Zur funktionalen Architektur des Willens: Integration

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Professur für
Allgemeine Psychologie
Vorlesung im WS 2013/14
Lernen und Gedächtnis
Deklaratives Gedächtnis:
Abrufen und Vergessen
Prof. Dr. Thomas Goschke
1
Verfügbarkeit (availability) vs. Zugreifbarkeit (accessibility)

Wir speichern mehr Informationen, als wir unter bestimmten
Bedingungen abrufen können


Auf Gedächtnisinhalte, die prinzipiell verfügbar sind, kann mitunter
nicht zugegriffen werden

Zugreifbarkeit ab hängt von…




3
z.B. „Tip-of-the-tongue“ Phänomen
Art des Gedächtnistests
Abrufhinweisen (retrieval cues)
Kontext
Interaktion von Enkodier- und Abrufprozessen
Die Bedeutung von Abrufhinweisen für den Gedächtnisabruf
4
Bedeutung von Abrufhinweisen:
Freie vs. unterstützte Reproduktion (free vs. cued recall)
5

Vpn lernten 1 bis 6 Listen mit je 24
Worten

Jede Liste enthielt je 4 Worte aus 6
Kategorien (z.B. Tiere)

Danach Test für die 1. Liste: Freie
Reproduktion vs. unterstützte
Reproduktion mit Kategorien als
Abrufhinweis
Tulving & Psotka (1971)
Bedeutung von Abrufhinweisen:
Reproduktion vs. Rekognition

6
120
100
Tests: Freie Reproduktion und
Rekognition
80
Fast alle Worte, die nicht
reproduziert werden konnten,
wurden korrekt wieder
erkannt
40

Worte waren gespeichert,
aber nicht zugreifbar

Vergessen kann Folge
fehlender Abrufhinweise sein
Treffer
60
Falsche
Alarme
20
0
Rekognition

Vpn lernten Liste mit 100
Worten
Freie
Reproduktion

Mandler, Pearlstone & Koopmans (1969)
Bedeutung von Abrufhinweisen:
Reproduktion vs. Rekognition

Freie Reproduktion: sehr unspezifische
Abrufhinweise



Rekognition: gelernte Items dienen als
spezifische Abrufhinweise



7
„die gelernte Liste“
offene Fragen
Liste mit alten und neuen Worten
Multiple choice Fragen
(Ausnahme: Reproduktion kann besser
als Rekognition sein, wenn der
Reproduktionstest bessere
Abrufhinweise beinhaltet (recognition
failure; Tulving & Wiseman, 1975)
Typische Ergebnisse

Bower & Clark (1969):

Vpn lernten 12 Listen mit je 10 Worten

Gruppe 1: Geschichte aus den Worten
bilden


8
Gruppe 2: Gleiche Lernzeit, keine weitere
Instruktion
Zusammenhänge zwischen Lernitems
herstellen = Generierung zusätzlicher
Abrufhinweise  besseres Erinnern
Prozentsatz korrekt erinnerter Worte
Selbstgenerierte Abrufhinweise
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
Geschichte
bilden
Ohne Instruktion

Effekte von Enkodierstrategien (Organisation, Elaboration u.a.) beruhen
teilweise auf Generierung zusätzlicher Abrufhinweisen

Strategien haben (meist) stärkere Effekte beim freien Reproduzieren als
beim Wiedererkennen
Generate-Recognize-Theory
(Anderson & Bower, 1972; Kintsch, 1970)

Annahme zweier Prozesse beim freien Reproduzieren:
1. Generieren: Items, die in der Liste gewesen sein könnten, werden
generiert (z.B. Worte, die einem spontan einfallen; Exemplare von
Kategorien etc.)
2. Wiedererkennen: Die generierten Items werden einem
Rekognitionsurteil unterzogen und reproduziert, wenn sie wiedererkannt
werden oder vertraut erscheinen

9
Strategien (Organisation, Elaboration) verbessern freies
Reproduzieren, weil sie das Generieren von Items erleichtern
Enkodierungsspezifität
10
Abrufhinweise und Enkodierungsspezifität
(Tulving & Osler, 1968)
1. Wortpaare lernen:
STADT - schmutzig
BUCH - grün
etc.
2. Cued-Recall-Test:
Enkodierter Abrufhinweis
schmutzig - ?
grün - ?


11
Andere assoziierte Reize
Dorf - ?
Papier - ?
Bessere Gedächtnisleistung, wenn die ursprünglich enkodierten
Abrufhinweise dargeboten wurden
Abrufhinweise, die beim Einprägen aktiv enkodiert werden, sind effektiver
als prä-experimentell assoziierte Reize
Abrufhinweise und Enkodierungsspezifität

Strong Cue: BLÜTE - BLUME

Weak Cue:
FRUCHT - BLUME
Tulving & Thomson (1970).
J. Exp. Psychol.
(Abb. aus Eysenck & Keane, 2010)
12
Kontexteffekte beim Gedächtnisabruf
13
Situativer Kontext als Abrufhinweis

14
Godden & Baddeley (1975):

Taucher lernten Wortliste an Land oder 6 m unter Wasser

Späterer Gedächtnistest an Land oder unter Wasser
Godden & Baddeley (1975). British Journal of Psychology, 66, 325-331.
Interner Kontext als Abrufhinweis:
Stimmungsabhängiger Abruf

Emotional neutrales Material

Enkodieren in fröhlicher oder
trauriger Stimmung

Abrufen in fröhlicher oder
trauriger Stimmung
Eysenck & Keane (2010):
Based on data Kenealy (1997)
16
Vier Arten von Kontexteffekten
Godden & Baddely, 1975
0,4
Reimen
Semantisch
0,2
Gedächtnisleistung
Gedächtnisleistung
Fischer & Craik, 1977
0
Reimen
0,4
Land
Wasser
0,2
0
Land
Semantisch
Abruf
Abruf
Eich & Metcalfe, 1989
11
Droge
Nüchtern
7
5
Droge
18
Nüchtern
Abruf
Gedächtnisleistung
Gedächtnisleistung
Eich et al., 1975
9
Wasser
0,4
Fröhlich
Traurig
0,2
0
Fröhlich
Traurig
Abruf
Kontexteffekte: Einschränkende Bemerkungen
19

Kontexteffekte sind oft relativ klein (wenngleich signifikant)

Kontexteffekte sind stärker bei der freien Reproduktion als bei Tests
mit spezifischen Abrufhinweisen (Cued Recall, Rekognition)

Kontexteffekte fallen größer aus, wenn der Abruf durch
interferierende Information erschwert wird

Kontexteffekte sind stärker, wenn die Kontextinformation aktiv mit
der Lerninformation assoziiert wurde
Interferenz als Ursache des Vergessens
20
Vergessenskurve

23
Lern-Ersparnis (% der ursprünglichen Lernzeit) beim
erneuten Lernen sinnloser Silben
Vergessenskurven für unterschiedliches Material
100%
75%
Gedichte
50%
Prosatexte
25%
Sinnlose
Silben
0%
nach: 0
24
5
10
15
20
25
30 Tagen
Nach Baddeley (2000, 114)
Vergessenskurve bei alltäglichen Erinnerungen

25
Neun Jahre lang (1978-1986) wurden
bei jeweils anderen Gruppe von
Versuchspersonen die Erinnerung an
Fernsehserien getestet, die 1 bis 15
Jahre zuvor ausgestrahlt worden
waren
Gluck, Mercado and Myers: Learning and Memory
© 2008 by Worth Publishers
Interferenz als Ursache des Vergessens
1. Proaktive Interferenz. Altes Material stört das Lernen und Behalten von
neuem Material.
Lernen Span. ——> Lernen Ital. ——> Abruf Ital. wird behindert
2. Retroaktive Interferenz. Neu gelerntes Material stört den Abruf
von altem, früher gelernten Material
Lernen Span. ——> Lernen Ital ——> Abruf Span. wird behindert
27
Paradigmen zu Untersuchung
proaktiver und retroaktiver Interferenz
29
Gluck, Mercado and Myers: Learning and Memory,
Copyright © 2008 by Worth Publishers
Retroaktive Interferenz
Slamecka (1980):
Vpn lasen Sätze 2, 4 oder 8
mal
Danach Ruhepause oder 4
bzw. 8 weitere Durchgänge mit
neuen Sätzen
30
Spurenzerfall

Annahme: neue Gedächtnisspuren beruhen auf strukturellen Veränderungen im
Gehirn (z.B. Modifikation synaptischer Verbindungen zwischen Nervenzellen)

Nicht benutzte Gedächtnisspuren “zerfallen” (synaptische Verbindungen werden
wieder abgeschwächt)

Ist schwer zu testen, da während des Retentionsintervalls neue Informationen
verarbeitet werden, so dass Vergessen die Folge von Interferenz sein könnte
Gedächtnis und Schlaf

Besseres Erinnern, wenn zwischen Einprägen und Abruf eine Schlaf- statt
einer Wachphase lag

Mögliche Erklärung: weniger Interferenz während des Schlafs

Neuere Befunde: Konsolidierungsprozesse in bestimmten Schlafphasen
Jenkins & Dallenback, 1924
Schlaf fördert Konsolidierung räumlicher Assoziationen im
deklarativen Gedächtnis
Face–location
association task
Experimental procedure :
12-h wake group
12-h sleep group
24-h wake–sleep group
24-h sleep wake group.
T = Training session;
R1 = immediate recall
test;
R2 = recall test after
retention interval.
33
Talamini et al. (2008) Learn. Mem. 15, 233-237
Schlaf fördert Konsolidierung räumlicher Assoziationen im
deklarativen Gedächtnis
34
Talamini et al. (2008) Learn. Mem. 15, 233-237
Schlaf und Konsolidierung im deklarativen Gedächtnis

Probanden lernten Liste mit 20
Wortpaaren

Abruf nach Schlafphase,
Wachphase, oder beidem
a) No-interference condition:
Abruf nach 12 Stunden
b) Interferenzbedingung:
Probanden lernten eine
weitere Liste unmittelbar vor
dem Abruf der alten Liste
35
Ellenbogen et al. (2006). Curr Biol, 16, 1290-1294
Schlaf und Konsolidierung im deklarativen Gedächtnis

Aktuelle Hypothese:


Reaktivierung neuer Gedächtnisinhalte in bestimmten Schlafphasen
fördert Konsolidierung
Beruht auf Interaktion von Hippokampus und Neokortex
 Wir kommen in VL zur Kognitiven Neurowissenschaft des Gedächtnis
darauf zurück…
36
Warum vergessen wir?
Mögliche Mechanismen

Unzulängliche Enkodierung


Fehlende oder ineffiziente Abrufhinweise


Störung des Abrufs alter Information durch das Lernen neuer Information
oder Störung des Abrufs neuer Information durch zuvor gelernte
Information
Verdrängung (?)

38
Spontaner Zerfall von Gedächtnisspuren, die nicht genutzt werden
Interferenz


Information ist gespeichert, kann aber nicht erinnert werden, weil keine
geeigneten Abrufhinweise verfügbar sind
Spurenzerfall (?)


Neue Information wird nicht ins Langzeitgedächtnis transferiert
Blockierung des Bewusstwerdens emotional belastender / traumatischer
Gedächtnisinhalte
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