4 Wie von den Koronararterien Besitz ergriffen wurde Was hat die Umwandlung der Medizin von einem humanen Beruf zu einer teuren Technokratie vorangetrieben? Es geschah scheinbar in einer einzigen Lebensspanne, und ich war bei vielem Zeuge. Lassen Sie mich berichten, was geschehen ist. Seien Sie jedoch vorgewarnt: Die Geschichte gleicht eher einer „Rashomon“-Erfahrung1 als Bekenntnissen, die auf dem Sterbebett gesammelt werden. Bei der Metamorphose zur medizinischen Moderne haben Kardiologen die führende Rolle gespielt. Der Fokus ihrer Besorgnis war das epidemische Überhandnehmen der koronaren Herzkrankheit. Während der letzten 50 Jahre oder länger noch ist sie die häufigste Todesursache. Sie tötet und invalidisiert Menschen während der produktivsten Phase ihres Lebens. Frauen sind etwa zehn Jahre später davon betroffen, wobei sich die koronare Herzkrankheit gewöhnlich nach der Menopause manifestiert: Im Alter von 70 Jahren ist ungefähr ein Fünftel der Amerikaner beiderlei Geschlechts von irgendeiner Form der Herzkrankheit befallen. Die überwältigende Macht – nein, der verführerische Charme oder sogar der Würgegriff – der Technologie in der Medizin wurde zuerst in Verbindung mit der koronaren Herzkrankheit manifest. Der Teufelspakt des Doktor Faustus war ebenso heimtückisch wie alles verschlingend. Des Teufels Sendbote versprach Reichtum, wissenschaftliche 1 Das heißt sie führt vor, wie die Wahrnehmung einer Situa­tion durch unterschiedliche Interessenlagen maßgeblich beeinflusst wird. In anderen Theorien wird das Phänomen zum Beispiel als kognitive Verzerrung oder selektive Wahrnehmung bezeichnet. 39 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH Meriten von unanfechtbarer Glaubwürdigkeit, die Führungsrolle bei hoch modernen medizinischen Neuerungen und – absolut unwiderstehlich – die Transformation der Arbeit in ein Kinderspiel mit ganz neuen, unvorstellbar vielseitigen Spielsachen. Seinerseits versprach der Doktor die Einhaltung der Anforderungen der Arbeitsplatz-Indus­ trialisierung und damit die Vermehrung von Effizienz und Profitabilität. Während die Kardiologen triumphierten, ging dem ärztlichen Tun etwas ganz Vitales verloren. Es bedeutete, weniger Zeit mit den Patienten zu verbringen und die althergebrachten Fähigkeiten des Zuhörens sowie die vollendete Kunst der körperlichen Untersuchung aufzugeben. Einige Ärzte empfanden einen Schmerz wie beim Tod eines lieben Freundes. Die meisten jedoch betrauerten diesen Verlust keineswegs. Diese humanitären Fähigkeiten, die an den Medizinischen Hochschulen nicht gelehrt oder in den Krankenhäusern nicht gefördert werden, hatten sie niemals erworben und sie gingen ihnen somit auch niemals verloren. Der Vormarsch des technologischen Fortschritts Dieser Faust’sche Teufelspakt startete nicht hochtourig auf einen Streich. Seine Umsetzung erfolgte tröpfchenweise in kleinen Vorstößen über mehr als ein Jahrhundert. Die objektive Herausforderung war, wie der Strom des Blutes durch blockierte Herzkranzgefäße verbessert werden könne. Eigentlich gab es nur zwei Optionen: entweder die Umgehung des verengten Segments oder die Erweiterung einer verschlossenen Gefäßlichtung. Ehe man sich um die Läsion kümmern konnte, musste man ihre genaue Lokalisation bestimmen. Dies war keine Kleinigkeit. Die Arterien, welche den Durchmesser eines Schnürsenkels haben, umfangen das Herz wie ein entrolltes Fischernetz. Die Heraus40 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH forderung bestand darin, in diese winzigen Gefäße hineinzuschauen, die Blockierung zu lokalisieren und ihr Ausmaß zu bestimmen. Es begann in den 1860er-Jahren, als der große französische Physiologe Claude Bernard einen dünnen Gummischlauch in ein schlagendes Tierherz schob. Fast 70 Jahre später führte der deutsche Arzt Werner Forssmann eine Katheterisierung an einem lebenden Menschenherz durch. Auf verschiedenen Punkteskalen rangierte dieses Experiment an erster Stelle in den Annalen exzentrischer medizinischer Überlieferungen. Das Objekt des Experiments war nämlich kein anderer als Forssmann selbst. Er betäubte seinen Unterarm und schob dann vorsichtig einen langen Harnkatheter in seine Ellenbeugenvene ein, bis dieser in der rechten Herzkammer angelangte. Dann marschierte Forssmann zur Röntgenabteilung und machte Röntgenaufnahmen, die zeigten, dass sich die Katheterspitze in der Tat in seinem Herz befand. Es gab keinerlei unerwünschte Nebenwirkungen, außer dass Forssmann aus seiner ärzt­ lichen Anstellung entlassen wurde. Schlussendlich wurde er jedoch rehabilitiert und sehr geehrt, indem er den Nobelpreis für Medizin erhielt. Die Transformation der Katheterisierung von einer Kuriosität zu einem unentbehrlichen Werkzeug ist mit den Namen zweier amerikanischer Ärzte verbunden: André Cournand und Dickinson Richards vom Bellevue bzw. Presbyterian Hospital in New York City. Da sie in erster Linie an der Funktion der Lungen interessiert waren, mussten sie die Blutgaskonzentration wie Sauerstoff und Kohlendioxid im Herzen bestimmen. Cournand war mit Forssmanns unorthodoxer Methode vertraut und adaptierte dessen Technik, um die Funktion des Herzens zu untersuchen. Beide Ärzte bestätigten sehr rasch die Sicherheit der Methode, standardisierten die Prozedur der Herz-Katheterisierung und etablierten ihren großen Nutzen für die Dia41 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH gnostik der angeborenen sowie der rheumatischen Herzklappenerkrankung. Damit eröffneten Cournand und Richards ein neues Grenzland in der Medizin und begründeten eine neue Disziplin in der Kardiologie. Für diese Leistungen teilten sie sich im Jahr 1956 mit Forssmann den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. Ein großer Schritt wurde von Mason Sones an der Cleveland Clinic getan. Das Datum ist erwähnenswert, da es den rasanten Beginn kardialer Interventionen markiert. Am 30. Oktober 1958 katheterisierte Sones das Herz eines jungen Mannes mit rheumatischer Herzklappenerkrankung. Sein Ziel war es, eine erkrankte Aortenklappe durch Injektion eines Kontrastmittels in die linke Herzkammer sichtbar zu machen. Sones war bestürzt, dass die Katheterspitze unabsichtlich in die rechte Herzkranzarterie geglitten war. Noch ehe er die vorgesehene Injektion stoppen konnte, war eine riesige Menge an Kontrastmittel in die kleine Arterie eingeflossen. Das Herz hörte auf zu schlagen, nahm jedoch nach wenigen Minuten seinen normalen Schlag wieder auf. Dieser Unfall, der tödlich hätte enden können, war eine umwälzende Erfahrung. Sones, ungerührt, ging diesen Weg weiter und führte die moderne bildliche Darstellung der Koronararterien ein. (1) Ganz und gar nicht überraschend fand der nächste Vorstoß ebenfalls an der Cleveland Clinic statt. Im Jahr 1967 führte Sones’ Kollege, Dr. René Favaloro, die erste Koro­ nararterien-Bypass-Operation der Welt durch, um die Revaskularisierung des Herzens zu erreichen. Er benutzte eine Beinvene (Saphena-Vene) als Leitungsrohr für die Umgehung des Herzkranzgefäß-Verschlusses. Dies wäre ohne die koronare Angiografie nicht möglich gewesen. Ein Wort des Bekennens ist angebracht. Ich war ganz am Rande an diesen Entwicklungen beteiligt. Der Gleichstrom-Defibrillator und der Kardioverter, die ich beide eingeführt hatte, erleichterten die Revaskularisierung des 42 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH Herzens. Die Koronararterien-Chirurgie ist am erfolgreichsten an einem ruhig gestellten, nicht schlagenden Herzen. Der Weg, den Herzschlag zu stoppen, besteht im Auslösen von Kammerflimmern. (2) Aber wie kann man dann wieder einen normalen Herzrhythmus herstellen? Paul Zolls Wechselstrom-Defibrillator war bereits verfügbar. Die Pulswelle von Zolls Defibrillator ist jedoch schädlich für den Herzmuskel und vermag in einer großen Zahl der Fälle nicht, einen normalen Rhythmus wieder herzustellen. Seine Anwendung führte zu einer inakzeptablen Ope­ ra­ tionssterblichkeit. Die Gleichstrom-Defibrillierung, die vergleichsweise harmlos ist, begünstigte die neue Ära der Herzchirurgie. Ich vermochte diesen Zusammenhang nicht zu realisieren, bis ich ihn auf eine kuriose Art und Weise begriff. Eines Tages erhielt ich einen Telefonanruf von Dr. Don Effler, dem Direktor der Herzchirurgie an der Cleveland Clinic. In seiner Abteilung waren die Weichen für die Revolution gestellt worden. Er hielt Vorlesungen in Boston und fragte, ob er vorbeikommen und „Hallo“ sagen könne. Da ich den Mann nie zuvor getroffen hatte, war ich überrascht. Dieser baumlange feine Herr erschien, und noch ehe er ein Wort sagte, hob er mich in einer bären­ starken Umarmung in die Luft und verkündete mit einer dröhnenden Stimme und einer für einen Chirurgen nicht ungewöhnlichen Übertreibung: „Danke, Bernard, dass du die moderne Herzchirurgie möglich gemacht hast!“ Die Revaskularisierung des Herzens Die Bypass-Chirurgie war ein wesentlicher Fortschritt in der Behandlung von Patienten mit schwerer symptoma­ tischer koronarer Herzkrankheit. Sie wurde sowohl in den USA als auch im Rest der industrialisierten Welt und für 43 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH reiche Patienten in der Dritten Welt sehr rasch zu einer fast wie von Gott verordneten Standardbehandlung von Patienten mit koronarer Herzkrankheit. Während die Vorteile der Revaskularisierung stets hoch gerühmt wurden, wurde über das Leid, das mitunter durch diese Operationen verursacht wurde, gewöhnlich nur wenig berichtet. Muss eine Prozedur, nur weil sie möglich ist, auch un­ bedingt nötig sein? Und falls sie nötig ist: Wer gewinnt und wer verliert? Immer gibt es einen Preis zu zahlen in Form von Verletzungen, die manchmal lange bestehen bleiben oder irreversibel sind – und gelegentlich ist der Preis so­gar der Tod. Ich bin vielen Patienten begegnet, die als Folge einer Bypass-Operation schwer geschädigt waren, obgleich die Chirurgen die Resultate als erfolgreich gerühmt hatten. Noch eine weitaus größere Zahl an Opfern kommt mir in den Sinn, an die ich mich aber lieber nicht erinnern möchte. Etwa 15 Jahre hindurch hatte ich H. W. betreut, der an ausgeprägter koronarer Herzkrankheit dreier Gefäße litt. (3) Ich überwies ihn zur Revaskularisierung, da seine zunehmende Angina pectoris nicht länger auf eine Fülle von Medikamenten ansprach. Die Operation verlief gut. Jedoch trat die Angina pectoris nach sechs Monaten wieder in Erscheinung. Zusätzlich war er durch Schmerzen nach dem Zerschneiden des Brustbeins beeinträchtigt. (4) Noch viel mehr behinderten ihn aber die unaufhörlichen Beschwerden in seinem oberen linken Bein an der Stelle, an der man das Venentransplantat entnommen hatte. Kläglich bat er mich: „Doktor Lown, können Sie nicht die Abschnürung um meinen Oberschenkel entfernen?“ Noch heute packt mich Reue, wenn ich an M. K. denke, einen hageren, in sich gekehrten Mann mit gemeißelten, Abraham-Lincoln-ähnlichen Gesichtszügen. Beeindruckend war seine klaglose Würde angesichts einer schweren Angina 44 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH pectoris, die mir in dieser Form niemals zuvor begegnet war. Er war unfähig, irgendeine Entfernung zurückzulegen. Lähmende Brustbeschwerden zwangen ihn, jäh stehen zu bleiben. Eine Handvoll Nitroglycerin verschaffte kaum Erleichterung. Vorwärtslehnen und Bücken linderten ein wenig die Qual. Das Heben einer Gabel zu seinem Mund reichte aus, um einen Anfall von Schmerzen zu provozieren. Seine Frau fütterte ihn. Mit jeder Angina-Episode fühlte er sein Leben dahinschwinden. Kalter Schweiß war so in­ tensiv, dass er bald in einer Lache stand. Beim Auftreten von Angina pectoris blieb für ihn die Zeit stehen. In seiner Tätigkeit als Künstler, beim Anfertigen von Ölgemälden und Aquarellen, trat die Angina pectoris jedoch niemals auf. Er berichtete, dass die Kunst ihn befähige, von Tag zu Tag zu überleben und dass sie ihn vor Selbstmord be­ wahre. Ohne einen Moment zu zögern, drängte ich ihn zur Bypass-Chirurgie. Die Operation verlief unkompliziert. Ein paar Tage später war sein Herzchirurg begeistert: „Es ist ein Wunder. Der Mann hat überhaupt keine Angina mehr. Wir ließen ihn zwei Treppen steigen, und er hat nicht einmal geblinzelt.“ Als M. K. aber drei Monate später wieder zu einer postoperativen Kontrolluntersuchung kam, schien er noch hagerer und depressiver zu sein. Die Angina pectoris war nicht wieder aufgetreten. Er hatte jedoch während der Operation einen – wie der Chirurg es nannte – „Mini“-Schlaganfall erlitten, der einen Teil seines rechten Arms und seiner rechten Hand lähmte. Er konnte nicht mehr malen. Hätte er das gewusst, hätte er die Angina pectoris vorgezogen, teilte er kategorisch mit. Resigniert und ohne die geringste Spur von Ärger in seiner Stimme sagte er: „Herr Doktor, ich wünschte, ich wäre Ihnen nie begegnet oder hätte mich nicht von Ihrer Begeisterung mitreißen lassen.“ Ich fragte, ob er mit seinem Chirurgen über alles 45 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH gesprochen habe. M.K. entgegnete: „Er hätte es nicht verstanden. Er war ja noch viel begeisterter als Sie!“ Letztlich ist alles, was wir tun, von der Erwartung eines Nutzens geleitet, nicht aber im Hinblick auf ein geringes Ausmaß an Schädigungen. Der wichtigste Aspekt ist, ob eine neuartige Behandlung größeren Nutzen bei gleichbleibendem Risiko erbringt als bereits existierende Therapien. Hinsichtlich der koronaren Herzkrankheit lautet die erste Frage deshalb, ob eine Erkrankung der Koronararterien auch ohne Angiografie diagnostiziert werden kann. Die zweite Frage ist, ob eine medikamentöse Therapie eine normale Lebensweise bei nicht verkürzter Lebenszeit ermöglichen kann, verglichen mit einem Eingriff. Zu beiden Fragen ist die Antwort ein entschiedenes JA! Aber diese Art der Diskussion ist müßig, wenn sowohl Arzt als auch Patient glauben, dass die Koronar-Angio­ grafie unerlässlich für die Diagnose der koronaren Herzkrankheit ist. (5, 6) Wenn man erst einmal mit der Koro­ nar-Angiografie als einer unverzichtbaren ersten Maßnahme für die Diagnosestellung beginnt, befindet man sich bereits auf einem Schlitten, der bergab saust. Das unerbittliche Ziel ist: Man muss reparieren, was immer an Koronararterien-Verschluss vorgefunden wird. Eine derartige Fahrt endet in einer teuren Überbehandlung (7) – eine Tatsache, die sogar von einigen Interventions-Kardiologen eingeräumt wird. Die Versuchung, mit einer Prozedur einzugreifen, sobald eine Herzkranzgefäß-Verengung erst einmal festgestellt worden ist, hat man als „oculo-stenotischen Reflex“ – auch „Scheuklappen-Reflex“ – bezeichnet. „Selbst wenn man ein gutes Ergebnis erzielt, scheint man kein verbessertes klinisches Resultat zu erlangen. Und wenn man Risiko und Nutzen gegeneinander abwägt, so gibt es ein bisschen Risiko und nicht allzu viel Nutzen. Während die hohen Kosten einer derartigen Maßnahme 46 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH unser politisches Gespräch vollauf in Anspruch nehmen, wird dem ethischen Bankrott des modernen ärztlichen Tuns kaum ein Flüstern zuteil.“ (8) Vor etwa 35 Jahren luden Führungskräfte der Krankenversicherung „Blue Cross“ von Massachusetts meinen Mitarbeiter Dr. Thomas Graboys und mich zur Beratung ein, wie der Flut von Eingriffen an den Herzkranzgefäßen Einhalt zu gebieten sei. Unser Rat war eindeutig: Statt pausenlos die Pfütze von einem überlaufenden Waschbecken aufzuwischen, sei der Wasserhahn der Koronar-Angiografie zuzudrehen. Übersetzt: Statt mit der bildlichen Darstellung blockierter Gefäße zu beginnen, hole man eine zweite Meinung ein, ob der Patient überhaupt eines therapeutischen Eingriffs bedarf. Ohne ein Angiogramm würde das Urteil notwendigerweise konservativer ausfallen. Wenn der Arzt, der die zweite Meinung abgibt, kein Interventions-Kardiologe wäre, würde die Flut der Überbehandlungen drastisch reduziert. Es gab „Hurra“-Rufe für unsere großartige Weisheit. Doch nichts geschah. Wir erwiesen uns als die klugen Männer von Schilda, als Schildbürger. Als ich einen der Krankenversicherungschefs Jahre später wieder einmal traf, fragte ich ihn, weshalb unser Ratschlag, der zunächst so viel Begeisterung hervorgerufen habe, ignoriert worden sei. Er antwortete ganz unverblümt: Wären sie unserem Rat gefolgt, wären die führenden Lehr-Krankenhäuser in Boston Bankrott gegangen. Ihr Scheitern hätte wiederum den Nettogewinn der Versicherungsindustrie untergraben. Dann sagte er mit einem Lachen: „Doktor, ich hätte meinen Mercedes gegen einen Ford eintauschen müssen.“ In der Tat haben die Krankenversicherungsindustrie, die Hospitäler und die Interventions-Kardiologen ein gemeinsames wirtschaftliches Interesse. Es gibt – außer den enormen Kosten – noch etliche andere wesentliche Argumente gegen den Ansturm auf 47 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH Interventionen. Zunächst ist da die klinische Tatsache, wie bereits in Kapitel 3 diskutiert (9), dass die Mehrheit der eingeengten Koronargefäße sich ruhig verhält. Das Fortschreiten der Einengung wird durch Risikofaktoren gefördert wie psychischer Stress, erhöhter Blutdruck, erhöhter Blut-Cholesterinspiegel, eine sitzende Lebensweise, Diabetes mellitus und Rauchen. Alle diese Risikofaktoren sind durch eine vernünftige ärztliche Betreuung kontrollierbar. An zweiter Stelle folgt die pathophysiologische Beobachtung, dass die am meisten gefürchteten Komplikationen der koronaren Herzkrankheit von scheinbar harmlosen Plaques herrühren. (9) Diese können einen Herzinfarkt auslösen oder – viel schlimmer – eine maligne Arrhythmie wie Kammerflimmern, das, wird es nicht unverzüglich behoben, zu plötzlichem Herztod führt. Der entzündete bedrohliche Plaque kann sich jedoch in einem nur mäßig blockierten oder sogar in einem vollkommen durchgängigen Gefäß befinden. (10) Tatsächlich lässt sich der gefährliche Plaque mit keinem der heutigen technologischen Werkzeuge nachweisen. Die Koronar-Angiografie ist nutzlos für die Lokalisierung instabiler Plaques. Drittens, und alles übertrumpfend, ist die Zunahme des Beweismaterials. Es besagt, dass die heutige medikamentöse Behandlung in jeder Hinsicht gleich gute Ergebnisse liefert wie die weitaus teureren und komplikationsreicheren Interventions-Prozeduren. Weshalb lassen dann Patienten Maßnahmen zu, die ihr Wohlbefinden beeinträchtigen und sogar ihre Gesundheit bedrohen? Die traurige Wahrheit ist, dass die Patienten mit Fehlinformationen und grob vereinfachenden Vorstellungen überschwemmt werden, welche die unterhaltungsorientierten Massenmedien tagaus, tagein ausspucken. Diese haben die Tendenz, einen jeden Lebensaspekt der ärztlichen Behandlung oder Intervention zuzuführen. Das Paradigma, das hinsichtlich der koronaren Herzkrankheit vermittelt 48 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH wird, lautet, dass es sich hierbei um ein Klempner-Problem handele, vergleichbar mit einem abgeknickten Gartenschlauch, für das die Kardiologen brillante technische Lösungen ersonnen haben. Die Beseitigung der Abknickung des Schlauchs stelle eine lebenslange Lösung dar, die während einer einzigen Krankenhausübernachtung vollbracht werden könne. Eine derartige Vorgehensweise ist ungeheuer verlockend. Sie befindet sich auch im Gleichschritt mit dem Zeitgeist unserer Kultur. Wir sind in zunehmendem Maße unfähig, Unsicherheit zu ertragen. Aus diesem Grund sind wir nur allzu bereite Kunden für sofortige Heilmaßnahmen. Und darin liegt eine scheinbare Kuriosität. Meiner Erfahrung nach versichern die Interventions-Kardiologen den Patienten fast niemals direkt, dass eine angeordnete Prozedur – sei es Bypass-Chirurgie, Angioplastie oder Stent-Einpflanzung – ihr Leben verlängern werde. Stattdessen wird den Patienten glauben gemacht, dass Untätigkeit bedroh­ liche Folgen für ihr Überleben haben könnte. Die daraus resultierende Angst sichert eine gehorsame Zustimmung zur interventionistischen Vorgehensweise. Daten, die in den vergangenen 40 Jahren zusammengetragen wurden, haben keinen Überlebensvorteil bei jenen Patienten herausgestellt, die sich dem Eingriff unterzogen hatten. Und dennoch hat die Anwendung zugenommen. Das derzeit vorgebrachte Argument ist fadenscheinig. Befürworter behaupten, dass die Eingriffe die Lebensqualität durch Eliminierung der beunruhigenden Symptome der koronaren Herzkrankheit verbessern. Was aber sind diese Symptome? Da gibt es gar keine außer Angina pectoris, das heißt beklemmende Beschwerden hinter dem Brustbein, die durch körperliche Anstrengungen oder psychischen Stress hervorgerufen werden. Da viel von der Stichhaltigkeit dieser meiner Behauptung abhängt, verdient sie eine eingehende Erörterung. 49 Lown: Heilkunst. ISBN: 978-3-7945-3125-7. © Schattauer GmbH