährung bei Zöliakie
Dr. Heide Preuße1
E-Mail: Heide.Preusse
@haushalt.unigiessen.de
1
Institut für Wirtschaftslehre des
Haushalts und Verbrauchsforschung
der Justus-LiebigUniversität Gießen
Interessenkonflikt
Die Autorinnen erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne
der Richtlinien des International Commitee
of Medical Journal
Editors besteht.
Die Dünndarmerkrankung Zöliakie
kommt in Deutschland in einem Zahlenverhältnis von ungefähr einem Betroffenen zu 500 Nichtbetroffenen vor.
Bei den Erkrankten bewirkt das durch
die Nahrung aufgenommene Gluten
eine Abflachung bzw. einen Verlust der
Zotten der Dünndarmschleimhaut. Dies
kann eine verschlechterte Aufnahme
beinahe aller Nahrungsbestandteile im
Dünndarm und eine teilweise unverdaute Ausscheidung der Nahrungsbestandteile bewirken. Eine Erkrankung
an Zöliakie kann bislang ausschließlich
diätetisch, d. h. durch den Verzicht von
glutenhaltigen Speisen, behandelt werden [1].
In der alltäglichen Ernährungspraxis
müssen die Betroffenen sowohl auf Weizen, Roggen, Gerste, Hafer als auch auf
die selteneren Getreide Dinkel, Grünkern, Kamut, Einkorn, Emmer, Waldstaudenkorn (Urroggen) und Triticale
verzichten, um eine Regeneration der
Dünndarmschleimhaut zu erzielen [2].
Die glutenfreie Ernährung hat weitreichende Folgen für den Alltag der Betroffenen und deren Familien. Der folgende Beitrag arbeitet auf Basis von Einzelfallstudien die finanziellen Auswirkungen der Erkrankung heraus und
zeigt darüber hinaus organisatorische
Anforderungen an die Haushaltsführung auf.
Einführung
Prinzipiell kann eine glutenfreie Ernährung auf zwei verschiedenen Wegen erfolgen: Bei der Ausweichstrategie wer-
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den nur natürlich vorkommende glutenfreie Lebensmittel verzehrt. Bei der
Ersetzungsstrategie werden demgegenüber anstelle glutenhaltiger Lebensmittel spezielle Diätprodukte eingesetzt. In
der Praxis werden häufig beide Strategien kombiniert.
Diätetisch verursachte Mehrkosten gelten nicht als Medikamentenausgaben
und werden deshalb von Krankenkassen
weder erstattet noch bezuschusst, weil sie
als Bestandteil der allgemeinen Lebensführung gelten. Auch deren Berücksichtigung als außergewöhnliche Belastung bei der Lohn- bzw. Einkommenssteuer ist nicht möglich [3].
Nur bei der Festlegung von existenzminimalen Ernährungskosten im Rahmen
der Sozialgesetzgebung (SGB II § 21
Abs. 5: Grundsicherung für Arbeitsuchende und SGB XII § 30, Abs. 5: Sozialhilfe) werden diätetisch bedingte
Mehrkosten bislang durch sogenannte
Mehrbedarfszuschläge berücksichtigt,
welche den für die Person geltenden Regelsatz um 66 J/Monat erhöhen [4,5].
Nachweis von Mehrkosten
Mehrkosten einer glutenfreien Ernährung können nur durch Vergleiche mit
den Kosten einer „normalen“ Ernährung ermittelt werden. Dabei lassen sich
unterschiedliche methodische Ansätze
heranziehen: Schätzungen sowie Preisvergleiche für einzelne Lebensmittel
sind die beiden einfachsten Möglichkeiten. Die Schweizerische Interessenge-
Gabi Glaser1
E-Mail: Gabiglaser
@gmx.de
Die Verwendung von diätetischen Lebensmitteln steigert die Ernährungskosten für Zöliakie-Patienten
meinschaft für Zöliakie schätzte z. B.
die Mehrkosten einer glutenfreien
Diät auf mindestens 2 000 J/Jahr [6].
Eine in den USA durchgeführte Studie untersuchte die Verfügbarkeit
glutenfreier Lebensmittel und deren
Preise, indem sie einen Warenkorb
mit nicht-diätetischen glutenhaltigen
Lebensmitteln mit einem Warenkorb
mit diätetisch glutenfreien Ersatzprodukten verglich. Alle glutenfreien Lebensmittel waren teurer als ihre glutenhaltigen Alternativen. Vor allem
Nudeln und Brot lagen beim doppelten Preis [7].
Genauere Kostenvergleiche lassen
sich durchführen, wenn die durchschnittlichen Ernährungskosten entweder dem Geldbedarf für wünschenswerte Diät-Speisepläne oder
dem Geldaufwand für den tatsächlichen Lebensmittelverbrauch bei glutenfreier Ernährung gegenübergestellt werden.
Das Institut für Ernährungsberatung
und Diätetik der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) an der
Universität Düsseldorf ermittelte
1978 mit Hilfe von 60 modellhaft zusammengestellten Tagesspeiseplänen
den finanziellen Mehrbedarf bei glutenfreier Diät. Für das Referenzjahr
1978 ergab sich im Mittel ein Preis
von 10,79 DM/Tag. Dies entsprach
einem monatlichen Mehraufwand
von 14,7 % [8]. Auf die Ergebnisse
dieser bedarfsorientierten Berechnungen auf der Basis von Tagesspeiseplänen stützt sich der Deutsche Verein für private und öffentliche Fürsorge e. V. bei seinen heute noch
gültigen „Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostenzulagen
in der Sozialhilfe“ [4].
Im Unterschied zum DGE-Ansatz
wurde in der qualitativen Untersuchung von HAUGWITZ et al. [9, 10] der
tatsächliche Geldaufwand für Lebensmittel in Haushalten mit Zöliakie-Betroffenen ermittelt. Aus zweiwöchigen Ernährungsprotokollen,
die 1992 in 17 Haushalten geführt
wurden, konnte der gesamte Lebensmittelverbrauch nach Menge und
Wert abgeleitet werden. Als Referenzwerte für die diätetisch bedingten Mehrkosten wurden Daten der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 1988 verwendet. Sie zeigen repräsentativ für alle privaten
Haushalte in Deutschland unter anderem die Aufwendungen für Nahrungs- und Genussmittel auf. Jedem
Haushalt des Untersuchungssamples
wurde ein sowohl in der Haushaltszusammensetzung als auch der
Einkommensgruppe vergleichbarer
Haushaltstyp der EVS zugeordnet.
Die Ausgaben der Probandenhaushalte lagen mit durchschnittlich 383
DM pro Monat um 67 % über denen
vergleichbarer EVS-Haushalte. Darunter betrugen die monatlichen
Ausgaben für spezielle Diätprodukte
der Haushalte im Durchschnitt 117
DM/Monat und entsprachen 14 %
des gesamten Lebensmittelaufwands.
Die Mehrkosten für Diätprodukte
werden in diesem Beitrag als minimale Mehrkosten definiert. Weiterhin
wurden bei der Mehrkostenstudie
1992 durchschnittliche Ausgaben für
die Beschaffung von Diätprodukten
in Höhe von 12,15 DM/Monat ermittelt. Der zusätzliche Mehrbedarf an
Zeit für die Herstellung und Zubereitung von Speisen betrug durchschnittlich 3,8 Stunden/Monat [9,10].
Weil neuere Befunde als Argumentationshilfen für die sozialpolitische
Diskussion bisher nicht vorlagen,
wurde 2007 von den Autorinnen auf
Anregung der Deutschen Zöliakie
Gesellschaft e. V. (DZG) die im Folgenden dargestellte Mehrkostenstudie 2007 durchgeführt. Sie verfolgte
das Ziel, die finanziellen Mehrbelastungen („Kosten“) durch eine glutenfreie Ernährungsweise anhand aktueller Daten zu untersuchen.
Methoden
Die Studie ging von folgenden Hypothesen aus:
1. Eine glutenfreie Ernährung verursacht auch heute noch höhere Kosten als eine glutenhaltige Ernährung.
2. Haushalte, die die Ersetzungsstrategie anwenden, haben höhere Ernährungskosten als Haushalte, in
denen die Ausweichstrategie dominiert, weil Diätprodukte deutlich
teurer sind als nicht-diätetische Lebensmittel.
Methodischer Ansatz
Die Untersuchung zur Ermittlung
von Mehrkosten der glutenfreien Ernährung geht von einem wertmäßigen Kostenbegriff aus, der folgende
Kostenarten berücksichtigt:
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■ Ernährungskosten im engeren
Sinne, bestehend aus den Ausgaben der Haushalte für diätetische
und nicht-diätetische Lebensmittel,
■ Beschaffungskosten speziell für
diätetische Lebensmittel (z. B. Versandkosten, Fahrtkosten),
■ Ausstattungskosten für Spezialgeräte (z. B. Brotbackautomat) bezogen auf einzelne Nutzungsjahre,
■ Zubereitungskosten, die den
Mehrbedarf an Zeit für die Zubereitung von glutenfreien Mahlzeiten aufzeigen.
Das ursprüngliche Ziel, durch gleiches methodisches Vorgehen die
direkte Vergleichbarkeit der neuen
Studie mit den Ergebnissen der
Mehrkostenstudie von 1992 zur gewährleisten, ließ sich nur eingeschränkt realisieren. Erstens hat die
Amtliche Statistik Änderungen in der
Systematik der Einnahmen und Ausgaben privater Haushalte vorgenommen, die auch den Bereich der Ernährung betreffen. Zweitens sollte
mit einem einfacheren und weniger
aufwändigen Vorgehen sichergestellt
werden, dass genügend Haushalte an
Euro im Monat
250
200
150
100
50
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 11 12 13 14 15
Haushalts-Nr.
Abb. 1: Ausgaben für diätetische Lebensmittel in den Haushalten der Mehrkostenstudie 2007
Euro im Monat
1000
800
600
400
200
0
2
3
4
5
6
7
8
9
10 11 12 13 14 15
Haushalts-Nr.
Haushalte der Mehrkostenstudie
Haushalte der EVS
Abb. 2: Ausgaben für Lebensmittel in den Haushalten der Mehrkostenstudie 2007 und in
vergleichbaren Haushaltstypen der EVS 2003
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Die 2007 verwendeten Unterlagen
bestanden aus:
■ einem Fragebogen mit Informationen zum Haushalt allgemein,
zur erkrankten Person, zum Ernährungsstil des Haushalts sowie
zur Beschaffung und Zubereitung
von Speisen,
■ einem Erhebungsbogen, mit dem
Ausgaben für diätetische und
nicht-diätetische Lebensmittel (gegliedert nach Lebensmittelgruppen und Art der Einkaufsstätte)
sowie Ausgaben für den AußerHaus-Verzehr erfasst werden,
■ einer Bestandsaufnahme der Vorräte durch Strichlisten am Beginn
und Ende der Erhebung zur Korrektur der Ausgaben, sofern sich
Vorräte nach Menge und Wert
während der Erhebung stark verändert haben.
Vorgehensweise und
Durchführung der Studie
Ausgaben diätischer Lebensmittel
Durchschnitt 101,42 Euro
1
der Studie teilnehmen. Der damit
verbundene Wechsel von der Wiegezur Buchhaltungsmethode wurde
durch eine Verlängerung des Erhebungszeitraums von zwei auf drei Wochen ausgeglichen.
Die Durchführung der Erhebung
fand im Laufe des Jahres 2007 in Zusammenarbeit mit der Deutschen
Zöliakie Gesellschaft e. V. (DZG) statt.
Zwei Veranstaltungen der DZG wurden zur intensiven Werbung genutzt
und erbrachten 78 Adressen von teilnahmebereiten Haushalten im gesamten Bundesgebiet. An diese wurden
die zuvor in einem Pretest geprüften
Erhebungsunterlagen gesendet.
Leider sicherte die primär geäußerte
große Mitwirkungsbereitschaft an der
Studie ebenso wenig eine hohe Rücklaufquote wie die im Vergleich zur
Mehrkostenstudie 1992 vereinfachten Erhebungsunterlagen. Zeitmangel und die fehlende Bereitschaft weiterer Haushaltsmitglieder, die Ausgaben für den Außer-Haus-Verzehr zu
dokumentieren, waren die telefonisch ermittelten Gründe für den geringen Rücklauf.
Letztlich lagen 15 ausgefüllte Erhebungsunterlagen vor, die alle ausgewertet werden konnten. Sie stammten aus Ein- bis Sieben-PersonenHaushalten aus allen westlichen
Bundesländern sowie Berlin.
Wie bereits bei der Mehrkostenstudie
1992 wurde jedem Probandenhaushalt ein nach den Kriterien des
Haushaltsnettoeinkommens und der
Haushaltszusammensetzung entsprechender EVS-Haushaltstyp zugewiesen, um Mehrkosten als Differenz zwischen den monatlichen Aufwendungen für glutenfreie und durchschnittliche Ernährung errechnen zu
können. Mit Hilfe entsprechender
Preisindizes ließen sich die nur für
das Jahr 2003 verfügbaren EVS-Daten
zuvor auf das Bezugsjahr 2007 hochrechnen (vgl. 쏆 Abbildung 1)
Ergebnisse
Die glutenfreie Diät eines Haushaltsmitglieds verursacht gegenüber Haushalten ohne Zöliakie-Betroffene im
Durchschnitt nach wie vor Mehrkosten. Die zusätzlichen Ausgaben für
rein diätetische Lebensmittel (Diätkosten im engeren Sinne) werden minimale Mehrkosten genannt. Ausgaben für Diätprodukte fallen nur bei
der Ersetzungsstrategie, nicht aber
bei der Ausweichstrategie an. Aus
dem Vergleich der Gesamtausgaben
für Lebensmittel der untersuchten
Haushalte mit Referenzhaushalten
der EVS ergeben sich die mittleren
Mehrkosten der Diät. Durch Einbeziehung zusätzlicher Kostenkategorien wie Beschaffungskosten, Ausstattungsaufwand und zeitlicher Mehraufwand werden die maximalen
Mehrkosten (Diätkosten im weiteren
Sinne) errechnet.
die Ausgaben für diätetische Lebensmittel auf 101 J/Monat und Haushalt
mit einer Standardabweichung von
± 61 J/Monat. Prozentual gesehen,
machen die Aufwendungen der
Haushalte für diätetische Lebensmittel durchschnittlich 25 % des Gesamtlebensmittelaufwands aus. Im
Vergleich dazu ermittelte die Mehrkostenstudie 1992 einen Wert von
14 % [9].
Ausgaben für diätetische Lebensmittel wurden von allen befragten Haushalten angegeben, denn keiner der
Haushalte setzt ausschließlich die
Ausweichstrategie ein. Lediglich zwei
Haushalte (Nr. 9 und 15) verfolgen
vorrangig die Ersetzungsstrategie,
während alle übrigen Haushalte
beide Strategien kombinieren. Im
Gegensatz zur anfangs aufgestellten Hypothese weisen die Haushalte
mit Ersetzungsstrategie unterdurchschnittliche Ausgaben für diätetische
Lebensmittel auf.
Innerhalb der diätetischen Lebensmittel werden von den betroffenen
Haushalten die Lebensmittel der Kategorie Brot und Backwaren am meisten nachgefragt. Danach folgen Getreideerzeugnisse sowie Eier und Molkereiprodukte (bei einigen Betroffenen trat zusätzlich zur Zöliakie eine
Laktoseintoleranz auf). Die drei am
häufigsten genannten Einkaufsmöglichkeiten für diätetische Lebensmittel sind das Reformhaus, der Direktversand und der Supermarkt.
Mittlere Diätkosten: Vergleich
mit statistischen Daten
Diätkosten im engeren Sinne:
Ausgaben für diätetische
Lebensmittel
Der Vergleich der Ausgaben der befragten Haushalte mit den EVS-Daten
ergibt, dass bis auf zwei Ausnahmen
alle Probandenhaushalte höhere
monatliche Gesamtausgaben für
Lebensmittel aufweisen als deren
EVS-Vergleichshaushalte (vgl. 쏆 Abbildung 2).
쏆 Abbildung 1 zeigt die Höhe der
Ausgaben für diätetische Lebensmittel der einzelnen Haushalte. Sie weisen eine Spanne von 33–220 J/Monat
auf. Im Durchschnitt belaufen sich
Die Differenz der Lebensmittelausgaben liegt bei durchschnittlich 192 J/
Monat. Die Stichprobe weist sowohl
einen Haushalt auf, der um 43 J/
Monat unter dem Lebensmittelauf-
Statt Weizenmehl verwenden Zöliakie-Patienten z. B. Maismehl
wand des EVS-Vergleichshaushalts
liegt, als auch einen Haushalt, der
den Wert des vergleichbaren EVSTyps um 653 J/Monat übertrifft.
In Einzelfallanalysen werden die erheblichen Unterschiede zwischen
den Haushalten betrachtet. Es zeigt
sich, dass die Höhe der Lebensmittelausgaben nicht nur auf die glutenfreie Ernährungsweise zurückzuführen ist, sondern auch durch andere
Faktoren determiniert wird, die auch
in Haushalten ohne erkrankte Person
von Bedeutung sind. Dazu gehören
die Wahl der Einkaufsstätten (z. B.
Bio-Supermarkt oder Discounter),
die Speisepläne und Gestaltung der
einzelnen Mahlzeiten oder auch Art
und Umfang des Außer-Haus-Verzehrs. Diese Merkmale des Ernährungsstils rufen erhebliche Unterschiede in den Lebensmittelausgaben
einzelner Haushalte hervor, die
durch statistische Durchschnittswerte
nivelliert werden.
Im Gegensatz zur Mehrkostenstudie
1992 beinhalten die Erhebungsunterlagen 2007 auch Fragen zu den
Ausgaben für Außer-Haus-Verzehr
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sowie den Einschränkungen bei der
Wahl der Verpflegungsstätte, denen
Haushalte mit Zöliakie-Betroffenen unterliegen. Zöliakie-Erkrankte können
die „normale“ Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung nur dann nutzen, wenn im Vorfeld Absprachen mit
dem Betrieb getroffen und/oder Speisen bzw. Speisenkomponenten vorbereitet, mitgenommen, im Restaurant erwärmt und angerichtet werden.
Deshalb verwundert es nicht, dass das
Essen außerhalb des eigenen Haushalts
für 10 von 15 Zöliakie-Betroffenen keinen nennenswerten Stellenwert einnimmt. Lediglich fünf nutzen Verpflegungsdienstleistungen in unregelmäßigen Abständen, hauptsächlich Restaurants. Im Gegensatz zu den Zöliakie-Betroffenen nehmen Nicht-Betroffene die
Angebote, besonders von Kantinen,
deutlich häufiger wahr.
Trotzdem sind die Ausgaben für den
Außer-Haus-Verzehr bei den Probanden
durchschnittlich nicht niedriger als bei
den vergleichbaren EVS-Haushalten.
Mit knapp 9 J liegen sie sogar leicht darüber. Auch hinter diesem Durchschnittswert verbergen sich erhebliche,
nur mit dem Ernährungsstil des Haushalts zu erklärende Abweichungen.
Aus den Angaben der teilnehmenden
Haushalte wird auch ersichtlich, dass
zwei Drittel auf Fertigprodukte verzichten, weil sie in glutenfreier Form entweder zu teuer oder geschmacklich unbefriedigend sind. Weiterhin spielt in vielen Haushalten mit Zöliakie-Betroffenen das Selberbacken von Brot und
Backwaren eine wichtige Rolle. Daraus
lässt sich die Vermutung ableiten, dass
diese Haushalte deutlich mehr Zeit für
die Nahrungszubereitung benötigen als
vergleichbare Haushalte, die zwischen
mehreren und damit auch zeitsparenden Handlungsalternativen in der Ernährungsversorgung wählen können.
Diätkosten im weiteren Sinne:
Beschaffungs-, Ausstattungs- und
Zubereitungskosten
Die zeitliche (Mehr-)Belastung durch
die glutenfreie Ernährung ist in der
Mehrkostenstudie 2007 abgefragt worden, um die maximalen Mehrkosten ermitteln zu können. Die teilnehmenden
Haushalte gaben im Durchschnitt nur
einen Wert von 3,4 Stunden/Monat an,
der geringfügig unter dem Betrag der
Mehrkostenstudie 1992 von 3,8 Stunden/Monat liegt. Dieser Zeitbedarf erscheint angesichts der Herausforderungen an die Alltagsorganisation niedrig,
erklärt sich aber vermutlich dadurch,
dass der zeitliche Mehrbedarf einer glutenfreien Ernährung nicht (mehr) wahrgenommen und eine eindeutige Zurechnung zur erkrankten Person
schwierig ist. Denn bei allen Mehrpersonenhaushalten werden glutenfreie
Speisen nicht nur für den Zöliakie-Betroffenen zubereitet. Umgekehrt erfolgt
die Ernährung in keinem dieser Haushalte ausschließlich glutenfrei. Glutenfreie Brot- und Backwaren werden meist
nur von den Betroffenen verzehrt.
Auch die Beschaffungskosten für diätetische Lebensmittel (z. B. Autonutzung)
1
Diätetische Lebensmittel
76,00 Euro/Monat = Minimale Mehrkosten
2
Nichtdiätetische Lebensmittel
501,91 Euro/Monat
3
Lebensmittel insgesamt
577,91 Euro/Monat
4
Ausgaben im
EVS-Vergleichshaushalt
378,38 Euro/Monat
5
Ze.3 – Ze.4
199,53 Euro/Monat = Mittlere Mehrkosten
6
Beschaffungskosten
10,50 Euro/Monat
7
Ausstattungsaufwand
25,00 Euro/Monat
Ze.5 + Ze.6 + Ze.7
235,03 Euro/Monat = Maximale Mehrkosten
Zeitlicher Mehraufwand
5 Stunden/Monat; in Mehrkosten nicht
berücksichtigt
Haushaltsbeispiel: Ehepaar mit drei Kindern (Einkommensgruppe 2 000–2 600 5/Monat)
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und der Ausstattungsaufwand (für Spezialgeräte im Haushalt, z. B. Brotbackautomaten) sind mit 4,66 J/Monat und
19,79 J/Monat im Durchschnitt keine
wesentlichen Kostenfaktoren. Allerdings wurden nur in sieben Haushalten
überhaupt Angaben zu den beiden Kostenarten gemacht. Haushalte aus Großstädten führten keine Beschaffungskosten an. Im Einzelfall betrugen Beschaffungskosten und Ausstattungsaufwand
bis zu 170 J/Monat.
Addiert man die durchschnittlichen Lebensmittelmehrausgaben von Haushalten mit Zöliakie-Betroffenen gegenüber
den EVS-Haushaltstypen sowie die Kosten für Beschaffung und Ausstattung, so
lässt sich mit aller Vorsicht ein Mehrkostenbetrag von über 200 J/Monat
nennen. Durch eine monetäre Bewertung des zeitlichen Mehraufwands für
die Beschaffung und Zubereitung der
Nahrung würde dieser noch weiter erhöht.
Diskussion
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass
die Erkrankung an Zöliakie immer
noch einen nennenswerten finanziellen
Mehrbedarf zur Abdeckung höherer
Lebensmittelkosten hervorruft. Damit
werden die Ergebnisse der Untersuchung von 1992 und o. g. Schätzungen
aus der Schweiz bestätigt [6, 9].
Im Einzelfall variieren die Ernährungskosten aber erheblich. Ob und wie viele
Mehrkosten in den Haushalten auftreten, hängt davon ab, auf welche Art und
Weise die glutenfreie Ernährung des/
der Erkrankten in den betroffenen Haushalten sichergestellt wird. Die gegenüber der Erhebung von 1992 größeren
Unterschiede zwischen den einzelnen
Haushalten lassen sich durch eine Ausdifferenzierung von Ernährungsstilen
erklären. Dies erschwert allgemeingültige Aussagen oder das Ableiten von
Entwicklungstrends ebenso wie die geringe Fallzahl der teilnehmenden Haushalte.
Warum die beiden Haushalte mit Ersetzungsstrategie wider Erwarten unterdurchschnittliche Kosten für Diätkosten
aufweisen, konnte nicht geklärt werden.
Sie sind möglicherweise auf Probleme des begrenzten Erhebungszeitraums von drei Wochen zurückzuführen, der nur durch eine höhere Beteiligung an der Untersuchung hätte ausgeglichen werden
können.
Darin liegt jedoch das Dilemma:
Trotz deutlicher methodischer Vereinfachung der Erhebung gegenüber 1992 konnte keine ausreichende Mitwirkung der Betroffenen
an der Studie erreicht werden, die
die Verwertbarkeit der Ergebnisse
für die sozialpolitische Diskussion
möglich gemacht hätte. Auch wissenschaftlich bleibt damit die Aussagefähigkeit der Ergebnisse begrenzt,
weil diese durch Besonderheiten der
einzelnen Fälle geprägt sind. Dennoch ist die Studie für die Beratung
von Haushalten mit Zöliakie-Betroffenen von Bedeutung.
Sie zeigt auf, dass die Sicherstellung
einer glutenfreien Ernährung im
Vergleich zu Haushalten ohne erkrankte Person heute nicht nur Veränderungen im Speiseplan und in
der Nahrungszubereitung erfordert,
sondern generell höhere Anforderungen an die Alltagsorganisation zu
leisten sind, um z. B. auf Veränderungen von Arbeitszeitmustern reagieren zu können, Angebote in der
Kindertagesbetreuung und Schulverpflegung im Rahmen von Ganztagsangeboten wahrzunehmen oder
auch in der Freizeit an gesellschaftlich verbreiteten Gewohnheiten teilzuhaben. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zur Situation der
Haushalte Anfang der 1990er Jahre.
Gerade weil Haushalte mit ZöliakieBetroffenen im Gegensatz zu anderen Haushalten häufig das vielfältige
Spektrum an Handlungsalternativen
jenseits der Selbstversorgung fehlt,
lässt sich die Mehrbelastung der betroffenen Haushalte nur mit einem
ganzheitlichen Blick auf die Ernährungsversorgung im Rahmen des Alltagsmanagements aufzeigen. In den
Fallbeispielen kommt zum Ausdruck, in welch unterschiedlicher
Form die Haushalte sich mit der
Krankheit eines Haushaltsmitglieds
arrangieren. Außerdem wird deutlich, dass je nach individueller Situation und Lebensphase verschiedene
Kostenfaktoren eine Rolle spielen
können. Ein Ausgleich finanzieller Mehrbelastungen könnte die
in diesen Haushalten erbrachten
Leistungen wenigstens partiell würdigen, setzt aber die Mitwirkungsbereitschaft der Betroffenen zu deren
Nachweis voraus.
Literatur
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Sprue – Empirische Erhebung zur Analyse
der Mehrkosten. Diplomarbeit
Zusammenfassung
Diätetisch bedingte Mehrkosten
der Ernährung bei Zöliakie
Heide Preuße und Gabi Glaser, Gießen
In einer qualitativ angelegten Studie mit 15 Haushalten wurden im Jahre 2007 die Mehrkosten einer
glutenfreien Ernährung im Haushalt untersucht,
um Argumentationshilfen für die sozialpolitische
Diskussion zu gewinnen. Die minimalen Mehrkosten ließen sich über die reinen Diätkosten messen
und betrugen bei den 15 Probandenhaushalten
durchschnittlich 101 e/Monat. Der Vergleich der
Lebensmittelausgaben von Haushalten mit einer
an Zöliakie erkrankten Person mit statistischen
Durchschnittswerten für die übrige Bevölkerung
weist Mehrkosten von knapp 200 e/Monat auf. Die
untersuchten Haushalte zeigten erhebliche individuelle Abweichungen von den Durchschnittswerten auf, die demonstrieren, dass bei der Sicherstellung einer glutenfreien Ernährung eine Vielzahl von Parametern im Haushalt eine Rolle spielt.
Schlüsselwörter: Lebenshaltungskosten, glutenfreie Produkte, diatetisch bedingte Mehrkosten,
Mehrbedarfszuschlag, Zöliakie
Summary
Additional diet-related nutritional costs
for patients with celiac disease
Heide Preusse and Gabi Glaser, Gießen
A qualitative study was performed in 2007 with 15
households to determine the additional domestic
costs of gluten-free nutrition, with the intention of
obtaining arguments for the social political discussion. The minimal additional costs were measured as pure dietary costs and were an average of
101 e/month for the 15 households. Comparison
of food costs for households with a member suffering from celiac disease with the statistical
means for the rest of the population gave additional costs of just under 200 O/months. The individual households exhibited considerable individual differences from the mean values, indicating
that many different domestic parameters play a
role in establishing a gluten-free diet.
Key words: celiac disease, diet-related additional
costs, gluten-free nutrition, diet products, diet
costs
Ernährungs Umschau 56 (2009) S. 554–559
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