SWR-Handreichung zu: Igor Strawinsky: Pulcinella-Suite Konzertbesuch: Freitag, 14.06.2013, Konzerthaus Freiburg 19.00 Uhr Einführung 20.00 Uhr Konzert SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Leitung: Gérard Korsten Erstellung der Handreichung: Michael Dickele, Cosima Linke, Matthias Handschick Vorbemerkung für Unterrichtende Die folgenden Materialien zu Igor Strawinskys „Pulcinella-Suite“ beschränken sich aus Gründen der Benutzerfreundlichkeit auf einige wesentliche Aspekte des Werkes. Zielsetzung der Handreichung ist, SchülerInnen der Klassenstufen sieben bis elf innerhalb von zwei bis vier Unterrichtsstunden mit dem Stück vertraut zu machen und dabei die Vorbereitungszeit der KollegInnen im Rahmen zu halten. Aus diesem Grunde sind die Seiten zwei bis fünf dieser Handreichung so konzipiert, dass sie als Klassensatz kopiert quasi kommentarlos an die SchülerInnen ausgegeben werden können, die dann sehr selbstständig mit den Informationen, Materialien und Aufgabenstellungen umgehen können. Die Unterrichtenden müssen lediglich die Diskussionen moderieren, die Hörbeispiele vorspielen und bei den Tanz- und Choreografie-Aufgaben die Gruppeneinteilung überwachen und auf die Einhaltung gewisser Grenzen bei der Darstellung der lebhafteren Szenen achten. Die kurzen Hörbeispiele zum szenischen Aufgabenblock 2 sind als MP3-Dateien mitgegeben (HB,a – HB,e). Darüber hinaus sollte mindestens eine Gesamtaufnahme des Pulcinella-Balletts als DVD zur Verfügung stehen, um den SchülerInnen die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Darstellungen mit einer professionellen Produktion zu vergleichen. Empfohlen sei die Aufnahme des Basler Balletts unter Leitung von Sir Neville Marriner, choreografiert von Heinz Spoerli (Deutsche Grammophon), die mit einer Dauer von 42 Min. optimal in eine Schulstunde passt. Auch eine Partitur (Boosey & Hawkes, HPS 1145) sollte zumindest der / dem Unterrichtenden zur Verfügung stehen. Obwohl das SWR-Sinfonieorchester die konzertante Version, die den Titel „Pulcinella-Suite“ trägt, präsentieren wird, orientiert sich das vorbereitende Material zunächst an dem etwas umfangreicheren Ballett, das der Suite neben dem Bühnengeschehen auch drei Gesangssolisten voraus hat, deren Partien in der Suite zum Teil instrumental musiziert werden. Eine Reflexion des Verhältnisses von Musik und Tanz wird im Anschluss an den Konzertbesuch angeregt. Für eine ausführlichere Unterrichtseinheit zu Igor Strawinsky sollte ein Vergleich des Pulcinella-Balletts mit dem „Sacre du Printemps“ erfolgen. In der Oberstufe ist dabei eine Auseinandersetzung mit Theodor W. Adornos scharfer Kritik an Strawinskys Musik im letzten Teil der „Philosophie der neuen Musik“ (Frankfurt 1976) zumindest anhand einiger ausgewählter Textstellen möglich. Auszüge aus dem Text, die sich auf „Pulcinella“ beziehen lassen, befinden sich am Schluss dieser Handreichung. Da die schweren Vorwürfe, die Adorno im Hinblick auf psychologische und politische Aspekte der Ästhetik Strawinskys formuliert, sich maßgeblich auf das „Sacre du Printemps“ beziehen, wurde dieses Problem hier nicht thematisiert. Inwieweit aber Strawinsky in seinen Stücken die „Einfühlung in die dramatische Person“ versäumt, sodass seine Figuren „sentimental verkitscht oder vertrottelt“ (Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt 1976, S. 131 / 135) erscheinen, ist eine Frage, die auch im Zusammenhang mit Pulcinella diskutiert werden darf. 1 Schülerinformation: Igor Strawinskys „Pulcinella-Suite“ – eine Ballettmusik 1) Biografische Informationen a) Igor Strawinsky (1882-1971) wuchs in der Nähe von St. Petersburg als Sohn eines Opernsängers und einer ebenfalls sehr musikalischen Mutter auf. Er war einer der bedeutendsten und meistgespielten Komponisten des 20. Jahrhunderts und auch als Dirigent und Pianist gefragt. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Ballettkompositionen „Der Feuervogel“, das „Sacre du Printemps“ und „Petruschka“, die in Paris uraufgeführt wurden. Dort traf Strawinsky auch mit anderen großen Komponisten seiner Zeit wie Claude Debussy, Maurice Ravel und Eric Satie zusammen. Nach längeren Aufenthalten in Frankreich und der Schweiz folgte Strawinsky 1940 einer Einladung an die Harvard-University in Cambridge / Massachusetts. Aus Angst vor den Wirren des zweiten Weltkriegs und der Verfolgung durch die Nationalsozialisten siedelte Strawinsky nach New York über, wo er bis zu seinem Tod beheimatet bleibt. Beigesetzt wurde er auf eigenen Wunsch in Venedig neben Sergej Diaghilev. 2) Sergej Diaghilev (1872-1929) gründete 1909 die „Ballets Russes“, eine Balletgruppe, die internationalen Ruhm erlangte und für die er mehrere Kompositionen bei Strawinsky in Auftrag gab, darunter „Der Feuervogel“, das „Sacre du Printemps“, „Petruschka“ und „Pulcinella“. Außerdem war Diaghilev Kunstsammler und Herausgeber eines Kunstmagazins. 3) Pablo Picasso (1881-1973) gehört zu den berühmtesten Malern der Moderne. Gemeinsam mit Georges Braque begründete er in den Jahren 1908-1914 den Kubismus. 2) Entstehungsgeschichte des Pulcinella-Balletts Sergej Diaghilev beauftragte im Jahre 1919 den Komponisten Igor Strawinsky, die Musik zu einer neuen Ballett-Produktion zu komponieren, in der die Liebesabenteuer des Pulcinella als Tanzchoreografie dargestellt werden sollten. Als Vorlage hatte Diaghilev einige Werke des italienischen Komponisten Giovanni Battista Pergolesi ausgesucht, der Anfang des achtzehnten Jahrhunderts (1710-1726) lebte. Strawinsky gefiel die Musik Pergolesis. Er benutzte deshalb die Melodien und Harmonien der Vorlagen und formte daraus die Ballettmusik zu Pulcinella. Da man deutlich hört, dass die Musik, die Strawinsky als Vorlage benutzt hat, viel älter ist, spricht man von „Neoklassizismus“ und meint damit, dass hier ein musikalischer Stil, der in der Übergangszeit von Barock zu Klassik aktuell war, neubelebt wurde. Später hat sich herausgestellt, dass viele der Vorlagen, die Pergolesi zugeschrieben wurden, in Wirklichkeit gar nicht von diesem komponiert wurden, sondern von anderen, weniger bekannten Komponistenkollegen, die den Namen des früh verstorbenen Pergolesi verwendeten, um ihre Werke besser verkaufen zu können. Für die Uraufführung des Pulcinella-Balletts im Jahre 1920 gestaltete Pablo Picasso die Ausstattung. Aufgabe 1: Als Beispiel für Strawinskys Bearbeitungstechnik findet ihr auf der nächsten Seite den Anfang der Overtüre zu Pulcinella (HB1) und den Anfang der Sonata I für zwei Violinen und Bass von Domenico Gallo (ca. 1730-1768). Was übernimmt Strawinsky von Gallos Komposition, was verändert er und was fügt er hinzu? 2 a) Strawinskys Vorlage: 2) Handlung / Gliederung 3) Ballett und Suite b) Strawinskys Werk: 3 3) Das Ballett „Pulcinella“ 3.1. Personen: Pimpinella, seine Freundin, Rosetta und Prudenza, deren Freundinnen, Pulcinella, ein lustiger Geselle, Caviello und Florindo, zwei Schwärmer, Furbo, ein Vertrauter Pulcinallas 3.2. Handlung: Zu Beginn des Balletts treten Pimpinella und ihre Freunde auf, zu denen auch Caviello und Florindo gehören, die wiederum Rosetta und Prudenza umwerben. Als schließlich Pulcinella auftritt, beachten alle Mädchen nur noch diesen, so dass Caviello und Florindo eifersüchtig werden und auch Pimpinella beunruhigt ist. Pulcinella wird von den eifersüchtigen Liebhabern verfolgt und verprügelt. Er stellt sich tot, bis sein Freund Furbo auftaucht. Mit diesem tauscht der totgeglaubte Pulcinella die Kleider. Während der Trauerfeier für Pulcinella, bei der in Wirklichkeit der verkleidete Furbo im Sarg liegt, tritt Pulcinella als geheimnisvoller Zauberer auf, der in einer mysteriösen Zeremonie den als Pulcinella verkleideten Furbo wieder zum Leben erweckt. Die entstandene Verwirrung nutzen nun auch Caviello und Florindo aus. Sie verkleiden sich ebenfalls als Pulcinellen und jagen den Mädchen nach. Pimpinella fühlt sich wie in einem Traum und sieht immer mehr Pulcinellen. Niemand weiß mehr, wer der echte Pulcinella ist. Am Ende sorgt Furbo für Ordnung und alle Paare sind wieder vereint. Aufgabe 2: Tanz und Szenisches Spiel: Ihr hört fünf kurze Musikausschnitte aus dem Pulcinella-Ballett. Bewegt euch individuell zu den Musikbeispielen und versucht dabei, den Charakter der Musik nachzuempfinden. Entwerft nun in Kleingruppen eine Choreographie zu den ausgewählten Szenen und stellt dabei in verteilten Rollen die Handlung passend zur Musik nach: a) (HB1) Die Tänzerinnen und Tänzer betreten feierlich die Bühne. (Alle Schülerinnen und Schüler machen mit.) b) (HB2) Die Freunde Caviello und Florindo umschwärmen ihre Freundinnen Prudenza und Rosetta. Langsam beginnen sie ihre Annäherungsversuche und werben schließlich nach allen Regeln der Kunst. (Benötigt werden jeweils zwei mutige Schülerinnen und Schüler.) c) (HB3) Der als durchtriebener Schelm bekannte Pulcinella trägt eine hakennasige Halbmaske und gilt als Frauenschwarm. Als Pulcinella die Bühne betritt, befinden sich dort bereits einige Kavaliere, die mit ihren Herzensdamen flirten. Pulcinella schleicht sich an und drängt sich in den Mittelpunkt des Geschehens. (Benötigt wird ein Pulcinella sowie mehrere Schülerinnen und Schüler als Paare.) d) (HB4) Mit seinem Erfolg bei den Frauen macht sich Pulcinella Feinde. So sind unter anderem die beiden Kavaliere Caviello und Florindo mächtig eifersüchtig auf ihn. Es folgt eine willde Verfolgungsjagd, an deren Ende Pulcinella von den beiden erwischt und verprügelt wird. Um weiteren Schlägen zu entgehen, stellt sich Pulcinella tot. (Benötigt werden ein fliehender Pulcinella sowie zwei SchülerInnen als Verfolger. Natürlich schlagt ihr euch nicht wirklich!!!) e) (HB5) Nach seinem vorgetäuschten Tod, soll der als Pulcinella verkleidete Furbo in einer großen Zeremonie beigesetzt werden. Während der Feier erscheint jedoch plötzlich der als Zauberer verkleidete echte Pulcinella und erweckt den Totgeglaubten wieder zum Leben. (Benötigt werden Furbo, verkleidet als Pulcinella, und Pulcinella, verkleidet als Zauberer, sowie mehrere Trauergäste.) 4 4) Kritik an Strawinskys Musik Der Musikphilosoph Theodor W. Adorno stand Strawinskys Praxis der Übernahme vergangener Musikstile sehr kritisch gegenüber. Er schrieb: „In Strawinsky bleibt hartnäckig der Wunsch des Halbwüchsigen am Werk, ein geltender, bewahrter Klassiker zu werden, kein bloßer Moderner, dessen Substanz in der Kontroverse der Richtungen sich verzehrt und der bald vergessen wird“ (Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt 1976, S. 128). Auch die Darstellung der Personen in den Ballettkompositionen Strawinskys erscheint Adorno problematisch: „Seit Petruschka zeichnen seine Partituren Gesten und Schritte vor und entfernen sich weiter stets von der Einfühlung in die dramatische Person“ (ebd., S. 131). „Wo Subjektives begegnet, begegnet es als depraviert [im Wert herabgesetzt / verdorben]; als sentimental verkitscht oder vertrottelt. Es wird als selber bereits Mechanisches, Verdinglichtes, gewissermaßen Totes aufgerufen“ (ebd., S. 135). Aufgabe 3: Diskutiert zunächst darüber, wie ihr zu Strawinskys Umgang mit den Werken früherer Komponisten steht. Ist seine Praxis eurer Meinung nach legitim? Schaut euch dann die Szene, in der Pulcinella nach dem Angriff durch Caviello und Florindo scheinbar tot auf der Straße liegt, in verschiedenen Inszenierungen (wenn möglich) an und tauscht euch darüber aus, wie die Trauer um Pulcinella dargestellt wird. Ist Adornos Vorwurf, Strawinsky entferne sich von der „Einfühlung in die dramatische Person“ eurer Meinung nach berechtigt? Falls euch Strawinsky interessiert, solltet ihr euch sein berühmtestes Stück, das „Sacre du Printemps“ aus dem Jahre 1913, zeigen lassen. Auch dieses Werk ist ein Ballett, das von Diaghilev in Auftrag gegeben wurde. Es handelt von einem grausamen Menschenopfer, das einer vorchristlichen Gottheit anlässlich des Frühlingsbeginns dargebracht wird. Die als Opfer ausgewählte junge Frau muss sich am Schluss des Balletts, im „Danse Sacrale“, vor den Augen der StammesgenossInnen zu Tode tanzen. Im „Sacre du Printemps“ pflegt Strawinsky noch einen anderen, wilderen und auch eigenständigeren Stil. Gibt es trotzdem Gemeinsamkeiten zwischen dem „Sacre“ und „Pulcinella“? 5) Hörauftrag In dem Konzert, das ihr besuchen werdet, wird die „Pulcinella-Suite“ gespielt, eine verkürzte und rein konzertante Form des ursprünglichen Balletts. Findet heraus, welche Teile der Ballettmusik in der Suite vorkommen, welche Teile der Bühnenhandlung also musikalisch repräsentiert werden. Wie verhalten sich Musik und Bühnenhandlung zueinander? Geht der Musik etwas Entscheidendes verloren, wenn das Ballett entfällt, oder lässt sich der Standpunkt vertreten, dass die Musik sogar aufgewertet wird, wenn sie ohne den Tanz erklingt? 5