2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans Ein- und Durchzugsgebiet der Steppenvölker Asiens Das Gebiet des heutigen Afghanistan schaut auf eine mehrere tausend Jahre alte Geschichte zurück, wobei es besonders durch immer wieder neue durchziehende Völker und Kulturen aus den zentralasiatischen Steppen in Richtung Süden geprägt wurde. Erste hochstehende Kulturen lassen sich bereits für das 4. Jahrtausend v. Chr. nachweisen. Früh wurde die Region zu einer wichtigen Drehscheibe von Handelsgütern des östlichen Mittelmeeres und Persien, von China und Indien. Im 6. Jahrhundert v. Chr. gerieten die afghanischen Oasenstädte wie Herat und der wichtige Khaiber-Pass unter die Herrschaft der Perserreiches. Teil der hellenistischen Welt In den Jahren 330/329 v. Chr. stieß der Makedonenkönig Alexander mit seinem Heer über den Hindukusch in das Gebiet des heutigen Usbekistan und Tadschikistan vor. Im Zuge seiner Eroberungen gründeten die Griechen mehrere Städte, darunter auch das spätere Kandahar. Die Herrschaft Alexanders währte allerdings nur wenige Jahre. Alexander starb 323 v. Chr. und sein Reich zerfiel (Diadochen-Reiche). Allerdings hatte sich in diesen Jahren die hellenistische Kultur beiderseits des Hindukusch fest­gesetzt. Als eines der Nachfolgereiche entstand das Grie­chisch-Baktrische Reich, welches bis Mitte des 1. Jahr­hunderts v. Chr. Bestand haben sollte und sich zeitweise bis nach Indien ausdehnte. Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. erlebte der Hellenismus in Mittelasien seine größte Blütezeit. Ein Schicksal, das vielen Reichen zuvor und danach wiederfuhr, ereilte letztlich auch das Griechisch-Baktrische Reich, das dem Druck einfallender Völker aus Zentralasien Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. zum Opfer fiel. Die Region blieb jedoch auch in den nachfolgenden Jahrhunderten Bestandteil wichtiger Reiche wie dem der Parther, der Kuschan oder der Sassaniden. Als solches war sie auch weiterhin ein Bindeglied der Handelsrouten zwischen dem Römischen Reich und China. Die islamisch-arabische Expansion Einen tiefgreifenden Einfluss sollte die rasche Expansion der Araber und mit ihnen des Islam im 7. Jahrhundert haben. Die persischen Lokalfürsten beiderseits des Hindukusch gerieten in Abhängigkeit des arabischen Kalifen. Bis zum Ende des 10. Jahrhunderts setzte sich der Islam schrittweise als dominierende Religion unter den dortigen Stämmen durch. Die Stadt Masar-e Scharif stieg sogar zu einem wichtigen Wallfahrtsort des Islam auf, da dort angeblich die Grabstätte des 4. Kalifen Ali ibn Abi Talib, Schwiegersohn Mohammeds, zu finden sei. Über die Frage seiner Nachfolge sollte es letztlich zur Spaltung des Islam in Sunniten und Schiiten kommen. Turkstämme und Mongolen Den Arabern folgten im 10., 11. und 12. Jahrhundert verschiedene Turkdynastien, verbunden mit der Einwanderung von Turkstämmen, aus denen später die ­Turkmenen und Usbeken hervorgehen sollten. © Klett-Archiv, Stuttgart M 1 Afghanistan (Baktrien) wird durch die Eroberungen des Makedonenkönigs Alexander Teil der hellenistischen Welt © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 1 von 11 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans den Indischen Ozean (Folge der sogenannten „Entdeckungsfahrten“ der Portugiesen und Niederländer), taten ein Übriges. Afghanistan geriet zunehmend ins Abseits. Eine weitere gravierende Zäsur stellte für Mittelasien der sogenannte Mongolensturm ab 1220 dar, der große Zerstörungen mit sich brachte (die Zerstörung alter Bewässerungsanlagen führte u. a. zur Versandung großer Gebiete im Südwesten), jedoch auch die Region in das mongolische Großreich vom Chinesischen bis zum Schwarzen Meer einband. Dies ermöglichte bald schon wieder eine neue wirtschaftliche Blüte als Durchgangsstation des Fernhandels zwischen China, Indien und dem Mittelmeerraum. Zu den besonders begehrtesten Handelsgütern sowohl im Westen als auch im Osten zählte der blaue Halb­ edelstein Lapislazuli aus dem Nordwesten des Gebiets des heutigen Afghanistan, aus dem die Farbe Ultramarin gewonnen wurde. Als teuerste Farbe ihrer Zeit wurde der zermalende Lapislazuli seit dem 15. Jahrhunderts zur Farbe der Jungfrau Maria auf allen sakralen Gemälden der Christenheit und gewann damit enorme Bedeutung für die Malerei der Renaissance. Das paschtunische Reich der Durrani Als im 18. Jahrhundert die Macht der Perser und der Groß­ moguln schwand, entstand ein Machtvakuum, welches den Aufstieg der Paschtunen ermöglichte. 1747 gelang es erstmals, die mehrere Paschtunenfürsten in einem föderativen Reich unter einem Herrscher, Ahmad-Schah, zu einen. Das sog. Durrani-Reich, das bald darauf seine Hauptstadt nach Kabul verlegen und zeitweise weit nach Indien, Kashmir und Persien hineinreichen sollte, wurde zur Grund­lage des späteren afghanischen Staates. Emir Ahmad-Schah hinterließ bei seinem Tod 1773 nicht weniger als 24 Söhne, die sich bald um die Macht stritten. Die Zeit der inneren Wirren dauerte bis 1834. Erst Emir Dost Mohammed gelang es, die Stämme wieder teilweise zu einen. Doch allein schon dadurch, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung als ­Nomaden ohne festes Siedlungsgebiet lebte, blieb es schwierig, Ansätze einer modernern Staatlichkeit durchzusetzen. Verlagerung der Welthandelsströme – Afghanistan gerät ins Abseits Die Region beiderseits des Hindukusch geriet allerdings im 16. Jahrhundert ins Fadenkreuz des persischen Safawiden-Reiches im Westen, des Mogul-Reiches im Süd­ osten sowie der turkstämmigen Khanate im Norden und erlebte so einen schleichenden Niedergang. Der Verlagerung der Fernhandelsströme zwischen Ostasien und Europa infolge des Bedeutungsverlusts der ­Seidenstraße, hervorgerufen durch den neuen Seeweg von Europa in Zeit des Imperialismus – Das „Great Game“ am Hindukusch In dieser Situation geriet die Region ins Fadenkreuz von zwei expandierenden, imperialistischen Mächte: das Zaren­reich Russland und Großbritannien. Seit Ende des 18. Jahrhunderts begann die britische East India Compa- M 2 Der föderative Zusammenschluss paschtunischer Stämme Mitte des 18. Jahrhunderts legte die ersten Grundlagen für den späteren Staat Afghanistan rja uda Am Kaspisches Meer Nischapur Faisabad Balch Masar-e Taschkurgan Scharif Meschhed Herat Birdschand P E R S I S C H E S R E I C H © Ing.-Büro für Karthographie J. Zwick, Gießen / MGFA Kerman H ar iru d Ghasni ah Dalaram Kandahar Pja Srinagar Kabul f Far Reich des Achmad Schah Durrani um 1760 h ndsc Kalat-e Ghilsai H e l m and Peschawar Dera Ismael Khan Lahore Quetta Kalat Ferosepore Panipat Delhi us Ind I N D I E N Gan ges Karatschi Haiderabad MGFA Arabisches Meer 05921-02 © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de 0 200 400 600 km © Ing.-BŸro fŸr Kartographie J. Zwick, Gie§en / MGFA © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 2 von 11 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans ny ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss immer offensiver auszuweiten. Im Kampf um Absatzmärkte und Handelswege schreckte die Handelsgesellschaft auch vor Kriegen nicht zurück, was 1838–1842 zum 1. AngloAfghanischen-Krieg führte. Nachdem Russland Persien 1837 ermuntert hatte, den Westen Afghanistans zu besetzen, intervenierte die East India Company militärisch. Der Versuch, Afghanistan unter britische Kontrolle zu be­ kommen, scheiterte jedoch vorerst. Angesichts der wach­ senden Einflussnahme Russlands in Mittelasien blieb aber Afghanistan fest im Blickfeld der britischen Außenpolitik. Die Rivalität der beiden europäischen Großmächte spitzte sich Ende des 19. Jahrhunderts zu. Nach der Niederlage Russlands im Krimkrieg 1853–1956 konzentrierte das Russische Reich seine Expansionspolitik auf Zentral­ asien. In den 1860er- und 1870er-Jahren unterwarf Russ­ land die lokalen turkmenischen und usbekischen Fürs­ tentümer und drang anschließend in das Pamir-Gebirge ein. Briten und Russen ziehen die afghanischen Grenzen In Indien hatte nach dem Sepoy-Aufstand 1857–1858 die britische Regierung die East India Company aufgelöst und deren Besitzungen direkt der britischen Krone unterstellt. Sie war entschlossen, dem weiteren Vordringen Russlands in der Region einen Riegel vorzuschieben. Unter keinen Umständen sollte Russland die Kontrolle über die Pässe des Hindukuschs und damit den Zugang nach Indien erhalten. Afghanistan wurde dadurch zum Interessensgebiet der internationalen imperialistischen Politik der europäischen Großmächte. Als in Kabul ein eher prorussischer Emir den Thron bestieg, intervenierte Großbritannien. Es kam zum 2. Anglo-Afghanischen Krieg (1878–1880). Diesmal setzten sich die Briten durch und erlangten die Kontrolle über die zukünftige afghanische Außenpolitik. 1893 erzwang Großbritannien die Abtretung von rund einem Drittel des afghanischen Reiches. Die sogenannte Durrand-Linie, benannt nach dem britischen Außenminis­ ter Henry Mortimer Durrand, wurde quer durch das Stammes­gebiet der Paschtunen gezogen, um dauerhaft © Klett-Archiv, Stuttgart M 3 Im 19. Jahrhundert geriet das Gebiet Afghanistans zwischen die Fronten der europäischen Imperialmächte Großbritannien und Russland © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 3 von 11 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans Einfluss auf die inneren Verhältnisse Afghanis­tans nehmen zu können. Der östlichste Zipfel Wakhan in der Provinz Badakshan, der an China angrenzt, wurde be­wusst belassen, um eine gemeinsame Grenze zwischen Russland und Britisch-Indien zu verhindern. Nach der Jahr­ hundertwende entspannte sich das britisch-russische Verhältnis. 1907 einigten sich Russland und Großbritannien über eine Aufteilung der jeweiligen Einflusssphären in Persien, Afghanistan und Tibet. Afghanistan war dabei als neutrale Pufferzone vorgesehen, wobei das Land wirtschaftlich und militärisch in britischer Abhängigkeit verblieb. Erste Strukturen eines modernen Staates Die beständige Bedrohung durch die beiden imperialistischen Mächte trug letztlich entscheidend zur Herausbildung eines afghanischen Staates bei. Nicht zuletzt mit britischer Unterstützung gelang es dem afghanischen Emir in Kabul ein eigenes, von den Stämmen unabhängiges modernes Heer und erste Ansätze eines staatlichen Steuerwesens aufzubauen. Allerdings unterstützte Großbritannien geschickt verschiedene afghanische Stämme, um eine zu große Festigung einer Zentralgewalt zu verhindern. Trotzdem wuchsen die verschie­ denen regionalen Herrschaften der Stämme allmäh­lich zu einem zumindest teilweise zentral organi­sierten Staat zusammen. Im 1. Weltkrieg geriet Afghanistan auch in den Blick der deutschen Politik (Abschluss eines deutschafghanischen Freundschaftsvertrages 1916), auch wenn diese Afghanistan nicht zum Kriegseintritt gegen Britisch-Indien bewegen konnte. Nach Ende des 1. Weltkrieges setzte schließlich der neue Emir (seit 1926 König) Amanullah (1919–1929) im 3. Anglo-Afghanischen Krieg (1919) die volle Souveränität des Landes durch. 1923–1928: Versuche einer Modernisierung In den 1920er-Jahren forcierte König Amanullah eine Modernisierung des Landes. Als Vorbild nahm er sich dabei u. a. die junge türkische Republik unter Kemal Atatürk. Anders als in der Türkei gelang es jedoch dem afghanischen Staat nicht, die starken antimodernistischen Widerstände der alten Eliten der Provinzen und Stämme zu überwinden. Der Versuch einer bürgerlichen Verfassung, Einführung der Schulpflicht, Stärkung der Frauenrechte und einer Trennung von Staat und Religion scheiterten an der Gegenwehr der traditionellen Kräfte und führten schließlich zu Aufständen. König Amanullah musste schließlich ins Exil fliehen. 1930 bestieg ein Militär als neuer König den Thron (Nadir Schah 1930–1933), der die meisten Reformansätze wieder rückgängig machte. In den wenigen Ausnahmen, z. B. der eingeführ­ ten Schulpflicht für Jungen, erhielten paschtunische Stämme einen Sonderstatus. Gute deutsch-afghanische Beziehungen Erfolge gab es aber bei der Modernisierung der Infrastruktur, bei der besonders deutsche Ingenieure und ­Architekten mitwirkten. Seit 1924 kamen vermehrt deutsche Fachkräfte ins Land. Später unterstützte Deutsch- © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de land Afghanistan mit Krediten. Es kam zu Hochschul­ kooperationen und 1938 richtete die Lufthansa eine Flug­ linie Berlin-Kabul-Shanghai ein. Im 2. Weltkrieg hoffte das Deutsche Reich vergeblich Afghanistan zu einem Kriegseintritt gegen Großbritannien bewegen zu können. Die guten (bundes)deutsch-afghanischen Beziehungen blieben bis in die 1970er-Jahre bestehen. „Geschmeidige“ Neutralitätspolitik im Kalten Krieg Afghanistan blieb ein armes Land. Außer in einigen städtischen Zentren gelang es nicht, die Infrastruktur und das Bildungswesen spürbar zu entwickeln. Außenpolitisch behielt Afghanistan seine neutrale Stellung zwischen den Machtblöcken. Dadurch profitier­ te es im Kalten Krieg nachhaltig von der Entwicklungshilfe aus Ost und West. Die 1950er- und 1960er-Jahre galten später als die „Goldenen Jahre“. Seit Ende der 1960erJahre wurde das Land zu einem beliebten Ziel der europäischen und US-amerikanischen Hippiebewegung. Zu den beliebtesten Zielen zählten die Buddha-Statuen von Bamian, was ein Grund für die spätere Zerstörung durch die fundamentalistischen Taliban war. Außenpolitische Probleme gab es allein gegenüber dem Nachbarn Pakistan, da Kabul die Unabhängigkeit der dortigen Paschtunenstämme forderte und den im 19. Jahrhundert aufoktroyierten Grenzverlauf nicht akzeptierte. Übereilte Modernisierungspolitik Seit Ende der 1960er-Jahre begann der durch ausländische Kredite finanzierte Wirtschaftsaufschwung zu stagnieren. Die innenpolitischen Spannungen mehr­ten sich. Die 1964 von König Sahir Schah (1933–1973) eingeführte Verfassung, die Afghanistan zu einer konstitutionellen Monarchie umwandelte, vertiefte die Konflikte im Land. Der ambitionierte Modernisierungs- und Demokratisierungskurs war zu schnell und führte stattdessen zu einer Destabilisierung des Landes. Ganz ähnlich wie zur selben Zeit im benachbarten Iran, entstanden zahlreiche extremistische Gruppierungen, in erster Linie Kommunisten, unterstützt von der UdSSR und radikalislamische Gruppen, protegiert von Pakistan und SaudiArabien. Die verheerende Dürrekatastrophe 1970/71 und die sinkenden Budgets der Entwicklungshilfe infolge der Ölkrise 1973 verschärften die Spannungen zusätzlich. 1973–1978: Autoritäre Reformregierung Daud Die Sowjetunion gewann zunehmend an Einfluss. Diese unterstützte den Putsch des Prinzen und ehemaligen Ministerpräsidenten Daud am 17. Juli 1973, der die Monarchie abschaffte und sich zum Präsidenten der „Republik Afghanistan“ erklärte. Mit Hilfe einer neuen Präsidialverfassung regierte Daud äußerst autoritär und schlug, gestützt auf prokommunistische Kräfte im Land, einen radikalen Reformkurs ein. Besonders der Versuch einer Landreform rief aber erbitterten Widerstand der alten Eliten in den Provinzen hervor. Seit 1975 begann sich Daud von der politischen Linken zu distanzieren und stärker auf die konservativ, isla- © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 4 von 11 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans mischen Kreise zuzugehen. Außenpolitisch wendete er sich zunehmend Persien und den USA zu. Linksputsch – Bürgerkrieg – sowjetische Intervention 1978 putschten die kommunistischen Kräfte in Kabul, ermordeten Präsident Daud und erklärten den Kommunisten Mohammed Taraki zum Staatspräsidenten. Der Putsch führte zu Kämpfen zwischen linksorientierten Truppen und islamistischen Stammesmilizen auf dem Land. Während im Iran die islamische Revolution die Monarchie zum Einsturz brachte, gewannen in Afghanistan die islamistischen Milizen zunehmend an Boden. Inwieweit diese bereits zu diesem Zeitpunkt auch durch die USA unterstützt wurden, ist umstritten. Die schwache kommunistische Regierung wurde hingegen durch innere Rivalitäten geschwächt. Taraki fiel einem Mordanschlag zum Opfer. Der neue Präsident, Hafisullah Amin, bekam die Lage nicht in den Griff, woraufhin sich im Dezember 1979 die sowjetische Regierung widerstrebend zum militärischen Eingreifen entschloss. Sowjetische Truppen marschierten in das Nachbarland ein, um ein Erstarken der radikalislamischen Kräfte in der Region einzudämmen und deren Ausbreitung auf die zentralasiatischen Sowjetrepubliken zu verhindern. Die Besetzung des Landes gab den Auftakt für einen neun Jahre dauernden Krieg zwischen den sowjetischen Besatzungstruppen sowie der Armee des neu installierten kommunistischen Regimes gegen eine wachsende Zahl von Rebellen. Letztere waren sowohl Stammeskrieger, die sich gegen die fremden Besatzer und die viel zu ambitionierte, übereilte Modernisierungspolitik der Kommunisten wehrten, als auch radikalislamische Mudschaheddin, die ihren Widerstand als „Heiligen Krieg“ gegen die gottlosen Okkupanten ansahen. Es zeigte sich bald, dass die sowjetischen Truppen auch mit moderns­ ter Waffentechnologie nicht in der Lage waren, die sehr heterogenen Guerillagruppen, die wechselweise Allian­ zen eingingen, in den entlegenen Bergregionen des Hindukusch zu besiegen. Darüber hinaus entwickelte sich bald schon der Konflikt zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West. Flüchtlingselend als Nährboden für radikale Kräfte Der Krieg hatte katastrophale Folgen für das Land mit etwa 15 Millionen Einwohnern. Etwa 1–1,3 Millionen Afghanen verloren ihr Leben. Rund fünf Millionen Afghanen flohen in die Nachbarländer, etwa zwei Millionen als Binnenflüchtlinge in die urbanen Zentren des Landes. Tausende Dörfer wurden zerstört, ganze Regionen in riesige Minenfelder verwandelt. In einem Krieg, der bald auch selbst mit und gegen Kinder geführt wurde (z. B. mittels als Spielzeug getarnte, aus der Luft abgeworfene Sprengsätze sowie durch die Zwangsrekrutierung tausender Minderjähriger), wuchs eine ganze Generation mit Gewalt, Flucht, Hunger und ohne Bildung auf. Familien- und Stammesbeziehungen wurden vielerorts zerstört. Viele jüngere, entwurzelte Flüchtlinge gerieten besonders in den Flüchtlingslagern in Pakistan unter den Einfluss islamistischer Bildungsinstitutionen. Korrup­ tion, Rechtsunsicherheit, blutige Fraktionskämpfe inner­ M 3 Das nach dem Abzug der sowjetischen Truppen entstandene Machtvakuum wurde Anfang der 1990er-Jahre durch einzelne Warlords ausgefüllt. Regionale Machtverteilung in Afghanistan 1994 DUSCHANBE ab Morgh KABUL © Ing.-Büro für Karthographie J. Zwick, Gießen / MGFA ISLAMABAD Einflussgebiet einzelner Warlords Staatsgrenze von Afghanistan andere Staatsgrenzen »Line of Control« MGFA 05922-04 © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 5 von 11 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans halb der regierenden, kommunistischen Regierung und fortwährende Repressionen diskreditierten die Staats­ ge­walt nachhaltig. Spätestens als 1986 der ehemalige Chef der afghanischen Geheimpolizei, Mohammed Nadschibullah, an die Staatsspitze trat, suchte das kommunistische Regime die Kooperation mit lokalen Machthabern in den Provinzen und gemäßigten, religiösen Führern des Landes. Abzug der sowjetischen Armee und Krieg der Warlords Mit der Politik von Glasnost und Perestroika des neuen sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow sowie das 1988 nach sechsjährigen Verhandlungen zwischen den Regierungen der UdSSR, Afghanistan und Pakistan unterzeichnete Genfer Afghanistan-Abkommen wurde schließlich die Grundlage dafür geschaffen, dass die Sow­jetunion ihre Truppen bis Februar 1989 aus Afgha­nistan abzog. Dies führte aber nicht zum Ende des Bürgerkriegs. Das Chaos im Land wurde vielmehr größer. Die Mudschaheddin hatten keine klaren Vorstellungen über die Zukunft des Landes. Ihre Führer waren untereinander zerstritten, oft tief verfeindet. So dauerte es noch bis 1992, bis die kommunistische Regierung Nadschibullah abtreten musste und sich eine provisorische Übergangsregierung unter dem, vom pakistanischen Geheimdienst ISI unterstützten, radikalislamischen Milizenführer Gulbuddin Hekmatyar bildete. Es gelang ihm jedoch nicht, alle wichtigen Bürgerkriegsparteien an einen Tisch zu bekommen. Gleichzeitig verfolgten Staaten wie der Iran, Saudi-Arabien, Usbekistan oder Pakistan durch Förderung einzelner Warlords eigene Interessen. Bewaffnete und einflussreiche kriminelle Organisationen aus dem Drogen- und Waffenhandel oder dem lukrativen Transportgeschäft verfolgten wiederum eigene Ziele, indem sie ihre Einnahmequellen verteidigten. Schon bald brachen Kämpfe zwischen den einzelnen Fraktionen aus. In blutigen Kämpfen bildeten sich schließlich autonome Hoheitsgebiete einzelner Milizenführer heraus. In der Region Kabul standen sich die radikalislamischen Gruppierungen von Hekmatyar und dem Tadschiken Burhanuddin Rabbani gegenüber. In Zentralafghanistan dominierte der schiitische Mudschaheddin Abdul Ali Masari, im Norden der Usbeke Raschid Dostum, im Nordosten Ahmed Massud, während im Südwesten Ismail Khan paschtunische Stämme an sich binden konnte. Wachsende Sehnsucht nach einer klaren Ordnung … egal welcher! Der Hauptmachtkampf wurde jedoch um die Kontrolle der Hauptstadt Kabul ausgetragen, welche bald in Trümmern lag. Zehntausende Menschen kamen bei den Kämpfen um Kabul ums Leben, Hunderttausende flohen. Während des Bürgerkrieges kam es immer wieder zu wechselnden Allianzen und Bündnissen der heterogenen Kriegsparteien, die sich größtenteils durch Raub, Opiumanbau und dem Verkauf natürlicher Rohstoffe finanzierten. Den Preis zahlte die Zivilbevölkerung, die sich bald nach einer Ordnungsmacht sehnte, die Frieden © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de und eine verlässliche Ordnung durchsetzen würde. Diese Sehnsucht bildete einen Grund für den Siegeszug der Taliban. Diese tauchten erstmals im Spätsommer 1994 auf. Die Taliban gingen aus radikalen Koranschulen in Pakistan hervor und rekrutierten sich überwiegend aus Koranschülern der afghanischen Flüchtlingslager sowie aus radikalen Mudschaheddin der 1980er-Jahre. Viele kamen aus sozial schwachen Verhältnissen, besaßen geringe Bildung und hatten in den Koranschulen das Ziel eines Gottesstaates nach Vorbild der angeblichen islamischen Frühzeit verinnerlicht. Früh erhielten sie Unterstützung durch den pakistanischen Geheimdienst. Ihren Erfolg verdankten sie jedoch ihrem wachsenden Rückhalt in der Bevölkerung Südafghanistans. Die Taliban forderten die Entwaffnung der vielen Milizen, bekämpften die vielerorts bestehende Wegelagerei und die ausufernde Kriminalität. Ihre gesellschaftlichen Moralvorstellungen basierten meist auf dem traditionellen Ehr- und Sittenbegriffe der paschtunischen Dorfbevölkerung. Urbane Milieus blieben ihnen stets als Hort der Sünde verdächtig. Entsprechend versuchten sie Großstädte wie Herat oder Kabul ebenso zu verwalten wie ein Dorf in einer ländlichen Stammesstruktur. Siegeszug der Taliban Die Taliban durchdrangen sehr schnell die paschtunischen Regionen in Südafghanistan. Im Herbst 1995 eroberten sie Herat und im September 1996 schließlich Kabul. Umgehend wurde sie als legitime Regierung Afghanistan sowohl von Pakistan als auch von Saudi-Arabien anerkannt. Die Eroberung Kabuls durch die Taliban führte die bislang verfeindeten Regionalfürsten in Gestalt der sog. Nordallianz zusammen. Trotzdem konnten sie nicht verhindern, dass sie 1998 auch Zentral- und Nordwestafghanistan an die Taliban verloren. Es kam zu blutigen Massakern an der schiitischen Minderheit der Hazari. Allein der Nordosten mit dem schwer zugänglichen Pandschir-Tal blieb unter Kontrolle der Nordallianz, nunmehr geführt von dem charismatischen Ahmed Massud. Internationale Isolation und Bündnis mit dem ­islamistischen Terrorismus In den darauf folgenden Jahren wurde das Afghanistan der Taliban zu einem wichtigen Stützpunkt islamistischer Terrororganisationen wie Al-Quida und isolierte sich fast ganz von der internationalen Staatengemeinschaft. Islamisten aus Saudi-Arabien, Usbekistan und Pakistan gewannen zunehmend Einfluss unter den Taliban. Die Forderung der UNO, mutmaßliche Terroristen wie Osama bin Laden auszuliefern, lehnten die Taliban unter Berufung auf das Gastrecht ab. Am 9. September 2001 wurde Ahmed Massud durch ein Attentat getötet. Zwei Tage später erfolgten die Terroranschläge in New York und Washington. Die Folge war schließlich am 7. Oktober 2001 die Operation „Enduring Freedom“ gegen die Talibanstellungen in Afghanistan. © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 6 von 11 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans 5 10 15 20 25 5 10 15 M 5 Afghanistan als imperialistisches Ziel Russlands Der Osteuropahistoriker Jörg Baberowski über die Motive des russischen Imperialismus in Mittelasien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der Zentralasienpolitik beider Großmächte spielte Afghanistan […] eine wichtige Rolle. Doch waren unfruchtbare Wüsten- und Steppengebiete und unzugäng­ liche Hochgebirgsregionen ökonomisch wertlos, die mi­ ­li­­tärischen Kosten der Expansion ließen sich also kaum rechtfertigen. Hinzu kam, dass es in den wirtschaftlich unterentwickelten Gegenden Afghanistans nur wenige Möglichkeiten gab, profitable Geschäfte abzuschließen. Die russischen Eroberungen in Asien standen ohnehin nicht im ökonomischen Interesse. Sie dienten ­vielmehr dem Zweck, das Zarenreich als eine gleichberechtigte europäische Macht mit dem Anspruch auf koloniale Er­werbungen zu präsentieren. Dieses Motiv gewann erst recht nach dem verlorenen Krimkrieg (1853–1856) an Be­deutung. Militärische Erfolge aber konnte das russi­ sche Militär nur gegen unterlegene Gegner in den militärisch wie wirtschaftlich rückständigen Gebieten Zen­ tralasiens erringen. Und auch das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit gegenüber den Europäern war ein Motiv für die aggressive Expansionspolitik der russischen Regierung. Der russische Dichter Fjodor Dostojewski sprach davon, dass die Russen in Europa ­Sklaven gewesen seien, in Asien dagegen als Herren auftreten könnten. Mit diesem Verweis auf eine zivilisatorische Mission rechtfertigte auch die Regierung des Zaren den Vormarsch nach Asien: Die „wilden“ Völker Asiens soll­ ten nach Meinung der herrschenden russischen Klasse Jörg Baberowski, Afghanistan als Objekt britischer und russischer Fremd­ herrschaft im 19. Jahrhundert. In: Afghanistan. Wegweiser zur Geschichte, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard Chiari, 3., durchges. und erw. Aufl., Schöningh, Paderborn [u. a.] 2009, S. 28f. M 6 Ein deutscher Diplomat in Kabul 1915–1917 entsandte das Deutsche Reich unter Leitung des Diplomaten Werner Otto von Hentig (1886–1984) eine Mission nach Afghanistan. Ihr Ziel war es, Afghanis­ tan zum Kriegseintritt gegen Britisch-Indien zu bewegen, was jedoch nicht zustande kam. 1928 veröffentlichte ­Hentig seine Erinnerungen über diese Reise, in der er auch den herrschenden Emir Habibullah Chan (1872–1919) beschrieb. Der damalige Beherrscher von Afghanistan war der Emir Habibullah. Sein alter Familienbesitz, wenn man da­ von in einem Land wie Afghanistan überhaupt reden kann, war die Burg, die hinter ihren Gräben, Wällen und riesigen Lehmmauern nur noch den Harem, das Arsenal und den Staatsschatz beherbergte. Rings um die alte Burg auf braungebranntem Gelände standen die Bungalows (Villen in englisch-indischem Stil) des Hofes und die Jurten (Zelte) der Dienerschaft. Noch etwas weiter abseits lag das Neue Palais, das Privat­ schloß des Emirs, das mit Landeserzeugnissen, vor allem Tributteppichen, prächtigen europäischen Möbeln und alten Kunstschätzen gefüllt war. Das Neue Palais war eine Sehenswürdigkeit ganz Innerasiens, denn es war dort das einzige Gebäude, dessen hohe Fenster und Flügeltüren mit riesigen Scheiben verglast waren. Jede dieser kostbaren Scheiben hatte auf höchst mühseligen, langen Wegen auf Tierrücken von Indien heraufgebracht werden müssen. Selbst zwischen den einzelnen Gebäuden seiner Burgstadt bewegte sich der Emir kaum zu Fuß: er fuhr Auto. Er hatte dort nach den vier Himmelsrichtungen vier gut erhaltene Straßen anlegen lassen. Bei seinen Ausfahrten saß er gern auf dem Vorderplatz neben dem Fahrer. […] Der Emir stand 1915 im sechsundvierzigsten Lebensjahre. Er war von gedrungener Gestalt. Seinen klugen, mit einer goldenen Brille bewehrten Augen sah man einen weitreichenden Intellekt an. Er war rasch in den Bewegungen, deutlich in seiner Sprache und hatte in seinem Gebaren einen lehrhaften Zug; doch verriet er auch eine ungewöhnlich hohe Bildung. Ganz eigenartig war seine Stellung als Staatsoberhaupt. Wohl kaum ein Monarch der älteren Geschichte, jedenfalls keiner der modernen, verkörperte das Staatswesen in seiner Person so ausschließlich wie der König von Afghanistan. Er war für das Land alles: der Herrscher, dessen Befehle in den Glutwüsten Beludschistans, vierzig Tagereisen von Kabul, in dem unwegsamen Hochgebirge des Hindukusch und des Pamir, in der trostlosen Turkmenensteppe mit einer Achtung befolgt wurden, als ob Seine Majestät mit gezogenem Schwerte dabei stün- © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de ebenso zivilisiert werden, wie einst Russland von Europa zivilisiert worden war. In dieser Frage entwickelten die russischen Eliten den Europäern gegenüber ein moralisches Überlegenheitsgefühl, weil ihre Eroberungen im Dienst der zivilisatorischen Mission standen. Russlands Eliten berauschten sich an ihrer Expansion. Hierbei brauchten sie weder auf wirtschaftliche Zwänge noch auf die öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen. Aus diesen Gründen war Russlands Expan­ sion am Hindukusch unkalkulierbar, vor allem für die britische Regierung, welche diese Entwicklung als Bedrohung wahrzunehmen begann. […] Die britische Kolonialverwaltung sah sich gezwungen, da sie ihre in­ dischen Besitzungen gegen die angrenzenden Gebiete im Norden nicht abgesichert hatte, den Pandschab unter ihre Kontrolle bringen. Beide Staaten, Großbritannien wie Russland, verstanden sich als moderne europäische Großmächte, deren Aufgabe darin bestand, Ordnung zu schaffen, wo schein­ bar Unordnung herrschte, und Afghanistan, das als Pufferzone zwischen den britischen und russischen Interessenzonen lag, widersprach allen Vorstellungen europäischer Staatlichkeit. Es war ein wirtschaftlich und militärisch rückständiges Gebiet mit „offenen“ Gren­zen und einer Bevölkerung von Nomaden und Stammeskriegern, die Staatsgrenzen weder kannten noch respektierten. Dieses staatenlose Gebilde nahmen die Kolonialmächte als Bedrohung wahr. © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 7 von 11 30 35 40 45 50 20 25 30 35 40 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans 45 50 5 10 15 20 25 30 de, die Ausführung zu überwachen, Ihm gehörte sozusagen das ganze Land […]. Die einzige Zeitung des Landes, den „Seraj-ul-ekbar“, die „Leuchte der Zeitun­ gen“, besaß der Emir. Die einzige Apotheke des Landes war sein Eigentum. Rezepte wurden nur mit seiner persönlichen Genehmigung verabfolgt. Photographieren konnte und durfte nur der Emir. Da er Postmarken sammelte, war es außerordentlich schwer, solche im Handel zu erhalten. […] Als einen nicht unwichtigen Erfolg unserer Anwesenheit konnten wir die Zusammenrufung der Landesver- M 7 Die Taliban – Versuch einer Beschreibung Der in Pakistan lebende Journalist Ahmed Rashid schreibt u. a. für die britische Tageszeitung Daily Telegraph. Die Taliban haben mit ihrer Sturheit eindeutig die Deo­bandi-Tradition des Lernens und der Reform verlassen, denn sie akzeptieren kein Konzept von Zweifel, es sei denn als Sünde, und erachten Debatten fast als Ketzerei. Dadurch haben sie ein neues, radikales und für die Regierungen der Region extrem bedrohliches Modell für eine islamische Revolution entwickelt. Hekmatyar und Masud stehen der westlichen Moderne keinesfalls ablehnend gegenüber. Im Gegensatz dazu bekämpfen die Taliban alles Moderne und verspüren nicht den geringsten Wunsch, moderne Fortschritts­ ideen oder wirtschaftliche Entwicklungspläne anzunehmen. Von islamischer und afghanischer Geschichte, der Scharia, dem Koran und den politischen Entwicklungen der islamischen Welt im 20. Jahrhundert haben die Taliban so gut wie keine Ahnung. Während islamischer Radikalismus im 20. Jahrhundert auf eine lange Geschichte gelehrter Schriften und Debatten zurückblicken kann, sind den Taliban solche historischen Perspektiven und Traditionen gänzlich fremd. Es gibt kein Taliban-Manifest und keine intellektuelle Analyse islamischer oder afghanischer Geschichte. Sie haben mit den weltweiten radikalen islamischen Debatten kaum Kontakt, […] Die Taliban und ihre Unterstützer präsentieren der mus­ limischen Welt und dem Westen einen neuen Stil des islamischen Extremismus, bei dem muslimische Mäßigung und Annäherung an den Westen abgelehnt werden. Die Weigerung der Taliban, mit den humanitären Organisationen der UNO oder ausländischen ­Spendern Kompromisse einzugehen oder für eine internationale © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de treter aus allen Teilen des absoluten Königreichs betrachten. Der kluge Monarch hatte die Zeichen der Zeit wohl verstanden und war aus eigenem Entschluß gern gewillt, den Menschen des jung in die Völkergemeinschaft tretenden Afghanistan für die Opfer, die auch ihnen der Krieg bisher auferlegt hatte und noch weiter aufzuerlegen drohte, einen Anteil an der Bestimmung der Landesgeschicke einzuräumen. 55 60 Werner-Otto von Hentig, Ins verschlossene Land. Ein Kampf mit Mensch und Meile, Der Weiße Ritter Verlag L. Voggenreiter, Potsdam 1928, zit. aus 5. Auflage 1943, S. 86ff. Anerkennung ihre Prinzipien zu mäßigen, und die Ablehnung einer herrschenden Elite, die sie als korrupt ansehen, hat in der muslimischen Welt eine heftige Debatte entfacht und eine jüngere Generation militanter Islamisten inspiriert. Die Taliban haben dem islamischen Fundamentalismus des kommenden Jahrtausends ein neues Gesicht und eine neue Identität gegeben – eine Identität, die jeden Kompromiss und jedes politische System, abgesehen vom eigenen, strikt ablehnt. […] Das Erscheinen der Taliban fand zu einem historisch günstigen Zeitpunkt statt: der Zerfall der kommunis­ tischen Machtstruktur war abgeschlossen, die Mudscha­ heddin-Führer waren unglaubwürdig und die traditionellen Stammesführer ausgemerzt worden. Es war da­ her für die Taliban relativ leicht, das Wenige, was von der alten Paschtunen-Führerschaft übriggeblieben war, aus dem Weg zu räumen. Danach stellte sich der Taliban-Herrschaft kein politischer Herausforderer mehr. Sie hatten die Gelegenheit, eine eher stammesgebunden-demokratische, dörfliche Organisation zu bilden. Erfüllt vom legitimierenden Faktor Islam, hätte eine solche den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen können, aber die Taliban erwiesen sich als unfähig und unwillig. Sie weigerten sich sich, Vertreter von Volksgruppen, die nicht den Paschtunen angehörten, mit einzubeziehen. Im Gegenteil, sie entwickelten eine Geheimgesell­ schaft, die vorwiegend von Leuten aus Kandahar geleitet wurde und auf ihre Art ebenso mysteriös, geheimnisvoll und diktatorisch war wie Kambodschas Rote Khmer oder Saddam Husseins Irak. Ahmed Rashid, Taliban, Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch, Verlag C. H. Beck, München 2011, 2. Auflage, S. 169ff., S. 175f. © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 8 von 11 35 40 45 50 55 60 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans 5 10 15 20 25 30 M 8 Die Folgeprobleme von zwei Jahrzehnten Krieg: Beispiel Kindersoldaten a) Der Krieg gegen Kinder in der neuen Kriegsführung Der Terror gegen die Zivilbevölkerung ist weltweit zu einem wesentlichen Bestandteil der Kriegstaktik geworden. Innerhalb weniger Jahrzehnte stieg der Anteil der Zivilisten unter den Kriegstoten von fünf Prozent auf über 90 Prozent. In Afrika sind neun von zehn Kriegstoten Frauen und Kinder. Die Chancen auf den Sieg wachsen, wenn die Bevölkerung des Kriegsgegners demoralisiert und entmutigt ist. Vielfältige Techniken haben die Strategen ersonnen, um das zu erreichen: Das Niederbrennen von Dörfern, Plünderungen, Vertreibungen, Massaker bis hin zu Völkermord. All das sind heute keine zufälligen, vereinzelten Exzesse, sondern Belege für ein zielgerichtet brutalisiertes Kriegsgeschehen. Bevölkerungen werden in lähmende Verzweiflung versetzt – systematisch. Seit den Balkankriegen kennen wir dazu ein neues Wort: Vergewaltigungslager. Kriegsherren haben die Bedeutung der Kinder in ­diesem grausamen Kalkül erkannt. Etwa zwei Millionen ­Kinder wurden während der letzten zehn Jahre [1988–1998]. Zehn Millionen Kinder, so wird geschätzt, wurden durch Kriegserlebnisse traumatisiert. Zwölf Millionen Kinder verloren ihr Zuhause, fünf Millionen leben in Flüchtlingslagern. Um die großen Ratten zu vernichten, mußt Du die kleinen Ratten töten – lautete die Parole des Hutu-Senders Radio Libre Mille Collines, mit der zum Mord an Tutsi-Kindern in Ruanda aufgefordert wurde. Hunderttausende kamen ums Leben. Die gleiche simple Logik verrät ein kolumbianischer Offizier: „Es ist doch besser, die Kinder zu töten, bevor sie zur Guerilla gehen können!“ Stephan Stolze, Krieg gegen Kinder. In: „Ich will endlich Frieden“. Kinder im Krieg, hrsg. von Hans-Martin Große Oetringhaus, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1998, S. 21f. 5 10 15 20 b) Kinder als Akteure und Opfer Der gegenwärtige zu beobachtende Typ Kindersoldaten entsteht aus gewaltförmig geregelten wirtschaftlichen und sozialen Strukturen heraus, in denen weder Staat noch Gegenstaat eine hinreichende Rechtssicherheit für einen überwiegend marktregulierten Wirtschaftskreislauf bieten. Daher muss eine Bearbeitung des Problems die für den Zerfall der Staatlichkeit und damit Rechtssicherheit bestimmende Faktoren einbeziehen. […] Aber die Kindersoldaten sind nur eine besonders tragische Gruppe der Kinderopfer in Kriegen. Seit die Parteien des Kalten Krieges aufgehört haben, konkurrierend jedweden gewaltsamen Konflikt zu ursurpieren und damit den Anspruch auf Staatlichkeit aller Kriegsparteien mit Waffen und wirtschaftlicher Hilfe zu fördern, scheint eine neue Unordnung mit zahlreichen gewaltsamen innergesellschaftlichen Konflikten zu expandieren. Diese kriegerischen Konflikte sind meist von langer Dauer. Sie werden auf eher niedrigem Niveau ausgetragen. Kleinwaffen sind das vorherrschende Kampfmittel. Allerdings werden Normen des Kriegs- © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de völkerrechts systematisch missachtet, das gilt besonders für den Schutz der Zivilbevölkerung. Die Kriegsführung ist entgrenzt und grausamste Formen personaler Gewalt bestimmen das Konfliktgeschehen. Der verantwortungslose Einsatz von Minen, Vergewaltigungen und wahllosen Morden als Mittel der Kriegsführung und absolute Disziplinlosigkeit der Kämpfenden gehören zu den Merkmalen des gegenwärtig vorherrschenden Kriegstyps. 25 Peter Lock, Vom Wandel bewaffneter Konflikte – Kinder und Gewehre. In: „Ich will endlich Frieden“. Kinder im Krieg, hrsg. von Hans-Martin Große Oetringhaus, Münster 1998, Verlag Westfälisches Dampfboot, S. 28f. c) Afghanistan: Demobilisierung von Kindersoldaten Zu den zahlreichen Problemen, mit denen Afghanistan nach zwanzig Jahren Krieg zu kämpfen hatte, war die Rückfüh­ rung einer militarisierten Gesellschaft, darunter tausende Kindersoldaten, ins zivile Leben. Am 17. Dezember 2004 berichtete darüber UNICEF in einer Presseerklärung: Rund 4.000 Kindersoldaten in Afghanistan sind nach Angaben von UNICEF in diesem Jahr demobilisiert wor­ den. Damit hat das von UNICEF zusammen mit nationalen und internationalen Organisationen durchgeführte Wiedereingliederungsprogramm seit seinem Start im Februar 2004 etwa die Hälfte aller minderjährigen Kämpfer erreicht. Insgesamt 3.998 Jungen im Alter von 14 bis 17 Jahren aus 15 Provinzen Afghanistans wurden in ihren Städten und Gemeinden zunächst registriert und durchliefen dann ein spezielles Ausbildungsprogramm, das sie auf die Rückkehr in das zivile Leben vorbereitete. Für viele wurden bereits Arbeitsmöglichkeiten gefunden. In dem mehr als zwei Jahrzehnte dauernden Bürgerkrieg in Afghanistan setzten alle Kriegsparteien Kinder und Jugendliche ein. Die meisten wurden zwangsrekru­ tiert. Fast 90 Prozent von ihnen haben nie eine Schule besucht oder einen Beruf gelernt. Mit Unterstützung von UNICEF, lokalen Behörden und Nichtregierungsorganisationen wurden in den nörd­ lichen, östlichen sowie zentralen Provinzen so genannte Demobilisierungskomitees eingerichtet. Diese sorgten in einem ersten Schritt für die Registrierung der Heranwachsenden und eine medizinische und psy­chologische Untersuchung. Außerdem klärten sie über Drogenmissbrauch und HIV/AIDS auf. Die meis­ ten der ehemaligen Kämpfer erhielten zum ersten Mal in ihrem Leben einen Ausweis. Dann leisteten sie einen Eid, dass sie bereit sind, ihre Verantwortung im zivilen Leben zu übernehmen. In der zweiten Phase konnten die Jugendlichen wählen, ob sie entweder zur Schule gehen oder einen Kurs zur Berufsausbildung in der Landwirtschaft, als Schneider, Zimmermann, Maurer oder Elektriker besuchen wollten. In einigen Orten besuchen die ehemaligen Kämpfer die Kurse gemeinsam mit anderen benachteiligten Heranwachsenden wie Straßenkindern oder Schulabbrechern. http://www.unicef.de/presse/pm/2004/afghanistan-kindersoldaten/ © 2011 UNICEF Deutschland (Stand 10.10.2010, gekürzt) © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 9 von 11 5 10 15 20 25 30 35 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans Arbeitsvorschläge: 1. Skizzieren Sie die Entwicklung Afghanistans im 19. und 20. Jahrhundert. 2. Analysieren Sie die britische Afghanistanpolitik im 19. Jahrhundert und diskutieren Sie deren Auswirkungen auf die Herausbildung des afghanischen Staates. 3. Arbeiten Sie aus der Quelle die Motivation der britischen und russischen ­Afghanistanpolitik im 19. Jahrhundert heraus. (M4, M5) 4. Diskutieren Sie, wieso Herrschaftsgebiete mit „offenen“ Grenzen, wie beispielsweise in Zentralasien, aus europäischer Perspektive des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Problem darstellten. 5. Informieren Sie sich über die Person Habibullah Khan und seine Politik als Emir von Afghanistan. Analysieren Sie, welches Bild der deutsche ­Diplomat in M6, der neun Monate in Kabul weilte, von der Herrschaft des Emirs zeichnet. 6. Stellen Sie die unterschiedlichen Konfliktlinien in Afghanistan nach 1979 grafisch dar. Unterscheiden Sie dabei nach äußeren und inneren ­Akteuren. 7. Beurteilen Sie, warum die Talibanbewegung in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre so erfolgreich waren. 8. Erarbeiten Sie exemplarisch am Beispiel Kindersoldaten, mit welchen Folgeproblemen die afghanische Gesellschaft infolge der Kriegswirren seit 1980 zu kämpfen hat (M8). Weiterführende Literaturtipps Afghanistan Ahmed Rashid: Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban, Berlin 2010. Ahmed Rashid: Heiliger Krieg am Hindukusch. Der Kampf um Macht und Glauben in Zentralasien, München 2002. Ahmed Rashid: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München 2001. Susanne Koebl / Olaf Ihlau: Geliebtes, dunkles Land. Menschen und Mächte in Afghanistan, München 2007. Martha Vogel: Roter Teufel – mächtiger muğhid. Widerstandsbilder im sowjetisch-afghanischen Krieg 1979–1989, Köln 2008. Aufsatzsammlungen Pakistan und Afghanistan. Aus Politik und Zeitgeschichte 21-22/2010 (25. Mai 2010), hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung. Wegweiser zur Geschichte: Afghanistan. Hrsg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes von ­Bernhard Chiari, Paderborn 2009³ (Aufsatzsammlung) © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 10 von 11 2 Grundlagen der historischen Entwicklung Afghanistans Clan-/ Stammesführer US-Streitkräfte und Verbündete Modernisten islamische ­Fundamentalisten (Taliban) ehemalige Warlords Antimodernisten/ Traditionalisten Drogen-/ Transportmafia Waffenhändler © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2011 Als Kopiervorlage freigegeben. www.klett.de Zentralregierung © terre des hommes – Arbeitsgruppe Leipzig www.tdh-leipzig.de 11 von 11