Werner Gephart Recht als Kultur Vorlesung im Sommersemester 2004 Werner Gephart Kapitel 9 und 10 sowie die Text-strukturierenden Fragen folgen in einer späteren Version des Skriptes Titelbild: Werner Gephart: Recht als Kultur, 1998 Collage, Pastell 57,5 × 40,5 cm 2 Recht als Kultur. INHALT Erste Vorlesung: Einführung – Was ist „Rechtssoziologie“ bzw. „Soziologie des Rechts“ ....................................................................................................................... I. Theoretische Orientierungen Zweite Vorlesung: Recht als Kultur? Max Webers Beitrag zu einer vergleichenden Kultursoziologie des Rechts....................................................................................... Dritte Vorlesung: Im Reich des Normativen. Emile Durkheims Vision der rechtlichen Ordnungen.................................................................................................................. Vierte Vorlesung: Das Recht im Konflikt der modernen Kultur. Zur Theorie des Rechts bei Georg Simmel ...................................................................................................... II. Anwendungsfelder Fünfte Vorlesung: Die Normalität von Bettlern, Gauklern und Leprösen in der symbolischen Ordnung mittelalterlicher Gesellschaften ........................................... Sechste Vorlesung: Die symbolische Inszenierung des Unrechts im Nationalsozialismus Siebte Vorlesung: Orte der Gerechtigkeit. Gerichtsarchitektur zwischen Sakral- und Profanbau ................................................................................................................... Achte Vorlesung: Alte und neue Bilder der Gerechtigkeit. Von den Symbolen des Rechts zum Simulacrum der Gerechtigkeit ........................................................................... 3 Werner Gephart ERSTE VORLESUNG EINFÜHRUNG –WAS IST „RECHTSSOZIOLOGIE“ BZW. „SOZIOLOGIE DES RECHTS“ Die Frage nach dem Gegenstand der Rechtssoziologie ist nicht die leichteste dieser Teildisziplin der Soziologie oder gar einer Soziologie des Rechts, die sich als Gesellschaftstheorie, als Theorie der Gesellschaft versteht. Fließen in den Begriff des Rechts doch all die Annahmen der verschiedenen Paradigmen der Soziologie ein, die ihren soziologischen Gegenstand jeweils ganz unterschiedlich bestimmen: als zu verstehendes und dadurch in seinem Ablauf zu erklärendes Handeln (Max Weber), als Analyse der „Formen des sozialen Lebens“, dessen was an Gesellschaft nichts als Gesellschaft sei (Georg Simmel), als Strukturen der Lebenswelt, wie sie von der phänomenologischen Soziologie, insbes. von Alfred Schütz vertreten wird oder aber auch als „faits sociaux“, soziologische Tatbestände, die es zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären gälte (Emile Durkheim). Ohne diese Arbeit am Fundament des soziologischen Wissens hier nur annäherungsweise leisten zu können, möchte ich gleichwohl eine Bestimmung des soziologischen Begriffs von „Recht“ stellen, die für eine Wahrnehmung der besonderen Leistungsfähigkeit des Durkheimschen Forschungsprogramms fruchtbar erscheint. Unter „Recht“ soll ein als kontrafaktisch gefestigter Erwartungszusammenhang verstanden werden, der durch die Verwendung von Symbolen tradiert und codiert wird, in normativen Strukturen stabilisiert wird, durch die Organisation eines Sanktionsapparates Nachachtung einfordert und in Ritualen, Verfahren also, die Normgenerierung und Normanwendung bekräftigt, ja die Macht des Rechts begründet. 4 Recht als Kultur. Dimensionen des Rechtsbegriffs Damit also verfolgen wir hier – in einem gewissen Vorgriff auf Ergebnisse der Interpretation des Durkheimschen Werkes – einen viergliedrigen Rechtsbegriff, der folgende Dimensionen unterscheidet: - Recht als Symbol, - Recht als Norm und normative Ordnung, - Recht als Organisation und, - Recht als Ritual. Recht als Norm Die normative Dimension des Rechts ist scheinbar unbestritten. Sie bietet sich als Lösung des Ordnungsproblems an. Sie findet in Durkheims Analyse des sozialen Lebens bis in die normative Konstitution des Gegenstandsbereichs der Soziologie – wie wir sehen werden – Rückhalt, um ein Reich des Normativen zu eröffnen, das die soziale Welt bis zu einer Art Mikrophysik der normativen Macht durchdringt. Dieses Reich des Normativen ist nicht undifferenziert, die klassischen Unterteilungen des Rechtsstoffs in der Tradition des römischen Rechts als öffentliches und privates Recht werden von Durkheim zwar soziologisch durchschnitten in der Differenz restitutiver und repressiver Normen, an dem Bezugspunkt dieser Differenzierungen ändert sich jedoch nichts: nämlich der Norm. Auch für Weber ist Recht als Norm bzw. als normative Ordnung konzipiert. Die Lehre vom Rechtssatz, die Kelsens „Reiner Rechtslehre“ zugrunde liegt, wird von Weber ins Soziologische gewendet. So fragt Weber nach dem empirischen Geltungsgrund bestehender Normen und den paradoxen Entwicklungsbedingungen normativer Ordnungen, die durch Gewohnheit auf Dauer gestellt sind. Methodisch haben wir Weber das strikte Postulat einer Unterscheidung der empirischen und normativ-juristischen Betrachtungsweise von rechtlichen Ordnungen zu verdanken, die auch in den legitimen Versuchen, 5 Werner Gephart die gegenläufigen Verwicklungen von „Faktizität und Normativität“ (Habermas) nachzuzeichnen, noch die an der Stammler-Kritik entwickelte Trennungsthese durchscheinen lässt. Webers Thema einer Betrachtung von Recht als normativer Ordnung, das sich an der Rezension Rudolph Stammlers entfaltet, ist vordergründig die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit des „Regelbegriffs“, der die „stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen mit dem Normativen auf das Maximum“1 steigen lässt. Eine die „Konfusion des Empirischen mit dem Normativen“ vermeidende Betrachtung stellt nach Weber nämlich zwei Bedeutungen von „Regel“ fest. Einmal ist mit „Regel“ der gelten sollende Sinn einer Norm gemeint, eine Aufgabe, die im Skatspiel von der „Skatjurisprudenz“, im „Rechtsleben“ von der Rechtswissenschaft zur Ermittlung der „juristischen Wahrheit“2 erfüllt wird, die als ein „rein ideelles, vom juristischen Forscher destilliertes Objekt begrifflicher Analyse“3 behandelt wird. Das „Gelten“ der Regel in diesem Sinne ist das Ergebnis – so Weber – der gedanklichen Verbindung von „Begriffen“, ein „GeltenSollen“ für den juristischen Intellekt. Diesem „idealen“ Sinn der „Regel“ aber kommt keinerlei Bedeutung für die „empirische“ Geltung der Regel zu. Wenn also dem Recht als „Idee“ die Bedeutung abgesprochen wird, scheint sich eine Nähe zu Durkheims Kritik des juridischen Idealismus einzustellen.4 Aber Weber tendiert nun keineswegs zu einem schlichten Normrealismus als „Form“ des sozialen Lebens, vielmehr gälte: „Die Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine ‚Form’ des sozialen Seins, wie immer das letztere begrifflich bestimmt werden möge, sondern eine sachliche Komponente der 1 2 3 4 Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 343 (eigene Hervorh.). So die Formulierung ebd., S. 347. Ebd., S. 346. So vor allem in der Kritik von Gaston Richard, Essai sur l’origine de l’idee de droi, in Revue philosophique 35, 1893, S. 290-296 6 Recht als Kultur. empirischen Wirklichkeit, eine Maxime, […]“.5 Und das heißt: Nur soweit die am Recht beteiligten Personen, „Richter“, „Anwälte“, „Gerichtsvollzieher“, „Polizisten“ und die „Rechtsgenossen“ sich an der Vorstellung vom Gelten-Sollen der „Regel“ orientieren, ist das soziale Sein durch ein rechtliches Sollen bestimmt. Im „normativen“ Sinne wird hierbei unter Recht die „ideelle Normordnung“ gemeint, deren Struktur genau dem „Ideal“ entsprechen müsste, das in Webers Rechtssoziologie durch die Postulate der gemeinrechtlichen Jurisprudenz als: „formalrationales“ System des Rechts ausgewiesen wird. Verwandtschaft und Differenz zu Kelsens Grundidee der reinen Rechtslehre6 sind also weiterhin offenkundig, als dessen soziologische Kehrseite Webers Analyse von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ sowie die „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ zu verstehen sind. Jedoch bleibt dieser Begriff der „empirischen“ Rechtsordnung weitgehend farblos. Denn es kommt ja ausschließlich auf die Vorstellung von der Geltung im jeweiligen Handeln an, so dass Weber am Ende eine rein kognitivistische Vorstellung von der empirischen Rechtsordnung zu entwickeln scheint. So heißt es ausdrücklich: „Das ‚empirische Sein’ des Rechts als Maximebildenden ‚Wissens’ konkreter Menschen nannten wir hier: die empirische ‚Rechtsordnung’.“7 Dass es Grenzen der Fiktionalisierung sozialer Strukturen und Institutionen gibt, die sich nicht vollständig in „Gemeinsamkeitsglauben“, „Legitimitätsglauben“ oder auch: „Rechtsglauben“ auflösen lassen, weiß Weber selbst. 5 6 7 Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 349. Vgl. hierzu Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970. Siehe auch: Norberto Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, in: Manfred Rehbinder und Klaus-Peter Tieck (Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 109-126. Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 350 (letzte Hervorh. W.G.). 7 Werner Gephart So wird einerseits betont, dass nicht jedes Recht den Charakter der Normordnung annimmt. Es fehle „ganz bei der urwüchsigen Entscheidung durch magische Mittel der Rechtsoffenbarung“ und sei überhaupt „in aller noch nicht formaljuristisch rationalisierten Rechtsfindung“8 problematisch. Zum anderen zeigen sowohl seine Garantienlehre, wie seine Berücksichtigung symbolischer Faktoren, dass aus dem reinen Rechtsglauben noch kein Recht hervorgeht, Recht aber auch nicht exhaustiv durch den Charakter einer Normordnung bestimmt ist und die Abgrenzung gegenüber konkurrierenden normativen Ordnungen, wie Sitte, Moral und Religion, weiterer Begriffsmerkmale bedarf. Festzuhalten bleibt, dass ein Verständnis von Recht an seiner normativen Verfasstheit nicht vorbeigehen kann, dessen Leistung gerade in der wirklichkeitswidrigen Geltungsbehauptung von Erwartungen und Erwartungserwartungen beruht, also Geltungseinverständnissen, die weiterer Abstützungen bedarf. Recht als Organisation In Durkheims Rechtsanalysen gibt es – wie wir sehen werden – keine systematische, oder gar vergleichende Analyse von Recht als Organisation und Institution. Durkheim hat allerdings in einer versteckten Notiz der „Année sociologique“ ein Konzept von „Systèmes et pratiques juridiques“9 entwickelt, das auch eine Organisationsebene des Rechts einschließt. Dass Durkheim der „organisation sociale“ hierbei einen eigenen Stellenwert im Rechtsbegriff zuweist, ist ganz offensichtlich. Freilich gibt es keine expliziten Studien zu Gerichtsorganisation oder zur Konstitution einer ausdifferenzierten Rechtsgemeinschaft. 8 9 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. (§ 3 RS) Vgl. insbesondere Emile Durkheim, Organisation sociale, Note, in: L’Année sociologique 6, 1903, S. 316. 8 Recht als Kultur. Aus seiner allgemeinen Soziologie der elementaren Formen des sozialen Lebens, die wir während der Vorlesung näher kennen lernen werden, ergibt sich das Erfordernis, Recht auch als soziale Organisation zu betrachten, ganz zwingend. Durkheim hat nämlich verschiedentlich den Begriff der „organisation sociale“ für den Bereich reserviert, der im Übrigen mit sozialer Struktur bezeichnet wird. Wer Durkheim von einer zweifellos in den frühen Schriften vorhandenen Nähe zum Organizismus allerdings auf das Moment des Organischen fixieren wollte,11 vereinseitigte die zweifellos vorhandenen funktionalistischen Aspekte der Schriften Durkheims, in denen „Organbildung“, strukturelle und funktionale „Differenzierung“ diejenigen Grundbegriffe bilden, deren ideologischer Ausdruck in den „groupements professionels“ zu finden ist. Nach Weber können mannigfache Motive zur Geltung einer Ordnung beitragen; von „garantiertem“ Recht aber will Weber nur dort sprechen, „wo die Chance besteht, es werde gegebenenfalls ‚um ihrer selbst willen’ Zwang, ‚Rechtzwang’, eintreten“.12 Diese Formulierung ist sehr genau zu lesen, denn sie enthält nicht, wie Weber ja gemeinhin zugeschrieben wird, eine schlichte Bestimmung von Recht durch Macht, indem Recht an die Machtverhältnisse ausgeliefert sei. Vielmehr wird die Garantie der Rechtsordnung zur unbedingten, durch keinerlei utilitaristische Motive irritierbaren, von Opportunitätsgründen unabhängige Rechtspflicht des Staates. Damit ist das „Zwangsmoment im Recht“13 von vornherein ethisch überhöht, ebenso wie die Befolgungsmotive ethische Dignität aufweisen, wenn sie nicht in Furcht vor negativen 10 11 12 13 Vgl. insbesondere Emile Durkheim, Organisation sociale, Note, in: L’Année sociologique 6, 1903, S. 316. Vgl. hierzu die im ersten Diskussionsteil zitierten Autoren. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 182 (eigene Hervorh.). Zu Durkheims Sicht vgl. die Rezension von E. Neukamp, Das Zwangsmoment im Recht in entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung (Berlin 1898), in: L’Année sociologique 3, 1900, S. 324-325. 9 Werner Gephart Folgen oder in Erwartung von Belohnungen bestehen. Hat man Parsons’ Utilitarismuskritik vor Augen, so findet sich diese in der Tat auch in Webers Konzeption des Rechts bestätigt, auf der Seite der interessenunabhängigen Befolgungsmotive der Rechtsgenossen, wie der Durchsetzungsmotive von Recht auf Seiten des Zwangsapparates, die „um ihrer selbst willen“ befolgt werden. Somit fließen normative Geltungsvorstellungen in den empirischen Begriff des Rechts als Sanktionsapparat mit ein, was in den „Soziologischen Grundbegriffen“ dann weiter systematisiert wird. Unter „Rechtsordnung“, im empirischen Sinne, wird also weder die auf „Recht“ bezogene normative Ordnung noch die Gesamtheit des Regelsystems verstanden, sondern: „Wir wollen vielmehr überall da von ‚Rechtsordnung’ sprechen, wo die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ‚Rechtszwanges’ existiert.“14 Eine mögliche Richtung der „Epochen der Entwicklung ihres heutigen Zustandes“, so die Formulierung des „Stoffverteilungsplanes“, bzw. die „Rationalisierung“ des Rechts, könnte sich also aus der Entfaltung dieses „Zwangsapparates“ ergeben, der sich von der ungeschiedenen Gesamtheit der „Sippe“, dem „Umstand“, der „dinggenossenschaftlichen Justiz“ bis zur Ausdifferenzierung eines „Rechts- und Erzwingungsstabes“ entwickelt, ein Prozess, der sodann in engem Zusammenhang mit der Entfaltung des „Staates“ stehen muss. So ist das „staatlich“ garantierte Recht eine der letzten „Entwicklungsstufen“15 des Rechts: „Von ‚staatlichem’, das heißt: staatlich garantiertem, Recht wollen wir 14 15 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 185. So an die ausdrückliche Formulierung Webers in: ebd., S. 183. 10 Recht als Kultur. da und insoweit sprechen, als die Garantie dafür: der Rechtszwang, durch die spezifischen, im Normalfall also: direkt physischen Zwangsmittel der politischen Gemeinschaft ausgeübt wird.“16 Das „Schicksal“ der Rechtsentwicklung ist von dort her eng mit dem Prozess der Monopolisierung legitimer Gewaltmittel im Staat verknüpft. Die organisationsförmige Verfassung des Rechts weist in die politische Sphäre. Aber ebenso wie die Analyse der Organisationskultur17 in allgemeinen kulturellen Kontexten und Differenzen Rechnung zu tragen sucht, ist auch die Organisation der Gerechtigkeit in ihren Gerichtsbauten symbolisch umrankt und verstärkt, wie sich in der Analyse der versteinerten Rechtskulturen sehen lässt, welche die „force du droit“ (Pierre Bourdieu) mobilisiert. Recht als Symbol Gegen den Strich rechtssoziologischer Aufmerksamkeiten versuchen wir, gerade in der Lektüre Emile Durkheims, die symbolische Dimension des Rechts herauszupräparieren. Für die romantische Rechtsschule der germanistischen Forschung war sie einmal selbstverständlich, ist aber in der dürren Analyse von Normstrukturen und Implementationsdefiziten des Rechts verloren gegangen. Sie steht unter dem Verdikt einer vermeintlichen De-Symbolisierung des Rechts als Merkmal der Moderne. Hierbei können wir freilich – wie weiter zu sehen ist – an einen Symbolbegriff Durkheims anschließen, der zwischen einer kognitiven, im expliziten Sinne komplexitätsreduzierenden Funktion kollektiver Symbole und einer emotiven Funktion unterscheidet. Wenn Gesellschaften – so Durkheim – nur dank 16 17 Ebd. Vgl. etwa aus sozialpsychologischer Organisationskultur, Stuttgart 2003. Sicht Walter Neubauer, 11 Werner Gephart eines umfassenden Symbolismus überhaupt möglich sind, dann ist das Recht hiervon nicht ausgenommen. In verschiedenen Interpretationen des Durkheimschen Werkes wird in der vermeintlichen Kehre zu symbolischen Phänomenen hin ein grundlegender Wandel in der theoretischen Orientierung Durkheims diagnostiziert. Diese Deutung übersieht jedoch, dass die Konzeption der „représentations collectives“ recht früh entwickelt wurde18 und schließlich im Konzept der „conscience collective“ einen festen Platz einnimmt. Die Analyse symbolischer Formen ist daher fester Bestandteil des Durkheimschen Paradigmas und für die Rechtsanalyse in besonderer Weise fruchtbar. Dies zeigte sich bei der für eine jede Rechtstheorie zentralen Frage, nämlich wie Prozesse der Zurechnung zu deuten und zu erklären sind. Durkheims Schüler Fauconnet hatte den Symbolmechanismus als Transfer und Substitution kollektiver Gefühle von dem durch einen Normbruch Verletzten auf denjenigen interpretiert, der hierfür die Verantwortung tragen soll. Auch wenn nun in frühen Formen des Rechts die symbolische Komponente stärker ausgeprägt ist, im römischen und germanischen Recht die festuca (lat.: Grashalm, Stäbchen) als Symbol verschiedene rechtsförmliche Handlungen begleitet, bei den Germanen namentlich für Besitzübertragungen und dort bei der Übertragung von Grundbesitz mit anderen handgreiflichen Materialien, Messer, Torf, Zweig und Handschuh verknüpft ist, so treten diese symbolischen Momente im Verlauf der okzidentalen Rationalisierung des Rechts zurück, auch wenn es hiervon immer wieder – evolutionstheoretisch gesprochen – „Überlebsel“ gibt. Es wäre allerdings naiv, den vermeintlich so hochabstrakten Schulfall des Zigarettenkaufs frei von symbolischen Gesten und symbolischen Bedeutungen zu deuten. Auch wenn er als komplexes synallagmatisches Rechtsgeschäft, aus kausalem Verpflichtungsgeschäft und doppelter 18 Emile Durkheim, Représentations individuelles et représentations collectives, a. a. O. 12 Recht als Kultur. Übertragung von Geld und Gegenleistung konstruiert wird, so ist er in der Rechtswirklichkeit durch symbolische Gesten des Zeigens auf eine Zigarettenmarke zur Bestimmung der gewünschten Zigarettenmarke, der stillschweigenden, einverständnisorientierten Hingabe von Geld und Zigarettenschachtel in der lebensweltlichen Praxis des Zigarettenkaufs gestaltet. Symbolisch drastische Warnungen vor den Folgen des Rauchens, gewaltige mediale Inszenierungen von der durch eine Zigarette erreichbaren weiten „Welt“ oder der „Welt“ des Abenteuers ranken sich um die gesellschaftlich sanktionierte Suchtform, deren symbolische Verführungskraft in Schadensersatzprozessen auf einmal deliktrechtliche Haftungsrelevanz gewinnt, ja Bestandteil der symbolischen Zurechnung wird. Diese keineswegs evolutionär geradlinige Entwicklung eines tentativen Rückgangs der symbolischen Formen, zumindest als Geltungsbedingung von Rechtsgeschäften, die wir gerade in dem religionssoziologisch inspirierten Bild des Zivilrechts bei Emile Durkheim, Paul Huvelin und Emmanuel Levy kennen lernen werden, weist Brüche und irritierende Rückschläge auf, die uns jegliche symbolischen Exzesse verdächtig erscheinen lassen. Allein die symbolische Klassifikationsordnung mittelalterlicher Gesellschaften, in denen ihre Außenseiter akustisch und sinnlich symbolisch wahrnehmbar sind, so die Bettler, Gaukler, Henker und Dirnen, birgt ein Potenzial der symbolischen Exklusion in sich, das sich an Beispielen des vielschichtigen Symbolterrors im Nationalsozialismus zeigen lässt. Schließlich beruhen diese symbolischen Verkürzungen auf dem ubiquitären Problem der kognitiven Verdichtung komplexer Sinngehalte und andererseits auf ihrer emotiven Mobilisierungskraft. Die anhaltende Diskussion über den muslimischen Gebrauch des Schleiers mit charakteristischen Differenzen der jeweiligen Symbolkulturen in Deutschland, Frankreich und der Türkei etwa oder die Missdeutungen des Flaggengebrauchs nach dem 11. September in den USA zeigen, 13 Werner Gephart wie sensibel auf Gemeinsamkeit insinuierende, unterdrückende oder exkludierende kollektive Symbole auch mit den Mitteln des Rechts reagiert wird. Schließlich kann man die symbolische Repräsentation von Recht und nicht nur ihre sozusagen innerjuristische Funktionalität am Beispiel der künstlerischen Darstellung des Rechts bei Daumier und Klimt exemplarisch verfolgen und anhand des Gerichtsfilms und insbesondere des neuen Formats der Court-TV-Shows demonstrieren, wie im Medium der Bilder ein Simulacrum der Gerechtigkeit erzeugt wird. Recht als Handeln und Ritual Weder Normen, noch juridische Organisationen und Rechtssymbolik allein machen das Recht aus: es ist ein Handlungszusammenhang, dem Weber im Kategorien-Aufsatz derart Rechnung trägt, dass „Recht“ im soziologischen Sinne auf „Handeln“ reduziert erscheint. So lautet die zentrale Passage: „Die Soziologie hat es dagegen, soweit für sie das ‚Recht’ als Objekt in Betracht kommt, nicht mit der Ermittlung des logisch richtigen ‚objektiven’ Sinngehaltes von ‚Rechtssätzen’ zu tun, sondern mit einem Handeln, als dessen Determinanten und Resultanten natürlich unter anderem auch Vorstellungen von Menschen über den ‚Sinn’ und das ‚Gelten’ bestimmter Rechtssätze eine bedeutsame Rolle spielen.“19 Recht ist danach also nichts weiter als eine bestimmte Art des Handelns. Dies würde zu Holmes berühmter Definition von „Recht“ als „principles of what the cours will do in fact“20 durchaus passen, ebenso wie der einschränkende Nachsatz über die Vorstellungen, die zur Geltung des Rechts gebildet werden, in Emile Durkheim eine Stütze fände, der in einer vernichtenden Rezension über den abtrünnigen Gaston Richard die 19 20 Max Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, a. a. O., S. 440. Vgl. Oliver Holmes, The Path of the Law, in: Harvard Law Review 10, 1887, S. 457-478, hier S. 461. 14 Recht als Kultur. idealistische Reduktion des Rechts als „Idée du droit“ attackiert hatte.21 Insofern kommt in Webers handlungsbezogener Umschreibung des Rechts der „Realismusanspruch“ zur Geltung. Mit Durkheim, der von Parsons wohl zu Unrecht als Handlungstheoretiker reklamiert wurde, kehrt über das religionssoziologische Paradigma das Ritual in die Aufmerksamkeit des Rechtsbeobachters. Recht ist in seiner Handlungsdimension durch derartige formale Interaktionen der Rechtsbegründung, Bekräftigung oder Sanktionierung gekennzeichnet. Juridische „effervescence“, symbolisch aufgeladene Interaktionen im Rechtsritual, würden jedenfalls von der religionssoziologischen Analogie profitieren, die wir am Beispiel des strafrechtlichen Verfahrens22 und seiner symbolischen Reflexe kennen gelernt haben. Die Luhmann’sche These der Legitimation durch Verfahren ließe sich mit Durkheim eher verstärken und die von Habermas anvisierte prozedurale Rationalität gewönne in Durkheims Paradigma der Deutung von Ritualen eine massive Verstärkung, auch wenn diese nicht nur auf Vernunft setzt. So wird die vielgeschmähte Theorie Luhmanns, die eine zum geflügelten Wort gewordene „Legitimation durch Verfahren“ entwarf, in „Faktizität und Geltung“ zu einem Schlussstein im moralisch-juridischen Aufbau der Zivilgesellschaft: „Allein die prozeduralistisch angelegten Moral- und Gerechtigkeitstheorien versprechen ein unparteiliches Verfahren für die Begründung und Abwägung von Prinzipien.“23 Je höher die Verfahrensrationalität, umso höher müsste die Richtigkeitsgewähr normativer Diskurse sein. Dies aber privilegiert zwangsläufig den juristischen Diskurs. Auch wenn 21 22 23 Vgl. Emile Durkheim, Richard G., Essai sur l’origine de l’idée de droit, in: Revue philosophique 35, 1893, S. 290-296. Vgl. Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., S. 148-152. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main, 1992, S. 562 f. 15 Werner Gephart juristische Diskurse für moralische Diskurse „durchlässig“ sein sollen,24 verbleibt die Frage, warum „Moral“ als verfahrensmäßig unterlegene Diskursform überhaupt noch eine Korrektivfunktion gegenüber Recht wahrnehmen sollte. Das kritische Verhältnis von Moral und Recht, wie es einer Theorie außerrechtlicher Vernunftgründe des Rechts in unterschiedlichen Schattierungen eigen ist, kehrt sich um in ein Kompensationsverhältnis des formalen Rechts gegenüber den Schwächen einer materialen, autonomen Moral.25 Damit wird das Verfahren zum Garanten der gerechten Gesellschaft. „Verfahrensrationalität“ ist nicht nur – so Habermas ausdrücklich – die „juristische Grundnorm“, sondern formales Organisationsprinzip und materialer Inhalt der Zivilgesellschaft: „Einziger Inhalt des Projekts ist die schrittweise verbesserte Institutionalisierung von Verfahren vernünftiger kollektiver Willensbildung, welche die konkreten Ziele der Beteiligten nicht präjudizieren können.“26 Damit ist das von Luhmann angestimmte Lob des Verfahrens weit übertroffen: Nicht mehr die „Verstrickung“ in formale Rollen als Partituren des verfahrensgemäßen Verhaltens, aus denen Entscheidungsakzeptanz und Normlegitimität aus der Faktizität des sozialen Beteiligungsmechanismus nach Luhmanns Deutung hervorspringen soll,27 sondern die Sakralität des Verfahrens als Idee und Form des Rechtsstaates erzeugt universale Geltungsgründe des Rechts. Die gerechte Gesellschaft ist diejenige, in der in ausreichender Weise Verfahren institutionalisiert sind, die „Verfahrensgesellschaft“. Allerdings können Verfahren auch ritualistisch, endlos und ziellos sein, oder den Rechtssuchenden überhaupt erst gar nicht ins Rechtsystem hineinlassen. Das Ritual ist keine Garantie der Gerechtigkeit. Aber die von Weber so genannten „formalen Qualitäten des modernen Rechts“ bergen in ihrer diskursiven 24 25 26 27 Vgl. ebd., S. 565. Vgl. ebd., S. 567. Ebd. S. 629. Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, a. a. O. 16 Recht als Kultur. Grundstruktur durchaus Rationalitätschancen, soweit überhaupt ein Raum für die Eigengesetzlichkeit des Rechts als einer Sphäre der Moderne besteht. Dies ist jedenfalls unser Fazit einer kultursoziologischen Lektüre der sog. „Rechtssoziologie“ Max Webers, in der sich die Idee von Bürgergesellschaft und formalrationalem Recht zunehmend berühren. Hiernach sind die hier unterschiedenen Dimensionen des Rechts als normative Ordnung, juridische Organisation, Rechtssymbolik und Ritual keineswegs unabhängig voneinander zu sehen, sondern untereinander eng vernetzt: Normative Ordnungen, etwa Verfassungen, sind symbolisch gestützt, in manchen Vorschriften und Funktionen selbst von primär symbolischem Wert. Andererseits sind Rechts- und Staatssymbole in hohem Maße normativ abgesichert, in sog. Symbolschutzdelikten sanktioniert. Die Organisation des Rechts hat unterschiedlichste Formen von „Gerichtsverfassungen“ hervorgebracht, die z.B. den korrekten Ritualgebrauch von Verfahrenseröffnung, zulässigen Beweismitteln usf. regeln, während die Normerzeugung in modernen Gesellschaften an spezifische Erzeugungsrituale geknüpft ist, die als Gewohnheit in traditionalen Rechtsordnungen den hierzu berufenen Honoratioren, Fachjuristen und Rechtsgelehrten zu erkennen vorbehalten sind. Fänden wir also in dieser Dimensionierung des Rechts ein taugliches Beschreibungsraster rechtlicher Ordnungen vor, so bleibt die Frage zu beantworten, ob wir mit diesen Kategorien auch fruchtbare Orientierungen für die historisch-komparative Analyse von Rechtskulturen gewönnen. Dimensionen der Rechtsentwicklung Die zuvor entwickelten Ebenen der Rechtsanalyse lassen sich nun auch als Entwicklungsdimensionen begreifen: 17 Werner Gephart Für die symbolische Ebene haben wir bereits gegenläufige Bewegungen von De-Symbolisierung und Re-Symbolisierung symbolischer Abstraktion und Rückehr zu konkreter, sinnlicher Symbolik beobachtet, die sich medientheoretisch als Symbolinflation oder Deflation deuten lassen. Auf der Ebene der sozialen Organisation stehen eine Ausdifferenzierung eines Rechtsstabes aus der Rechtsgemeinschaft, zunehmende Spezialisierung und Verzweigungen der Gerichtsorganisation einer Wiederentdeckung der Rechtsgemeinschaft, die von der Freirechtslehre als Garant der Richtigkeit zitiert und vom Nationalsozialismus pervertiert wurde, gegenüber, während noch die romantische Rechtsschule in ihrer Bestimmung dessen, wer denn Träger des „Volksgeistes“ sei, unbestimmt blieb, so wie die Entgegensetzung von „Volksrecht“ und „Juristenrecht“ bis in die gegenwärtige Diskussion um das der Gesellschaft adäquate Recht hineinragt. Auch die normative Dimension eignet sich zur Beschreibung rechtlicher Entwicklung, ja sie ist primärer Anknüpfungspunkt einer evolutionären Betrachtung des Rechts: Durkheims Wandel von repressivem zu restitutivem Recht und Webers Annahme einer zunehmenden Rationalisierung des Rechts bemessen sich an Eigenschaften der Rechtsnormen, insbes. der Entfaltung des „Rechtssatzes“ und seiner Verbindungen zu einer „Rechtsordnung“ als Normenordnung, die durch die Merkmale des formal-rationalen Rechts ausgezeichnet sind. Als Struktureigenschaft normativer Systeme gilt hierbei ihre Befreiung von partikularistischen Bindungen und die Öffnung zu universalistischen Kategorien des Rechts. Freilich konvergieren auch hier Durkheim und Weber insofern, als sie, Parsons Behauptung einer unilinearen Universalisierung rechtlicher Normen zuwider, gerade die Verschachtelung von partikularen und universalistischen Normen, auch hochgradig moderner Rechtssysteme, behaupten. 18 Recht als Kultur. Auch auf der Ebene der Verfahren und Rituale lässt sich dynamisch interpretieren: Rationalisierung durch Diskurs, indem die Selbstbindung der Argumente als Konsistenzerfordernis des Entscheidens institutionalisiert wird, ist Bestandteil moderner Rechtssysteme. Eugen Ehrlich fasst diesen Sachverhalt geradezu als „Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnormen“, ein Gesetz, das aus Gründen der psychologischen Konsistenz, Denkökonomie und Erwartungen der Berechenbarkeit zu einer zeitlich-räumlichen Generalisierung von Entscheidungsnormen führe.28 In der Rechtssoziologie wirbt Weber geradezu für die Steigerung von Rationalität durch diskursive Verfahren: „Ein gewisses Maß von Stabilität und Stereotypierung zu Normen tritt immerhin ganz unvermeidlich ein, sobald die Entscheidung Gegenstand irgend einer Diskussion wird oder rationale Gründe dafür gesucht oder vorausgesetzt werden, also mit jeder Abschwächung des ursprünglichen rein irrationalen Orakelcharakters.“29 Freilich ist dieses hier nur anskizzierte, ja wohl bekannte Argumentationsarsenal rechtlicher Entwicklung viel zu grobschlächtig, um die Differenz von Rechtskulturen in ihrer historischen Entwicklung zu erfassen, zu deuten und womöglich gar nach dem Muster historischer oder evolutionärer Hypothesen zu „erklären“.30 Allerdings lohnt sich der Versuch den Charakter des klassischen und spätrömischen Rechts, des kanonischen Rechts der mittelalterlichen Rechte in ihren Verzweigungen in Deutschland, Frankreich und England bis hin zu puritanischen Rechten und der gemeinrechtlichen Jurisprudenz in diesem dimensionalen Beschreibungsfeld okzidentaler Rechtkulturen zu erfassen und differenzierend zu betrachten. Aber auch Besonderheiten des chinesischen alten Rechts, der Rechte auf 28 29 30 Eugen Ehrlich, Grundlegung, a.a.O., S. 106 f. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft a.a.O., S. (RS, S. ) Vgl. das faszinierende von Marie Theres Fögen initiierte Projekt einer evolutionären Betrachtung von Recht aus systemtheoretischer Sicht in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte (ZR 1, 2002) 19 Werner Gephart dem indischen Kontinent, der afrikanischen Jurisprudenz, der islamisch geprägten Rechtskulturen und des altjüdischen Rechts lassen sich, wie es unserer Rekonstruktion von Webers „Rechtssoziologie“ als vergleichender Kultursoziologie des Rechts zugrunde liegt, mit diesem Instrumentarium schärfer erfassen. Freilich bleibt die Analyse auf die Binnenstruktur des Rechts bezogen, die ihre autopoietische Struktur mehr voraussetzt als auch empirisch unterlegt. Denn gerade hierin, inwieweit die gesellschaftlichen Mächte und Ordnungen sich über die Religion, die Politik, die gemeinschaftliche Verfassung und die wirtschaftlichen Interessen Geltung verschaffen, oder aber eine relative Unabhängigkeit des Rechtssystems ermöglichen, unterscheiden sich die großen Rechtskulturen dieser Welt. Der Ort des Rechts im Gesellschaftssystem In „Gesellschaftstheorie und Recht“ war die nur scheinbar theorietechnische Frage topologischer Verortung des Rechts im Theorieraum der Gesellschaft offen gelassen: Dass sich von Mead und Simmel her Bezüge zur kulturell-symbolischen Sphäre ergeben, drängt sich auf, dass eine jede Rechtskonzeption, die den Akzent auf Macht setzt – sei es als Sanktionsmacht oder Erzwingungsstab zur politischen Sphäre tendiert –, liegt ebenso auf der Hand. Und dass die Entfaltung des Rechtsproblems von der Frage der Berechenbarkeit des Handelns her auf das Gewicht der Interessen und auf ökonomische Erwartungszusammenhänge setzt, also den Bezug der normativen Ordnungen zur Wirtschaft betont, ist ebenso plausibel. Wer andererseits das Recht funktional mit der Integrationsaufgabe verknüpft und Recht als Indikator und Integrator von Gesellschaft begreift, Recht also in die Solidaritätszusammenhänge der Gemeinschaftsbildung einspeist, platziert Recht in der gemeinschaftlichen Sphäre. 20 Recht als Kultur. Kultur Wirtschaft Gemeinschaft Politik Mir scheint es allerdings sinnvoll, eine solche Vorentscheidung zu vermeiden. Einerseits spielt das jeweils in den Blick genommene Rechtssystem eine Rolle: So ist es plausibel, ein Recht, das sich „common law“ nennt, eher mit der Herstellung von Commonness, also der Gemeinschaft, zu verknüpfen und auch eine dinggenossenschaftliche Justiz, die noch vor der Ausdifferenzierung eines eigenen Rechtsapparates steht und die Umstehenden, den „Umstand“, als Rechtsgemeinschaft behandelt über dieses Sphärenverhältnis verstehen zu wollen. Wo hingegen die Staatsanstalt Produzent und Anwender des Rechts ist, also Rechtssetzung und Rechtsanwendung erfolgreich monopolisiert sind, da macht es Sinn, die Beziehung 21 Werner Gephart zur politischen Sphäre in den Vordergrund zu stellen. Und wo die Wirtschaft zum letzten Ort der Erzeugung von Verbindlichkeiten wird, wie wir dies in der Rechtssemantik von „Verbindlichkeit“ nachzuzeichnen versuchten, da ist es für eine gesellschaftstheoretisch orientierte Rechtsanalyse auch notwendig, die Beziehung von Recht zur Wirtschaft der Moderne in den Vordergrund zu stellen. Wenn freilich das Recht sich aus den sinnstiftenden Institutionen einer Gesellschaft speist, den Religionen und ihren in der Moderne vielfach subkutanen Substituten, dann ist es eben sinnvoll, den Zusammenhang mit der Kultur einer Gesellschaft aufzuschließen, um das Recht in adäquater Weise zu begreifen. Zur relativen empirischen Gewichtung dieser Anteile in gesellschaftlichen Ordnungs- und Chaoszusammenhängen ist aber eine Vorentscheidung über den Standort des Rechts gerade nicht gerechtfertigt. Für moderne Gesellschaften verbietet sich die Subsumtion unter ein primäres Subsystem von Gesellschaft aus systematischen Gründen: Wenn das Recht eine zentrale Rolle bei der Ausdifferenzierung der Gesellschaft spielt, z.B. Religion von Gemeinschaft abkoppelt, die Unpersönlichkeit des Marktes durch universalistische Rechtsformen von brüderlichen Gemeinschaftsbindungen ablöst, und die Politik und Gemeinschaft funktional entzerrt durch die Verrechtlichung von Wahlen, Bürgerschaftsrechten etc., dann macht es logisch und empirisch keinen Sinn das Ausdifferenzierung befördernde System einem der auszudifferenzierenden Systeme zuzurechnen!31 Recht lässt sich aber auch nicht, wie an anderer Stelle nachgewiesen, als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium konstruieren, da gerade die Mediencodierung als Voraussetzung des Funktionierens von Liebe, Geld und Macht selbst wiederum in rechtlichen 31 Zu diesem Argument schon: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1993, S. 246. 22 Recht als Kultur. Kategorien zu deuten ist bzw. von normativen Elementen durchdrungen ist. Schließlich gehört es zu den empirischen Beobachtungen der unterschiedlichsten Autoren, dem Recht eine merkwürdige Eigenschaft zuzuschreiben, nämlich omnipräsent und ubiquitär zu sein. Was Weber als Alltagspathologie des Juristen karikiert, die Welt als potenziellen Rechtsfall zu betrachten, ist nur Ausdruck der Tatsache, dass Recht in sämtliche Lebensbereiche hineinreicht und die These der „Kolonialisierung“ in gewisser Weise ja gerade dieses Phänomen benennt, dass keine lebensweltlicher Raum besteht, der „letztlich“ nicht durch Recht bestimmt sei. Daher fragt sich, ob die mangelnde Lozierbarkeit des Rechts nicht gerade sein Charakteristikum ist. Hieraus lassen sich nunmehr aber auch theoretische Schlussfolgerungen ziehen, wobei sich Recht theorietechnisch in der folgenden Weise darstellen lässt, nämlich als eine bis an die Peripherie der Gesellschaft reichende, die gesellschaftlichen Sphären durchdringende Kernzone des sozialen Lebens. Führen wir nunmehr die Bestimmung der Dimensionen von Recht mit der zugewiesenen Rolle im Gesellschaftssystems zusammen, so lässt sich dies in der folgenden Weise veranschaulichen: 23 Werner Gephart Recht als Kernzone der Gesellschaft Kultur Gemeinschaft Rechtssymbole Rechtsrituale Normenordnung Rechtsorganisation Wirtschaft Politik Es wird unsere weitere Aufgabe sein, diese abstrakten Bestimmungen zunehmend mit Inhalten des – wie es Eugen Ehrlich nannte – „lebenden Rechts“ zu füllen, im Lichte des Durkheimschen Deutungsansatzes, der hier im Vordergrund der Betrachtung steht. 24 Recht als Kultur. I. Fragen zum ersten Kapitel des ersten Teils: 1. Nennen Sie wichtige Dimensionen des soziologischen Begriffs von Recht. 2. Was bedeutet die „normative“ Dimension des Rechts? – Lässt sich soziologisch Recht ausschließlich als Normenordnung begreifen? 3. Was ist mit der organisationsförmigen Dimension des Rechts gemeint? Lässt sich Recht ausschließlich von den Funktionsweisen des Sanktionsapparates her begreifen? 4. Inwiefern spielen Symbole und Zeichen im weiteren Sinne im rechtlichen Geschehen eine Rolle? Sind sie für den Rechtsbegriff notwendig oder ist dieser gar auf „semiotische“ Prozesse zu reduzieren? 5. Lässt sich Recht auch als „Handeln“ und „Ritual“ interpretieren? Nennen Sie Beispiele, wo diese Deutung auch für modernes Recht eine wichtige Rolle spielt. 6. Kann man diese Dimensionen des Rechts – zunächst rein formal gesehen – auch auf die Entwicklung von Recht übertragen? Wie müsste eine Entwicklungsgeschichte des Rechts angelegt sein, die solche Dimensionen berücksichtigt? 25 Werner Gephart I. THEORETISCHE ORIENTIERUNGEN ZWEITE VORLESUNG RECHT ALS KULTUR? MAX WEBERS BEITRAG ZU EINER VERGLEICHENDEN KULTURSOZIOLOGIE DES RECHTS ›Recht‹ als ein kulturelles Phänomen zu begreifen, ist keineswegs selbstverständlich. Auch die eindrucksvolle Wiederkehr des Rechts in der Gesellschaftstheorie hat sich nicht unter kultursoziologischen Vorzeichen vollzogen, sondern als Diskursund Institutionentheorie des Rechts bei Habermas und Theorie autopoietischer Beobachtungen des Rechts bei Luhmann. Dabei wären die kulturellen Voraussetzungen dieser Theorien des Rechts gar nicht so schwer freizulegen, nämlich in dem nach wie vor ungetrübten Rationalitätsglauben sprachlicher Vernunft bei Habermas und den alteuropäischen Wurzeln der Autarkievorstellung von Luhmann. Aber auch wenn man zur Geburtsstunde der Soziologie in Frankreich und Deutschland zurückgeht, so ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, wie Recht bei Durkheim und Weber gerade als kulturelles Phänomen begriffen würde. Weber nimmt dabei eine merkwürdige Mittelstellung zwischen einer reinen ›rechtssoziologischen Betrachtung‹ ein, die er ablehnt32, soweit in ihr soziologische und juristische Betrachtung konfundiert sind, und einer Auflösung des Rechts in Elemente der allgemeinen Kultur einer Gesellschaft, wie sie 32 So spricht Weber etwa von dem »heftigen Kampf der Rechtssoziologen (Lambert, Ehrlich)« gegen den Begriff des Gewohnheitsrechts, dem eine für den rechtssoziologischen Reduktionismus typische »Vermischung juristischer und soziologischer Betrachtung« eigen sei (vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 441). 26 Recht als Kultur. in der deutschen Romantik etwa bei Jakob Grimm zu finden ist. Bevor Webers eigene Position zu Recht als eines Kulturtatbestandes erfaßt wird, ist daher ein Stück weit der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund aufzurollen, vor dem sich Webers spezifische Position genauer abzeichnet. Wir werden dabei sehen, wie im strittigen Verhältnis zu ›Kultur und Gesellschaft‹ die Auffassungen von Savignys und Georg Friedrich Puchtas, Rudolf von Iherings und Josefs Kohlers im Verhältnis zu Webers Rechtslehre differieren (I). In Webers eigener komparativer Analyse juristischer Rationalisierung läßt sich eine Kultursoziologie des Rechts herausarbeiten (II), um schließlich Anwendungsmöglichkeiten der Weberschen Sichtweise für eine vergleichende Kultursoziologie von Recht in Europa anzudeuten (III). I. Kulturelle Aspekte des Rechts in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts Ebenso wie der Nationalökonom Weber mit der historischen Schule in Verbindung stand, so sind auch Webers juristische Wurzeln in der historischen Rechtsschule zu suchen. Es lohnt sich daher, sie zunächst am Beispiel der beherrschenden Figur v. Savignys klar zu machen, wie der kulturelle Faktor in der Analyse des Rechts Beachtung findet. 1. Volksgeist, Rechtskultur und Juristenrecht: Friedrich Karl von Savigny (1779-1861) Es ist ein verbreitetes Mißverständnis, v. Savigny einen holistischen Volksbegriff anzulasten, der auch noch biologisch konnotiert sei. Recht erscheint v. Savigny zwar als Teil der Gesamtkultur und darin ist er Schüler Herders. Aber ›Kultur‹ ist für von Savigny geistiges Erbe und Tradition, die auf literarische Überlieferung (›Litterärgeschichte‹) eingeengt wird. Rechtsgeschichte heißt für ihn: Aktualisierung dieser kulturellen Tradition. Diese findet sich gerade nicht im Leben des Volkes, sondern in der Geschichte der juristischen Bildung und des juristischen Unterrichts. Wenn v. Savigny dem Kodifikationsplan Thibauts, das organische Wachsen aus dem ›Volksgeist‹ entgegenstellt, so 27 Werner Gephart meint er damit als soziales Substrat die Träger einer juristischen Kultur, die im römischen Recht wurzelt und in einer künstlichen Wiederschöpfung durch Rechtswissenschaft und Praxis aktualisiert werden soll: »Bey steigender Cultur nämlich sondern sich alle Thätigkeiten des Volkes immer mehr, und was sonst gemeinschaftlich betrieben wurde, fällt jetzt einzelnen Ständen anheim. Als ein solcher abgesonderter Stand erscheinen nunmehr auch die Juristen.«33 Diese ›Sonderung‹ ist nichts anderes als funktionale Differenzierung und Auflösung eines Gemeinschaftssubjektes, so daß Franz Wieacker m. E. zu Recht hervorgehoben hat, daß der Volksbegriff somit zu einem idealen Kulturbegriff erhoben wird, der erst durch eine geistige und kulturelle Elite repräsentiert wird.34 Der Juristenstand ist privilegierter Hüter der Rechtskultur, auch wenn es eine untergründige Verbindung zur allgemeinen Kultur gibt. Nicht anders als die später so genannte juristische ›Profession‹, die bei Weber als Träger rechtlicher Rationalisierung gefeiert wird. Die Orientierung von Savignys am römischen Recht garantiert zugleich einen universalistischen Zug, der über eine nationalpartikulare Rechtskultur hinausweist: Gerade die »organische Aufnahme des römischen Rechts« schaffe eine die Rechtspartikularitäten in Deutschland überschreitende lebendige Rechtsgemeinschaft, deren »Cultur« – wie das römische Recht – international geblieben sei. Savigny geht insofern von einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur aus. Auch Weber spürt in seiner Analyse der rationalen Rechtskulturen einer gemeinsamen okzidentalen Wurzel nach, der gegenüber die rein nationalen Differenzen zurücktreten. Während sich bei Savigny die Rezeptionsgeschichte des römischen Rechts in einem juristischen Auslegungsakt verdichtet35, bleibt für Weber die 33 34 35 Friedrich Karl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Hildesheim 1967 [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Heidelberg 31840], S. 12. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 21967. Dieser wird über ›organische Rechtsverhältnisse‹ mit dem Hinweis auf 28 Recht als Kultur. Rezeption der römischen Rechtskultur jedoch das Ergebnis von Ideen, Interessen und deren je spezifischen Trägern. 2. Vom idealisierten Volksgeist zum Juristenmonopol der Begriffsjurisprudenz: Georg Friedrich Puchta (17981846) Welche Autorität Puchta für Weber darstellt, wird aus einem Brief des Rechtsstudenten an die Mutter ersichtlich, in dem Weber das Kolleg des Ernst Immanuel Bekker (1817-1916) über römische Rechtsgeschichte kritisiert, weil ihm (Weber) »Puchta noch im Kopf sitzt«36 und daher eine ungeschichtliche Darstellung des römischen Rechts mißfalle. Dabei ist es gerade Puchta, der – seinerseits Savigny beeinflussend – den Begriffsformalismus in pyramidischen Ableitungen zur Hochblüte gebracht hat. Die Kulturgeschichte des Rechts läßt einer ›Unschuldsperiode‹ eine Periode der ›Mannigfaltigkeit‹ nachfolgen, die schließlich in einer höheren Einheit der Periode der ›Wissenschaftlichkeit‹ zusammenfließt. Damit wird wiederum der Rechtswissenschaft das Monopol in der Auslegung des Volkslebens zugesprochen. Dieses wird aber nicht in irgend einem wirklichkeitswissenschaftlichen Sinne untersucht, sondern: Allein durch die Deduktion von Rechtssätzen aus allgemeinen Begriffen soll der verborgene Gehalt der nationalen Rechtskultur extrapoliert werden, der weder im realen ›Volksgeist‹ noch in den Gesetzen manifestiert worden ist.37 Damit wird die Rechtswissenschaft als »Product der wissenschaftlichen Deduction« zur privilegierten Rechtsquelle der Pandektistik. Unter rechtshistorischem Vorzeichen, von dem sich auch der junge Weber täuschen läßt, wird die kulturelle Autonomie des Rechts postuliert, dessen Begriff, Konstruktionen und Sätze der ›Institutionen‹ nicht näher an die Wirklichkeit herangeführt, sondern es werden, von der Wirklichkeit abgezogene, Abstraktionen als solche legitimiert. 36 37 Brief an die Mutter vom 2. Mai 1882, abgedr. in: Max Weber, Jugendbriefe, Tübingen o. J. (1936). Vgl. Georg Friedrich Puchta, Cursus der Institutionen, Bd. I, Leipzig 1841, S. 460-463 (§ 101). 29 Werner Gephart Alltagskultur vollständig entrückt werden um ihnen eine Eigengesetzlichkeit zuzuschreiben, von der auch Webers These der formalen Rationalisierung des Rechts gezeichnet bleibt.38 3. Von der Poesie im Recht: Ein kulturwissenschaftliches Vermächtnis der Analyse des Rechts? Jacob Grimm (1785-1863) Während von Savigny ausgehend über Puchta der Bezug zur Kultur eines Volkes zunehmend verdünnt wird und es akrobatischer Hilfskonstruktionen bedarf, um diese Konstruktionsjurisprudenz an das Kulturleben zurückzubinden, geht es dem Adlatus und späteren Freund Savignys, Jacob Grimm39, weniger um die Erkenntnis des richtigen Rechts als um den Ort des Rechts in der Gesamtkultur. So ist die sinnliche, anschauliche Seite des Rechts für Grimm von besonderem Reiz. Ihn interessiert dabei nicht primär der formale Aspekt der Rechtsbekräftigung, sondern die zugrundeliegende geschichtliche Bedeutung, die in die kulturellen Traditionen einer Rechtsgemeinschaft zurückweist.40 So ist in dem Bändchen ›Von der Poesie im Recht‹ die Rechtsform als Quelle einer bedeutungsbezogenen Kulturanalyse aufgetan. So heißt es im dortigen §10 – soweit bleibt der aus juristischem Hause stammende Germanist und Märchensammler durchaus in der Form juristisch –: »Es ist eine unbefriedigende ansicht, welche in solchen symbolen blosze leere erfindung zum behuf der gerichtlichen form und feierlichkeit erblickt. im gegentheil 38 39 40 Wie lebendig die Diskussion um die Volksgeistlehre gerade zur Zeit der Abfassung der Weberschen ›Rechtssoziologie‹ war, geht auch aus dem Diskussionsbeitrag von Hermann U. Kantorowicz hervor, der auf die Arbeiten von Meinecke, v. Moeller, Dittmanns und Loenings verweist. (Hermann U. Kantorowicz, Volksgeist und historische Rechtsschule, München 1912, S. 295- 325). Über die Beziehung von Savigny und Grimm vgl. den auch wissenschaftsgeschichtlich unvermuteten Artikel von Erich Rothacker, Savigny, Grimm, Ranke. Ein Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang der Historischen Schule, in: Historische Zeitschrift 128, 1923, S. 415-445 (insbes. S. 429 ff.). Zu einer Würdigung von Jacob Grimm als Jurist vgl. den gleichnamigen Artikel von Gerhard Dilcher, in: JUS 1985, S. 931-936. 30 Recht als Kultur. hat jedes derselben gewisz seine dunkle, heilige und historische bedeutung; mangelte diese, so würde der allgemeine glaube daran und seine herkömmliche Verständlichkeit fehlen.«41 Max Weber hingegen ist für diese Art einer Bedeutungsanalyse der juristischen Kulturinhalte und ihrer Formen als in der Pandektenwissenschaft geschulter Jurist nicht weiter interessiert. In der dem Verleger Siebeck in einem Postskriptum angekündigten ›Soziologie der Culturinhalte‹ firmieren Kunst, Literatur, Weltanschauung, aber nicht das Recht. Und so konstatiert Weber in der Rechtssoziologie zwar einen Prozeß der De-Symbolisierung des modernen Rechts, ohne sich hierbei aber auf seine jeweiligen Symbolgehalte als ›Kulturinhalt‹ einzulassen. Inwieweit Weber gleichwohl eine kultursoziologische Perspektive zum Recht – und zwar gerade eine der vergleichenden Kultursoziologie – pflegt, werden wir im weiteren freilich sehen. Wenn Weber nicht nur in der Religionssoziologie, sondern auch in der kultursoziologischen Betrachtung des Rechts das Zusammenspiel von ›Ideen‹ und ›Interessen‹ thematisiert, muß eine weitere zentrale Figur der juristischen Welt des 19. Jahrhunderts, nämlich Rudolf von Ihering, eine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 4. Kultur und Interesse: Von der Konstruktions- zur Interessenjurisprudenz: Rudolf von Ihering (18181892)42 Nicht nur aus ironischer Distanz – wie sie in ›Scherz und Ernst in der Jurisprudenz‹ zutage tritt – hat Ihering das paradoxe Verhältnis beschrieben, in dem sich ›Naturrecht‹ und 41 42 Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 2, 1816, S. 25-99; wieder abgedr. Darmstadt 1963, S. 48. Wihelm Wundt versucht hingegen, das Symbol als konstitutiven Bestandteil von Rechtshandlung und Rechtsverhältnis zu erweisen (vgl. Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie, 9.13 d., Das Recht, Leipzig 1918, S. 387 ff.). Als zeigenössische Würdigung nach wie vor lesenswert ist der Nachruf von Adolf Merkl in: Jherings Jahrbücher 32, 1893, S. 6-40, der ihn vor allem als ›Gestalt des realistischen Denkers‹ zeichnet. 31 Werner Gephart ›rechtshistorische Schule‹ zur kulturellen Wirklichkeit befanden. So war das historischer Kontingenz enthobene ›Naturrecht‹ nur eine Idealisierung der vorhandenen Zustände, während die historische Schule in Gestalt des römischen Rechts eine Universalität entdeckte, die – wie Ihering im ›Geist des römischen Rechts‹ ausführt – etwas »Berauschendes für die Juristen«43 hatte. Den Weg zu einer eigentlichen Rechtsgeschichte, bzw. ›Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts‹ wird erst in seiner posthum herausgegebenen Schrift – jenseits von konsekutiver Dogmengeschichte und idealistischer 44 Nachkonstruktion der Idee des römischen Rechts – in seiner methodologischen Schwierigkeit sichtbar. Ihering meint hierzu, die Prämissen der rechtshistorischen Schule hinter sich lassen zu müssen, nämlich das ›dumpfe Werden‹ der Volksgeistlehre v. Savignys. In der für Ihering typischen Prägnanz ist zu lesen: »Das Recht ist kein Ausfluß des naiv im dunklen Drang schaffenden Rechtsgefühls, jenes mystischen Vorgangs, welcher dem Rechtshistoriker jede weitere Untersuchung abschneiden und ersparen würde, sondern es ist das Werk menschlicher Absicht und Berechnung, die auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung das Angemessene zu treffen bestrebt war.«45 43 44 45 Rudolf von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Erster Theil, Leipzig 31873, S. 10. Zum systematischen Anliegen Jherings vgl. Helmut Coing, Der juristische Systembegriff bei Rudolf von Ihering, in: Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1969, S. 149-171. Rudolf von Ihering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Victor Ehrenberg, Leipzig 1894, S. 28. Diese rationale Interpretation der Rechtsentwicklung kommt auch in Durkheims Lektüre von Iherings deutlich zum Ausdruck (vgl. Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne (zuerst 1887), in: Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, Paris 1975, S. 267-343, S. 286 ff.; vgl. hierzu auch Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 326 ff.). 32 Recht als Kultur. Weder Volksgeist noch ›Kultur‹ ist das Movens der Geschichte, nach der berühmten ›Kehre‹ Rudolf von Iherings. In der Schrift ›Geist des römischen Rechts‹ geht die Untersuchung noch von der (Kultur-) »Bedeutung des römischen Rechts für die moderne Welt« aus, und bleibt auf die Frage gerichtet, wie das römische Recht ein ›Culturelement der modernen Welt‹ sei. Und ›Römischer Geist‹ sei es, der dort zur spezifischen ›Cultur des Rechts‹ der römischen Welt prädestiniere und der auf vielfache Weise auch mit der Religion verschlungen sei. Im ersten Brief der anonym verfaßten ›Vertraulichen Briefe über die heutige Jurisprudenz‹ – später in der Spottschrift ›Scherz und Ernst in der Jurisprudenz‹ aufgenommen – werden die Studien über den ›Geist‹ der Rechte, einschließlich des selbst verfaßten ›Geist des römischen Rechts‹ wie ein spiritualistischer Unfug karikiert, als deren Ursprung Ihering interessanterweise Montesquieus ›sur l’esprit des lois‹ ansieht.46 So geht Iherings Wandlung von der Konstruktions- zu der nach ihm benannten Interessenjurisprudenz mit dem Wechsel von einer kulturbezogenen Analyse des Rechts zu einer nur aus dem Interesse hervorspringenden, soziologistischen Reduktion des Rechts einher. Iherings Blick auf das Recht bewegt sich also zwischen den Polen einer kulturbezogenen und einer zweck- und interessensorientierten Rechtsanalyse, ohne daß in seinem System eine Vermittlung stattgefunden hätte. Bei Weber werden wir sehen, wie Iherings Kulturbegriff des römischen Rechts in der Dimension der Analytik wiederkehrt und wie Zweck und Interesse bei Webers Frage nach den Trägern rechtlicher Rationalisierung aufgenommen wird. 46 Rudolf von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum, Leipzig 101909, S. 3; dort heißt es allerdings fälschlich: »Sur l’esprit des lois«. 33 Werner Gephart 5. Kulturbedürfnis und Rechtsideal: Vom Recht der Wilden zum modernen Recht in der Schule Josef Kohlers (18491919) Während Weber der ethnologischen Jurisprudenz wie auch ethnologischer Religionswissenschaft eher skeptisch gegenüberstand – was übrigens ein weiteres Mosaiksteinchen in dem Weber-Durkheim Puzzle ausmacht – hat Josef Kohler ein juristisches Universalbild der Welt erarbeiten wollen, das vom ägyptischen Patentrecht über Shakespeares Rechtsbild, das Recht der Bantuneger bis zum islamischen Recht reichen sollte.47 Seine Studien erfolgen nicht im Namen der Soziologie und auch nicht als Rechtsgeschichte, sondern sie werden in zahllosen Artikeln der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft zu Gehör gebracht. Universalhistorisch und interkulturell ist der ungeheure Anspruch der Kohlerschen Unternehmung, die ihn insoweit mit Weber verbindet. In der Encyklopädie der Rechtwissenschaften hat Kohler in einem Artikel über ›Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte‹ das »Recht als Kulturerscheinung« in sehr allgemeiner Weise gewürdigt48. Nach der Zerstörung des Naturrechts durch Savigny sieht Kohler es als die tiefe Erkenntnis der vergleichenden Rechtswissenschaft an, den jeweiligen kulturellen Wert auch der entlegensten Rechte anerkannt zu haben, ebenso wie die vergleichende Religionswissenschaft sich weigerte, die religiösen Verrichtungen der ›Primitiven‹ nunmehr als bloße Verirrungen abzutun. Das Recht wird damit aber nicht einfach kontigent: »Wenn auch das Recht ein ständig Wechselndes und sich Entwickelndes ist, 47 48 Vgl. als Sicht auf diesen umfassenden Anspruch Kohlers den Beitrag von Wolfgang Gast, Historischer Optimismus. Die juristische Weltsicht Josef Kohlers, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 85, 1986, S. 1-10. Josef Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte, in: Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, hrsg. von Josef Kohler, Band. 1, Leipzig; Berlin 61904, S. 1-69. 34 Recht als Kultur. so ist es doch nichts Äußerliches und Zufälliges.«49 Es ruht »mit seinem innigsten Gefaser in den Wurzeln der Volksseele und entspricht dem kulturentwickelnden Drange, der das Volk durchzieht, das Volk, seien es alle Mitglieder, seien es einige hervorragende, weitschauende Geister.«50 Darin soll nunmehr also die Rationalität der Rechtskultur bestehen, daß sie sich in Entsprechung zur Entwicklung der Gesellschaft entfaltet. Von dort her ergebe sich auch der Wertmaßstab, mit dem das Recht zu messen sei. So heißt es: »... es (das Recht, W. G.) ist zu schätzen nach der Art und Weise, wie es der Kultur und dem Kulturbedürfnis des Volkes nachkommt; aus Kultur und Kulturbedürfnis entnehmen wir das Ideal, dem das Recht einer bestimmten Zeit möglichst genügen soll.«51 Die Kulturbedeutung des Rechts ist also mit Wertansprüchen durchsetzt, die nicht nur die Selektion und Kombination des Forschungsgegenstandes begründen, sondern die so konzipierte vergleichende Rechtswissenschaft bleibt der Suche nach dem richtigen Recht verpflichtet, das sich aus der Adäquanz von Kulturentwicklung und Rechtsinhalt ergeben soll. Dieses kulturrelativ ›richtige‹ Recht ruht auf den Grundlagen einer Kultur und ist damit zugleich nach Kohler ein Element, das die alte Kultur zerstört und eine künftige mithervorbringt. Weder soziologische Reduktion noch kulturalistische Verengung auf die Binnenkultur des Rechts, sondern die Erfassung des Rechts im Kosmos der übrigen Kulturformen scheint das Unterfangen Josef Kohlers aufs engste an eine kultursoziologische Analyse des Rechts heranzuführen. Gleichwohl bleibt das Ergebnis enttäuschend: Trotz einer immensen Fülle an aufbereitetem rechtsethnologischen Material gelangt Kohler über die Differenzierung von Natur-, Kultur- und Halbkulturvölkern nicht hinaus. In einer Rezension von Kohlers ›Studien aus dem Strafrecht‹ aus der Feder Emile Durkheims, 49 50 51 Ebd. S. 6. Ebd. Ebd. 35 Werner Gephart werden die Grenzen seiner rechtsethnologischen Versuche sichtbar, auch wenn Durkheim dessen Wertlehre eher verwandt war. So kritisiert Durkheim den Mangel an soziologischer Erklärungskraft, wenn Kohler die zunehmende Strafverschärfung der italienischen Statuten auf den zunehmenden Einfluß der römischen Rechtskultur zurückführt, während tatsächlich die Verfassung der Gesellschaft und das heißt: ihre staatliche Organisation für die Strafverschärfung verantwortlich sei: »Pour que le droit pénal soit rigoureux, il faut, semble-t-il, que la société ait atteint un certain degré de concentration et d’organisation, que l’organe gouvernemental soit constitué.«52 Morphologische Strukturanalyse des sozialen Lebens gegen die Annahme der Eigengesetzlichkeiten von Kultur, dies markiert die Differenz von Durkheim zu Kohler. Aber geht Webers ›Rechtssoziologie‹ in dem universalgeschichtlich konzipierten Unternehmen einer komparativen Analyse der Rechtskulturen im Sinne der ethnologisch inspirierten Rechtsvergleichung tatsächlich auf? Wenn wir von den Befangenheiten des von Kohler für die Deutsche Kolonialverwaltung entwickelten und mehrfach zur Analyse primitiver eingesetzten Fragebogens53 54 Rechtskulturen einmal absehen, so leidet die Kohlersche Betrachtung von Recht als Kulturerscheinung vor allem daran, 52 53 54 Emile Durkheim, Rez. zu Josef Kohler, Studien aus dem Strafrecht. Das Strafrecht der italienischen Statuten vom 12.-16. Jahrhundert, Mannheim 1895-1897, in: L’Année sociologique 1, 1898, S. 351-353, hier S. 352-353. Vgl. die Nachweise in der Josef Kohler-Biographie, bearbeitet von Arthur Kohler, Berlin 1931, S. 14, Fn. 4. Vgl. den von Josef Kohler entwickelten ›Fragebogen zur Erforschung der Rechtsverhältnisse der sogenannten Naturvölker, namentlich in den deutschen Kolonialländern‹ in: Zeitschrift für die vergleichende Rechtswissenschaft 12, 1897, S. 426 ff. Die Frage nach der Haftung für den Sklaven (Frage Nr. 28) ist offenkundig dem Römischen Recht unmittelbar oder aber der germanischen Rechtsentwicklung nachgeformt: »Wird die Blutrache durch Komposition (Wergeld) abgelöst?« (Nr. 60). 36 Recht als Kultur. daß Methodik, Sachgehalt und theoretische Konzeptualisierung einer Kulturanalyse des Rechts völlig im Dunkeln verbleiben.55 6. Ethnos und Recht: Zur ethnologischen Jurisprudenz von Albert Hermann Post Während Kohlers neuhegelianischer Idealismus sich einer rechtskulturellen Fortschrittsidee verpflichtet sieht, die z. B. in der juristischen Auslegungspraxis des von ihm systematisch entwickelten Immaterialgüterrechts nachzulesen ist und ausschließlich die objektive Auslegungsmethode für statthaft hält, zeugt dies nach Post von der Unreife rechtsvergleichender Ethnologie. Die Aufgabe der Rechtsethnologen sei ganz nüchtern zu definieren: Hier ginge es nicht um ›Kultur‹ und ihre Ideale56, sondern wer sich z. B. sittlich über primitive Rechtsformen entrüstet, ›verwirrt‹ – wie Post in seiner ›Einleitung in die ethnologische Jurisprudenz‹ schreibt – »nur den Kausalzusammenhang der ethnischen Erscheinungen, dem der Ethnologe mit dem kalten Auge der Anatomen nachzuspüren berufen ist.«57 Dieser positivistische Blick ist nun auf die elementaren Formen des Rechtslebens gerichtet, auf solche, welche »nicht eine Spezialität bestimmter Völker oder Volksgruppen ist«58, sondern als ein »Gemeingut der Menschheit« angesehen werden kann. Dies ist zugleich die Prämisse seiner komparativen Methode, daß die verschiedenen Rechtskulturen nicht »Solitärprodukte 55 56 57 58 Auch wenn Kohler in der Kulturwissenschaft bis ins Goethe-Jahrbuch vorgedrungen war mit seiner Analyse von ›Fausts Pakt mit Mephistopheles in juristischer Betrachtung‹, in: Goethe-Jahrbuch 24, 1903, S. 119-131. Gleichwohl lobt Kohler in seinem Nachruf auf Albert Hermann Post »die Verbindung des Rechts mit dem gesamten Kulturstande einer Nation, die wichtigen Parallelen, welche die gleichartigen Kulturentwicklungen zweier Völker mit sich bringt, die Relativität der Rechtsanschauungen, die sociale Natur des Ethos, die unbewusste Gestaltung des Rechts in den socialen Menschheitskreisen – alles dies waren Probleme, die Post in hervorragendem Masse beschäftigten« (Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 17, 1897, S. 455). Albert Hermann Post, Einleitung in das Studium der ethnologischen Jurisprudenz, Oldenburg 1886, S. 53. Ebd., S. 27. 37 Werner Gephart bestimmter Volksgruppen«59sind, da die – neukantianisch gesprochen – ›historischen Individuen‹ einer Kausalanalyse unzugänglich seien. Eine individualistische Methode wird von Post im übrigen radikal zurückgewiesen. Falls das ›Rechtsbewußtsein‹ aus den individuellen Strebungen und Bewußtseinsformen hervorginge – argumentiert Post – dann müßte doch das »Rechtsbewußtsein der auf gleicher Bildungsstufe stehenden Franzosen, Deutschen, Russen, Chinesen identisch sein.«60 Dies ist nach Post nur soweit der Fall, als die Rechtsform sich mit der ihr zugrundeliegenden sozialen Organisation deckt. Damit ist die Forschungsidee eines individuelle Kulturen prägenden, idealistisch konzipierten ›Volksgeistes‹ bei Post aufgegeben. Statt dessen ist die soziale Organisation wie ein unergründlicher Ozean, aus dessen Tiefen – wie Post in metaphorischer Rede anmerkt – allerhand Bilder hervorsteigen, die immer bewußtes Leben nur selten erreichen und zugleich die objektiven Formen des sozialen Lebens prägen. Diese aber kämen im positiven Recht zutage61, so daß die wissenschaftliche, ethnologische Jurisprudenz sich ohne Umschweife an die komparative Analyse der positiven Tatsachen des Rechts begeben könne, um diese dann mit ihrer sozialen Organisation zu verknüpfen. Die komparative Methode dient damit der kausalen Zurechnung überall da, wo die Abfolge im Nacheinander, wie in den vermeintlich vorhistorischen Gesellschaften, undurchführbar sei.62 Die universelle Verbreitung der Leviratsehe liefert Post das Beispiel für den Zusammenhang von sozialer Organisation und Rechtsform, die nach Post in Grundformen der Gesellschaftsverfassung zu finden sei. 59 60 61 62 Ebd., S. 26. Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 22. Ebd., S. 25. 38 Recht als Kultur. Der bei Kohler theoretisch völlig unzureichend reflektierte Zusammenhang von ›allgemeiner Kultur‹ und ›Rechtsleben‹ löst sich nun – bei Albert Hermann Post – in eine kausal interpretierte Beziehung von überkultureller Sozialstruktur und Rechtsform auf. Die vergleichende Methode dient nicht dazu, die rechtskulturelle Vielfalt herauszupräparieren, sondern ihre Verfaßtheit in der gemeinsamen condition humaine zu erweisen. Wenn Albert Hermann Post heute, trotz einer eindrucksvollen Wirkungsgeschichte zu Ende des 19. Jahrhundert hierzulande nahezu vergessen ist, so sind die Gründe hierfür offenkundig. Emergenzargumentation, Kritik der deduktiven Methode auf komparativ-kollektivistischer Basis, all dies erinnert mehr an Durkheim und die Equipe der Année sociologique als an die Tradition der historischen Schule in Deutschland. Und in der Tat beschließt Emile Durkheim seinen intellektuellen Reisebericht aus Deutschland, der ihm bekanntlich den Lehrstuhl nach Bordeaux eingetragen hat, mit einer ausführlichen Darstellung des Werks von Albert Hermann Post.63 Daß es sich hierbei um eine ›gefährliche Wahlverwandtschaft‹ handelt, wird in Durkheims Kritik an Post deutlich. Er klagt methodisch die kausale Analyse gegenüber bloßer Deskription ein und postuliert die Analyse der longue durée gegenüber der kurzatmigen Deutung von bloßen Intervallen.64 Aber all dies ist ja – unserer Auffassung nach – bei Post durchaus bemerkt, wie aus unserer obigen Rekonstruktion hervorgeht. Im übrigen unterliegt Durkheim dem gleichen Zirkel einer Verschlingung von Recht und Sozialstruktur, indem das soziale Leben vermittels seiner geronnenen Formen erfaßt wird und, zur Sozialstruktur verdichtet, mit ihrem juristischen Ausdruck zusammenfallen soll. Wenn Durkheim allerdings belehrend moniert: »Car pour établir avec quelque rigueur un rapport de causalité, il faut pouvoir observer dans des circonstances différentes les 63 64 Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in: Revue philosophique 24, 1887, S. 33-58, 113-142, 275-284; abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, a. a. O., S. 267-343 (S. 331 ff). Vgl. ebd., S. 340 f. 39 Werner Gephart phénomènes entre lesquels il est présumé; il faut pouvoir établir des comparaisons méthodiques.«65 In dem Anspruch methodisch kontrollierter Vergleichung ist Post freilich in der Aufnahme relevanter Daten einen ganzen Schritt weitergegangen als Durkheim, in dem er einen systematischen Fragebogen über die Rechtsgewohnheiten der afrikanischen Naturvölker entwarf. Daß Durkheim freilich die Nähe zu Post durchaus bewußt war, läßt sich daran ersehen, daß das einzige Exemplar der ›Division du travail social‹, das einem deutschen Sozialwissenschaftler unseres Wissens dediziert wurde, dem bei uns vergessenen Albert Hermann Post persönlich gewidmet ist: »avec les compliments de l’auteur ...« II. Die sog. ›Rechtssoziologie‹ Max Webers als vergleichende Kultursoziologie des Rechts? Kann man dafür Webers Rechtssoziologie als eine komparative Analyse von Recht verstehen, die der Mischung aus Hegelianismus und purer Sammelleidenschaft für die Vielfalt der Rechtsphänomene eines Josef Kohler, der Gleichsetzung von Kultur und Volksgeist der juristischen Romantik entgeht, den soziologischen Reduktionismus eines Albert Herrmann Post bzw. Durkheim unterläuft und gleichwohl ohne Verzicht auf die Vielfalt der ideographisch zu ermittelnden empirischen Rechtserscheinungen an systematischer Erkenntnis über das Recht interessiert bleibt? Liegt nicht einerseits in Webers Beitrag zum Grundriß der Sozialökonomik eine strikte Auffassung von Soziologie vor, der Weber gar eine ›lehrhafte‹ Form geben will um – wie er in einem Brief vom 8. November 1919 aus Wien an den Verleger Paul Siebeck schreibt – »endlich ›Soziologie‹ streng fachwissenschaftlich zu behandeln statt der Dilettanten-Leistung geistreicher Philosophen.«66 Weber will Forschung mit der Wissenschaftslehre Rickerts verbinden, nach der nicht die 65 66 Ebd. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 8. November 1919 (VA Mohr/Siebeck Deponat BSB München Ana 446). 40 Recht als Kultur. Geistes – sondern die Kulturwissenschaften das epistemologische Gegenstück zu der von Kant bejahten Möglichkeit naturwissenschaftlicher Forschung bildet. Soziologie scheint daher auch bei Weber nur als: Kulturwissenschaft denkbar zu sein. Eine in diesem Sinne ›kulturwissenschaftliche‹ Analyse des Rechts in Webers ›Rechtssoziologie‹ anzutreffen wäre also keine Überraschung, sondern schlichtweg triviale Konsequenz seiner Denkprämissen. Indes trifft diese formale Deduktion nicht den Kern der Sache und ihrer Problematik. Denn was ist mit dem mittlerweile abgegriffenen Etikett der ›Kulturwissenschaft‹ gewonnen, wenn hiermit nichts weiter als die doch hinlänglich bekannte Vorgehensweise Webers nur einen neuen Namen erhielte? Es ist unumgänglich, sich über Webers Redeweise von ›Kulturwissenschaft‹ weitere Klarheit zu verschaffen, wenn man von Webers kulturwissenschaftlichem Analysepotential für ein Verständnis von Recht profitieren will. 1. Exkurs: Soziologie als »Kulturwissenschaft« Dieser Versuch ist mit der Hypothek eines normativ überfrachteten Kulturbegriffs belastet, der sich nach drei Dimensionen auffächert, nämlich einen – wie ich es nennen möchte – ›materialen‹ Kulturbegriff als metaphysischer Prämisse kulturwissenschaftlicher Forschung (1), sodann einen ›formalen‹ Kulturbegriff als Gegenführung zum ›Naturbegriff‹ (2), um schließlich die Frage aufzuwerfen, ob und ggf. wie ›Kultur‹ im Objektbereich der Forschung das einigende Band der Disziplinen abgeben soll (3). (1) In einer zentralen Formulierung des Objektivitätsaufsatzes heißt es: »Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ›Kultur‹ wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.«67 Was bedeutet dieses Postulat in Bezug auf ›Recht‹? 67 Max Weber, Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und 41 Werner Gephart Kulturfähigkeit des Menschen heißt, der Sinnlosigkeit der Welt irgend einen ›Sinn‹ abzuringen und sie zuallererst überhaupt aus dem prinzipiell unendlichen kausalen Wirklichkeitszusammenhang als ein für den Menschen bedeutungsvolles Phänomen herauszuschälen. Daher kann Weber an anderer Stelle auch sagen, wie ›Kultur‹ vom Menschen konstituiert wird: » ›Kultur‹ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.«68 Dieser konstitutionelle Vorgang ist das Ergebnis von sozialen Handlungen. Sinnzuschreibung und Zuweisung von Bedeutung sind kognitive Akte, die von den emphatisch evaluativen Akten des Stellungnehmens ergänzt werden. Daher wird ›Kultur‹ handlungsförmig konstituiert. Der materiale Kulturbegriff Webers schließt damit nicht an irgendeine Art von Menschentum an, sondern an die Notwendigkeit und Freiheit, sich die Welt jeweils im Wege aktiver Denk-, Sprech- und Deutungsakte handelnd zu erschaffen. Wenn also die Konstitution der ›Kultur‹ durch solche sinnstiftenden Denk-, Sprech- und Deutungsakte erbracht wird, dann ist kulturbezogenes Handeln in auffälliger Weise mit der religiösen Sphäre verknüpft. Denn Kultur als ein vom Standpunkt des Menschen mit Sinn erfüllter Ausschnitt der Wirklichkeit wird gerade von den Religionen gestiftet. In einer Formulierung aus der ›Einleitung‹ in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen wird diese innere Verwandtschaft von Kulturbegriff und der Bestimmung des religiösen Grundproblems deutlich: »Stets steckte dahinter eine Stellungnahme zu etwas, was an der realen Welt als spezifisch ›sinnlos‹ empfunden wurde und also die Forderung: daß das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller ›Kosmos‹ sei oder: werden könne und solle.«69 Damit beruht also die Voraussetzung der Kulturwissenschaften, die Fähigkeit des Menschen zur Sinnstiftung, in seiner Befähigung zur Religion. In Webers Rede von Kulturwissenschaft ist daher eine sozialpolitischer Erkenntnis, in: Wissenschaftslehre, a. a. O., S.182. 68 69 Gesammelte Aufsätze zur Ebd. Max Weber, ›Einleitung‹ in: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1, Tübingen 1972 (1920), S. 253. 42 Recht als Kultur. Bedingung eingelagert, die nicht nur ganz allgemeine metaphysische Deutungsbedürfnisse der Welt aufnimmt, sondern mit den Elementen von ›Stellungnahme‹ und ›Sinnstiftung‹ genau die für ›Religion‹ konstitutiven Merkmale aufnimmt. Aber was bedeutet diese religiöse Imprägnierung der Weberschen Denkvoraussetzungen für das Verständnis der hier interessierenden rechtlichen Sphäre? Daß die Konstruktion der Welt und ihre Aufladung mit ›Sinn‹ nicht jedem Akteur immer wieder neu aufgegeben wird, sondern kulturelle Traditionen eingreifen, leitet in den objektbezogenen Kulturbegriff über. Zuvor aber wäre noch der von mir so genannte formale ›Kulturbegriff‹ zu analysieren. Was nämlich soll es für die Rechtsanalyse heißen, daß die ›Kulturwissenschaften‹ prinzipiell den ›Naturwissenschaften‹ unversöhnlich gegenüberstünden? (2) Auch wenn Weber gar nicht – wie an anderer Stelle ausgeführt70 – den Anspruch erhebt, irgendeine systematische Untersuchung der logischen Probleme der Kulturwissenschaften zu entwickeln, so läßt sich doch ein methodologischer ›Kulturwissenschaft‹ aus seinen Begriff vom von ›Kultur‹ Anlaß her und als Gelegenheitsschriften anzusehenden Arbeiten herauslesen. Anders als Rickert, der die Möglichkeit kulturwissenschaftlicher Forschung von dem Bezug auf einen objektiven und systematischen Begriff von Kultur (d. h. für ihn einem System allgemeiner Werte) abhängig macht, spricht Weber dort von ›Kulturwissenschaften‹, wo die Vorgänge des Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachtet werden. Diese ergibt sich aus dem Bezug zu Werten und Wertideen, unter denen eine konkrete Erscheinung betrachtet wird. Diese von Rickert entlehnte Idee der Wertbeziehung ist gesetzesförmigen Kausalbeziehungen gegenüber völlig heteronom. Anders als für Rickert aber ist die Objektivität der kulturwissenschaftlichen Aussagen nicht von der vermeintlichen ›Objektivität‹ der in Bezug genommenen Werte abhängig, sondern dem Wertglauben an 70 Vgl. Werner Gephart, Handeln und Kultur. Vielfalt und Einheit der Kulturwissenschaften im Werk Max Webers. Frankfurt am Main 1998. 43 Werner Gephart erfahrungswissenschaftliche Wahrheit verpflichtet, wie Weber ausdrücklich festhält. ›Kultur‹ ist ein ›Wertbegriff‹ – wie Weber vermerkt71 – der aus der empirischen Wirklichkeit die wertrelevanten Phänomene herausfiltert und damit als Forschungsgegenstand konstituiert. In welchem Wertverhältnis zu ›Kulturen‹ verdichtete Wertbündel dann stehen, liegt aber außerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschung. Dies ist ja gerade die ›Kultur‹ der kulturwissenschaftlichen Forschungskultur, diese Frage nicht erörtern zu wollen. So heißt es in der Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie: »Welches Wertverhältnis zwischen den hier vergleichend behandelten Kulturen besteht, wird hier mit keinem Wort erörtert.«72 Dieses ironische Verhältnis zu Kulturwerten macht freilich nur vor dem hier erläuterten Hintergrund Sinn, daß Kultur immer schon den Zwang zur Stellungnahme und Sinnerfüllung fordert, weshalb es eben kein Widerspruch ist, wenn Weber vom Wissenschaftler das leidenschaftliche Eintreten für das Pathos der Distanz fordert. Diesen methodologischen und eben ›kulturwissenschaftlichen‹ Sinn von Kulturwissenschaft gilt es festzuhalten, wenn man Webers Analyse von Recht als kulturellem Tatbestand eruieren möchte. Ein Verdikt gegenüber der Jurisprudenz aufgrund ihrer vermeintlichen Unwissenschaftlichkeit ist von Weber also nicht zu erwarten. Nur was bedeutet Erforschung des Rechts vom kulturwissenschaftlichen Standpunkt aus? Neben dem vorwissenschaftlichen Begriff von Kultur, den wir ›material‹ genannt haben, und dem scheinbar rein ›formalen‹ der Wertbeziehungslehre gilt es auch noch einen näher spezifizierbaren Kulturbegriff im Objektbereich sozialwissenschaftlicher Erkenntnis zu ermitteln, die sich als ›Kulturwissenschaft‹ versteht. 71 72 Vgl. Max Weber, Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 175. Max Weber, ›Vorbemerkung‹ zu: Gesammelte Religionssoziologie. Bd. 1, a. a. O., S. 14. Aufsätze zur 44 Recht als Kultur. (3) Max Weber hat ›Kultur‹ nicht zu den definitionswürdigen oder zu einer solchen fähigen Begriffen der verschiedenen Kategorienlehren gerechnet. Weder in dem Logos-Aufsatz noch in der hieran anschließenden soziologischen Kategorienlehre von Webers Grundrißbeitrag noch in den Grundkategorien des Wirtschaftens oder in den Aufsätzen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen wird ›Kultur‹ als soziologischer Begriff definiert.73 Der Kulturbegriff gehört auch nicht, wie der Handlungsbegriff selbst, zu den juristischen Grundausdrücken74, denen nur noch ein soziologischer Begriff ›unterzuschieben‹ wäre. Daher ist es notwendig, sich die Weberschen Verwendungsweisen von ›Kultur‹ zu vergegenwärtigen. In dem Vortrag über die sozialen Hintergründe des Untergangs der antiken Kultur fragt Weber in Abwandlung des Wagnerschen Bildes der Götterdämmerung: »Woher jene Kulturdämmerung in der antiken Welt?«75 Und Webers Antwort liegt im Hinweis auf die »Eigentümlichkeiten der sozialen Struktur der antiken Gesellschaft«, wodurch »der Kreislauf der antiken Kulturentwicklung bestimmt wurde«.76 In Webers Analyse sind es die Eigengesetzlichkeiten der ›Sklavenkultur‹, die zu dem Schauspiel der »Selbstauflösung einer alten Kultur«77 geführt haben, deren Ergebnis einer verkehrslosen Wirtschaft Weber im anschaulichen Bild der ›Kulturdämmerung‹ evoziert: »Versunken ist mit dem Verkehr die Marmorpracht der antiken Städte und damit alles das, was von geistigen Gütern auf ihnen 73 74 75 76 77 Vgl. in diesem Sinne auch: Lawrence A. Scaff, Max Webers Begriff der Kultur, in: Gerhard Wagner und Heinz Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main 1994, S. 678-699. Auch wenn wiederum Radbruch in der Diskussion um den Kulturbegriff eine wichtige Position einnahm; vgl. Über den Begriff der Kultur, in: Logos 2, 1911/1912, S. 200-207. Max Weber, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur, in: Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1924, S. 289-311 (S. 290). Ebd., S. 291. Ebd. 45 Werner Gephart ruhte: Kunst und Literatur, die Wissenschaft und die feinen Formen des antiken Verkehrsrechts.«78 Mit der antiken ›Kultur‹ ist hier somit ein Syndrom an objektiven Kulturerscheinungen gemeint, die von den ökonomischen und sozialen Strukturen bis zu Kunst, Literatur, Wissenschaft und Recht reichen. In diesem Verständnis von antiker Kultur hat die – wie man im Anschluß an Simmel79 formulieren könnte – ›subjektive‹ Kultur noch keinen hervorgehobenen Platz. Dies aber tritt in der ›Protestantismusstudie‹ deutlich hervor. Ihr Gegenstand ist die Deutung der ›kapitalistischen Kultur‹, bzw. der ›Geist‹ des Kapitalismus. Dieser ist bekanntlich zur Kennzeichnung des ›historischen Individuums‹ eingesetzt, dessen spezifische Eigenart sich aus dem Gang der Untersuchung ergeben soll, die den religiösen Einflüssen bei der »qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ›Geistes‹ über die Welt hin mitbeteiligt gewesen sind und welche« – so heißt es weiter – »konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgehen.«80 Das Bindeglied zwischen religiösen Ideen, oder wenn man will ›religiöser Kultur‹ und dem, was Weber verschiedentlich ›materielle‹ Kultur nennt, liegt in der spezifischen Art der vom Protestantismus geprägten ›Lebensführung‹. Die Art der ›Lebensführung‹ der kapitalistischen Kultur ist der formale Modus systematischer, methodisch-rationaler Lebensgestaltung, mit dessen Hilfe eine Zurechnung von religiösen Motiven und Ideen zu den – wie Weber ausdrücklich formuliert – ›modernen Kulturinhalten‹81 möglich wird. Kapitalismus, als kulturelles Phänomen betrachtet, wird in objektiven Kulturerscheinungen sichtbar und von einer die Lebensbereiche formenden und durchdringenden Art der formalen, methodisch-rationalen 78 79 80 81 Lebensführung geprägt, zu deren Ebd., S. 309 f. Vgl. insbes. den nur wenig bekannten Artikel Simmels: Persönliche und sachliche Kultur, in: Neue deutsche Rundschau. Freie Bühne 11, 1902, S. 700-712. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd.1, a. a. O., S. 83. Ebd. 46 Recht als Kultur. handlungsförmig erzeugten Kulturinhalten dann der ursprünglich religiöse Kulturinhalt zuzurechnen ist. Dies ist die kulturwissenschaftliche Logik der Protestantismusstudie, die mit dem ›Geist‹ des Kapitalismus die sinnhaften Ideen und Werte der ›kapitalistischen Kultur‹ bezeichnet, die von einer bestimmten Art der Lebensführung reproduziert werden und hierbei objektive Kulturerscheinungen hervorbringen, die Webers Auffassung nach eben nur dieser Kultur eigen seien. So lautet dann die erweiterte Fragestellung der vergleichenden Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen: »Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?«82 Das in den verschiedenen Kultursphären wiederkehrende Muster ist eine spezifische Art des Rationalismus, d. h. einer spezifischen eigengesetzlich gestalteten Struktur der jeweiligen objektiven Kultursphäre und eines dieser Rationalität korrespondierenden rationalen Lebensführungsethos. Damit scheint auch der Kulturbegriff vom Verdacht einer auf den Okzident zentrierten Weltsicht eingeholt zu sein, auch wenn Weber anderen Zivilisationen die ›Kultur‹ nicht absprechen will. Ist Weber also ein blinder Vertreter des Okzidentalismus? Und bleibt nicht im Begriff der ›Kultur‹ auch in seiner allgemeinsten Formulierung nicht ein Stück weit das Ergebnis der vergleichenden religionssoziologischen Studien vorweggenommen, daß es eben eines bestimmten aktivistischen Weltverhältnisses bedarf, um nicht nur kontemplatives Erleben der Kultur, sondern ihre aktivistische Gestaltung durch Stellungnahme und aktive Sinnerzeugung ihrer Akteure zu postulieren? Damit schließt sich der Kreis vom ›materialen‹ über den ›formalen‹, zum objektbezogenen Begriff der modernen Kultur. Wenn in den 82 Max Weber, ›Vorbemerkung‹ zu: Gesammelte Religionssoziologie, Bd. 1, a. a. O., S. 1. Aufsätze zur 47 Werner Gephart Begriff der Kultur transzendentale Voraussetzungen eingebaut sind, die eine Sinnverwandtschaft mit der religiösen Grundfrage aufweisen, dann legen die kulturvergleichenden Studien Webers dar, daß dieser materiale, vermeintlich vor jeder Erfahrung liegende Begriff von ›Kultur‹ mit dem spezifischen Ethos der okzidentalen Kultur aufgefüllt ist, jedenfalls so, wie Weber sie uns vorgestellt hat. Und auch der vermeintlich ›formale‹ Kulturbegriff einer als ›stumm‹ entgegengesetzten Voraussetzungen ›Natur‹ nicht kann verleugnen, seine die eigenen nur der kulturellen Poesie ein ›Belauschen‹ und ›Verstehen‹ der Natur zubilligt. Da zu diesen von Weber besonders hervorgehobenen ›Kulturerscheinungen‹ auch das rationale Recht zählt, läßt sich aus der Sicht der religionssoziologischen Studien die Richtung einer Analyse von Recht als kulturelle Erscheinung präzisieren: inwieweit nämlich auch die spezifischen Kulturinhalte des Rechts einer spezifischen religiösen Ethik zuzurechnen sei, die über eine Art der Lebenspraxis habituell vermittelt sei. Die kulturwissenschaftliche Fragestellung zum Recht hätte also das Recht als Sphäre der okzidentalen Kultur und ihrer eigengesetzlichen Entwicklung zu ergründen. *** 2. Recht als Kultur: Eine kultursoziologische Lektüre der sog. Rechtssoziologie Daß Max Weber seinen – wie immer zu bestimmenden und zu bewertenden Grundrißbeitrag – nicht als einen Beitrag zur Soziologie der Kulturinhalte verstanden hat, geht aus einem Schreiben an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913 hervor, in dem Weber auf drängende Fragen des Verlegers den Stand seiner Arbeiten darlegt. Danach hat Weber zu diesem Zeitpunkt eine »geschlossene soziologische Theorie und Darstellung ausgearbeitet, welche alle großen Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in Beziehung setzt: von der Familie und Hausgemeinschaft zum ›Betrieb‹, zur Sippe, zur ethnischen Gemeinschaft, zur Religion (alle großen Religionen der Erde umfassend: Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen Ethiken, – was Troeltsch gemacht hat, jetzt für alle Religionen, 48 Recht als Kultur. nur wesentlich knapper) endlich eine umfassende soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre.«83 In dieser Aufführung ist wohlgemerkt von einer ›Rechtssoziologie‹ keine Rede, nachdem im ersten ›Stoffverteilungsplan‹ einmal ›Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands)‹ figuriert hatten. Freilich sind beide Titel für die erste Kompositionsidee der uns überlieferten Manuskripte auch sehr treffend formuliert.84 Mag Weber auch in dem genannten Brief davon ausgegangen seien, daß diese Manuskriptteile in der ›soziologischen Staats- und Herrschaftslehre‹ aufgegangen seien – was nicht einmal so fern liegt – so trifft Webers Abtrennung einer ›Soziologie der Kulturinhalte‹ dieser Unternehmung gegenüber jedenfalls auch auf die uns überkommene ›Rechtssoziologie‹ zu, wenn Weber in einer Ergänzung hinzufügt: »Später hoffe ich Ihnen dann einmal eine Soziologie der Cultur-Inhalte (Kunst, Literatur, Weltanschauung) zu leisten, außerhalb dieses Werkes oder als selbständigen Ergänzungsband.«85 Recht ist hierbei nicht genannt. Im Umkehrschluß müßte ›Recht‹ dann ja nur als ›Cultur-Form‹ zugänglich sein und eine Lektüre der sog. ›Rechtssoziologie‹ scheint diese Deutung zu bestätigen. 3. Recht als ›Cultur-Form‹ Freilich hatte Max Weber noch in dem Stammler-Aufsatz, der nicht nur für die Entwicklung seiner methodologischen Auffassung, sondern insbesondere für seinen Begriff des Rechts grundlegend ist, ausgeführt, »daß es sinnlos ist, die Beziehung der Rechtsregel zum ›sozialen Leben‹ derart zu fassen, daß das 83 84 85 Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913 (a. a. O., S. 449 f.). Zum Wandel der Kompositionsidee und dem materiellen Niederschlag in der Struktur des Manuskriptes vgl. ausführlicher – noch vor dem erscheinen des Rechtsbandes (MWG I/22-3) – meinen Beitrag: Das Collagenwerk, in: Rechtsgeschichte 3, 2003, Zeitschrift des MaxPlanck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, S. 111-127. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913 (a. a. O., S. 450). 49 Werner Gephart Recht als die – oder eine – ›Form‹ des ›sozialen Lebens‹ aufgefaßt werden könnte.«86 Diese Formel Stammlers, übrigens mit Durkheims Lehre vom Recht als strukturierender Struktur des sozialen Lebens verwandt87, hält Weber für eine maßlose Überschätzung der rechtlichen Geordnetheit des Handelns und der kausalen Tragweite der empirischen Rechtsordnungen für die – wie Weber im Stammler-Aufsatz ausführt: ›Kulturtatsachen‹. Nicht ohne Ironie kennzeichnet Weber ein solches ›panjuristisches Weltbild‹: »Der Fachjurist freilich ist begreiflicherweise geneigt, den Kulturmenschen im allgemeinen als potentiellen Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn, wie etwa der Schuster ihn als potentiellen Schuhkäufer und der Skatspieler ihn als potentiellen ›dritten Mann‹ ansieht.«88 Was aber läßt sich in Webers ›Rechtssoziologie‹ gleichwohl unter diesen ›schillernden‹ Begriff des ›Formalen‹ subsumieren? Zunächst sind allein die Überschriften der acht Paragraphen der Rechtssoziologie mit Formbegriffen gespickt. In §1 geht es um die ›formale‹ Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht, im zweiten Paragraphen um die ›Formen‹ der Begründung subjektiver Rechte (also nicht ihre Rechtsinhalte), während der ursprünglich ›Normcharakter des Rechts‹ betitelte dritte Paragraph in der ›Formcharakter des objektiven Rechts‹ umgetauft wurde. Im fünften Paragraphen wird die formale Rationalisierung des Rechts und schließlich im siebenten die ›formalen Qualitäten des revolutionär geschaffenen Rechts‹, ursprünglich gar als ›Formale Struktur‹ tituliert, abgehandelt und nicht etwa deren für das Gerechtigkeitsempfinden revolutionäre ›Rechtsinhalte‹ und im letzten Paragraphen 86 87 88 Max Weber, R. Stammlers ›Überwindung‹ der materialistischen Geschichtsauffassung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 24, 1907, S. 94-151, abgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 291-359. Stammler sind gerade die Durkheimschen ›Regeln der soziologischen Methode‹ wohl vertraut, vgl. Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung, 2. Aufl., Leipzig 1906, S. 645, Fn. 64. Ebd., S. 352. 50 Recht als Kultur. werden schließlich nochmals die ›formalen Qualitäten der modernen Rechts‹ resümiert. Nun besteht die Pointe der Weberschen Analyse des Rechts gerade darin, diese formalen Eigenschaften des okzidentalen Rechts als den kulturspezifischen Inhalt der Rationalität des modernen Rechts zu verstehen. Und diese eben formale Rationalität des Rechts ist der Bezugspunkt einer komparativen Entwicklungsgeschichte des Rechts, und zwar vorwiegend des – wie Weber unter der Maßgabe des Projekts ›Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands)‹ betont – ›ökonomisch relevanten Rechts‹ des Anti-Stammler. Entgegen einer universalen Kulturgeschichte des Rechts, wie Kohler sie anvisiert, der eine jede Rechtskultur in ihrer Eigenart analysieren möchte, um hieraus das allgemein Menschliche zu destillieren, ist Webers Blick hochselektiv. So ist in der ›Vorbemerkung‹ zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie zu lesen: »Die Aufsätze wollen also nicht etwa als – sei es noch so gedrängte – umfassende Kulturanalysen gelten.«89 Ganz ebenso ist die Rechtsanalyse nicht als Aneignung und Darstellung der kulturellen Rechtsvielfalt und ihrer eventuellen anthropologischen Konstanten angelegt. Sondern es wird – über die Beziehung von ›Wirtschaft und Recht‹ in ihrer prinzipiellen Beziehung und den ›Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands‹ hinaus – danach gefragt, wie es zur Ausbildung einer ganz spezifischen und bestimmten Rechtskultur, nämlich einer spezifisch rationalen Rechtskultur gekommen ist. Insofern ist die Logik kulturvergleichender Analysen des Rechts mit den religionssoziologischen Arbeiten durchaus verwandt. Während der ›Geist des Kapitalismus‹ aus dem Verlauf der materialen Studien der Protestantismusstudie hervorgehen soll, zieht Weber ›Maß und Art der Rationalität des Rechts‹ den materialen Untersuchungen, am Ende des ersten Paragraphen 89 Max Weber, ›Vorbemerkung‹ zu: Gesammelte Religionssoziologie, Bd. 1, a. a. O., S. 3. Aufsätze zur 51 Werner Gephart vorweg. Weber spannt danach einen Möglichkeitsraum der denkbaren Richtung rechtlicher Rationalisierung auf, der sich im Spannungsfeld der zwei Grundoperationen von Rechtsschöpfung und Rechtsfindung ergibt, nämlich einmal die Pole von Generalisierung vs. Konkretisierung sowie die gegenläufigen Operationen von Systematisierung und Analytik. Diese unterschiedlichen Richtungen der Rationalisierung des Rechts aber, das – vereinfacht gesprochen – einmal das Falldenken, zum anderen das Systemdenken prämiert (also anschauliche Tatbestände gegen juristisch konstruktiven Geist)90, sind Webers Auffassung nach in der gemeinrechtlichen Jurisprudenz jeweils bis zum äußersten Rationalitätspol vorangetrieben. Dieses ist also der komparative Maßstab unter dem diverse Rechtskulturen vor der Vergleichsfolie eines Idealtypus formalrationalen Rechts als Typen des Rechtsdenkens betrachtet werden. Diese jeweils unterschiedlich akzentuierten rationalen Formen des Rechtsdenkens stehen den von Weber als ›irrational‹ bezeichneten entgegen, die sich mit der dualen Differenzierung formal und material überschneiden. Damit entsteht ein komplexes Klassifikationsschema der ›Rechtskulturen‹. 90 Vgl. die ausführliche Darlegung bei Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O. 52 Recht als Kultur. Schaubild: Klassifikationsschema der ›Rechtskulturen‹ irrational formal orakelhafte und religiöse rational Systematisierung Generalisierung prophetische Rechtsfindung Konkretisierung material Analytik einzelfallorientierte überpositive Dignität material Wertung potentiell-ethische Maxime Webers Fragestellung, die ihn in der späten Überarbeitung seines nachgelassenen Manuskripts über die Entwicklungsbedingungen des Rechts bewegt, läßt sich danach deutlicher fassen. Sie wird am Ende des dritten Paragraphen in der letzten Schicht der handschriftlich eingefügten Überarbeitung dahin formuliert: »Uns gehen hier speziell die Wege und Schicksale der Rationalisierung des Rechts, der Entwicklung seiner heutigen spezifisch ›juristischen‹ Qualitäten also, an.«91 Daß ein Recht dabei in verschiedenen ›Richtungen‹ rationalisiert werden kann, trifft sich mit der kulturvergleichenden Formel, die Weber für seine Betrachtung der rationalen Kultur des Okzidents einsetzt, nämlich, daß es für den kulturgeschichtlichen Unterschied der Kulturkreise entscheidend ist »welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden.«92 Für die Entwicklung zur okzidentalen ›Rechtskultur‹ setzt Weber dabei bekanntlich auf die endogenen Faktoren eine Rechtskultur mehr als auf die exogenen Bedingungen: »Die Richtung, in welcher diese formalen Qualitäten sich entwickeln, ist aber bedingt direkt durch sozusagen ›innerjuristische‹ Verhältnisse: die Eigenart der Personenkreise, welche auf die 91 92 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 455. Max Weber, ›Vorbemerkung‹ zu: Gesammelte Religionssoziologie, Bd., a. a. O., S. 12. Aufsätze zur 53 Werner Gephart Art der Rechtsgestaltung berufsmäßig Einfluß zu nehmen in der Lage sind, und erst indirekt durch die allgemeinen ökonomischen und sozialen Bedingungen.«93 Weber folgt also, bzw. er unterstellt eine Eigendynamik und eben Eigengesetzlichkeit der rechtskulturellen Entwicklung, die weder auf ökonomische, noch auf politische oder soziale Gründe zu reduzieren ist, sondern einer Eigensinnigkeit und Eigenrationalität des Rechts als einer relativ autonomen Kulturform entspricht. Wie nunmehr z. B. Anwaltsschulung und Universitätslehre ganz unterschiedlichen Affinitäten zu einem der genannten Rationalitätspole aufweisen und Rechtshonoratioren wiederum anderen Rationalitätsformen nahestehen, gehört in die historisch komparative Detailargumentation.94 Hier bedient sich Weber übrigens ganz selbstverständlich in der zeitgenössischen Literatur. Immer aber bleibt der komparative Gesichtspunkt gewahrt und originär verarbeitet, die hemmenden und fördernden Momente der okzidentalen Rechtskultur herauszustellen, die zumindest in die großen Lager der Rechtskultur des Common Law und des in sich diversifizierten und über die Rezeption des römischen Rechts miteinander verknüpften kontinentalen Rechtskultur zerfällt. Für die innerjuristischen Qualitäten des Rechts und ihre in diesem Sinne rechtskulturelle Dignität sind also innerjuristische Verhältnisse ausschlaggebend, welche die formalen Qualitäten des modernen Rechts befördern. Aber inwiefern sind gerade die ›formalen‹ Qualitäten des modernen Rechts ausschlaggebend, oder um die Logik kulturwissenschaftlicher Objektbestimmung aufzugreifen: Worin liegt die Kulturbedeutung des modernen, okzidentalen, formal-rationalen Rechts? 93 94 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 456. Vgl. einmal die Deutungen in: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., sowie demnächst die Erläuterungen im Band ›Recht‹ (MWG I/22-3). 54 Recht als Kultur. 4. Zur ›Kulturbedeutung‹ der modernen, okzidentalen Rechtsinhalte Hat man Webers vergleichende religionssoziologische Studien vor Augen, so läge es nahe, neben den sog. innerjuristischen Eigengesetzlichkeiten rechtlicher Rationalisierung vor allem Webers Analysen über das Verhältnis von ›Religiöse Ethik und Welt‹ auf die Analyse von Recht angewendet zu sehen. Freilich ist dies in der sog. ›Rechtssoziologie‹ eben nicht geschehen. Eine systematische Analyse über den in Webers Logik naheliegenden Zusammenhang von ›Religiöser Ethik und juristischem Rationalismus‹ wird man in Webers nachgelassenem Manuskript vergeblich suchen. Zwar wird in der Überarbeitung des Typoskripts das chinesische Recht, bzw. Webers Bild dieser Rechtskultur sukzessive eingearbeitet. Dort geht es jedoch um den politischen Konflikt zwischen theokratischen und säkularen Gewalten, der in Indien, China, dem Islam und dem Judentum jeweils anders gelagert ist,95 ohne jedoch eine Freisetzung juristischer Rationalität zu befördern, obwohl etwa – wie im Islam – durchaus juristische Spezialisten als Rechtswahrer fungieren. Das römische Recht ist hingegen trotz der gerade von Theodor Mommsen gezeigten Bedeutung der rituellen Pflichten für das Alltagsleben dadurch für eine rechtliche Rationalisierung offen, weil die priesterliche der profanen Gewalt unterworfen wurde. Nicht also die Verknüpfung von religiösem und rechtlichem Kulturinhalt interessiert Weber hier, sondern die Kongruenz der sozialen Konkurrenz zweier Lebensmächte für die Entwicklung des Rechts. Auch wenn Weber in den zitierten Eingangsbemerkungen zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie bestreitet, eine »sei es auch noch so gedrängte – umfassende Kulturanalyse« zu liefern, so ist gerade der Anteil der Bemerkungen zum Recht in den vergleichenden Studien zur 95 Vgl. auch die Deutung in: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 419-587. 55 Werner Gephart Religionssoziologie nicht unbedeutend, für unsere Überlegungen also ergänzend heranzuziehen und zum Teil auch im Widerspruch zu den Ausführungen der sog. ›Rechtssoziologie‹ zu sehen. So ist z. B. in der Chinastudie Webers die entscheidende Frage auf die Eigenart des Rechts bezogen, nämlich: »Warum blieb diese Verwaltung und Justiz so irrational?«96 – trotz ihres bürokratischen Unterbaus, der einer Rationalisierung hätte förderlich sein können. Es zeigt sich also, daß die Frage nach dem Recht als einer Kulturerscheinung nicht auf die ›rechtssoziologischen‹ Studien im engeren Sinne beschränkt ist, sondern – etwa in der Chinastudie – einen m. E. nach bislang unterschätzten zentralen Platz einnimmt. Webers Antwort auf die Frage nach den Gründen der Irrationalität des chinesischen Rechts sprengt die Logik rein innerjuristischer Rationalisierungsvorgänge. Denn es ist die religiöse Ethik des Konfuzianismus in Verbindung mit Eigentümlichkeiten der chinesischen Sozialstruktur, die es verhinderten, daß sich einerseits ein fachlich berufsmäßiger Juristenstand als Träger der Rationalisierung anstelle der herrschenden Literatenschicht hat herausbilden können; zum anderen blieb die praktische Sozialethik dem Muster organischer Pietätsbeziehungen verhaftet, wie sie in den fünf natürlichen Pflichtenkreisen des Konfuzianismus festgelegt waren. Aus diesen organischen Sozialbeziehungen aber konnte eine unpersönliche Geschäfts- und Rechtsethik nicht hervorgehen, wie eben jede »Verpflichtung gegenüber ›sachlichen‹ Gemeinschaften«97 undenkbar ist. In der ursprünglichen, auf die Beziehung von ›Wirtschaft und Recht‹ zielenden Anlage der ›Rechtssoziologie‹ fehlt der Bezug auf das indische Recht gänzlich, während in der Überarbeitung – mit der Fragestellung des okzidentalen Rationalismus – auch das indische Recht Einzug hält! In der Indienstudie durchdringen 96 97 Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, a. a. O., S. 394. Ebd., S. 494. 56 Recht als Kultur. sich verschiedene Ebenen von religiöser Ethik, praktischer Lebensführung, spezifischer Trägerschichten und einer rigiden Sozialstruktur, die eine Rationalisierung des Rechts im Sinne der Entfaltung innerjuristischer Qualitäten blockiert haben. So ist die rationalste Lösung des Theodizeeproblems in der Karmanlehre durchaus mit einem – wie Durkheim es nennt – Polymorphismus der ständisch regulierten Moralen vereinbar. Weder für eine übergeordnete normative Ordnung noch für irgendeine, die diversen Berufskreise durchbrechende, universalistische Tendenz blieb Raum. Als Prototyp ›heiligen‹ Rechts fehlt eine Chance, die Macht der Tradition98 zu durchbrechen oder eine innere und äußere Rechtseinheit herzustellen, wenn nur mit der Geltung des heiligen Rechts Ernst gemacht wurde99. Die Brahmanenintellektualität100 blieb andererseits in der rituellen Reglementierung des Alltagslebens gebunden, ohne in Verbindung mit der Existenz eines rationalen Staates, der Rechtsgarantien hätte übernehmen können, eine systematische Rechtsbildung unter Verwendung juristischer Kategorien und Konstruktionen anzubieten. Denn wie Weber plastisch formuliert: »Indische Rechtsbücher sind wesentlich ›systematischer‹ als etwa der Sachsenspiegel. Aber die Systematik ist keine juristische, sondern eine solche nach Ständen oder nach praktischen Lebensproblemen. Denn diese Rechtsbücher sind, da ihnen das Recht im Dienst heiliger Zwecke steht, Kompendien nicht nur des Rechts, sondern zugleich auch des Rituals, der Ethik und unter Umständen der gesellschaftlichen Konvention und Höflichkeitslehre. Kasuistische und deshalb unanschauliche und unkonkrete, dabei aber doch weitgehend juristisch unformale und nur relativ rational systematisierte Behandlung des Rechtsstoffs ist die normale Folge.«101 98 99 100 101 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 459. Vgl. ebd., S. 476. Deren übermächtige Stellung wird auch in der Rechtssoziologie hervorgehoben (vgl. ebd., S. 438). Ebd., S. 461. 57 Werner Gephart Demgegenüber hätte die religiöse Ethik des Islams als einer Verbindung von Weltanpassung und Welteroberung einer juristischen Rationalisierung förderlich sein können und auch die Existenz eines eigenen Juristenstandes mit institutionalisierten Rechtsschulen hätte eine rechtliche Rationalisierung positiv beeinflussen können, nur stehen hier die religiös bedingten Kulturinhalte – nämlich die Beschränkung der personalen Geltung – einer Universalisierung des Rechts entgegen. Auch hier gelten die Schranken ›heiligen‹ Rechts: »Der Islam kennt der Theorie nach so gut wie kein Gebiet des Rechtslebens, auf welchem nicht Ansprüche heiliger Normen der Entwicklung profanen Rechts den Weg versperrten. Der Tatsache nach haben umfassende Rezeptionen hellenischen und römischen Rechts stattgefunden.«102 Zudem läuft das radikale Interpretationsverbot einer »systematischen Rechtsschöpfung zum Zweck der inneren und äußeren Vereinheitlichung des Rechts«103 zuwider. Damit ist sowohl die ›Veränderbarkeit‹ des Rechts, ihre personale Universalisierung wie die Systematisierbarkeit in erheblicher Weise beschränkt. Auch in der Analyse des Islams greifen also innerjuristische Momente mit solchen der religiösen Ethik und der hiermit verwandten Lebensführung ineinander.104 Betrachtet man Webers Studie zum antiken Judentum unter dem Blickwinkel einer vergleichenden Kultursoziologie des Rechts, so wird der Anteil der dem Recht gewidmeten Analysen unübersehbar: Webers Studien zum antiken Judentum sind nicht nur der religionsgeschichtlichen Frage gewidmet, warum aus der jüdischen Religion der entscheidende Impuls zur Entstehung des rationalistischen Geistes nicht hervorging, sondern sie sind 102 103 104 Ebd., S. 448. Dies wird sowohl bei Webers Gewährsmann für Fragen des Islam, Ignaz Goldziher, (Vorlesungen über den Islam, Heidelberg 1910, S. 3, 48) als auch bei Josef Klohler (Recht der arabischen Völker, S. 96 f., S. 111) betont. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 475. Wie differenziert Webers Bild des islamischen Rechts aussieht, ist in der Kommentierung des Rechtsbandes detailliert dargelegt (vgl. demnächst: MWG I/22-3) 58 Recht als Kultur. ebenso als rechtshistorische und kultursoziologische Studie105 zu lesen, warum die Ansätze zu einer rationalen Entwicklung des Rechts so schwach blieben, obwohl der einzigartige Charakter der jüdischen Religion gerade darin besteht, daß die Betrachtung der Gesetze nicht nur oberstes Rechtsgebot, sondern allererste religiöse Pflicht ist.106 Der Beitrag des Christentums zur Rationalisierung des Rechts wird hingegen außerordentlich hoch veranschlagt. In den Traditionen der antiken Philosophen und des römischen Rechts entstand ein eigenes, rational geschaffenes Kirchenrecht: »In ungleich stärkerem Maße als irgendeine andere religiöse Gemeinschaft hat ... die okzidentale Kirche den Weg der Rechtsschöpfung durch rationale Satzung beschritten.«107 Hierfür war einmal der Anstaltscharakter der Kirche selbst verantwortlich und ihre bürokratische Struktur, die eine besondere Nähe zum rationalen Recht aufweist. Es kamen aber Gründe der christlichen Ethik hinzu, die den zu wahrenden Bestand an ethischen Normen auf ein Minimum begrenzte, was Weber auf die im Unterschied zum Judentum bestehende ›eschatologische Weltabgewandtheit‹ zurückführt. Die normative Unterbestimmtheit der Alltagsethik schafft somit, in der christlichen Ethik, auch Entwicklungsräume für die Entfaltung neuer Normen. Aus diesen Sonderumständen wird für Weber das kanonische Recht zum Führer zur Rationalität des profanen Rechts. Die »Kirchen« sind die ersten ›Anstalten‹ im Rechtssinn. Im Prozeßrecht schließlich wird die Verhandlungsmaxime vor dem Hintergrund der religiösen Vorstellung objektiver Wahrheit 105 106 107 Vgl. nunmehr die hervorragende Arbeit von Eckart Otto, Max Webers Studien des antiken Judentums. Historische Grundlegung einer Theorie der Moderne, Tübingen 2002. Vgl. über das Zusammenspiel der ›Rechtssoziologie‹ und der religionsvergleichenden Studie ›Das antike Judentum‹, Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 555-563. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 480. 59 Werner Gephart ersetzt.108 Nicht zuletzt stammt der für Webers eigene Theorie der Herrschaft so zentrale Begriff des Charisma nicht aus dem religiösen Sprachgebrauch, sondern aus der juristischen Terminologie des Kirchenrechts.109 Webers Auskunft über die Bedeutung der protestantischen Ethik für die Entwicklung rationalen Rechts bleibt in der ›Rechtssoziologie‹ eigentümlich blaß. Es ist nur der fiktive Endpunkt einer Entwicklung des Rechts, der selbst nicht mehr ausgezeichnet wird. Nur die Trägerschicht ist klar umrissen: »... so pflegen die bürgerlichen Schichten im allgemeinen am stärksten an rationaler Rechtspraxis, und dadurch auch an einem systematisierten, eindeutigen, zweckrational geschaffenen formalen Recht interessiert zu sein, welches Traditionsgebundenheit und Willkür gleichermaßen ausschließt und also subjektives Recht nur aus objektiven Normen hervorgehen läßt.«110 Wo aber finden sich Beispiele für dieses im spezifischen Sinne ›bürgerliche‹ Recht: »Die englischen Puritaner haben ein solches systematisch kodifiziertes Recht ebenso wie die römischen Plebejer und das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts verlangt.«111 Daß Weber diesen Gedanken über den möglichen Zusammenhang von puritanischer Ethik und Rechtsentwicklung nicht weiter ausführt, ist angesichts der offenkundig schwierigen Beweisführung nicht weiter verwunderlich. Man könnte diesen Tatbestand mit weitreichenden Folgen gegen die Gültigkeit der Protestantismusthese selbst anführen, obwohl Weber selbst die Reduzierung des sozialen Lebens auf ›eine Formel‹ lieber den Dilettanten überlassen möchte. So schreibt Weber zum Ende der Protestantismusthese: »Es wäre ein Leichtes gewesen, darüber hinaus zu einer förmlichen ›Konstruktion‹, die alles an der 108 109 110 111 Vgl. ebd., S. 481. Zur Rechtsvorstellung im Christentum vgl. im übrigen J. Duncan, M. Derett, Recht und Religion im neuen Testament, in: Max Webers Sicht des antiken Christentums, hrsg. von Wolfgang Schluchter, Frankfurt am Main 1985, S. 317-362. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 472. Ebd. 60 Recht als Kultur. modernen Kultur ›Charakteristische‹ aus dem protestantischen Rationalismus logisch deduzierte, fortzuschreiten.«112 Dies macht nochmals die Eigenart der Weberschen Analyse von Recht als eines kulturellen Phänomens deutlich: Weder aus religiösen Ideen alleine sind andere Kulturinhalte ableitbar, die ihrerseits ja gerade wie die rechtlichen auf die Art der Konstruktion der Gottesbeziehung etwa zurückwirken können, noch die Macht der Interessen allein bestimmen die Qualitäten des Rechts so, als würde ›Recht‹ einseitig durch ›Wirtschaft‹ bestimmt. Auch die kausalen Determinanten der sozialen Ordnungen und ihrer institutionellen Gefüge geben die Richtung der Entwicklungsbedingungen rationalen Rechts nicht vor, sondern eine Verknüpfung der verschiedenen Sphären von ›Wirtschaft‹, ›Recht‹ und: ›Kultur‹. Warum Weber aber in der okzidentalen Rechtskultur gerade deren formale Eigenschaften so hoch einschätzt, dies läßt sich ablesen an Tendenzen, die Weber in der zeitgenössischen rechtspolitischen, rechtstheoretischen und rechtssoziologischen Diskussion beobachtet und die für ihn eine höchste Gefährdung der Errungenschaften rationaler Rechtskultur darstellen. 5. Die Gefährdungen der rationalen Rechtskultur: ›Materiale Gerechtigkeit statt formaler Rationalität‹ Manfred Rehbinder hat den Kreis der Weber-Exegeten und z. T. der wohl auch bedingungslosen Gefolgsleute und Sendboten dadurch erschreckt, daß seiner ›Rechtssoziologie‹ ein hoffnungsloses Zurückbleiben hinter der zeitgenössischen Rechtstheorie und Rechtssoziologie vorgehalten wurde. Nimmt man den Gewährsmann dieser Einschätzung Rehbinders zu Hilfe, nämlich den auch von Weber als ›Rechtssoziologen‹ erwähnten Eugen Ehrlich, dann wird das Mißverstehen nachvollziehbar. So resümiert Ehrlich seine Grundlegung der Soziologie des Rechts dahin, »der Schwerpunkt der 112 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, a. a. O., S. 206. 61 Werner Gephart Rechtsentwicklung liege auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst.«113 Von einem solchen rechtssoziologischen Reduktionismus freilich, setzt sich Weber in doppelter Hinsicht ab: Einmal werden sowohl ›Gesetzgebung‹, ›Jurisprudenz‹ und ›Rechtsprechung‹ eine eigene Bedeutung für die Entwicklung einer Rechtskultur zugestanden, während andererseits Gesellschaft weder auf Klassen- und Interessen reduziert wird, sondern gerade die eigene Macht religiöser Kulturinhalte in Konkurrenz zu den rechtlichen tritt und auch als Motor der juristischen Kulturinhalte betrachtet werden kann. Noch provozierender mußte einer sich rechtssoziologisch aufgeklärt wähnenden Jurisprudenz Webers Festhalten am Ideal einer Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz erscheinen, das auch noch sozialistische Aufweichungen einer Wertungsjurisprudenz schärfstens abwies. Freilich hat sich nicht nur nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus, sondern auch nach dem Scheitern des sozialistischen Weltexperiments, der Sinn für das Formale im Recht und auch die Idee des ethischen und rechtlichen Universalismus in spürbarer Weise wiederbelebt. Damit gewinnt der abschließende Paragraph von Webers Analyse der ›Entwicklungsbedingungen des Rechts‹ – nach der Formel des Werkplans von 1914 – als vergleichende Kultursoziologie des Rechts eine neue Aufmerksamkeit. (1) Zunächst ist der Irrtum auszuräumen, Weber sähe das moderne Recht – wie dies Parsons vor allem meint – durch eindeutig universalistische Tendenzen gekennzeichnet. Zwar liegt das Defizit außerokzidentaler Rechtsordnungen in partikularistischen Hemmnissen der Rechtsentwicklung begründet; aber auch innerhalb der okzidentalen Rechtskultur sind partikularistische Strömungen zu verzeichnen. Webers sehr viel komplexere Auffassung läßt sich am ehesten dadurch 113 Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, unveränderter Neudruck d. ersten Aufl. 1913, München/Leipzig 1929, Vorrede. 62 Recht als Kultur. charakterisieren, daß in Parallele zur Unterscheidung formaler und materialer Rationalität bzw. Irrationalität Weber zwischen formalem und materialem Universalismus bzw. formalem und materialem Partikularismus unterscheidet. Hiernach weisen etwa die Menschenrechte einen materialen Anspruch universaler Geltung aus, während das Vertragsrecht – wie Weber immer wieder betont – eben den nur formell universal ›freien‹ Kontrakt garantiert. Andererseits gibt es im modernen Recht Tendenzen der personalen Geltungsbeschränkung in dem nur für Kaufleute geltenden Handelsrecht, das sich als insoweit nur formal partikularistisch charakterisieren läßt. Materiale Beschränkungen universaler Rechtsgeltung im Professionsrecht oder lokalen Partikularitäten sind im modernen Staat zurückgetreten ebenso wie die Anknüpfung an den sozialen Stand im Sinne eines ständisch gebundenen Partikularismus. Was Weber aber im modernen Recht vor allem irritiert, ist die antiformale Ausrichtung an klassenorientierter, vermeintlicher ›materialer Gerechtigkeit‹ statt ›formaler Rationalität‹, wie es im sozialistischen Rechtsverständnis gefordert wird.114 (2) Den Kern moderner Rechtskultur sieht Weber von mehreren Seiten her bedroht: Die an Berechenbarkeit des Rechts ausgerichteten Interessen, nämlich die Gütermarktinteressenten, tragen eine eigentümliche gesinnungsethische Komponente in das formal-rationale Recht hinein, nämlich sog. Vertrauenstatbestände zu juridifizieren, die ihrer persönlichen Natur nach weniger formal tatbestandlich zu fassen sind. Die Zunahme der bona-fides-Regeln – man denke auch nur an §157 und §242 BGB – stellt nach Weber eine Aufweichung der formalen Qualitäten rationalen Rechts dar. 114 Vgl. die ausführliche Diskussion bei Werner Gephart, From Particularism to Universalism. Particularistic Features in the Normative Orders of Modern Societies (unveröffentl. Vortrag Krakau 1992). 63 Werner Gephart Noch prinzipieller aber sind innerjuristische Rationalität und die Erwartungen der Rechtsinteressen letztlich unvereinbar. Die vielbeklagte Lebensfremdheit der Begriffsund Konstruktionsjurisprudenz ist Weber zufolge nicht zufällig, »sondern in weitem Umfang die unvermeidliche Folge der Disparatheit logischer Eigengesetzlichkeiten jedes formalen Rechtsdenkens überhaupt gegenüber den auf ökonomischen Effekt abzweckenden und auf ökonomisch qualifizierte Erwartungen abgestellte Vereinbarungen und rechtlich relevante Handlungen der Interessenten.«115 Dies klingt nach uneingeschränktem Lob der Dogmatik, benennt aber am Ende nur den tragischen Konflikt zwischen ›Juristenrecht‹ und populärem Rechtsempfinden, bzw. ›Volksrecht‹116. Weber nimmt dabei ja durchaus zur Kenntnis, daß etwa das Postulat der Lückenhaftigkeit des Rechts als bloßes Ideal entlarvt wird. Es gehört vielmehr zur ›Entzauberung‹ des Rechts in der Folge des allgemeineren Prozesses der »sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung«117, daß auch das Postulat, der bloß rechtsatzanwendenden Tätigkeit des Juristen durchschaut wird. Nur hängt es wieder von der spezifischen innerjuristischen Interessenslage einer sich rein rechtstheoretisch gerierenden Kritik ab, in wessen Namen Lücken gefüllt oder wem die Legitimation der Rechtsschöpfung zugeschrieben wird. Je ›freier‹ die Rechtsschöpfung wird, um so größer wird der Bedarf nach neuer Bindung, sei es in einem Rückfall in ein überpositives Recht oder in der Illusion eines quasi ›natürlichen‹ Rechts des Interessenausgleichs. ›Rechtsprophetie‹ und ›Rechtserkenntnis‹ überpositiver Normen aber würde die Rechtsentwicklung auf vormoderne Rechtsstufen zurückwerfen. So verschlingen sich die Idee juristischen Fachmenschentums mit der These der unauflösbaren Eigengesetzlichkeit rationalen Rechts. Weber formuliert: »Jedenfalls aber wird die juristische 115 116 117 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 506. Vgl. Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, Leipzig 1843. Ebd., S. 509. 64 Recht als Kultur. Präzision der Arbeit, wie sie sich in den Urteilsgründen ausspricht, ziemlich stark herabgesetzt werden, wenn soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements an die Stelle juristischer Begriffe treten.«118 Analytik und Systembildung, fallbezogene Konkretisierung und juristisch konstruktive Begriffsbildung bleiben also die Fluchtpunkte rechtlicher Rationalisierung. Sie liefern von jeher das Profil der Rechtskritik.119 Weber sieht dabei den Konflikt zwischen formaler Legalität und materialer Gerechtigkeit als unvermeidlich an, wenn er von den »Konsequenzen des unaustragbaren Gegensatzes zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege«120 spricht. Eigentümlicherweise versteht es Weber nicht, den Eigenwert formaler Rechtsstaatlichkeit auf einen normativen Begriff zu bringen. Und das Unrecht, das im Namen materialer ›Gerechtigkeit‹ gesprochen wird, sei es in der nationalsozialistischer Mißachtung des Rechts als Limitierung charismatischer – prinzipiell rechtsfeindlicher – Herrschaft oder aber der ›sozialistischen Gerechtigkeit‹ wird nur dem Risiko formaler ›Irrationalität‹ ausgesetzt, die aber zugleich eine ›materiale‹ darstellt. Ein solcher Kern okzidentaler Rechtskultur in dem gekennzeichneten Sinne formaler Rechtsrationalität steht im Hintergrund von Webers vergleichender Kultursoziologie des Rechts. Diese Errungenschaft heißt es gegen eine ›soziologische Rechtswissenschaft‹121 im Sinne Eugen Ehrlichs und seiner 118 119 120 121 Ebd., S. 512. Zu einem interessanten Versuch, den Begriff des Rechts von der Stoßrichtung der Rechtskritik herzuleiten vgl. Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, München 2001. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 512. Die Rechtswissenschaft werde ihrer Aufgabe nur dann ganz gerecht, »wenn sie eine Morphologie der menschlichen Gesellschaft gibt, und die Kräfte, die in der Gesellschaft wirken auf ihr Wesen und ihr Maß untersucht. So wird die Jurisprudenz zur Rechtswissenschaft, zur Lehre vom Recht als gesellschaftlicher Erscheinung...« (Eugen Ehrlich, Soziologie und Jurisprudenz, Czernowitz 1906, S. 19). 65 Werner Gephart Nachfolger zu verteidigen, die das Problem juristischer Wertbegründung verkennen, und gegen eine rechtstheoretische Desillusionierung des Automatenmodells, die anstelle der Idee der Rechtsanwendung die Illusion von schöpferisch freier Rechtsfindung122 setzt oder zu traditionaler Rechtsprophetie – aus durchsichtigen Standesinteressen heraus – zurückkehrt. Weber ist seinerseits prophetisch in der Voraussage, daß die zunehmende ›Verrechtlichung‹ – Weber spricht anschaulich von dem ›an technischem Gehalt ständig anschwellenden‹ Recht – nicht nur eine zunehmende Unkenntnis für Laien produziere, sondern gleichzeitig die zunehmende Wertung der formalen Qualitäten des modernen Rechts »als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats« als sein »unvermeidliches Schicksal«123 erzeuge. Diese Prognose läßt sich im übrigen auf Habermas’ Theorie des Rechts anwenden, die von einer Kolonisierungsthese in ein Lob der formalen Prinzipien des Rechtsstaates im Gewande einer prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit umgeschlagen ist. Aber wie läßt sich das unstillbare Bedürfnis des Laien nach Verstehen des Rechts befriedigen, das durch die von Weber eher karikatural als ›Volksjustiz‹ bezeichnete Rechtspflege der Geschworenen nur unzureichend zu befriedigen ist? Sollten wir den ungeheuren Aufschwung von TV-Gerichtsserien nur als Ausdruck von Medienkonkurrenz erklären und als ohnehin gescheiterten Versuch juristischer Volksaufklärung belächeln oder verbirgt sich hinter dieser ›anschwellenden‹ Bilderflut zum Recht etwas viel Ernsteres: die Spannung von formaler und materialer Rationalisierung als Medienillusion zu überwinden? Wir werden hierauf zurückkommen.124 Daß Webers Kulturbegriff wertgeladen ist, hatten wir gesehen. Es nimmt dann nicht wunder, daß dieses letztlich 122 123 124 Zu Webers Auseinandersetzung mit der Freirechtsschule vgl. im Detail den Band ›Recht‹ (MWG I/22-3). Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 513. Vgl. hierzu zweiter Teil, viertes Kapitel. 66 Recht als Kultur. wertgebundene Konzept ›formaler‹ Rechtskultur des Okzidents für den Export von Civil Society und die Transformation vormals sozialistischer Gesellschaften an Attraktivität gewinnt. 67 Werner Gephart DRITTE VORLESUNG IM REICH DES NORMATIVEN. EMILE DURKHEIMS VISION DER RECHTLICHEN ORDNUNGEN »Les divers phénomènes juridiques ne sont pas isolés les uns des autres; mais il y a entre eux toute sorte de rapports et ils se composent les uns avec les autres de manière à former, dans chaque société, un tout, un ensemble qui a son unité et son individualité. «125 Emile Durkheim gehörte ebenso wie Max Weber zu den Sozialwissenschaftlern, die der zeitgenössischen Kritik des Rechts nicht kritiklos anheimfielen. Henry Lévy-Bruhl hat diese Haltung Durkheims treffend umschrieben: »...il ne ressentait pas pour les choses juridiques cette sorte d’horreur sacrée qui saisissait à l’époque, beaucoup de littéraires et de scientifiques aux abords d’un monde qui leur paraissait plein de mystère.«126 Und Henry Lévy-Bruhl steigert sich in seinem Enthusiasmus für die primordiale Bedeutung rechtlicher Institutionen zu der Behauptung: »Les juristes sont donc, qu’ils le veuillent ou non des sociologues.«127 Dies klingt nach Webers Beschwörung des ›unvermeidlichen Schicksals‹ der Soziologie, sich juristischer Ausdrücke bedienen zu müssen, um ihnen dann einen soziologischen Sinn unterzuschieben. Aber wo Weber gerade den Unterschied der soziologischen und der juristischen Betrachtungsweise festhält, erscheint dem Schüler Durkheims die juristische Fiktionenlehre nichts weiter als eine 125 126 127 Emile Durkheim, Systèmes juridiques, Note, in: L’Année soiologique, 6, 1903, S. 365. Rede HenryLévy-Bruhls, in: Annales de l’Université de Paris 30, 1960, S. 40 ff. (S. 41 f.). Ebd. 68 Recht als Kultur. Verdrängung des Grundtatbestandes der Durkheimschen Soziologie: der Annahme einer sozialen Realität sui generis! Dem standen vor allem zwei Juristen nahe, die beide als Vertreter des öffentlichen Rechts auf soziologischen Pfaden wandelten: Maurice Hauriou und Léon Duguit. (1) Noch bevor Durkheim überhaupt sichtbar in der soziologischen Welt mit den ›Règles de la méthode sociologique‹ der ›Division du travail social‹ und dem ›Suicide‹ in Erscheinung tritt, hat Léon Duguit 1889 das Verhältnis von Verfassungsrecht und Soziologie systematisch behandelt.128 Hier findet man auch die bei Durkheim vermißte Analyse des Staates129 im Gewande der verfassungsrechtlichen Analyse. Im anti-metaphysischen Gestus des Positivisten, à la française, legt Duguit die sciences sociales, das Recht und das Verfassungsrecht auf gleicher Höhe einer positiven Wissenschaft an, die Beobachtungswissenschaft ist.130 Für Duguit ist Soziologie in aller Selbstverständlichkeit die Wissenschaft von den ›faits sociaux‹.131 Freilich keineswegs als eine Erfindung seines frisch nach Bordeaux berufenen Kollegen, Emile Durkheim, sondern als Erbe von Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Macchiavelli, Bossuet und Vico, nicht minder als in der Nachfolge von Comte und Spencer! Versteht sich Soziologie als induktive, auf die Bestimmung naturgesetzlicher, deterministischer Kausalverhältnisse 132 spezialisiert, dann erscheint für Duguit Jurisprudenz als Unterfall der Soziologie: »Quelle place en général, le droit constitutionnel 128 129 130 131 132 en particulier, occupent-ils dans la Léon Duguit, Le droit constitutionnel et la sociologie, in: Revue internationale de l’enseignement, 1889, S. 484-505. Vgl. aber, Bernard Lacroix, Durkheim et le politique, Paris 1981. Vgl. Léon Duguit, Le droit constitutionnel et la sociologie, a.a.O., S. 487. Vgl. ebd., S. 488. Vgl. ebd., S. 497. 69 Werner Gephart sociologie?«133 So wie die Wirtschaft und die Wirtschaftswissenschaften auf die Austauschbeziehungen des sozialen Organismus mit seiner Umwelt spezialisiert sind, so ist das Verfassungsrecht, der andere Teil der Sozialwissenschaft, auf die zerebralen Funktionen des sozialen Organismus bezogen: »Le droit constitutionnel est donc une partie de la sociologie, dans laquelle on cherche à déterminer les lois qui régissent les phénomènes relatifs à la formation, au développement et au fonctionnement de l’état, considéré comme centre nerveux cérébro-spinal de l’organisation social.«134 Wirtschaft und Recht sind die Grundtatbestände des sozialen Lebens und daher sei die Rechtswissenschaft im allgemeinen und das Verfassungsrecht im besonderen notwendigerweise eine Sozialwissenschaft, die gar nicht erst soziologisiert werden muß, weil sie schon immer nichts anderes war als: Soziologie. Im ersten Jahrgang der Revue Internationale de Sociologie, dessen Sekretär René Worms überall nach heimlichen Soziologen Ausschau hält135, berichtet Léon Duguit über ein soziologisches Seminar, das er mit seinen Doktoranden abgehalten hat mit dem nicht ganz unbescheidenen Ziel, in fruchtbarer Zusammenarbeit von Meister und Schülerkreis, zu einer ›präzisen Lösung der Grundprobleme der Allgemeinen Soziologie‹ in exakt, man staune: 10 Seminarsitzungen zu gelangen.136 Auf wunderbare Art und Weise gelangen die Seminaristen hier zu genau den Anschauungen Duguits, die an der Möglichkeit, Legitimität und Wissenschaftlichkeit von Soziologie als Analyse der Beziehung von Recht und Wissenschaft keinen Zweifel lassen. Neu ist die, im Seminarbericht Duguits, als revolutionär hervorgehobene Frage nach dem Selbstbewußtsein des sozialen Körpers, womit Duguit 133 134 135 136 Ebd., S. 498. Ebd., S. 500. Vgl. Werner Gephart, René Worms. Père fondateur de l’Institut International de Sociologie, in: Annales de l’ISS, vol. IV (nouv. série), 1994, S. 263-274. Léon Duguit, Un séminaire de sociologie, in: Revue International de Sociologie 1, 1893, S. 201-208. 70 Recht als Kultur. zu einer Formulierung gelangt, die nahe an Durkheims These konkomitanter Individualisierung und Sozialisierung liegt: »Il a conscience de son individualité et de la solidarité sociale, et ces deux consciences croissent pour ainsi dire en raison directe l’une de l’autre; c’est en ce sens qu’il y a une conscience sociale.«137 Im Umkehrung des Descarteschen ›Je pense donc je suis‹ steht nun der Primat der Gesellschaft so sehr außer Frage, daß aus dem selbstvergewissernden ›Je pense‹ nur auf die vorgängige Sozialität zu schließen ist.138 Dann aber ist ein Einfluß der ›conscience sociale‹ auf Recht und Wirtschaft zu vermuten, der sich gleichzeitig in zahlreichen Einzelbewußtseinsformen ausbreitet und damit den sozialen Körper durchdringt.139 Läßt sich mit diesen Hintergrundannahmen das kollektive Subjekt des Verfassungsrechts also besser begreifen? Duguit ist dieser Frage in einer Studie zum Funktionswandel des modernen Staates als einer ›Etude de sociologie juridique‹ nachgegangen. Hiernach sei der Staat aus einer elementaren Differenzierung hervorgegangen zwischen denjenigen, die Befehle erteilen und denjenigen, die gehorchen. »Du jour ou cette différentiation s’est produite, entre ceux qui donnent les ordres et ceux qui les reçoivent, il y a eu dans l’association humaine un Etat…« Ein solches Gebilde – bei Weber mangels der Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit als ›Herrschaftsverband‹140 bezeichnet – teilt mit seiner Bestimmung freilich das Verständnis von Herrschaft als Befehls- und Gehorsamsverhältnis. Der moderne ›Staat‹ nähert sich dann freilich der Weberschen Vorstellung an: »Voilà donc cet État moderne, organe extrêmement complexe dans sa structure, extrêmement puissant par l’étendue du territoire et le nombre des sujets, extrêmement actif par la diversité des fonctions.«141 Die Strukturiertheit dieses Herrschaftsorgans sowie seine territoriale und personale 137 138 139 140 141 Ebd., S. 207. »Je pense la société, donc la société est.«, ebd. Vgl. ebd., S. 208. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft a. a. O., S. 29 Léon Duguit, Un séminaire de sociologie, a. a. O., S. 170. 71 Werner Gephart Ausdehnung zeichnen den Staat der ›Moderne‹ aus. Der Staat ist also aus juristischer Sicht als Beziehung von Befehlenden zu Befehlsempfängern konstruiert, die zum Gehorsam verpflichtet sind.142 Diese juridische Bestimmung des Herrschaftsverhältnisses setzt sich in einer Gesellschaftsgeschichte des ›Staates‹ fort, mit der Erfindung der juristischen Persönlichkeit im Römischen Recht, seiner Erosion im Feudalismus, seiner Widergeburt im absolutistischen Staat als Identität von Staat und Herrscher, um schließlich in der Revolutionszeit als Idee der Rechtspersönlichkeit des Staates wiederzukehren.143 Diese nunmehr zum kollektiven Gesamtsubjekt aufgewertete Staatsidee wird aus kollektivistischem Geist gegen die Funktionen zerteilende Theorie der Gewaltenteilungslehre gesetzt, um die auch in der deutschen Staatsrechtslehre gesuchte ›Einheit‹ des Staates im Zusammenwirken der Staatsorgane144 und nicht in ihrer gegenläufigen Kompetenz- und Machtverteilung zu suchen. Insofern aber werden bei Duguit aus einer organizistisch gedeuteten Sozialwissenschaft normative Konsequenzen gezogen, die sich als Tatsachenbehauptungen gerieren. Kein überraschendes Resultat, wenn juristische und soziologische Betrachtungsweise amalgamiert werden. Es belegt freilich, daß die Soziologie im Umkreis Emile Durkheims, die einfach in der Luft lag, auch in der Rechtswissenschaft angekommen war. (2) Und dies trifft auf den Theoretiker – und wie Kritiker meinen: Mystiker – der sozialen Institutionen, Maurice Hauriou, nicht minder zu. Er teilt die »ivresse de la science«145 der Positivisten gerade nicht. Ihm scheint die Soziologie vielmehr als »socialement parlant, la plus dangereuse de toutes.«146 142 143 144 145 146 »[L’Etat, W.G.] est un rapport de commandement à commandé, le rapport de celui qui donne un ordre a celui qui le reçoit et qui est obligé d’y obéir.« ebd. Vgl. Léon Duguit, Les fonctions de l’Etat moderne, S. 189. Man denke auch an die Integrationslehre Rudolf Smends. Maurice Hauriou, Réponse à un docteur en droit, Revue Internationale de Sociologie 2, 1894, S. 391. Ebd., S.393. 72 Recht als Kultur. Solange sie jedenfalls als Wahrheiten vom Katheder verkündet, was nichts weiter als zu prüfende Forschungshypothesen seien, wie z.B. die merkwürdige Morallehre, nach der eine Ethik der Brüderlichkeit nunmehr in eine Ethik der Differenz147 umzumünzen sei. Hauriou nimmt also die moralische Essenz der Arbeitsteilungsstudie aufs Korn, um die Soziologie so lange vom Katheder zu verbannen, als sie nicht sichere Erkenntnisse hervorgebracht habe. Zumindest aber dürfe sie des ›juridischen Sinnes‹148 nicht entbehren, weil dieser sie von den allergrößten Irrtümern abhalten würde, wie man am Beispiel von Gabriel Tarde, dem schärfsten Durkheim-Konkurrenten, sehen könne: Dieser habe nämlich in seinen ›Lois de l’imitation‹ das von Durkheim für die Moderne verworfene Band der Brüderlichkeit rehabilitiert, wo Liebe und Glaube das Bindemittel auch der Moderne sei.149 Durkheim selbst bleibt übrigens skeptisch, was die Bedeutung der Soziologie für die Juristenausbildung in Frankreich angeht: Die Rechtsgeschichte sei noch immer eher geeignet, den pädagogischen Effekt zu erzielen, den heranwachsenden Juristenstand über die Kontingenz des Rechts zu belehren: »Malheureusement la sociologie n’est pas encore assez avancée pour prendre une telle place dans l’enseignement.«150 Wenn schon der angeblich unverantwortliche Wissenschaftsimperialist Durkheim diese Zweifel hat, an welchem Gegenstand sollen die, über das positive Recht hinausweisenden Einsichten in die Kontingenz des Rechts den Studierenden denn vermittelt werden? Man müsse eine Gesellschaft ausfindig machen, die sowohl Rechtswandel wie Regelungskomplexität aufweise. Eine 147 148 149 150 Diese Pointe der ›solidarité par différence‹, im Unterschied zur ›solidarité par similitude‹ der Arbeitsteilungsstudie versteht man in dieser verzerenden Wahrnehmung Haurious erst in seiner ganzen Tragweite! Hauriou spricht von ›sens juridique‹ (Maurice Hauriou, Réponse à un docteur en droit, a. a. O., S. 394) wie Bourdieu vom ›sens pratique‹ redet. Vgl. ebd. Emile Durkheim, Extraits des libres entretiens, 3ième série, in: Emile Durkheim, Textes, Bd. 1, S. 243-245 (S.244). 73 Werner Gephart solche Gesellschaft und ein solches Recht gäbe es freilich, nämlich im Römischen Recht! Daher empfiehlt Durkheim, der angebliche Revolutionär und gnadenlose Soziologisierer, zur Modernisierung des Rechtsunterrichts pikanterweise nichts anderes als das Studium des Römischen Rechts. (3) Duguit, Hauriou und auch Saleilles verbanden mit der Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Kenntnisse durchaus eine Veränderung des positiven Rechts. Denn auch in Frankreich hat die Entzauberung des Richters als ›bouche de la loi‹ die Frage aufgeworfen, wie denn die Lücke eines ›flexible droit‹151 zu füllen sei: »La loi est une moule flexible qui donnera l’empreinte du droit aux phénomènes nouveaux issus de la vie sociale.«152 Wenn also der Geist des Textes sich erweitert trotz fortgeltenden Wortlauts, dann müsse diese Entwicklung des juristischen Sinngehalts der Norm nicht subjektiv partikularistisch vom Richter fortentwickelt werden, sondern dies müsse den positiven Wissenschaften überantwortet werden, indem sich der Richter der soziologischen Faktoren der Rechtsentwicklung bewußt werde. Es klingt wie eine implizite Kritik der Freirechtsschule, wenn Saleilles das Gespenst der juridischen Anarchie an die Wand malt. Daher müsse anstelle subjektiver Wertungen die Einsicht in objektive ökonomische, moralische und soziologische Gesetzmäßigkeiten gesetzt werden. Damit aber gebühre – so Saleilles – der Soziologie nicht nur das Verdienst, die soziologischen Ursprünge des Rechts aufzuspüren, sondern auch der Auslegung des geltenden Rechts die Richtung zu weisen.153 Ist Durkheims Soziologie des Rechts hierzu in der Lage und welche soziologischen Strategien sind bei Durkheim und seinem Kreis angelegt, um das Recht auf eine nicht juristische Weise so zu behandeln, daß es der Jurisprudenz nützt, ohne deren 151 152 153 So heißt es später bei Jean Carbonnier! Saleilles, La sociologie et les sciences sociales, in: Revue Internationale de Sociologie 12, 1904, S. 229-234. »La sociologie, après avoir servi d’explication scientifique aux origines historiques du droit, deviendra le facteur principal de l’interprétation.«, ebd., S. 234. 74 Recht als Kultur. Eigengesetzlichkeiten außer Kraft zu setzen? Oder läuft der imperiale Gestus des Durkheimschen Theorieprogramms zwangsläufig auf eine soziologische Reduktion des Rechts und seiner Kultur hinaus? I. Emile Durkheim und das Strafrecht Max Weber hat – wie wir sahen – der okzidentalen Kultur ihr Selbstbild der Rationalisierung und Entzauberung bekräftigt. Emile Durkheim hat die non-rationalen Voraussetzungen moderner Gesellschaften aufgespürt,154 die ihn bis zu den Aruntas Australiens geführt haben, in deren sozialer Organisation er noch die verborgenen, universalen Grundlagen auch moderner Gesellschaften zu entdecken glaubte. Die Geschichte des Zivilisationsprozesses ist von Norbert Elias als Zivilisierung der Gefühle geschrieben und hat damit der Rationalisierungsthese Max Webers ein emotives Fundament geliefert.155 Es ist jedoch das noch kaum ausgeschöpfte Verdienst Emile Durkheims, die Grenzen dieser Rationalisierung aufgewiesen zu haben. Was bei Weber nämlich als traditionale Barriere auf dem Weg zur ›Moderne‹ erscheint,156 ist von Durkheim zur positiven Bedingung der neuen Gesellschaftsordnung erhoben. Ebenso wie der Vertrag einer non-kontraktuellen Grundlage bedarf,157 so hat 154 155 156 157 Diese These ist vor allem von Talcott Parsons immer wieder pointiert worden. Grundlegend ist: Talcott Parsons, The Structure of Social Action, Glencoe; Ill 1937. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1976 (1937). Wenn man im übrigen Welzels Arbeit über Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (1935) hinzunimmt, ist ersichtlich, was für ein produktives Klima für ›Handlungstheorie‹ zu dieser Zeit bestand! Mitunter ist dieses Problem auch als ›Paradoxie‹ gefaßt. Vgl. vor allem: Wolfgang Schluchter, Die Paradoxie der Rationalisierung. Zum Verhältnis von ›Ethik‹ und Welt bei Max Weber, in: ZfS 5, 1976, S. 256-284. Vgl. Emile Durkheim, De la division du travail social, a. a. O., Livre premier, Chapitre VII: Solidarité organique et solidarité contractuelle, S. 177-209; die Denkfigur ist auf viele Bereiche mit heuristischem Gewinn zu verwenden. 75 Werner Gephart gewissermaßen Grundlage. die Rationalisierung ihre non-rationale Ihre Bedeutung tritt nirgends so deutlich hervor wie in der Deutung von Strafe und Verbrechen. Ebenso wie jede Dogmatik des Strafrechts an einer normativen Leitidee der Strafe orientiert ist, 158 so scheint die Konzeption von Strafe für die ›Soziologie im Aufbruch‹159 eine zentrale Rolle zu spielen. Noch in dem zeitgenössischen Umfeld Emile Durkheims wird dies deutlich: es gilt für Ferdinand Tönnies,160 Gabriel Tarde, René Worms161 und auch George Herbert Mead,162 der ja eng mit der europäischen Soziologiekultur verbunden war. Nur Max Weber scheint dem Problem der Strafe weit gleichgültiger gegenüber zu stehen, und dies ist aus seiner zivilrechtlichen Professionalisierung sogar äußerst plausibel.163 Während die Gründergeneration der Soziologie jedoch gleichermaßen in den Strom der Rationalisierungsidee gestellt war, hat nur Emile Durkheim die kühne These der Verwurzelung der Strafe in atavistischen Gefühlen kollektiver 158 159 160 161 162 163 Ein guter Überblick über die Vielfalt der Straftheorien findet sich bei Ulrich Neumann und Ulrich Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, Darmstadt 1980. Hiermit ist die kollektive Aufbruchstimmung gemeint, nach der Soziologie zu Ende des 19. Jahrhunderts einfach ›in der Luft‹ lag. Vgl. zu einem Ausschnitt der europäischen Soziologiekultur um die Jahrhundertwende: Werner Gephart, Soziologie im Aufbruch. Zur Wechselwirkung von Durkheim, Schäffle, Tönnies und Simmel, in: KZfSS 34, 1982, S. 1-25. Vgl. Ferdinand Tönnies z. B.: Jugendliche, Kriminalität und Verwahrlosung in Großbritannien, in: ZStW 13, 1893, S. 894 ff.; Das Verbrechen als soziale Erscheinung, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 8, 1895, S. 329 ff. Der organisierende Organizist Worms war als Jurist und Soziologe am Phänomen der Strafe interessiert. Vgl. z. B. die Diskussion über die Zukunft der strafenden Gerechtigkeit, in: Annales de l’Institut International de Soziologie 4, 1898. George Herbert Mead, The Psychology of Punitive Justice, in: AJS 23, 1918, S. 577 ff. Allerdings ist Webers Kausalitätslehre an Gustav Radbruch und v. Knies orientiert. Die Bedeutung der strafrechtlichen Handlungslehre für die Soziologie ist offenkundig; der juristische Blick auf die sozialwissenschaftlichen Handlungslehren muß daher zwangsläufig in Déjà-vu-Erlebnissen enden. 76 Recht als Kultur. Wut und Abscheu vertreten und das Verbrechen sogar zu den ›normalen‹ Erscheinungen des modernen Lebens zu rechnen gewagt. In der evolutionären Deutung der Entwicklung des Strafensystems hat Durkheim durchaus die Tendenzen einer Milderung und Individualisierung der Strafe gesehen und die ›Geburt des Gefängnisses‹ mit der Geburt der modernen Strafe in Verbindung gebracht. Die Zähmung der im Verbrechen ausgelösten kollektiven Erregung ist noch von der ursprünglichen emotiven Einfärbung geprägt: Es ist die Verletzung kollektiver Gefühle, die im Verbrechen entfesselt und in der Strafe kanalisiert wird. 1. Die non-rationalen Voraussetzungen der strafrechtlichen Rationalisierung Emile Durkheim hat der Tiefenpsychologie fern gestanden. Eine positive Auseinandersetzung mit Sigmund Freud ist nicht nachzuweisen, obwohl über Charcot eine indirekte Verbindungslinie zu ziehen wäre. Freilich geht es weniger um die vergleichbare Betonung non-rationaler Momente, die bei Freud auf die Persönlichkeitsebene und bei Durkheim auf soziale Strukturen bezogen ist, als vielmehr um das Versprechen einer Soziologie der kollektiven Gefühle,164 das von Durkheim nur teilweise eingelöst wurde. Wie ›modern‹ der verstaubte Klassiker damit ist, zeigt nicht zuletzt die Entwicklung der generalpräventiven Theorie der Strafe,165 die gerade in 164 165 Ansätze lassen sich bei Norbert Elias, C. G. Jung, Talcott Parsons u. a. finden. Neben Durkheim hat Georg Simmel das Thema der feinen Gefühle besonders gepflegt; vgl. das Aufgreifen des Themas bei Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven, Weinheim/München 1988; auch Heinz-Günter Vester, Emotion, Gesellschaft und Kultur, Opladen 1991. Aus der Diskussion innerhalb der deutschen Strafrechtslehre vgl.: HansLudwig Schreiber, Widersprüche und Brüche in heutigen Strafkonzeptionen, in: ZStW, 1982, S. 279-298; Claus Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, in: Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag von Arthur Kaufmann u. a., München 1979, S. 279-309; Günther Strathenwerth, Strafrecht und Sozialtherapie, ebd. S. 901-921; sowie Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, Opladen 1982. Auf die systemtheoretisch inspirierte Strafkonzeption in der Fortführung des handlungstheoretischen Lehrbuchs von Hans Welzel durch Günther Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil: Die Grundlagen und die 77 Werner Gephart Durkheim eine spezifische Ausformulierung gefunden hat. Emile Durkheim liegt dabei die Idee der ›negativen‹ Generalprävention durch Abschreckung völlig fern.166 Die utilitaristischen Vorannahmen der Theorien des psychischen Zwangs von Feuerbach bis in die jüngste Diskussion167 sind für Durkheim aus grundsätzlichen Erwägungen heraus unannehmbar. Es ist allerdings nicht nur der Zweifel an der utilitaristischen Steuerbarkeit des Handelns, sondern die funktionale Bestimmung von Strafe und Strafrecht, die – aus den religionsgeschichtlichen Wurzeln der Strafe – in eine andere Richtung verweist. So entsteht bei Durkheim die Idee eines ›modernen‹ Strafrechts, das die Strafbedürfnisse von Gesellschaft aus ihrem kollektiv-religiösen Ursprung der Gefährdung gemeinschaftlicher Ordnung begreift und dennoch die Formen der Strafe in ›rationale‹ Bahnen lenken möchte. Durkheims Theorie der Strafe und des Verbrechens ist nur in Fragmenten überliefert. Das Manuskript der Vorlesung zur Theorie der Sanktionen, die Durkheim in Bordeaux gehalten hat,168 ist verloren gegangen, der Rest ist in Arbeiten, die ganz anderen Deutungszwecken gewidmet sind, zahlreichen Rezensionen und einem einzigen Aufsatz über die ›Zwei Gesetze der Strafentwicklung‹ verstreut. ›Fragmentarisch‹ ist Durkheims Beitrag auch insofern, als die Fortentwicklung und Ausarbeitung in dem Durkheimschen Unternehmen der ›Année Zurechnungslehre, Berlin/New York 21991, gehe ich hier nicht weiter ein. 166 167 168 Seit der ›Structure of Social Action‹ gilt die Kritik der utilitaristischen Argumentation als theoretischer Kern des Durkheimschen Paradigmas der Soziologie. Diese Kritik des Utilitarismus ist bei Münch, Theorie des Handelns, fortgeführt, ohne daß freilich zwischen der ethischen Problematik des Utilitarismus und seiner soziologischen Anwendung unterschieden wäre. Zur Version einer (mikro-)ökonomischen Straftheorie vgl. Victor Vanberg, Verbrechen, Strafe und Abschreckung, Tübingen 1982. Nach Paul Fauconnet ist die betreffende Vorlesung 1894 in Bordeaux gehalten worden. Das von Fauconnet erwähnte Manuskript (Einleitung zu: La responsabilité. Etude de sociologie, Paris 1911) ist verschollen. Vgl. auch die in allen werkbezogenen und biographischen Fragen noch immer unübertroffene Studie von Steven Lukes, Emile Durkheim. His Life and Work. A Historical and Critical Study, New York 1973, S. 617-619. 78 Recht als Kultur. Sociologique‹ von Mitarbeitern Emile Durkheims betrieben wurde. Im Zentrum dieses, von Philippe Besnard analysierten, äußerst komplexen Netzwerks,169 stehen neben dem ›Père Durkheim‹ sein Neffe Marcel Mauss und Paul Fauconnet, die zugleich die wichtigsten Beiträge zur Theorie der Strafe innerhalb des Durkheim-Kreises geliefert haben. Ebenso wie die Strafe eine Schlüsselstellung innerhalb der Gesellschaftstheorie von Durkheim einnimmt, so sind die an Strafe und Strafrecht interessierten Figuren der ›Equipe‹ an zentraler Stelle der sozialen Praxis eines Theorieprogramms plaziert. Die Thesen zum Verbrechen sind in Auseinandersetzung und Abgrenzung von konkurrierenden Strömungen innerhalb der französischen Soziologie entstanden, in denen Gabriel Tarde170 als klassischer Rivale und Gaston Richard171 als abtrünniger Mitstreiter die wichtigsten Figuren sind. Für eine Soziologie der Strafe und des Strafrechts ist jedoch ein Mitarbeiter Durkheims am weitesten vorgedrungen, dessen Arbeit Emile Durkheim nicht mehr zu Gesicht bekam, die aber vom Geist des Durkheimschen Denkens durchdrungen ist: Paul Fauconnet. Seine Studie über die ›Responsabilité‹ enthält – wie wir im folgenden Kapitel sehen werden – eine Soziologie der strafrechtlichen Dogmatik, deren Konsequenzen bis in die heutige Diskussion hineinreichen.172 169 170 171 172 Vgl. Philippe Besnard, La formation de l’équipe de l’Année sociologique, in: Revue française de sociologie 20, 1979, S. 7-31. Diese Arbeit ist neben den Beiträgen von Terry N. Clark, Victor Karady und Roger L. Geiger im zweiten Band der von Wolf Lepenies herausgegebenen ›Geschichte der Soziologie‹, Frankfurt am Main 1981, in deutsch zugänglich. Zu Gabriel Tarde vgl. z. B. Pierre Favre, Gabriel Tarde et la mauvaise fortune d’une baptème sociologique de la science politique, in: Revue française de sociologie 24, 1983, S. 3-30. Zu Gaston Richard vgl. William S. Pickering, Gaston Richard, collaborateur et adversaire, in: Revue française de sociologie 20, 1981, S. 163-182. Eine Teilübersetzung findet sich verdienstvoller Weise in dem von Klaus Lüderssen und Fritz Sack herausgegebenen Band, Seminar: Abweichendes Verhalten II. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Bd. 1: Strafgesetzgebung und Strafrechtsdogmatik, Frankfurt am Main 1975. 79 Werner Gephart Die soziologische Perspektive Durkheims umfaßt damit sowohl eine Theorie des Verbrechens, wie eine Theorie der Strafe, als auch – in Fauconnets Weiterführung – eine Theorie der strafrechtlichen Zurechnung. Ihr Leitmotiv ist die Verletzung und Entfesselung kollektiver Gefühle im Verbrechen, ihre Besänftigung und Bekräftigung in der Strafe und deren symbolische Vermittlung durch das Strafrecht. Aus diesem Zusammenhang läßt sich eine Theorie des strafrechtlichen Verfahrens extrapolieren, die, von der Idee des archaischen Rituals profitierend, die Funktion des Verfahrens in der Kanalisierung der kollektiven Emotionen und der effervescenten Bestärkung und Wiederbelebung zentraler Gemeinschaftswerte sieht.173 Diese Deutung muß dem Selbstverständnis der Strafrechtsdogmatik zumindest als einseitige Funktionalisierung des prekären Instrumentariums der Strafe erscheinen,174 für das sie – in der begrifflichen Verstrickung mit Schuld und Sühne – noch immer nach ›Rechtfertigung‹175 sucht. Die ›Entzauberung‹ der Dogmatik176 kehrt sich in ihr Gegenteil um, wenn nunmehr die sozialen Funktionen von Verbrechen, Strafe, Verfahren und ihrer dogmatischen Durchdringung zum Erhalt der emotiven Basis moderner Gesellschaften mystifiziert werden. Dieser ›Verschlingung von Mythos und Aufklärung‹177 entzieht man 173 174 175 176 177 Aus der Diskussion in der deutschen Strafrechtslehre bietet sich ein Vergleich mit den Thesen von Bernhard Haffke an. Vgl. Tiefenpsychologie und Generalprävention. Eine strafrechtstheoretische Untersuchung. Aarau/Frankfurt am Main 1976. (St. Galler Schriften zur Strafreform, Bd. 7); ders., Strafrechtsdogmatik und Tiefenpsychologie, in: Goltdammers Archiv für Strafrecht 1978, S. 33-57. Siehe dazu: Hans-Ludwig Schreiber, Widersprüche und Brüche in heutigen Strafkonzeptionen, a. a. O. Der Sprachgebrauch ist bezeichnend für das prekäre, d. h. hier: religiöse Selbstverständnis der Straftheorie. Der missionarische Anspruch zur ›Aufklärung‹ über Dogmatik, an der die Sozialwissenschaften nicht ganz unschuldig sind, ist von Niklas Luhmann zu einem Lob der juristischen Dogmatik umgedeutet worden. Vgl. Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974. Ich gebrauche die Formulierung von Jürgen Habermas, Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Bemerkungen zur Dialektik der Aufklärung – nach einer erneuten Lektüre, in: Mythos und 80 Recht als Kultur. sich jedoch nicht einfach dadurch, daß die soziologische Deutung einer Purifizierung der Dogmatik geopfert wird. Welche Spannungen aus dieser Wechselwirkung von soziologischer und juristischer Perspektive erwachsen können, wird gerade am Exempel einer Straftheorie deutlich. Die Einheit der fragmentarischen Beiträge zur Theorie des Verbrechens, zur Theorie der Strafe und zur Soziologie der strafrechtlichen Zurechnung liegt in der spezifischen ›Logik der Gefühle‹178. Ihr moderner theoretischer Ausdruck ist die sogenannte Theorie der symbolisch generalisierten 179 Kommunikationsmedien. In dem Versuch, Strafe als Medium zu begreifen, das im Strafrecht ›codiert‹ wird, ist nicht nur ein bloßes theoretisches Komplement zu ›Liebe als Passion‹180 zu sehen, sondern ein Bemühen, die Widersprüche der Codierung kollektiver Gefühle zu erfassen. Wenn man das theoretische Konstrukt der Medientheorie an die Religionssoziologie Emile Durkheims zurückbindet, ergibt sich die Chance, die codierten Gefühle mit dem Schutz der ›heiligen‹ Dinge181 zu verflechten. Sobald aber der ›Kult der Gemeinschaft‹ vom ›Kult des Individuums‹ abgelöst wird, gerät nicht nur das ›Opfer‹, sondern auch der ›Täter‹ in die Schutzzone der sakralisierten Persönlichkeit. Eine Zentrierung des Strafthemas um die Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, hrsg. v. Karl-Heinz Bohrer, Frankfurt am Main 1983, S. 405-431. 178 179 180 181 Diesen Begriff entlehne ich der wichtigen, wenngleich vergessenen Arbeit von Theodule Ribot, La logique des sentiments, Paris 1905. Historisch ist sowohl die Kapitalanalyse von Marx wie Simmels ›Philosophie des Geldes‹ wichtig. Talcott Parsons gibt in ›Social Structure and the Symbolic Media of Interchange‹ (in: Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 204-228.), einen Rückblick auf die Entwicklung des Konzepts. In Deutschland hat Niklas Luhmann die Medientheorie weiter entwickelt und ›popularisiert‹. Ambivalent ist die Position von Jürgen Habermas in der ›Theorie des kommunikativen Handelns‹, 2 Bde, a. a. O. So der Titel des Buchs von Niklas Luhmann (Frankfurt am Main 1982), das den bezeichnend ernüchternden Untertitel: ›Zur Codierung von Intimität‹ trägt. Inwieweit aus der Durkheimschen Perspektive eine religionssoziologische Deutung der Lehre vom Rechtsgut möglich und gewinnbringend ist, bliebe zu prüfen. 81 Werner Gephart Theorie der kollektiven Gefühle muß daher keineswegs in einen blinden ›Kollektivismus‹ ausschlagen. 2. Die Eigengesetzlichkeit Rationalisierung der strafrechtlichen Von Emile Durkheim wird das Strafrecht nur in seiner für den Strukturwandel der ›conscience collective‹ indikativen Funktion behandelt. Die Binnenstruktur des Strafrechts kommt nicht in den Blick, und der Wandel der Strafformen bezieht sich auf den Charakter der Pönalisierung, aber nicht auf den Inhalt der Strafnormen und ihrer eigengesetzlichen Anwendung im Strafverfahren. Andererseits aber zeichnet Durkheim durchaus das Bild einer normativen Durchrationalisierung des sozialen Lebens, in dem die Norm als generalisierte Anordnung182 die Ordnung des sozialen Lebens garantiert. Normative Lücken schlagen in Defizite sozialer Ordnung um. Der Aufbau normativer Systeme wird bei Durkheim als Stufenordnung normativer Generalisierung und Re-spezifikation gedacht, die den gesamten ›Sozialkörper‹ durchdringt. In diesem normativen Kosmos nimmt das Strafrecht einen besonderen Stellenwert ein: Es indiziert im methodologischen Sinne den Zustand der ›conscience collective‹ und wird, solange es den Anteil ›restitutiver Normen‹ überschreitet, einer überlebten Sozialordnung zugeschrieben. Nun liegt gerade in dieser Zuordnung das Problem einer Soziologie des Strafrechts begründet, die mit dem Anspruch von ›Gesellschaftstheorie‹ auftritt: wie nämlich ist der Zusammenhang der sozialen Institution von Gesellschaft mit dem System des jeweiligen Strafrechts zu deuten? In der Studie Foucaults183 unterliegt das Strafrecht einer Reduktion auf die 182 183 Der Aspekt der Generalisierung ist in dem Kapitel über die nonkontraktuellen Momente des Vertrages der ›Division‹ enthalten; in Anlehnung an Luhmann von ›Verhaltenserwartung‹ zu sprechen, verbietet sich freilich, weil das Ordnungsproblem bei Durkheim nicht aus der Sicht des verhaltensunsicheren Akteurs aufgebaut ist. Vgl. Michel Foucault, Surveiller et punir, Paris 1975 (dt.: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1978); vgl. hierzu auch meine Deutung 82 Recht als Kultur. Makro und Mikrophysik der Macht, wonach der Wandel der Strafformen ein Reflex der Straftechnologie ist und die Prinzipien des Strafrechts Verkleidungen ganz handfester Machtinteressen sind. Bei Durkheim besteht nunmehr die Gefahr, das Strafrecht auf seinen sozialintegrativen Sinn zu beschränken, was im übrigen keineswegs reibungslos funktioniert: Gerade weil sich strafrechtliche Normen auf elementare Gefühlswerte des sozialen Lebens beziehen, entzündet sich im Streit um das richtige Strafrecht der Widerspruch einer sozialen Ordnung, deren einheitliches Weltbild zerbrochen und deren ›conscience collective‹ eher fragmentiert als vereinheitlicht ist.184 Die Diskussion um die Strafbarkeit der Abtreibung liefert ein markantes Beispiel aus der jüngeren Strafrechtsgeschichte. Gleichzeitig aber indiziert das Konfliktpotential185 bestimmter Strafrechtsnormen ihre sozialstrukturelle ›Tiefenlage‹, die wir genauer beschreiben könnten, wenn uns die Mechanismen der 186 ›Gemeinschaftsbildung‹ in modernen Gesellschaften vertrauter wären. So läßt sich nur das Postulat einer vergleichenden Strafrechtsanalyse aufstellen, die – unter soziologischem Aspekt – Grundformen der ›sozietalen in: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., S. 164 ff. 184 185 186 Emile Durkheim hat diese Einsicht in der Division du travail social eher versteckt gehalten: In einer Fußnote lesen wir: »Pour simplifier l’exposition, nous supposons que l’individu n’appartient qu’à une société. En fait, nous faisons partie de plusieurs groupes et il y a en nous plusieurs consciences collectives;«, De la division du travail social, a. a. O., S. 74, Fn. 1. Nicht zuletzt die Kritik von Prozessen der ›Verrechtlichung‹ weist auf die Konflikterzeugung durch Recht hin. Einige Verfassungsbestimmungen sind geradezu darauf angelegt. Freilich hat der Gemeinsatz, daß Streiten ›verbindet‹, einen tiefen soziologischen Kern, den Georg Simmel herauspräpariert und Lewis Coser in: The Functions of Social Conflict (Glencoe; Ill. 1956), systematisiert hat. Vor allem Richard Münch hat dieses Problem im Anschluß an Talcott Parsons in zahlreichen Schriften thematisiert; vgl. auch mit Blick auf das Problem der Gemeinschaftsbildung in Europa: Werner Gephart, Zwischen ›Gemeinsamkeitsglaube‹ und ›solidarité sociale‹. Partikulare Identitäten und die Grenzen der Gemeinschaftsbildung, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 14, 1993, S. 190-203. 83 Werner Gephart Gemeinschaft‹187 im interkulturellen Vergleich188 variieren müßte. Die Diskussion um das Klassenstrafrecht wäre damit in eine soziologische Perspektive überführt, in der die Spaltung in soziale Klassen189 nur ein Aspekt der vertikalen Differenzierung moderner Gesellschaften ist. Insofern bewegt man sich im Denkkreis Emile Durkheims fort, der schließlich den Zusammenhang von sozialer Differenzierung und Integration durch das Strafrecht ins Spiel gebracht hat. In dieser, nur grob skizzierten ›politischen‹ sowie ›gemeinschaftlichen‹ Reduktion des Strafrechts bleibt die Eigendynamik oder – um dem Sprachgebrauch Max Webers zu folgen – 190 ›Eigengesetzlichkeit‹ der Strafrechtsentwicklung freilich ausgeklammert. In der juristischen Dynamik und ihrer methodologischen Reflexion ist dieses Problem unter dem Etikett der ›Natur der Sache‹ thematisiert worden. Hierbei geht es um die Frage, inwieweit das Strafrecht an ›sachlogische Strukturen‹ gebunden ist, die es insoweit auch von den ›Fremdgesetzlichkeiten‹ ›politischer‹, ›ökonomischer‹ und ›gemeinschaftlicher‹ Ordnungen freisetzt und die zugleich den Ausgangspunkt einer eigengesetzlichen ›Rationalisierung‹ fixieren. In Bezug auf den Prozeß der zivilrechtlichen Entwicklung hat Max Weber von verschiedenen ›Richtungen‹ der Rationalisierung gesprochen. Auf den Prozeß der strafrechtlichen Rationalisierung gewendet, lassen sich nunmehr 187 188 189 190 Talcott Parsons bezeichnet mit diesem Begriff den I-Quadranten des AGIL-Systems auf Gesellschaftsebene. Für die Integrationsthese wäre es äußerst interessant, das Strafrecht der sog. ›fragmentierten‹ Gesellschaften in Vergleich zu bringen. Es wäre die Frage, ob das Rätsel der ›Verzuilung‹ in den Niederlanden oder der ›Lagerbildung‹ in Österreich, pluraler Differenzierung in Südafrika etc. über eine Analyse der jeweiligen Strafrechtsordnung ›verständlicher‹ würde. Aus dem Blickwinkel der ›modernen‹ Gemeinschaftstheorie löst sich die Klassentheorie in eine Austauschbeziehung von ›Ökonomie‹ und ›Gemeinschaft‹ auf. Die Bedeutung von ›Eigengesetzlichkeit‹ ist ein Schlüsselbegriff der Rationalisierungsthese Max Webers. An dieser Stelle muß an ein intuitives Vorverständnis appelliert werden. 84 Recht als Kultur. in der jüngeren Dogmatikdiskussion ›Richtungen‹ ausmachen, die von allerhöchstem soziologischem Interesse sind. Denn die Bezugspunkte der strafrechtlichen Rationalisierung durch Dogmatik sind in ihrer abstraktesten Form durch Begriffsfelder markiert, die zu den Grundkategorien gerade soziologischen Denkens gezählt werden: ›Handeln‹, ›Norm‹ und ›Interesse‹. Noch von den Gegnern der finalen Handlungstheorie, wie sie von Hans Welzel191 begründet wurde, ist die Relevanz des Gesichtspunktes von Handeln zugestanden worden;192 im Umkreis der diversen Rechtsgutlehren193 ist die Dominanz des zu schützenden Interesses als Bezugspunkt der Strafrechtsdogmatik akzeptiert; die Idee der Strafrechtsnorm, als Ausgang der Strafrechtsdogmatik aber kehrt nunmehr nach einer langjährigen Diffamierung Karl Bindings als soziologische Fundierung der Dogmatik in dem Lehrbuch von Günter Jakobs194 zurück, nachdem der ›Positivismus‹ Bindings einmal im Namen der ›soziologischen‹ Schule eines Franz Liszt 191 192 193 194 Vgl. das Schriftenverzeichnis in der Welzel-Festschrift: Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag am 25. März 1974, hrsg. v. Günther Stratenwerth, Armin Kaufmann u. a., Berlin u. a. 1974. Der Streit um die finale Handlungslehre erscheint heute als ein spannendes Thema für eine wissenschaftssoziologische Analyse von Strafrechtsdogmatik, in der die Wechselwirkung von Ideen (der Handlungslehre) mit den Strategien ihrer Implementation und den spezifischen sozialen Voraussetzungen von Schulenbildung und interparadigmatischer Konkurrenz untersucht werden müßte. Hier sei nur auf die Arbeit von Knut Amelung verwiesen: Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich des Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtliche Grundlage, Frankfurt am Main 1972. Vgl. Günther Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil: Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, a. a. O. M. E. wird damit ein Teilstück von Luhmanns Systemtheorie importiert, das nicht die gleiche Originalität wie andere Theoriestücke besitzt; die diffizile Abschichtung von normativen und kognitiven Verhaltenserwartungen, die ja keineswegs intrinsische Eigenschaften der Erwartungen sind, macht die soziologisch interessante Deutung des Rechtsbildungsprozesses zu einem womöglich unsicheren Ausgangspunkt der strafrechtlichen Systembildung. Wie distanziert die Beziehung von Jakobs zum ›strafrechtlichen Funktionalismus‹ bei aller Theoriesympathie für Luhmann ist, kann man nachlesen bei Günther Jakobs, Das Strafrecht zwischen Funktionalismus und ›alteuropäischem‹ Prinzipiendenken, Oder: Verabschiedung des ›alteuropäischen‹ Strafrechts? in: ZStW 107, 1995, S. 843-876. 85 Werner Gephart zurückgewiesen worden war. Was hat all dies mit Emile Durkheim zu tun? Der Zusammenhang ist so vermittelt, wie die Wechselwirkungen von Strafrecht und Gesellschaftsstruktur sowie der Strafrechtsdogmatik und soziologischem Denken miteinander verwickelt sind. Der Binnenstruktur des Strafrechts ist von Durkheim, der Philosoph und nicht Jurist war, keine sonderliche Aufmerksamkeit gewidmet worden. In der Strafrechtsanalyse seines Schülers Paul Fauconnet aber können wir – im folgenden Kapitel – sehen, wie die soziologischen Denkformen Durkheims aus der Strafrechtsanalyse heraus unterlaufen werden und wie sich dies aus der Rezeption einer Rechtslehre ergibt, die im Ursprungsland der Kodifikationsidee einmal als überflüssig gelten mußte.195 Es ist wohlbekannt, daß die dogmatische Durchdringung des Code Civil nicht von französischen, sondern deutschen Juristen im 19. Jahrhundert geleistet wurde,196 also der juristischen Arbeitsform, die im Sinne Max Webers den »Höchstgrad methodisch-logischer Rationalität« erreicht hatte: die »gemeinrechtliche Jurisprudenz«.197 In Fauconnets – über Jahre gewachsener – Studie zur ›Responsabilité‹198 macht sich der Einfluß des rechtsdogmatischen Denkens auch in der Durchdringung der strafrechtlichen Materie bemerkbar. Bereits 195 196 197 198 So besitzt die notorische Naivität oder bestenfalls Arroganz gegenüber hermeneutischen Problemen in der französischen Geisteswissenschaft vielleicht auch einen rechtsgeschichtlichen Hintergrund. Die Arbeit von Eugène Gény ist der Année Sociologique jedenfalls nur beiläufig perzipiert worden. Für das Verständnis dieser Rezeptionswirkung habe ich Freiherr von Marschall zu Biberstein zu danken. Mit Jean Carbonnier hatte ich Gelegenheit, das Problem für ein besseres Verständnis der Soziologie des Zivilrechts im System Emile Durkheims zu diskutieren, ohne daß die Resultate in dieser Arbeit zur Strafrechtslehre weiter Eingang fänden. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 397. Vgl. die Anmerkung bei Louis Gernet, La responsabilité d’après M. Fauconnet, in: Revue philosophique 91, 1921, S. 272-286: »On attendait le livre de M. Fauconnet sur la responsabilité.« Recht früh hatte sich Fauconnet über die entbehrungsreiche Arbeit für Durkheim beklagt: »Vous dites qu’il faut que Durkheim produise. Ce n’est pas assez: nous aussi.« 86 Recht als Kultur. Durkheim hatte ja sein Hauptargument für den Zusammenhang von Strafrecht und ›conscience collective‹ unmittelbar aus Bindings Normentheorie bezogen: Der ›begriffliche‹ Vorrang 199 einer dem Strafgesetz vorgelagerten ›Norm‹ wird bei Durkheim aus der Selbstverständlichkeit der sozialen Geltung der im Strafgesetz implizierten Pflichten soziologisch zu erklären versucht.200 3. Bezüge zur deutschen Strafrechtswissenschaft Mit der Übernahme der Rezensionsarbeit zum Strafrecht durch Paul Fauconnet verliert sich der Bezug Durkheims nicht nur zur Tradition Rudolf von Iherings201 oder dem heute völlig unbekannten Post, den wir im Weber-Kapitel bereits kennenlernten, sondern auch zu Arbeiten der deutschen Strafrechtswissenschaft, die mit den Studien des in unserer Weberlektüre angesprochenen J. Kohler202 und L. Gunther203 einmal im Blickfeld Emile Durkheims gelegen hatten. In der Rezensionspraxis Paul Fauconnets entfaltet sich nun ein Spiegelbild der deutschen Strafrechtswissenschaft, das gerade aus der Fremdrezeption den soziologischen Gehalt von Strafrechtswissenschaft deutlich hervortreten läßt. In systematischer Form sind die Rezensionen zu Arbeiten eines 199 200 201 202 203 Vgl. Karl Binding, Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts, 4 Bde., Bd. 1: Normen und Strafgesetze, Aalen 1965, (Neudr. d. 4. Aufl. Leipzig 1922), S. 45: »Die Norm geht begrifflich dem Strafgesetze voraus, denn dieses bedroht eine Normübertretung mit seiner Straffolge oder erklärt sie für straffrei.« Leider hat Durkheim diese normologische Erkenntnis in seiner entwickelten Theorie normativer Ordnungen nicht mehr mitgeführt. Wenngleich sowohl die Kritik des ›Finalismus‹, sowie der Utilitarismusverdacht von Anfang an deutlich war: vgl. La science positive de la morale en Allemagne, in: Revue philosophique 24, 1887, S. 33-58, 113-142, 275-284, (S. 49-58), abgedr. in: Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, a. a. O., S. 267-343 (S. 286-297). Vgl. Emile Durkheim, J. Kohler, Studien aus dem Strafrecht. Das Strafrecht der italienischen Statuten vom 12-16 Jahrhundert, in: L’Année Sociologique 1, 1898, S. 351-353. Vgl. Emile Durkheim, L. Gunther. – Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts. Ein Beitrag zur Universal Historischen Entwicklung desselben, IIIe Abth., 1e Haelfte, in: L’Année Sociologique 1, 1898, S. 347-351. 87 Werner Gephart Franz von Liszt,204 Gustaf Dalman,205 Friese,206 A. Philippoff,207 Theodor Mommsen,208 Moritz Liepmann,209 E. Mayer,210 E. Kulischer,211 R. Loening,212 J. Makarewicz213 schließlich in die Studie zur ›Responsibilité‹ eingegangen, ohne daß wir dies im Einzelnen nachweisen werden. Dabei ist bereits der Grundbegriff dieser Studie ein französisches Kunstwort, das nur unzulänglich die Bedeutung von ›Zurechnungsfähigkeit‹ wiedergäbe: »Cette capacité n’a pas de dénomination technique en notre langue: l’allemand Zurechnungsfähigkeit la désigne assez exactement.«214 Indem Fauconnet nunmehr die 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 Zum Lehrbuch von Liszt heißt es kurz und bündig: »Il suffira ici de constater le succès de ce livre, désormais célèbre, et de rappeler qu’il n’est pas de meilleur guide pour l’étude théorique du droit penal.« Paul Fauconnet, Von Liszt – Lehrbuch des deutschen Strafrechts, in: L’Année Sociologique 3, 1900, S. 413. Vgl. Paul Fauconnet, Dalman (Gustaf) – Die richterliche Gerechtigkeit im Alten Testament, in: L’Année Sociologique 2, 1899, S. 366. Vgl. Paul Fauconnet, Friese – Das Strafrecht des Sachsenspiegels, in: L’Année Sociologique 3, 1900, S. 404-407. Vgl. Paul Fauconnet, A. Philippoff – Die Strafzwecke in der Gesetzgebung Peter’s des Grossen, in: L’Année Sociologique 3, 1900, S. 419-420. Vgl. Paul Fauconnet, Mommsen (Theodor) – Roemisches Strafrecht, in: L’Année Sociologique 4, 1901, S. 377-387. Vgl. Paul Fauconnet, Liepmann (Moritz) – Einleitung in das Strafrecht. Eine Kritik der kriminalistischen Grundbegriffe, in: L’Année Sociologique 4, 1901, S. 411-413. Vgl. Paul Fauconnet, E. Mayer – Die schuldhafte Handlung und ihre Arten im Strafrecht. Drei Begriffsbestimmungen, in: L’Année Sociologique 5, 1902, S. 415-416. Dort wird die Funktion solcher Arbeiten für die ›sociologie juridique‹ so bestimmt: »Des ouvrages de cette nature ont un intérêt pour la sociologie juridique en tant qu’ils fournissent des éléments pour l’analyse des notions de crimes, de faute, de responsabilité telles qu’elles apparaissent actuellement à la conscience des jurisconsultes.« (Ebd., S. 416). Vgl. Paul Fauconnet, E. Kulischer – Untersuchungen über das primitive Strafrecht, in: L’Année Sociologique 8, 1905, S. 460-463. Vgl. Paul Fauconnet, Richard Loening – Geschichte der strafrechtlichen Zurechnungslehre. I. Bd. Die Zurechnungslehre des Aristoteles, in: L’Année Sociologique 8, 1905, S. 477-479. Vgl. Paul Fauconnet, J. Makarewicz – Einführung in die Philosophie des Strafrechts auf entwicklungsgeschichtlicher Grundlage, in: L’Année Sociologique 10, 1907, S. 469-475. Paul Fauconnet, La Responsabilité. Étude de Sociologie, Paris 1928, S. 26 f. 88 Recht als Kultur. ›Institution‹ der Responsabilité zum Gegenstand einer soziologischen Analyse wählt, ist seine Studie als ein erster Versuch einer Soziologie der strafrechtlichen Zurechnung zu lesen, die das Problem symbolischer Ordnung in den Vordergrund stellt. II. Das Problem der Zurechnung im Reich des Normativen: Traditionen der Wertphilosophie »... il y a entre l’acte et sa conséquence une hétérogénité complète ...« (Emile Durkheim) Durkheim war daran gelegen, eine Definition des Verbrechens ganz unabhängig von der Verletzung bestimmter Normen zu entwickeln, um eine direkte Opposition von ›conscience collective‹ und Handeln als Charakteristikum des Verbrechens zu postulieren.215 Diese Konstruktion wirft die Frage auf, welchen Sinn es überhaupt noch macht, Strafgesetze zu formulieren und andererseits ist noch keineswegs ausgemacht, ob das Konstrukt der ›conscience collective‹ tatsächlich die normlogische Beziehung von Handeln und Norm überspielen kann. Man kann das Problem als eine rein begriffliche Frage formulieren, nämlich als Problem der definitorischen Beziehung von conscience collective und Normwelt. Man kann es aber auch als ein immanentes Spannungsverhältnis begreifen, das für den spezifischen Blickwinkel Durkheims konstitutiv ist. Wenn wir nämlich weiter in das ›Reich des Normativen‹ vordringen, um auch die Logik der normativen Zurechnung aus der Soziologie Durkheims zu entwickeln, stoßen die beiden Blickwinkel aufeinander: Paul Fauconnet entwickelt nämlich auf der Basis der emotiven Elemente der ›conscience collective‹ ein Modell der strafrechtlichen Zurechnung, in dem die freigesetzten emotiven Kräfte nach der ›Logik‹ symbolischer Ersetzung auf den Täter konzentriert werden; normlogisch betrachtet freilich setzt die Zurechnung einer Handlung zu 215 Vgl. die Herleitung in: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen, a. a. O., S. 34ff. 89 Werner Gephart einem Akteur als ein Unrecht den Bezug auf eine Normordnung voraus. Um den Spielraum auszumessen, in dem sich die Zurechnungslehre Paul Fauconnets bewegen konnte, ist also die Entwicklung von Durkheims Konzeption der normativen Sphäre unumgänglich. Sie stellt den Interpreten vor eine Fülle schwierigster Deutungsfragen, die es zu kennen gilt, um die Vorläufigkeit der folgenden Deutung verständlich zu machen. Einmal geht es um die Klärung der Wertlehre Emile Durkheims, die man vor dem Hintergrund einer subtilen Kenntnis, die Durkheim von der deutschen Diskussionslage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewonnen hatte, zu lesen hat und die es zugleich verbietet, Durkheim eine werttheoretische Naivität unterstellen zu dürfen, wie man aus manchen Formulierungen Durkheims entnehmen könnte. Neben der Rezeption und Abgrenzung von der deutschen Wertund Normdiskussion ist die Aufnahme der eigenen, rationalistischen und positivistischen Tradition zu beachten. Insofern ist Durkheims Wertlehre nur aus dem Zusammenhang seiner Wissenschaftslehre verständlich. Diese unterliegt jedoch eindeutigen Akzentverschiebungen im Laufe der Werkentwicklung, in denen sich die allmähliche Lösung aus dem Wissenschaftsideal des französischen Positivismus mit der zunehmenden Beschränkung auf methodische und methodologische Fragestellungen verbindet, um in den Spätschriften zur Erkenntnislehre vorzudringen, die nunmehr religionssoziologisch überformt ist und eine theoretische Abgrenzung vom zeitgenössischen Pragmatismus herausfordert. Der soziologische Gehalt der Normlehre ist in den ›Regeln‹ z. B. gleichzeitig methodologischer Natur, während seine Negation, als Anomie216 den Kern der von Durkheim diagnostizierten normativen Krise des modernen Lebens ausmacht. Das empirische Normbild ist gleichzeitig – wie wir bereits gesehen haben – von einem Bild des Menschen geprägt, 216 Grundlegend: Philippe Besnard, L’anomie, ses usages et ses fonctions dans la discipline sociologique depuis Durkheim, Paris 1987. 90 Recht als Kultur. das von der anthropologischen Annahme des zügellosen, grenzbedürftigen Menschen bis zur religiösen Natur des Menschen im Kult der Persönlichkeit reicht.217 Und schließlich kann man die Wert- und Normfrage auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie der Aufbau komplexer normativer Ordnungen unter den strukturellen Bedingungen der Moderne möglich ist. Hiernach empfiehlt es sich also, im Vorblick auf die vorgezogenen Zusammenhänge von sollensbezogener Normlehre und seinsbezogener Strukturanalyse normativer Systeme, die nachfolgenden Problemfelder voneinander abzuschichten: Die Genese des Wert- und Normproblems aus der französischen und deutschen Tradition der Wertphilosophie (1); die Entfaltung einer Soziologie normativer Systeme (2) und schließlich die Verzweigung in die Religionssoziologie, aus der sich das Problem der Zurechnung von der normlogischen auf eine normethnologische Basis stellen läßt (3). Am Ende hoffen wir, nicht nur das Verhältnis von Normwelt und conscience collective präzisieren zu können, sondern zugleich eine Antwort auf die zwischen deutscher und französischer Soziologie diskriminierende Frage der Stellung des Handlungsproblems in der Soziologie geben zu können. Auf dieser Grundlage läßt sich dann der durch Fauconnet ergänzte Ertrag für die Strafrechtsdogmatik einholen. Aus der wertphilosophischen Perspektive diesseits des Rheins betrachtet, zielt die zentrale Frage an Durkheims Wertlehre auf das Problem des Naturalismus in der Wertphilosophie. 1. Das Problem des Naturalismus In dem intellektuellen Reisebericht, den Emile Durkheim über die Situation der Philosophie in den deutschen Universitäten (1887) verfaßt hat, hebt er den außerordentlichen Einfluß von Kant hervor: »Cependant, malgré les nuances qui les différencient, la plupart de ces doctrines présentent un caractère 217 Vgl. hierzu Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., S. 88 f. 91 Werner Gephart commun; c’est une empreinte plus ou moins forte de kantisme.«218 Als Beleg dient Durkheim der außerordentliche Rang, der selbst bei einem unabhängigen Philosophen wie Wilhelm Wundt der Logik in der Erkenntnislehre zugewiesen sei: Der ganze Fortschritt gegenüber Kant bestehe nur darin, den enormen Apparat apriorischer Kategorien geglättet und – so schreibt Durkheim – die idealistische Tendenz der Kritik der reinen Vernunft vernachlässigt zu haben. Dennoch bleibt eine gemeinsame Basis: »Mais tout le monde s’entend avec Kant pour attribuer à la pensée une ou plusieurs fonctions sui generis, irréductibles à l’expérience.«219 Für diese Rückkehr zu Kant gibt Emile Durkheim im übrigen eine nicht uninteressante Erklärung: Sie sei Ausdruck der Langeweile, die allein von den metaphysischen Träumereien des deutschen Geistes übriggeblieben sei. Im übrigen werde Kant wieder als Heilmittel gegen dogmatische Erstarrungen verwendet, ohne gleichzeitig die Erfordernisse der Wissenschaftlichkeit zu beschneiden: »En fait de toutes les philosophies qu’a produites l’Allemagne, le kantisme est celle qui, sagement interprétée, peut encore le mieux se concilier avec les exigences de la science.«220 Hiervon aber grenzt Durkheim eine schwärmerische Richtung des Neukantianismus ab: »Aussi parle-t-on de Kant avec un enthousiasme de néophytes.«221 Als Gipfel der Verirrung aber erscheint Durkheim die Einschätzung eines gewissen Herrn Windelband: »Un professeur à Strasbourg, qui n’est pas sans réputation en Allemagne, M. Windelband, déclarait récemment que la Critique de la raison pure est le livre fondamental (Grundbuch) de la philosophie.«222 Und im gleichen Zusammenhang weist Durkheim amüsiert auf die 218 219 220 221 222 Emile Durkheim, La philosophie dans les universités allemandes, in: Revue internationale de l’enseignement 13, 1887, S. 313-338 u. S. 423440, abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 3: Fonctions sociales et institutions, Paris 1975, S. 437-486 (S. 455, Hervorh. v. W. G.). Ebd., S. 455. Ebd., S. 456. Ebd. Ebd. 92 Recht als Kultur. Studie Cohens ›Von Kants Einfluß auf die deutsche Kultur‹223 hin. Ist die Erkenntnislehre in Deutschland vom Geist des Kantianismus geprägt, so ist nach Durkheims Einschätzung die wissenschaftliche Ethik ein ganz besonderes Feld in Deutschland. In den Lehrplänen der Philosophie taucht sie nur am Rande auf, und so ist es eher die von Juristen gelehrte Rechtsphilosophie, in der sich eine lebhafte Auseinandersetzung mit der Ethik finden lasse. Als reine ›Moralphilosophie‹ habe sie keinen Platz in der Universitätslehre, die sie eher als spekulative Wissenschaft – einen Luxus – betrachte, der unseren Erkenntnissen nichts Neues hinzufüge. Und dennoch habe gerade dieser besondere Status – so Durkheim – die Wissenschaft von der Moral vorangetrieben: »Et pourtant il s’est trouvé que ce divorce de la morale scientifique et de la morale pratique a singulièrement servi aux progrès de la science.«224 Diese Trennung einer theoretischen Ethik und praktischen Moralphilosophie freilich sei für Frankreich undenkbar: »En France, nous n’avons jamais pu séparer les deux points de vue. La pratique et la théorie ne sont pas, pour nous, deux choses distinctes: la première n’est, à nos yeux, que la seconde en puissance, et, pour ainsi dire, en train de se réaliser.«225 Durkheim versucht nun keineswegs, diese andre Konzeption des Theorie-Praxis-Verhältnisses, wie sie dem französischen Positivismus eigen ist, gegen das Modell einer relativen Trennung auszuspielen. Es findet sich im Gegenteil eine Kritik der engen Verbindung von Theorie und Praxis in den Moralwissenschaften: »C’est pourquoi nous avons toujours exigé du philosophe moraliste qu’il exerçât une action sur les mœurs et les caractères. Or, quand même la science des mœurs serait d’accord dans ses conclusions avec la morale populaire, 223 224 225 Hermann Cohens, Von Kants Einfluß auf die deutsche Kultur, Berlin 1883. Emile Durkheim, La philosophie dans les universités allemandes, a. a. O., S. 461. Ebd. 93 Werner Gephart elle ne peut pourtant pas parler de morale comme fait le sens commun.«226 Die Eigenart der deutschen Moralwissenschaft beruhe nunmehr gerade auf ihrer Unabhängigkeit von einem Publikum und ihrer sozialen Verantwortungslosigkeit: »Dégagée, dès l’origine, de toute préoccupation utilitaire et de toute responsabilité sociale, la morale allemande a pu se développer très tôt avec une entière indépendance.«227 Dieser Zug der Autonomisierung der Moralwissenschaft ist jedoch durch die professionelle Herkunft ihrer Vertreter gleichsam davor bewahrt, in metaphysische Konstruktionen und Utopien zu verfallen, nämlich die fachliche Repräsentation der Rechtsphilosophie durch professionelle Juristen. Denn man erschöpfe sich nicht – wie in Frankreich – im Räsonieren über das Gute und das Nützliche: »En France, on passe son temps à raisonner sur le bien et l’utile, à discuter sur les bases de l’éthique, et les moralistes s’occupent, les uns après les autres, à jeter les fondements d’un édifice qu’ils ne construisent jamais.«228 Die deutsche Rechts- und Moralphilosophie zeichne sich demgegenüber durch Konstruktion und Konkretisierung der moralischen Grundlagen aus. In Verbindung mit der neuen Ökonomie habe die deutsche Moralwissenschaft schließlich das klassische Naturrecht überwunden. Es sei gerade die Leistung der ›neuen‹ Moralisten und ›neuen‹ Ökonomen, die Prämisse eines unwandelbaren Naturrechts zu Fall gebracht zu haben: »Les nouveaux moralistes, comme les nouveaux économistes, font remarquer que cet homme général, toujours et partout identique à lui-même, est une pure abstraction et n’a jamais existé en réalité.«229 Damit aber erscheint die Moral nicht mehr als etwas Abstraktes, sondern als etwas sehr ›Lebendiges‹: »La morale n’apparaît plus comme quelque chose d’abstrait, d’inerte 226 227 228 229 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 464. 94 Recht als Kultur. et de mort que contemple l’impersonnelle raison; c’est un facteur de la vie collective.«230 Damit läßt sich der erste Rekonstruktionsschritt beschließen. Aus einer subtilen Kenntnis der zeitgenössischen Wert- und Moralphilosophie im Deutschland der 80er Jahre folgt Durkheim nicht der vom Kantianismus vorgezeichneten Wertlehre der Philosophischen Schulen, sondern setzt auf die, soziologisch aus Argumenten der Werturteilsfreiheit hergeleitete, relative Autonomie der neuen Moralwissenschaft in Deutschland, die in der neuen Ökonomie und Rechtsphilosophie als empirische, am ›sozialen Leben‹ orientierte Kritik des traditionellen Naturrechts auftritt. 2. Auf dem Wege zur neuen Moralwissenschaft Wie aber stellt sich die ›neue Moralwissenschaft‹ für Emile Durkheim dar? Wir finden seine Sicht der moralischen Dinge in Deutschland in dem Bericht über die ›Science positive de la morale en Allemagne‹, die eine inhaltliche Ergänzung zur institutionellen Studie über ›La philosophie dans les universités allemandes‹ darstellt. Für die neue moralwissenschaftliche Bewegung in Deutschland macht Emile Durkheim drei Trägergruppen »verantwortlich«: Ökonomen und Soziologen, Juristen und schließlich die ›reinen‹ Moralwissenschaftler. Das Charakteristikum des vielgeschmähten Kathedersozialismus sieht Durkheim in der produktiven Verknüpfung von ökonomischer Lehre und Moralwissenschaft, aus der beide erneuert hervorgingen: »En fait ce qui caractérise la nouvelle école économique, c’est un rapprochement intime de l’économie politique et de la morale qui a renouvelé ces deux sciences à la fois.«231 In der Beziehung von Ökonomie und Moral sei damit 230 231 Ebd. Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in: Revue philosophique 24, 1887, S. 33-58, S. 113-142, S. 275-284, abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, a. a. O., S. 267-343 (S. 268). 95 Werner Gephart sowohl die Konzeption totaler wechselseitiger Indifferenz232, wie die Absorption der Moral durch die Ökonomie im angelsächsischen Utilitarismus, aber auch die bloße Moralisierung der Ökonomie – wie sie von Gustav von Schönberg233 propagiert werde – überwunden. Insofern schließt sich Durkheim der Kritik Mengers durchaus an: »La nouvelle école économique, dit Menger, ne remplace pas l’ancienne, mais se contente de porter des jugements moraux sur les vérités établies par cette dernière.«234 Die methodologische Aufgabe bestünde vielmehr darin, die Gemeinsamkeit der beiden Sphären, von Ökonomie und Moral, zu erweisen: »Mais il faudrait prouver que ces deux ordres de faits, tout en étant distincts, sont pourtant de même nature.«235 Diesen Nachweis geführt zu haben, sei das Verdienst von Wagner und Schmoller. Aus der Rekonstruktion dieser Autoren müßten wir also erfahren, in welchem Sinne der Gegenstand der Moralwissenschaft auf dem Wege einer Annäherung an die ökonomischen Wissenschaften neu zu bestimmen ist. Welcher Gewinn ist also für die Bestimmung der moralischen Tatsache aus dem – bei Durkheim wohl mit Absicht entpolitisierten – ›Kathedersozialismus‹ herzuleiten? Der entscheidende Umschwung leitet sich für Durkheim aus einer Revision des implizierten Gesellschaftsbegriffs her: »Pour 232 233 234 235 Schumpeter bewertet die klare Grenzziehung zwischen Ökonomie und Soziologie als Voraussetzung der Institutionalisierung: »Die französische Ökonomie hat mehr an ihren Grenzen festgehalten als die deutsche und darauf verzichtet, ihr Arbeitsgebiet mit dem der Soziologie zusammenfallen zu lassen, so daß sich viel schneller als in Deutschland eine selbständige Soziologie entwickelt hat.« (Joseph Schumpeter, Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte, in: Grundriß der Sozialökonomik, I. Abteilung, 1. Teil, Tübingen 21924, S. 19-125 (S. 104). Gustav von Schönberg ist im übrigen der Begründer des ›Handbuchs‹, das Max Weber als ›Grundriß der Nationalökonomie‹ weiterführen wird. Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in: Revue philosophique 24, 1887, S. 33-58, S. 113-142, S. 275-284, abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, a. a.O., S. 267-343 (S. 271). Ebd. 96 Recht als Kultur. eux [Wagner et Schmoller, W. G.], au contraire, la société est un être véritable, qui sans doute n’est rien en dehors des individus qui le composent, mais qui n’en a pas moins sa nature propre et sa personnalité.«236 In dieser eigenständigen Realität von ›Gesellschaft‹ entsteht aus der bloßen In-Beziehung-Setzung ihrer ›Teile‹ ein neues ›Ganzes‹, das die Summe seiner Elemente übersteigt: »Il est faux de dire qu’un tout soit égal à la somme de ses parties. Mais par cela seul que ces parties ont entre elles des rapports définis, sont assemblées d’une certaine manière, il résulte de cet assemblage quelque chose de nouveau, un être composé assurément, mais qui a des propriétés spéciales et qui peut même, sous de certaines conditions, prendre conscience de soi.«237 Emile Durkheim bezieht also aus der Volkswirtschaftslehre die Argumentation zur Emergenz des Sozialen, das – unter durchaus problematischen bewußtseinstheoretischen Voraussetzungen – ein ›Eigenbewußtsein‹ von Gesellschaft einschließe. Über diesen Gesellschaftsbegriff ist auch die Ökonomie als eine reale ›Volkswirtschaft‹ von den ›Einzelwirtschaften‹ abzuheben. Damit sind, nach Durkheim, auch Moral und Ökonomie miteinander versöhnt; weder durch eine Ökonomisierung der Moral, wie im Utilitarismus, noch als bloße Moralisierung der Ökonomie, wie im moralistischen Sozialismus, sondern durch den gemeinsamen Bezug auf Gesellschaft sind beide aus ihrer individualistischen Verengung befreit. Ökonomie und Moral sind somit durch einen gemeinsamen Zweck, der Erhaltung der Lebens- und Entwicklungsbedingungen (›comment les societés peuvent vivre et se développer‹) verbunden, ihr Unterschied liegt darin, daß die Moral gewissermaßen die ›Form‹ des ökonomischen Lebens darstellt, die sich als Verpflichtung an bestimmte Handlungsweisen heftet: »Ce qui appartient en propre à la morale, c’est cette forme de l’obligation qui vient 236 237 Ebd., S. 272. Ebd. 97 Werner Gephart s’attacher à certaines manières d’agir et les marquer de son empreinte.«238 Wie sich diese Transformation des faktischen Verhaltens in die Form einer Verpflichtung vollzieht, findet Durkheim auf glückliche Weise bei Schmoller beantwortet: als Habitualisierung des rein zufälligen Handelns, das sich zu einer Verpflichtung verdichtet, nicht nur aus der Autorität des Gewohnten, der ›traditionalen‹ Legitimitätsform im Sinne Webers, sondern zugleich durch den Glauben an den öffentlichen Nutzen. So läßt sich eine Stufenordnung von Brauch, Moral und Recht entwickeln, in der sich eine zunehmende ›Kristallisierung‹ kollektiver Gewohnheiten vollziehe: »Ainsi se forment les mœurs, germe premier d’où sont nés successivement le droit et la morale; car la morale et le droit ne sont que des habitudes collectives, des manières constantes d’agir qui se trouvent être communes à toute une société. En d’autres termes c’est comme une cristallisation de la conduite humaine.«239 Für die Beziehung von Moral und Ökonomie folgt aus dieser Analyse, daß sich die Moral als Form dem ökonomischen Leben als Material nicht einfach überstülpt, sondern aus den Lebensprozessen heraus ›erwächst‹, in denen neben ökonomischen ganz andere soziale Lebensformen Einfluß gewinnen. Entscheidend ist dabei für Durkheim die empirische Orientierung: »On ne peut pas construire la morale de toutes pièces pour l’imposer ensuite aux choses, mais il faut observer les choses pour induire en la morale.«240 Wie sich aus der bloßen Beobachtung die normativ ›gültige‹, Moral erzeugende Induktion ergeben soll, bleibt sicher unklar. Was Durkheim so bemerkenswert erscheint, ist die Idee, Moral in der Wechselwirkung mit anderen Phänomenen zu studieren und nicht aus abstrakten Konzepten herzuleiten. Die ZweiWelten-Lehre der Kantianer (›deux mondes‹) ist überwunden, und das Studium der Moral als einer fundamentalen Ordnung 238 239 240 Ebd., S. 275. Ebd. Ebd., S. 278. 98 Recht als Kultur. ermöglicht eine neue Sicht, die nicht mehr im Naturrecht mündet, sondern – mit dem Geschichtsbuch in der Hand – (»l’histoire en main«241) relativiert ist. Der universelle Mensch der Naturrechtslehre ist – wie Durkheim betont – historisch und soziologisch relativiert. Durkheims Kritik an der ›historischen Nationalökonomie‹ in der Form von Wagner und Schmoller richtet sich nun keineswegs gegen deren Grundannahmen, sondern gegen einen Systemwiderspruch: Wenn Ökonomie und Moral aus den gemeinsamen Quellen des sozialen Lebens erwachsen, ist gar nicht einsichtig, warum der Staat nunmehr eine dirigierende Rolle im sozialen Leben einnehmen soll. Was Durkheim der nationalökonomischen Schule vorhält, ist ein Rückfall in den naturrechtlichen Rationalismus und die Preisgabe eines ethischen Naturalismus: »Les lois morales, le règne social ne se distinguent des autres règnes de la nature que par des nuances et des différences de degrés. Sans doute les changements y sont plus faciles, parce que la matière en est plus élastique, mais ils ne se produisent pas magiquement sur l’ordre du législateur et ne peuvent résulter que d’une combinaison des lois naturelles.«242 Das soziale Gesetz ist also nur in den Grenzen der natürlichen Gesetze manipulierbar; es ist Bestandteil der nach dem Gesichtspunkt der Komplexität gestuften Ordnung der Natur. Unsere Ausgangsfrage nach dem Naturalismus in der Wertlehre Emile Durkheims können wir also nach der Diskussion von Durkheims Lektüre der nationalökonomischen Schule in Deutschland insoweit beantworten: Durkheim feiert geradezu die Überwindung des kantischen Dualismus wie des utilitaristischen Individualismus, indem Ökonomie und Moral als Bestandteile einer gemeinsamen natürlichen Ordnung des sozialen Lebens begriffen würden, in der die Staatsintervention des Kathedersozialismus einen Fremdkörper darstellte, der die Gestaltbarkeit der sozialen Gesetze überschätzte und den 241 242 Ebd., S. 279. Ebd., S. 281. 99 Werner Gephart vorrationalen Kräften des sozialen Lebens die evolutionäre Spitze genommen habe. Unter den Juristen, die den Weg für eine positive Wissenschaft von der Moral bereitet haben, setzt sich Emile Durkheim insbesondere243 mit Rudolf von Ihering auseinander. Für die Entwicklung der eigenständigen Position Emile Durkheims ist die Lektüre Rudolf von Iherings Bestätigung eines wissenschaftlichen Zugangs zur Ethik und gleichzeitig eine Gelegenheit, die Beziehung von Norm und Interesse zu analysieren. Bezeichnenderweise setzt Durkheim mit der eher verdeckten Passage aus dem zweiten Bande vom ›Zweck im Recht‹ ein, in der von Ihering die Ethik zu einem Teilgebiet der Sozialwissenschaft erklärt, sie gleichzeitig aber für die Jurisprudenz, Statistik und die politische Ökonomie öffnet.244 Und Durkheim läßt auch keineswegs die Weite des von Ihering gepflegten Blickwinkels, der in die Sprachwissenschaft, die Mythologie und Etymologie hineinführt, unerwähnt, denn aus der Synthese dieser Disziplinen soll die Philosophie der neuen Moral hervorgehen. Es setzt voraus, daß sich diese Wissenschaften der Moral mit ebensoviel Unparteilichkeit annehmen lassen, wie es die Naturwissenschaftler gegenüber Der den natürlichen Phänomenen praktizieren.245 methodologische Zugriff auf die Wirklichkeit der Moralen ist über das Konzept des Zwecks vermittelt. Entgegen einer hehren Wirklichkeit aus der 243 244 245 philosophischen Tradition, die Kombination von Begriffen Durkheim erwähnt ebenfalls die Studie von Georg Jellinek, ›Die socialethische Bedeutung von Recht, Staat und Strafe‹, Wien 1878, aus der die bekannte Formel stammt: »... das Recht ist das ethische Minimum«, Ebd., S. 42. In der ›Geschichte des deutschen Strafrechts und der deutschen Strafrechtstheorien‹ von L. v. Bar (Berlin 1882 ) wird in einer für die Zeit bezeichnenden Weise aus der ›socialethischen‹ Bedeutung die ›sozialistische‹(!), während Jellineks Einleitung von der ›Socialwissenschaft‹ handelt! Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, a. a. O., S. 287. Ebd., S. 288. 100 Recht als Kultur. hervorzubringen, gelte es, das Leben selbst zu ergreifen, das sich nicht in der Reflexion, sondern im Handeln manifestiere. Da jedes Handeln durch die Vorstellung eines Zwecks bestimmt sei, ist auch das Recht, als Bestandteil der Lebenswirklichkeit, aus seinem Zweck zu erklären. Eine Regel des Rechts zu begreifen, heißt nicht, ihren Wahrheitsgehalt zu beweisen, sondern ihre »Richtigkeit« (juste appropriation) in bezug auf den zu erreichenden Zweck zu erweisen. Diese Art der bei Weber so genannten »Richtigkeitsrationalität« ist bei Emile Durkheim einer grundlegenden Kritik unterworfen, aus der sich – bereits in dieser frühen Studie (1887) – ergibt, daß eine Interessentheorie des sozialen Lebens und eine Zwecklehre des Handelns für den Aufbau einer positiven Moralwissenschaft nicht in Betracht kommen: »On peut assurément reprocher à M. Ihering de n’avoir guère approfondi ce concept de la fin.«246 Wenn mit dem Zweckbegriff die bewußte Vorstellung eines Handlungszieles gemeint sei, würden eine Reihe von Handlungen aus dem Zweckmodell herausfallen: »Que de fois nous agissons sans connaître le but où nous tendons!«247 Durkheim verweist sowohl auf die Alltagserfahrung, wie die Ergebnisse der Hypnoseforschung. Ihering hätte – so Durkheim – die hellen Zonen des Bewußtseins verlassen und die dunkleren Zonen der Gewohnheiten, Instinkte, Gefühle und Triebe aufsuchen müssen. Zum anderen aber gebe es genügend Ereignisse, die zwar Ursachen besitzen, aber keinerlei Zwecke verfolgen, so daß die teleologische Denkweise als universale Methode unbrauchbar sei. In der Lektüre von Ihering setzt sich also die Kritiklinie fort, die der nationalökonomischen Schule als traditionalistisches Überlebsel vorgehalten wurde, nämlich die non-rationalen Triebkräfte des sozialen Lebens in den Vordergrund zu stellen: »Quoiqu’il ne soit pas utilitariste, il fait jouer au calcul et aux sentiments intéressés un rôle démesuré dans la formation des idées morales et il semble ignorer que, dès l’origine de 246 247 Ebd., S. 289. Ebd. 101 Werner Gephart l’évolution humaine, il y avait chez l’homme d’autres mobiles, aussi puissants.«248 Damit ist neben einer ökonomischen und juristischen Zugangsweise zur Moralwissenschaft eigentlich die Psychologie angesprochen, die Emile Durkheim in der beherrschenden Figur Wilhelm Wundts für seine Entwicklung einer eigenständigen ›science de la morale‹ auswertet. In der Déploige-Affaire hatte Durkheim nicht nur den Einfluß von Schmoller und Wagner bestritten, sondern auch einen vermeintlichen Einfluß Wundts auf die Abgrenzung von Soziologie und Psychologie scharf zurückgewiesen.249 Doch sehen wir selbst, in welcher Weise die Lektüre der ›Ethik‹ von Wilhelm Wundt die spätere Soziologie der Moral Emile Durkheims vorbereitet! Das Vorwort zur ersten Auflage der Ethik setzt mit einer Orientierung ein, die Durkheims Zustimmung finden mußte: »Das folgende Werk unternimmt es, die Probleme der Ethik in unmittelbarer Anlehnung an die Betrachtung der Tatsachen des sittlichen Lebens zu untersuchen.«250 Was Durkheim in seiner Wiedergabe der Ethik hervorhebt, ist also die empirische Vorgehensweise: »Sa méthode est nettement empirique.«251 Gleichzeitig sei sie aber in einem durchaus positiven Sinne ›spekulativ‹, indem sie aus der Beobachtung zu allgemeinen Schlußfolgerungen gelangen müsse: »Ainsi définie, la méthode spéculative n’est pas une discipline exclusivement philosophique, mais il n’est pas une science positive qui puisse s’en passer.«252 Durkheims Verständnis des ›Positivismus‹ – und dies gilt es gegenüber Rezeptionsverzerrungen in Deutschland 248 249 250 251 252 festzuhalten – schließt also keineswegs Ebd., S. 297. Vgl. Emile Durkheim, Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, a. a. O., S. 403. Wilhelm Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, Stuttgart 41912 (zuerst 1886), S. III. Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, a. a. O., S. 298. Ebd., S. 300. 102 Recht als Kultur. Generalisierungen aus, sondern Durkheim favorisiert in diesem Sinne einen ›spekulativen Positivismus‹. Wie aber soll eine empirische, von den ›Tatsachen des sittlichen Lebens‹ ausgehende Moralwissenschaft vorgehen? – Wo findet sie das Material, aus dem die ›Gesetze‹ der Normen herzuleiten sind? Was Wilhelm Wundt am ›älteren‹ Empirismus, also dem angelsächsischen Utilitarismus kritisiert, ist nicht nur die beschränkte Einsicht in die Gesetze der Psychologie, sondern der verfehlte Ausgangspunkt einer Individualpsychologie, während die ›Ethik‹ doch im Sozialen wurzelt. In der deutschen Tradition, die von der Sprach- und Mythenforschung der Romantik bis in die Völkerpsychologie in anderen Traditionen gegründet ist, sucht Wundt eben dort die Ursprünge der Ethik auf: in der ›Vorhalle der Ethik‹: »C’est dans l’histoire des langues, des religions, des mœurs, de la civilisation en général, que nous pourrons retrouver les traces d’un développement dont les consciences particulières ne contiennent et ne connaissent que les ressorts initiaux.«253 Es sind vier Faktoren, die nach Wundt die Entwicklung der Moral bestimmt haben: die Religionen, die Sitten, die physischen Bedingungen und die allgemeine Kultur. Im Anfang sind Recht, Moral und Religion untrennbar miteinander verschlungen: »A l’origine, droit, morale et religion sont confondus dans une sorte de synthèse dont il est impossible de dissocier les éléments. Aucun de ces phénomènes n’est antérieur à l’autre; mais ils se sont successivement dégagés de cette espèce de mélange indistinct où ils préexistaient à l’état de germe.«254 Damit ist das für Durkheim zentrale Thema der ursprünglichen Einheit und sukzessiven Abschichtung von Moral, Recht und Religion benannt. Insofern liest sich die Geschichte der Moral als Differenzierungsgeschichte. Nur wenn Recht, Moral und Religion ursprünglich miteinander konfundiert sind, lassen sich die Merkmale erst aus den ausdifferenzierten 253 254 Ebd., S. 301. Ebd. 103 Werner Gephart Systemen, nicht aber aus der ursprünglichen ›Einheit‹ herleiten. Der Religionsbegriff wird aus dieser methodologischen Erwägung heraus auch nicht anhand der ›einfachen‹, sondern der entwickelten Religionen entfaltet: Es ist das Bedürfnis nach einer Idealisierung der sozialen Welt, die sich in den ›Göttern‹ personifiziert und damit zugleich die Verbindung zu einer an personifizierten Idealen ausgerichteten Ethik herstellt. Durkheim referiert den religionsgeschichtlichen Bruch zwischen dem Ahnenkult und den Göttern der Naturreligionen, die schließlich nach Wundt die Trennung von der Moral255 einleiten: »... les dieux des religions naturelles (Naturreligionen) symbolisent le plus souvent des forces toutes physiques et qui n’ont guère de rapports avec la morale ni avec l’ordre social.«256 Mit der Ablösung des Kultus der Naturkräfte durch die personifizierten Kräfte der besonders begabten Heroen wird die ›Natur‹ wiederum humanisiert und schließlich in den monotheistischen Religionen fortgesetzt. Damit befreit sich die Religion zunehmend aus einem umweltbestimmten Naturverhältnis und wird ebenso – wie die Moral – aus den naturalistischen Zwängen befreit: »C’est ainsi que l’idéal religieux se dégage peu à peu du milieu physique dont il portait si fortement l’empreinte pour se concentrer dans une grande personnalité humaine et devenir vraiment moral.«257 Der Übergang von der ›Religion‹ zur ›Moral‹ wird über die ›Sitten‹ vermittelt, deren bindende Kraft nicht aus der bloßen Gewohnheit, sondern aus ihrem religiösen Ursprung folge. Die Moral aber weist gegenüber der Religion durchaus eigenständige Merkmale auf: Es ist die natürliche Neigung für den Anderen, der zugleich der Ähnliche ist: »Tout homme en effet a un penchant naturel pour son semblable qui se manifesta dès que plusieurs hommes se mirent à vivre ensemble, c’est-à255 256 257 Diese Vorstellung ist deshalb bemerkenswert, weil mit der Ersetzung der Naturreligionen durch die Naturwissenschaften eine vergleichbare ›Entmoralisierung‹ einhergeht. Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, a. a. O., S. 303. Ebd. 104 Recht als Kultur. dire dès les premiers jours de l’humanité. Ce qui les rapprochait alors les uns des autres, ce n’était pas, comme on l’a dit quelquefois, la communauté du sang, mais la ressemblance de la langue, des habitudes et des manières.«258 Hier ist also die ›solidarité par similitude‹ der ›Division du travail social‹ deutlich vorgezeichnet. Die überkommene These der sozialen Natur des Menschen, seiner Soziabilität, ist mit der Hypothese ganz spezifischer Mechanismen der romantisch anmutenden Vergemeinschaftung durch Sprache, Gewohnheiten und Handlungsweisen verbunden. So wie der moralische Urtrieb der Bindung an den Ähnlichen sich zunächst auf eine diffuse, nicht familiale Gemeinschaft stützte, wandelt sich die Moral mit dem Strukturwandel der Gemeinschaften: Aus der dumpfen und unbestimmten Moral der undifferenzierten Gemeinschaft entsteht mit der Genese der Familie eine neue Familienmoral (moral domestique) und mit der Entwicklung des Staates eine neue öffentliche Moral: »Puis les Etats naissent, les classes et les castes s’organisent, les inégalités se multiplient et les sentiments collectifs ainsi que la morale se diversifient avec les conditions sociales.«259 Somit wird hier bereits das Thema einer Korrespondenz von struktureller Differenzierung und normativer Differenzierung formuliert, das den Kern von Durkheims später explizierter Soziologie normativer Systeme ausmacht. In der Wiedergabe der ›Ethik‹ Wilhelm Wundts ist aber auch die Gegenbewegung zur Differenzierung und Dispersion der moralischen Kräfte vorgezeichnet; eine Bewegung der moralischen Konzentration: »Mais cette dispersion des idées morales n’est pas le dernier mot du progrès et depuis longtemps déjà a commencé un mouvement de concentration qui se poursuit sous nos yeux.«260 Und diese Gegenbewegung wird durch morphologische Veränderungen ausgelöst: Die Zunahme des Sozialvolumens 258 259 260 Ebd., S. 307. Ebd., S. 309. Ebd. 105 Werner Gephart verändert den Charakter der sozialen Bande. Es findet ein grundlegender Strukturwandel von persönlichen zu unpersönlichen Beziehungen statt: »A mesure que les sociétés ont augmenté en volume, le lien qui a rattaché les hommes les uns aux autres a cessé d’être personnel. Ce qui a remplacé cette sympathie concrète, c’est un attachement plus abstrait, mais non moins puissant pour la communauté même dont on fait partie, ...«261 Die Solidaritätsbande ist von der persönlichen, partikularistischen Basis auf eine universalistische Grundlage gestellt. Der Bezugspunkt der Moral ist nicht der verengte soziale Kreis, sondern: »Dès lors, les membres d’une même société se sont aimés et assistés, non parce qu’ils ne connaissaient et dans la mesure où ils se connaissaient, mais parce qu’ils étaient tous les substrats de la conscience collective.«262 Mit diesem Bezug auf das gemeinschaftsbildende gemeinsame Substrat der ›conscience collective‹ verlieren sich die moralischen Spannungen innerhalb der modernen Gesellschaften, ohne daß – so Wundt – der motivierende Effekt der sozialen Ungleichheit dabei verloren ginge. Wir finden damit in Durkheims Lektüre der ›Ethik‹ Wilhelm Wundts die zentralen Themen und Lösungen der Moralsoziologie Emile Durkheims vorgezeichnet. Gleichzeitig aber sehen wir, daß Durkheim in der Auseinandersetzung mit Simon Déploige den Einfluß Wundts auf die Entwicklung der Religionssoziologie keineswegs verborgen hat: Der Religionsbegriff ist bei Wundt aus den fortgeschrittenen Religionen hergeleitet, während Durkheim den Gottesbegriff nicht für konstitutiv hält; dafür aber drängen sich tief verwurzelte Parallelen zwischen Durkheims entwickelter Moralsoziologie und der ›Ethik‹ Wilhelm Wundts auf. Und dies gilt in gleichem Maße für moraltheoretische Schlußfolgerungen, die Wundt aus seiner Genealogie der Moral herleitet, die formalen und materialen Elemente der Ethik263, sowie für die 261 262 263 Ebd. Ebd. (Hervorh. v. W. G.). Ebd., S. 311. 106 Recht als Kultur. Aufteilung der Normwelt in individuelle, soziale und menschliche Normen, die in der Differenzierung ›subjektiver‹ und ›objektiver‹ Formen diejenige Sprachgestalt besitzen, von der Durkheims moralsoziologische Untersuchung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ausgeht: »Mets-toi en état de remplir utilement une fonction déterminée.«264 Damit schließt sich der erste Argumentationskreis. Wir sehen in der Rezeption der deutschen Moralwissenschaft eine wichtige methodische und materiale Voraussetzung für Durkheims Soziologie normativer Systeme. Durkheim wendet sich ausdrücklich gegen den aufblühenden Neukantianismus in Deutschland und bevorzugt die nationalökonomische Schule, in der eine wechselseitige Durchdringung von Ökonomie und Moral methodisch vorbereitet ist, die sich mit der Interessentheorie des Rechts zu einer Kritik des Naturrechts verbindet, aus der die Geschichte der Moral weniger als eine Abfolge von Irrtümern hervorgeht, sondern als sozialstrukturell bedingte Variation eines durchgängigen Themas – der menschlichen Solidarität – erscheint. Während gerade bei Wundt durchaus die metaethische Problematik der Beziehung von Sein und Sollen im Spiel ist, wirft Durkheim der Ethik Wilhelm Wundts gerade einen verfehlten Kantianismus vor: »Cette masse imposante de faits est animée d’un souffle d’idéalisme que l’auteur déclare tenir de Kant, quoiqu’il semble n’avoir rien de bien particulièrement kantien.«265 Kausalität und Vergeltung sind scheinbar ungeschieden; der erkenntnistheoretische Positivismus verbindet sich mit einer 264 265 So der ethische Gehalt der Arbeitsteilung bei Durkheim, De la division du travail social, a. a. O., S. 6. Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, a. a. O., S. 324. Es fehlt in der Rezeption durch Durkheim die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Gesetzesbegriff der Naturund der Moralwissenschaften, wie er bei Wundt zu finden ist; in der umgekehrten Rezeptionsrichtung läßt sich – auch in der vierten Auflage der ›Ethik‹ (Wilhelm Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, Stuttgart 41912.) – nicht ausmachen, daß Wundt die französische Schule der Moralsoziologie, über Comte hinaus, zur Kenntnis genommen hätte. Dies mag für die Durkheimrezeption in Deutschland nicht folgenlos gewesen sein. 107 Werner Gephart naturalistischen Auffassung des Normativen, die in der Struktur des sozialen Lebens ihre Erklärung findet. In dieser Konzeption ist daher weder für eine Prinzipienethik Platz, noch der Raum für die Ausgrenzung einer eigenständigen normativen Sphäre, die bei Wilhelm Wundt durchaus vom Reich der Natur geschieden ist.266 3. Auf dem Wege zur Soziologie normativer Systeme Noch vor die Entwicklung einer eigenständigen Soziologie normativer Systeme ist bei Durkheim die Auseinandersetzung mit den theoretischen Morallehren von Kant, dem Utilitarismus und dem französischen Rationalismus geschaltet; denn die Studie zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist eine Arbeit, in der die zuvor skizzierte Linie einer ›science positive de la morale‹ an einem politisch wie moralisch zentralen Punkt der Moderne, der Arbeitsteilung, fortgeführt wird. In der zweiten Auflage von 1902 ist freilich die entsprechende Passage267 eliminiert mit der Begründung, daß es manche Diskussionen einfach nicht verdienen würden, ins Unbestimmte verlängert zu werden. Für unsere Zwecke allerdings ist die Frage ganz entscheidend, ob Durkheim einen Ausweg aus dem Dilemma des soziologischen Relativismus der Moralen gefunden hatte, nämlich entweder die moralische Wahrheitsfrage auf ihre Richtigkeitsrationalität zu reduzieren (so die Interpretation zu Rudolf von Ihering) oder in einer nicht begründeten materialen Wertethik Zuflucht zu suchen. Denn für die Frage, ob der Arbeitsteilung ein moralischer Wert zukomme, ist es erforderlich, ein Kriterium der Moralität anzugeben. Die Kantische Ethik wird in diesem Werkstück dabei auf doppeltem Wege zurückgewiesen. Durkheim verwirft zunächst die Herleitung des kategorischen Imperativs, wie er in der Metaphysik der Sitten aus dem Satz des ausgeschlossenen 266 267 Wundt unterscheidet dementsprechend ›explikative‹ und ›normative‹ Wissenschaften. Wiederabgedruckt als: Définition du fait moral in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, Paris 1975, S. 257-288. 108 Recht als Kultur. Widerspruchs entwickelt wird. Die Argumentation von Kant reduziere sich – so Durkheim – auf ein bloßes Spiel mit Begriffen. Durkheim faßt das Kantische Argument in der folgenden Weise zusammen: »Nous n’agissons moralement que quand la maxime de notre action peut être universalisée. Par conséquent, pour qu’il fût moral de refuser notre assistance à nos semblables quand ils en ont besoin, il faudrait que nous pussions faire de la maxime égoïste une loi s’appliquant à tous les cas sans exception. Or, nous ne pouvons la généraliser à ce point sans nous contredire; car, en fait, toutes les fois que, personnellement, nous somme dans la détresse, nous désirons être assistés.«268 Durkheim zieht nun keineswegs die vorausgesetzte Geltung der Logik in Zweifel, sondern er bestreitet die Prämisse der Bedürftigkeit des Menschen. Er könne sich nämlich durchaus eine konsequente egoistische Moral vorstellen bei Menschen, die in hohem Maße autonom leben und handeln. Das Argument einer nur unsicheren Geltungsgrundlage von Gesellschaft, wenn sie auf reinem Egoismus beruhen würde, weist Durkheim zu Recht als außerhalb der Kantischen Argumentation liegend zurück: »Dirat-on que dans ces conditions la société humaine devient impossible? Ce serait faire intervenir des considérations étrangères à l’impératif kantien.«269 Durkheim begegnet gleichfalls einem zweiten Deduktionsversuch, wie er in der ›Grundlegung der Metaphysik der Sitten‹ entwickelt ist. Aus dem Konzept der menschlichen Person, sie nicht als Mittel, sondern als Zweck in sich zu betrachten, sei gerade eine altruistische Moral nicht herzuleiten. Denn sobald der andere nicht nur im negativen Sinne respektiert wird, sondern als Mensch im positiven Sinne Mitleid erfährt, werde zwar der andere als Zweck, der Handelnde selbst aber als bloßes Mittel zur Erreichung dieses Zweckes behandelt. Während die universalistische Argumentation des kategorischen Imperativs also keineswegs – wie Kant voraussetzt – zu einem 268 269 Ebd., S. 258. Ebd., S. 259. 109 Werner Gephart Widerspruch führen muß, hat die Herleitung aus der menschlichen Persönlichkeit den zu vermeidenden Widerspruch – nach Durkheims Interpretation – gerade zur notwendigen Voraussetzung. Um so lamentabler erscheint Durkheim der Versuch von Kant, die Normen der Ehe vom Geruch einer zum Mittel der physischen Befriedigung degenerierten Wechselbeziehung der Ehegatten zu befreien. Denn wie solle aus Unrecht durch das bloße Faktum der Reziprozität ›Moral‹ entstehen?270 Während die individualistische Interessentheorie ein ›logisches Wunder‹ voraussetze: ›Rien ne vient de rien‹, gelinge es der Theorie sozialer Interessen nicht, den logischen Sprung vom Nutzen zur Moralität in irgendeiner Weise zu begründen. Im Gegenteil sind eine Reihe sozialer Praktiken im herkömmlichen Sinne ›moralisch‹, wie z. B. die obligatorische Bestattung der Toten und viele mehr, deren sozialer Nutzen zweifelhaft ist und unter Umständen eher Schaden anrichtet. So fügt Durkheim Beispiele hinzu, die unmittelbar auf ein Problem der ›Delikte gegen die Umwelt‹ hinlenken: »A tous ces exemples bien d’autres pourraient être ajoutés, tels que la règle qui nous commande le respect de l’âge, celle qui nous défend de faire souffrir les animaux, et ces innombrables pratiques religieuses qui s’imposent à la conscience du croyant avec une autorité proprement morale, sans que pourtant elles présentent la moindre utilité sociale.«271 Der ›Sozial-Utilitarismus‹ versagt also angesichts des Schutzes von Tieren oder dem Respekt vor den älteren Menschen in einer Gesellschaft.272 Auch die Genese moralischer Vorstellungen und Institutionen ist nicht utilitaristisch erklärbar. Aus der Kritik des Finalismus von Ihering wissen wir bereits, daß die Kontingenz 270 271 272 Wenn man diese Kant-Kritik vor Augen hat, fällt es nicht leicht, der verbreiteten Deutung einer ›Kantianisierung‹ bei Durkheim zu folgen. Emile Durkheim, Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, a. a. O., S. 265. In der Arbeit von Amelung zur Rechtsgutlehre fällt bezeichnenderweise der Tierschutz aus dem Denkmodell heraus. Vgl. Knut Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, a. a. O. 110 Recht als Kultur. der Ziele durch reine Zweckerwägungen nur unvollständig reduziert werden kann. Nun führt Durkheim ein grundlegendes modelltheoretisches Argument gegen die utilitaristische Steuerung des Handelns ein: »Or, ces calculs utilitaires, fussentils exacts, sont de trop savantes combinaisons d’idées pour agir beaucoup sur la volonté; les éléments en sont trop nombreux et les rapports qui les unissent trop enchevêtrés.«273 Es ist also die Komplexitätsüberlastung, die eine utilitaristische Entscheidungsfindung – unter den Modellprämissen 274 vollständiger Information – zwar nicht unmöglich werden läßt, aber als Antrieb des Handelns eher untauglich erscheinen lassen muß: »Pour les [les éléments, W. G.] tenir tous réunis sous le regard de la conscience et dans l’ordre voulu, toute l’énergie dont nous disposons est nécessaire et il ne nous en reste plus pour agir.«275 In Wirklichkeit aber – so darf man Durkheim wohl lesen – sind die Modellbedingungen vollständiger Information ja nicht einmal erfüllt. Die Entscheidung unter den Bedingungen der Unsicherheit bzw. unvollständiger Information führe jedoch zu einem willkürlichen Abbruch des Entscheidens: »Il faut tenir compte de tant de circonstances et de conditions diverses, il faut avoir des choses une notion si parfaitement adéquate, qu’en pareille matière la certitude est impossible. Quelque parti qu’on prenne, on sent bien que la résolution à laquelle on s’arrête garde quelque chose de conjectural, qu’une large place reste ouverte aux risques.«276 Wenn aber schon eine individualistische Verhaltensorientierung auf der Basis rein utilitaristischer Erwägungen äußerst unwahrscheinlich ist, dann gelte dies um so mehr für einen Sozial-Utilitarismus: »Car il ne suffit plus 273 274 275 276 Emile Durkheim, Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, a. a. O., S. 265. Vgl. hierzu die Auseinandersetzung mit der ökonomischen Analyse des Rechts in der obigen Einleitung. Emile Durkheim, Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, a. a. O., S. 265. Ebd., S. 265 f. Die Formulierung reicht nicht, hieraus eine Durkheimsche Risikotheorie zu deduzieren. 111 Werner Gephart d’apercevoir les conséquences relativement proches que peut produire une action dans notre petit milieu personnel, mais il faut mesurer les contrecoups qui peuvent en résulter dans toutes les directions de l’organisme social.«277 Es ist also die Unberechenbarkeit der Handlungsfolgen, die den SozialUtilitarismus als regulatives Prinzip der gesellschaftlichen Ordnung unmöglich macht. Damit stellt Durkheim eine außerordentlich differenzierte Kritik des individualistischen und des kollektivistischen Utilitarismus vor, die sich in der berühmten Analyse der non-kontraktuellen Momente des Vertrages nur fortsetzt. Wenn wir die soziologische Begründung für die Notwendigkeit sozialer Normen entwickelt haben, können wir diese, aus der Utilitarismus-Kritik entstandene, Argumentationsfolge an das Konzept der ›conscience collective‹ zurückbinden, um zu sehen, wie die Grundelemente der von Kant aus der Logik des Denkens hergeleiteten Moral nur der Ausdruck des moralischen Bewußtseins sind. Das ›Reich des Normativen‹ entfaltet sich demnach in dem Spannungsfeld einer auf das empirische Studium der sittlichen Tatsachen gerichteten, historischpositiven Morallehre, einer an Kant orientierten Kritik der universalistischen Ethik und einer Kritik des Utilitarismus, die in einer positiven, modelltheoretischen Argumentation zur Notwendigkeit sozialer Normen münden. Erst auf der Grundlage dieses soziologischen Normverständnisses lassen sich die strukturellen Probleme der Genese, Formation und Implementation sozialer Normen unter der Bedingung hoher struktureller Differenzierung entwickeln. Für den Juristen liest sich die berühmte Passage über die nonkontraktuellen Voraussetzungen des Vertrages wie eine Selbstverständlichkeit, die jedoch aus der theoretischen Kritik des Individual- und Sozialutilitarismus einen eigenen soziologischen Sinn erhält. 277 Ebd., S. 266. 112 Recht als Kultur. Jede Sozialtheorie, die – wie es Spencer unternimmt – im Vertrag ihr Paradigma erblickt, unterliegt einem fundamentalen Irrtum, denn der Vertrag hat sog. nicht-vertragliche Voraussetzungen. Nur weil die Gesellschaft dem einzelnen das Recht einräumt, Willenserklärungen mit bindender Kraft abzugeben, besitzen die ›Willensgeschäfte‹ auch normative Geltung: »Si, en principe, la société lui prête une force obligatoire, c’est qu’en général l’accord des volontés particulières suffit à assurer, sous les réserves précédentes, le concours harmonieux des fonctions sociales diffuses.«278 Diese dem Individuum gesellschaftlich verliehene Bindungskraft reflektiert die Idee der Privatautonomie: »Les seuls engagements qui méritent ce nom [de contrat, W. G.] sont ceux qui ont été voulus par les individus et qui n’ont pas d’autre origine que cette libre volonté.«279 Dieser freie Wille ist jedoch in mehrfacher Hinsicht einer Reglementation unterworfen. Einerseits sind die positiven Bedingungen für die Geltung von Willenserklärungen (Geschäftsfähigkeit usf.) sowie andererseits die jeweiligen Grenzen des jus dispositivum zu beachten, die Emile Durkheim im einzelnen anhand des französischen Zivilrechts erläutert: der Ausschluß der Rechtsmängelhaftung (Art. 1628 CC) bzw. der Ausschluß für verborgene Mängel (Art. 1641 und 1643 CC), hinzu kommen die Gestaltungsrechte des Richters, wie sie in den Artikeln 1184, 1244, 1655 und 1900 des Code Civile fixiert sind. Als besonders starkes Argument nennt Durkheim die Ermittlung des Willensinhaltes, die sich eben nicht auf den Willensausdruck beschränkt, sondern – wie Durkheim Art. 1135 CC zitiert – : »obligent non seulement à ce qui y est exprimé, mais encore à toutes les suites que l’équité, l’usage ou la loi donnent à l’obligation d’après sa nature.«280 Neben dieser rein positivrechtlichen Argumentation führt Durkheim allerdings soziologische Gründe für die Notwendigkeit des Vertragsrechts an. Einmal gilt es, die 278 279 280 Emile Durkheim, De la division du travail social, a. a. O., S. 194. Ebd., S. 189. Ebd., S. 190. 113 Werner Gephart Bedingungen der Willensübereinstimmung im Vertrag auf Dauer zu stellen: »Il faut encore que les conditions de cette coopération soient fixées pour toute la durée de leurs relations.«281 Sie müssen aber nicht nur zeitlich generalisiert werden, sondern auch von den situativen Bedingungen des Vertragsschlusses gelöst werden: »Il faut que les devoirs et les droits de chacun soient définis, non seulement en vue de la situation telle qu’elle se présente au moment où se noue la contrat, mais en prévision des circonstances qui peuvent se produire et la modifier.«282 In der vorweggenommenen Konfliktbewältigung liegt die Leistungsfähigkeit des dispositiv eingreifenden Vertragsrechts, gerade weil die Komplexität der jeweiligen Vertragsmaterie die Regelungskompetenz des einzelnen bei weitem überschreitet. Insofern profitiert der Kontrahent von der sachlichen Generalisierung des Vertragsrechts: »Ce n’est pas au moment où les difficultés surgissent qu’il faut les résoudre, et cependant nous ne pouvons ni prévoir la variété des circonstances possibles à travers lesquelles se déroulera notre contrat, ni fixer par avance, à l’aide d’un simple calcul mental, quels seront, dans chaque cas, les droits et les devoirs de chacun, sauf dans les matières dont nous avons une pratique toute particulière.«283 Die Normen des Vertragsrechts stellen also gerade die Entlastungen von der Komplexität der Interessenbestimmung und des Interessenausgleichs bereit, soweit sie zeitlich, sachlich und sozial – wie Luhmann den elementaren Rechtsbildungsprozeß umschreibt284 – generalisiert sind. Freilich ist die Generalisierung keine normative Geltungsbedingung, wie sie etwa im Kantischen Imperativ als Universalisierbarkeit fungiert, sondern an bestimmte soziale Bedingungen geknüpft. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, ist die Genese sozialer Normen, ihre Formation und Implementation als Regulation des im 281 282 283 284 Ebd., S. 190 f. Ebd., S. 191. Ebd. Vgl. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2 Bde., a. a. O. 114 Recht als Kultur. übrigen von Einzelinteressen und Gewohnheiten beherrschten sozialen Lebens wirksam. Aus den Strukturbedingungen der Normgenerierung läßt sich nach Durkheim zugleich ableiten, warum moderne Gesellschaften unter einer chronischen normativen Krise leiden. In der ›Division du travail social‹ wird das Problem der ›Anomie‹ in die abnormalen Erscheinungen des ökonomischen Lebens abgeschoben. Dabei ist das gesamte Funktionsmodell der ›Division du travail social‹ auf einem normativen Fundament errichtet. Was als bloßer Indikator des Strukturwandels der Solidarität methodische Verwendung findet, ist in Wirklichkeit der heimliche Integrator des sozialen Lebens. Nur wird unter den morphologischen Bedingungen moderner Gesellschaften, wie es Durkheim bei Wilhelm Wundt lesen konnte, die Generierung der Normen erschwert: Von persönlichen Beziehungen werden die sozialen Strukturen auf Unpersönlichkeit umgestellt, es verlängern sich die Handlungsketten und – mangels einer Steuerung der sozialen Beziehungen durch Interessen – wächst der Normierungsbedarf moderner Gesellschaften. Regelungsdefizite treten in den Konfliktzonen, z. B. dem ökonomischen Leben auf, auch wenn Durkheim vom Kathedersozialismus den Glauben an die Vereinbarkeit von Moral und Ökonomie geerbt hat. Aus dem ethnologischen Relativismus der Durkheimschen Morallehre führt kein Weg zu einer unwandelbaren materialen Gerechtigkeit, die den Maßstab der Normgenerierung abgeben könnte. Aber Durkheim ist von dem Glauben an die Sachadäquanz sozialer Normierungsprozesse beseelt. Hierzu bedarf es nur der entsprechenden Beteiligung der betroffenen Gruppierungen, so daß sich – für das ökonomische Leben – das Modell der groupements professionnels geradezu anbietet. Es läßt sich am Beispiel der Entstehung des Umweltstrafrechts etwa sehen, wie weit das Durkheimsche Modell der Normgenese durch soziale Organisation und Interaktionsbildung trügt. Freilich tut sich von vornherein ein Gegensatz zwischen der Erstellung strafrechtlicher und restitutiver Normen auf. Während die repressiven Normen als dumpfer Ausdruck der ›conscience 115 Werner Gephart collective‹ erscheinen, unterliegen die übrigen Normbildungsprozesse ja dem Modell der rationalen Normprojektion und Normselektion. Wie also läßt sich die Beziehung zwischen ›conscience collective‹ und den ›Normen‹ und Gesetzen des Strafrechts präzisieren, nachdem wir über die religionssoziologische Werkentwicklung hinaus auch die moralsoziologische Entwicklung ein Stück weit verfolgt haben? Die ›conscience collective‹ läßt sich nicht etwa prozedural (durch Verfahren) erzeugen, sie erwächst auch nicht aus dem permanenten Interaktionsfluß, sondern sie repräsentiert die kollektiven Erfahrungen einer Gemeinschaft, wie sie in Sprache, Sitte und dem Strafrecht manifestiert sind. Sie läßt sich nicht auf Interessen reduzieren, denn in der ›conscience collective‹ werden Handlungsmuster als obligatorisch bewahrt, die unter keinem Utilitarismusgesichtspunkt für die Gesellschaft – z. B. das von Durkheim erwähnte Verbot der Tierquälerei – notwendig wären. Die ›conscience collective‹ ist also durch eine diffuse Gemengelage von in hohem Maße affektiv besetzten Traditionen und Wertmustern gekennzeichnet. Bildlich gesprochen ist sie der Hort der kollektiven Moral und des kollektiven Gewissens einer jeden Gesellschaft, aber auch – wie Durkheim in seiner pädagogischen Soziologie postuliert – der einfacheren sozialen Gebilde, so daß moderne Gesellschaften gerade durch eine Erosion der gemeinsamen Norm- und Wertvorstellungen gekennzeichnet sind, die im Streit um das ›richtige‹ Strafrecht einen besonders markanten Ausdruck finden. Der Zusammenhang zwischen conscience collective, Strafrecht und dem dogmatischen Problem der Zurechnung läßt sich nunmehr anhand des normlogischen Verständnisses von Durkheim entwickeln, in dem von den sozialen Bedingungen der Normgenese und den Voraussetzungen wirksamer Implementation abstrahiert wird, im Sinne der, wenn man es so nennen möchte: reinen Normlehre Emile Durkheims. 4. Die ›reine‹ Normlehre Emile Durkheims Dabei ist der Zugang zum Normativen, wie Durkheim in einem vor der französischen Gesellschaft für Philosophie gehaltenen 116 Recht als Kultur. Vortrag bemerkt, durch eine nahezu heilige Scheu verstellt, was Durkheim natürlich als Beleg für den religiösen Charakter der Moral gilt. »Ce qui le prouve, c’est la répugnance qu’on a encore aujourd’hui à appliquer à la morale la méthode scientifique ordinaire; il semble qu’on profane la morale, en osant la penser et l’étudier avec les procédés des sciences profanes.«285 In diesem Vortrag resümiert Durkheim sein – wie er sagt – 20jähriges Bemühen um das Verständnis der moralischen Tatsachen. Der Ausgangspunkt ist nunmehr weder die empirische Analyse moralischer Systeme, wie sie in den frühen Schriften Durkheims programmatisch postuliert war, noch die Deduktion der Moral aus einer spezifischen Morallehre, sondern man könnte es einen moraltheoretischen Formalismus nennen, aus dem sich die normative Welt sukzessive aufbaut. Während in den zuvor genannten analytischen Schriften die Beziehung von Natur und Gesellschaft, moralisch/juristischen Gesetzen und den Gesetzen der Natur noch verschwommen war, sind Gesellschaft und Natur nunmehr sorgfältig geschieden. Gleichzeitig verwandelt sich die ursprünglich erkenntnistheoretische und moraltheoretische Kritik von Kant in eine Rettung der Pflichtenethik mit soziologischen Mitteln. Für den einzelnen, der insofern an der Natur teilhat, als er von Trieben und Bedürfnissen bestimmt ist, wird die Freiheit von der Natur nur durch die Gesellschaft vermittelt: »Abandonné à lui-même, l’individu tomberait sous la dépendance des forces physiques; ...«286 Diese Verschiebung in der Relation von Natur und Gesellschaft spiegelt sich in einem gewandelten Verständnis der sozialen ›Regeln‹ wieder. Durkheim unterscheidet nunmehr zwei Typen 285 286 Emile Durkheim, Détermination du fait moral. Thèses soumises à la Société française de Philosophie et discutées à la séance du 11 février et du 22 mars 1906. Bulletin de la Société française de Philosophie VI, S. 169-212. Wiederabgedruckt in: Emile Durkheim, Sociologie et philosophie, Paris 1924, S. 49-90 (S. 70). Ebd., S. 79. 117 Werner Gephart von Regeln, aus deren Grundstruktur der normative Kosmos hergeleitet ist. Die Differenzierung zwischen ›moralischen‹ und ›technischen‹ Regeln ergibt sich nach Durkheim aus der unterschiedlichen Art der Sanktion, die aus einer Verletzung der jeweiligen Regel resultiert. Hierbei ist mit einer ›Regel‹, wie Durkheim an anderer Stelle ausführt, jede Sanktionierung menschlichen Handelns gemeint. Die Differenz zwischen ›technischen‹ und ›moralischen‹ Regeln liegt nunmehr in der unterschiedlichen Beziehung zwischen Handeln und der Sanktions-›Folge‹: »1°. – Les unes résultent mécaniquement de l’acte de violation. Si je viole la règle d’hygiène qui m’ordonne de me préserver des contacts suspects, les suites de cet acte se produisent automatiquement, à savoir la maladie. L’acte accompli engendre de lui-même la conséquence qui en résulte et, en analysant l’acte, on peut par avance savoir la conséquence qui y est analytiquement impliquée.«287 Hier besteht die Verbindung zwischen einer Handlung und der als negativ bewerteten Handlungsfolge also in einer kausalen Verbindung. Im Gegensatz zu der von Durkheim sogenannten technischen ›Regel‹ ist die Beziehung zwischen Handlung und Erfolg bei den moralischen Regeln sehr viel komplexer beschaffen: »2°. – Mais quand je viole la règle qui m’ordonne de ne pas tuer, j’ai beau analyser mon acte, je n’y trouverai jamais le blâme ou le châtiment; il y a entre l’acte et sa conséquence une hétérogénéité complète; il est impossible de dégager analytiquement de la notion du meurtre ou d’homicide, la moindre notion de blâme, de flétrissure. Le lien qui réunit l’acte et sa conséquence est, ici, un lien synthétique.«288 Die Zurechnung einer Handlung zu einer Sanktion setzt also ein synthetisches Urteil voraus, in dem die fragliche Handlung einer Norm subsumiert wird, aus der sich die Sanktionswürdigkeit des Verhaltens herleitet. Dem äußeren Geschehen ist eben die Eigenschaft, eine Strafe nach sich zu 287 288 Ebd., S. 60 f. Ebd., S. 61. 118 Recht als Kultur. ziehen, keineswegs inhärent: »Ce n’est pas la nature intrinsèque de mon acte qui entraîne la sanction.«289 Nur vermittels einer Norm, die das fragliche Handeln verbietet, ist die Sanktion eine ›Folge‹ der Handlung. Technische Regeln und moralische Regeln sind also danach unterschieden, daß im ersten Fall die negative Handlungskonsequenz eine von der Handlung kausal determinierte Folge ist, während im zweiten Fall die Verknüpfung zwischen Handlung und Sanktion auf einem Prozeß normativer Zurechnung basiert. Nun unternimmt Durkheim den Versuch, aus der logischen Priorität einer Handlungsnorm, die ein bestimmtes Verhalten untersagt, die universale Eigenschaft des obligatorischen Charakters moralischer Regeln herzuleiten: »Ainsi, il y a des règles présentant ce caractère particulier: nous sommes tenus de ne pas accomplir les actes qu’elles nous interdisent tout simplement parce qu’elles nous les interdisent. C’est ce qu’on appelle le caractère obligatoire de la règle morale.«290 Was Durkheim also behauptet, ist die Herleitbarkeit der Kantischen Kategorie der Pflicht aus der logischen Struktur der Beziehung von Handlung, Norm und Sanktion: Da die Pönalisierung einer Handlung den Bezug auf eine die jeweilige Handlungsweise verbietende ›Regel‹ voraussetzt, die den Normadressaten Regelkonformität gebietet, ist der Begriff der Pflicht notwendiger Bestandteil eines Normensystems. An der utilitaristischen Ethik kritisiert Durkheim gerade das völlige Verkennen des Pflichtmomentes in der Ethik: »Dans la morale de Spencer par exemple, il y a une ignorance complète de ce qui constitue l’obligation. Pour lui, la peine n’est autre chose que la conséquence mécanique de l’acte ...«291 Während sich Durkheim insoweit mit der Moraltheorie Kants in Einklang weiß – auch wenn Durkheim zu Unrecht eine ›empirische‹ Herleitung der ›Pflicht‹ bei Kant behauptet – vermeint Durkheim nunmehr über Kant hinauszugehen, indem 289 290 291 Ebd. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63. 119 Werner Gephart er nach den empirischen Gründen der Normbefolgung fragt: »Nous ne pouvons, en effet, accomplir un acte qui ne nous dit rien et uniquement parce qu’il est commandé. Poursuivre une fin qui nous laisse froids, qui ne nous semble pas bonne, qui ne touche pas notre sensibilité, est chose psychologiquement impossible. Il faut donc qu’à côté de son caractère obligatoire, la fin morale soit désirée et désirable; cette désirabilité est un second caractère de tout acte moral.«292 Es liegt auf der Hand, daß Durkheim mit diesem Merkmal der Wünschbarkeit eine Synthese zwischen der reinen Pflichtenethik Kants und einer utilitaristischen Regelbefolgung anstrebt.293 Freilich ist dieses Kriterium der Wünschbarkeit äußerst vieldeutig: Es mag die bloße psychologische Tatsache benennen, daß die Befolgungschance einer Norm in dem Maße wächst, als sie nicht nur auf Zwang, sondern Legitimität gestützt ist, d. h. die Normbefolgung als positiver Anreiz fungiert. Im Merkmal der Wünschbarkeit (désirabilité) könnte aber zugleich ein normatives Kriterium der Legitimität enthalten sein: Nur wenn eine Norm bei dem Adressatenkreis eine Chance der Wünschbarkeit besitzt, ist sie als legitim zu betrachten. Damit kehren wir zu der Frage zurück, die in der Lektüre Rudolf von Iherings aufgeworfen war, ob es ein normatives Kriterium der Richtigkeit in der Vorstellung Emile Durkheims gibt, das über die bloße Faktizität von Regelungseffekten hinausgeht. Während Durkheim zunächst eine sinnhafte Verbindung zwischen ›Sanktion‹ als Merkmal der Norm und ›Pflicht‹ als Eigenschaft von Moral einerseits, sowie zwischen ›Handeln‹ und dem ›Wünschenswerten‹ herstellt, schließt sich im weiteren eine von Durkheim so bezeichnete ›Erklärung‹ der Strukturmerkmale von Moral an, in der das ›Gute‹ bzw. ›Wünschenswerte‹ mit den Eigenschaften des Individuums verknüpft wird, während die Pflicht mit den Funktionen der Gesellschaft assoziiert wird. Nachdem Durkheim in der Kritik an von Ihering und auch an Wilhelm Wundts ›Ethik‹ den 292 293 Ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 64 f. 120 Recht als Kultur. Zweckgedanken verworfen hatte, wird nunmehr, aus den alternativen Zielen eines jeden Handelns, der formale Spielraum moralischer Normen zu bestimmen gesucht: »Un acte ne peut avoir que deux sortes de fins 1° L’individu que je suis. 2° D’autres êtres que moi.«294 Durkheim gelangt aus dieser Prämisse zu einer transzendentalphilosophischen Herleitung von ›Gesellschaft‹ als Ziel der Moral: »Nous arrivons donc à cette conclusion: c’est que, s’il existe une morale, un système de devoirs et d’obligations, il faut que la société soit une personne morale qualitativement distincte des personnes individuelles qu’elles comprend et de la synthèse desquelles elle résulte.«295 Die Parallele mit Kants Herleitung der Gottesvorstellung ist dabei durchaus beabsichtigt. Sie gilt Durkheim nur als Bestätigung dafür, daß es halt tiefe Verwandtschaften zwischen dem Religiösen und dem moralisch-gesellschaftlichen Leben gibt. Für den Begriff der Moral folgt hieraus nach Durkheim, daß die Bindung an die Gruppe – als Gegenpol zum solitären Individuum – konstitutiver Bestandteil von Moral ist und Gesellschaft zugleich als moralische Person hervorbringt. Aus dieser Deduktionsfolge, deren sachliche Berechtigung wir hier nicht weiter diskutieren wollen, ergibt sich, daß in dieser Konzeption des sozialen Lebens die Struktur der Normen Drehund Angelpunkt der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ist. Die naturalistischen Anklänge, die sich in Durkheims frühen Schriften als Voraussetzung der Behandlung normativer Tatsachen durch die Wissenschaften ergeben, haben einem Modell Platz gemacht, in dem Handlung und Sanktion die konstitutiven Merkmale eines allgemeinen Normbegriffs sind, der die Frage der Kausalität technischer Handlungsregelhaftigkeit eindeutig von der Frage der Verbindung von Handlung und Sanktion über eine 294 295 Ebd., S. 71. Ebd., S. 74. 121 Werner Gephart Zurechnungsregel unterscheidet. Und dabei ist sich Durkheim der Kluft zwischen Sanktion und Handlung durchaus bewußt: »Il y a entre l’acte et sa conséquence une hétérogénité complète ...« Diese Lücke zwischen Handlung und Sanktion transparent zu machen, ist die Aufgabe der Zurechnungslehre. Das Problem ist bei Durkheim mit aller Deutlichkeit gestellt, wenn man die Entwicklung des Normgedankens aus der Rezeption der deutschen Moralwissenschaften der Nationalökonomie, Jurisprudenz und Völkerpsychologie über eine moraltheoretische Kritik des Kantianismus und des Utilitarismus bis zur soziologischen Herleitung der komplexitätsentlastenden Funktion der Normbildung und schließlich einer normlogisch fundierten Konstruktion des sozialen Lebens verfolgt hat. Die Frage der Zurechnung schließt damit eine theoretische Lücke der moralischen, juridischen und religiösen Konzeption des sozialen Lebens. Es ist wohl kein Zufall, daß in der normlogischen Konstruktion der ›Reinen Rechtslehre‹ der Begriff der Zurechnung so zentral ist, aber auch in der soziologischen Hauptstudie Hans Kelsens296 als ›Vergeltung und Kausalität‹ den Schlüsselbegriff einer nunmehr ›Reinen Soziallehre‹ liefert. Wir wollen bei der Lektüre von Fauconnets Studie über die ›Responsabilité‹ diesen sachlichen Zusammenhang im Auge behalten, der wohl auch Kelsen vertraut war; schließlich ist der Kern seiner ethnologischen Argumentation aus der französischen Schule der Soziologie entnommen, die an die Lehren Emile Durkheims anknüpft. 296 Hans Kelsen, Vergeltung und Kausalität, Den Haag; Chicago 1941. 122 Recht als Kultur. VIERTES KAPITEL DAS RECHT IM KONFLIKT DER MODERNEN KULTUR. ZUR THEORIE DES RECHTS BEI GEORG SIMMEL »...von gewissen Grundtatsachen aus logisch entwickelt, in einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird.«297 Zum festen Kanon der Klassiker rechtssoziologischen Denkens gehört Simmel nicht. Es ist dem Simmelschen Werk eher eine antiformale Haltung eigen, auch wenn Simmel die ›Formen des sozialen Lebens‹ zum Kernbereich der Soziologie in seinem Sinne zählt. ›Recht‹ taucht in diesen Bestimmungen und Beispielen nur randständig auf. Wenn für Durkheim das Recht Indikator der sozialen Integration, wenn nicht der eigentliche Motor sozialer Verbindungen ist und Weber das Problem sozialer Ordnung an die Stabilisierung von Erwartungen durch Recht zu lösen sucht, hat sich Simmel von dieser juridischen Sicht des sozialen Lebens befreit. Liegt dies an dem Mangel an juristischer Sozialisation298 oder gibt es hierfür systematische 297 298 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O., S. 525. So weisen ihn die Ausführungen zum Recht in der ›Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe‹ GSG Bd. 3, hrsg. von Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1989, (1892/93) nicht gerade als einen Kenner des geltenden Rechts aus (vgl. etwa S. 378 f. über die Proportionalität von Strafe und Verbrechen, nicht aber ›Vergehen‹ im strafrechtstechnischen Sinne). Hierzu gehören auch abwegige Vorstellungen über den Unterschied von strafrechtlicher und zivilrechtlicher Betrachtungsweise, ebd. S. 380, wobei der letzteren eine ›absolute Gerechtigkeit‹ wenigstens möglich sei, »weil es sich für sie im Wesentlichen nur um Wahrheit oder Falschheit von Behauptungen handelt.« ebd. 123 Werner Gephart Gründe, die in der rechtsfreien Konstitution von Vergesellschaftung begründet sind (1)? Wenn Simmel in den ›mikroskopisch-molekularen‹ Vorgängen des sozialen Lebens seine ›Vitalität‹ begründet sieht (2), dann fragt sich, wie ein Autor, der die Moderne durch seine Zeitlichkeit bestimmt sieht, den Tatbestand der Positivität des Rechts, also seine Veränderbarkeit reflektiert, das sich wie die Mode als ewig geltend gebärdet (3). I. Das ›Recht‹ als soziologisches Apriori? Kommt in Simmels Beantwortung der kantisch formulierten Frage ›Wie ist Gesellschaft möglich?‹ das ›Recht‹ überhaupt vor? Im Unterschied zu der nur im Bewußtsein als Einheit vermittels der Kategorien konstituierten ›Natur‹ ist die Gesellschaft dem individuellen Bewußtsein inhärent: »In ganz andrem Sinne als die äußre Welt ist die Gesellschaft ›meine Vorstellung‹, d.h. auf die Aktivität des Bewußtseins gestellt. Denn die andre Seele hat für mich eben dieselbe Realität wie ich selbst, eine Realität, die sich von der eines materiellen Dinges sehr unterscheidet.«299 Wir begegnen also in der sozialen Welt einem Wesen, das ebenso wie wir selbst konstruiert zu sein scheint, indem wir eine Unterscheidung von ›Natur‹ und Gesellschaft schon in unserer ›natürlichen Einstellung‹ wie die Phänomenologen sagen würden, praktisch vornehmen, eine ganz spezifische Wirklichkeitsregion der sozialen Welt erlebend. (1) Die soziologische Erzählung über die Möglichkeit sozialer Ordnung stellt uns diesen Tatbestand, ebenso konstruierten Wesen wie uns selbst zu begegnen, als Problem der Ordnungsfrage vor.300 Für Simmel folgt aus der damit verbundenen auf den anderen projizierten Unberechenbarkeit 299 300 Georg Simmel, Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich? in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 61983 (1908), S. 21-30 (S. 22 f.). Vgl. auch meine Ausführungen in: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 17-31. 124 Recht als Kultur. und der Kontingenz des Handelns nicht die Vermehrung der Unsicherheiten über Handlungsmotive, den Einsatz von Handlungsmitteln usf., sondern die Tatsache des wie das Ich strukturierten Du schafft gerade eine erhöhte Erkenntnissicherheit: »Aber eben diese Sicherheit hat für uns, begründbar oder nicht, auch die Tatsache des Du; und als Ursache oder als Wirkung dieser Sicherheit fühlen wir das Du als etwas von unserer Vorstellung seiner Unabhängiges, etwas, das, genauso für sich ist, wie unsere eigne Existenz.«301 Dieser Tatbestand der Gleichartigkeit und Differenz des Anderen führt in eine Paradoxie: »Daß dieses Für-Sich des Andren uns nun dennoch nicht verhindert, ihn zu unserer Vorstellung zu machen, daß etwas, das durchaus nicht in unser Vorstellen aufzulösen ist, dennoch zum Inhalt, also zum Produkt dieses Vorstellens wird – das ist das tiefste, psychologisch – erkenntnistheoretische Schema und Problem der Vergesellschaftung.«302 Nur wie soll aus dem Wissen um das ›Fürsichsein‹ des Anderen eine diesen Selbstbezug überschreitende Einheit entstehen? Simmels Antwort liegt darin, daß hier nicht ein einzelnes Subjekt, dem naturerkennenden Akteur vergleichbar vermittels der Kategorien, die synthetische Einheit konstruiert, sondern Gesellschaft selbst die Gesellschaft – als Wechselwirkung ihrer Teile hervorbringt. Und so stellt Simmel die Frage: »Welche Elemente sind in ihnen enthalten, die es ermöglichen, daß ihre Leistung, abstrakt gesprochen, die Herstellung einer gesellschaftlichen Einheit aus den Individuen ist.«303 Eine wesentliche Bedingung hierfür ist bereits angesprochen: das Bewußtsein von der Existenz eines anderen Bewußtseins. Dieses Bewußtsein ist uns freilich nicht unmittelbar gegeben, in seinen Inhalten nur begrenzt zugänglich, letztlich fremd: »Es scheint – so formuliert Simmel – als hätte jeder Mensch einen tiefsten Individualitätspunkt in sich, der von keinem andren, bei 301 302 303 Georg Simmel, Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich? a. a. O., S. 23. Ebd. Ebd. 125 Werner Gephart dem dieser Punkt qualitativ abweichend ist, innerlich nachgeformt werden kann.«304 Dieses Hemmnis, die Fremdindividualität voll zu kennen, bedeutet, daß – nach Simmel – von den wechselnden Maßen dieses Mangels alle Verhältnisse des Menschen untereinander bestimmt sind. (2) Die folgenreiche Lösung dieses fundamentalen Problems der Überbrückung qualitativer Differenzen zum Anderen liegt in einem Mechanismus der Verallgemeinerung und Typisierung, der wechselseitig praktiziert werden muß. Welches nun auch immer die Ursache des Mangels vollständiger Individualitätserfassung sein mag: »Seine Folge ist jedenfalls eine Verallgemeinerung des seelischen Bildes vom andern, ein Verschwimmen der Umrisse, daß der Einzigkeit dieses Bildes eine Beziehung zu andern fügt.«305 Wir nehmen den anderen also in bildhaften Vorstellungen wahr, wir subsumieren ihn unter Vorstellungsbilder, die wir aneinander reihen, ihn also in eine Kategorie, Gattung, einen Typus einordnen. Die aufregendste Entdeckung Simmels besteht darin, daß sich unter diesen Vorstellungsbildern auch das der einzigartigen Individualität befindet: »Gerade aus der völligen Einzigkeit einer Persönlichkeit formen wir ein Bild ihrer, das mit ihrer Wirklichkeit nicht identisch ist, aber dennoch nicht ein allgemeiner Typus ist, vielmehr das Bild, das er zeigen würde, wenn er sozusagen ganz er selbst wäre, wenn er nach der guten oder schlechten Seite hin die ideelle Möglichkeit, die in jedem Menschen ist, realisierte.«306 Wir nehmen also teleologische Ergänzungen vor, auch im Hinblick auf die uneinholbare Einzigartigkeit des anderen, den wir erst im Blick auf ein Eidos seiner Möglichkeiten konstruieren. Nur in Wechselwirkung entsteht hieraus Vergesellschaftung als Ergänzung der Fragmente die wir sind, »nicht nur des allgemeinen Menschen, sondern auch unserer selbst.«307 Diesen fragmentarischen 304 305 306 307 Ebd. S. 24. Ebd. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 25. 126 Recht als Kultur. Charakter der Selbstrealisiertheit des Anderen, finden wir ergänzend in den Ergänzungen und Vervollständigungen anderer wieder. Also eine Art Restaurationsmodell der fragmentarischen Identitäten oder eine Reparaturleistung am Projekt der individuellen Vollendung, an der wir nach Simmel in Permanenz mitwirken sollen. Nur wie vollziehen sich diese Kategorisierungen und Typisierungen des anderen, nach welchen Kriterien und Gesichtspunkten oder ›topoi‹ verläuft diese Generalisierung? Simmel stellt letztlich auf die Einheit einer ›Lebenswelt‹ ab, wenn zu lesen ist: »In den Kreisen der Offiziere, der kirchlichen Gläubigen, der Beamten, der Gelehrten, der Familienmitglieder sieht jeder den anderen unter der selbstverständlichen Voraussetzung: dieser ist ein Mitglied meines Kreises.« Diese nicht diskutierten Voraussetzungen, die suspendierten Zweifel, wie die Phänomenologie sich ausdrücken wird, gründen in der gemeinsam geteilten ›Lebenswelt‹: »Es gehen von der gemeinsamen Lebensbasis gewisse Suppositionen aus, durch die man sich gegenseitig wie durch einen Schleier erblickt.«308 Hebt diese letzte, auf den ›Schleier‹ der Wahrnehmung abzielende, Formulierung auch eher den verzerrenden Charakter der Wahrnehmung hervor, so bleibt für Simmel dennoch klar, daß hinter diesen kategorisierten Typen noch Individualität hervorscheint. Erst aus der Kombination aus uneinholbarer faktischer Einzigartigkeit, idealischer Individualitätserwartung und dem Schnittpunkt der aus bloßer Mitgliedschaft folgenden generalisierten Rollenerwartungen geht vergesellschaftetes Individuum hervor. der Mensch als Somit erhalten wir auch eine Antwort auf die Frage, wie trotz der prinzipiellen Unzugänglichkeit des Fremdpsychischen Vergesellschaftung möglich ist: Indem wir den anderen – wie Simmel so anschaulich formuliert – als ›Mitbewohner derselben besonderen Welt‹ typisieren, unter Verzicht auf die Erfassung 308 Ebd. 127 Werner Gephart der vollen individuellen Bestimmtheit, schaffen wir die eine Seite der Voraussetzungen, unter der Gesellschaft möglich wird, nämlich die gegenläufig radikalisierende Unterstellung der noch nicht realisierten Einzigartigkeit. Diese ist also kein Störfaktor der sozialen Ordnung, nichts der Gesellschaft gegenüber fremdes, kein ›außerhalb‹ der Gesellschaft, »sondern, daß der Einzelne mit gewissen Seiten nicht Element der Gesellschaft ist, bildet die positive Bedingung dafür, daß er es mit anderen Seiten seines Wesens ist: die Art seines Vergesellschaftet-Seins ist bestimmt oder mitbestimmt durch die Art seines NichtVergesellschaftetseins.«309 (3) Das aufgelöste Rätsel der Vergesellschaftung braucht daher kein Recht. Zwar sind wir auf ›Verallgemeinerungen‹ des Bildes vom Anderen angewiesen, diese Generalisierungen, Typisierungen und Kategorisierungen werden von der jeweiligen Lebenswelt mitgeliefert, es sind ›Suppositionen‹, kognitive Schemata, nicht aber die Garantien normativer Erwartungen, aus denen die Möglichkeit von Gesellschaft hervorgeht! Insofern also ist die Wahrnehmung von Recht eher der phänomenologischen Schule verwandt als der normativen Konstruktion sozialer Wirklichkeit.310 Es sind vielmehr die kaum faßbaren, nicht verfestigten Phänomene, die Simmels soziologischen Blick provozieren. Daß von fünf Verhandlungsthemen allein drei, nämlich über ›Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht‹ von Troeltsch, ›Wirtschaft und Recht‹ von A. Voigt und schließlich der Vortrag von Hermann Kantorowicz über ›Rechtswissenschaft und Soziologie‹ der Bedeutung des Rechts für die neu zu gründende Disziplin gewidmet waren, zeigt, wie stark das juridische Element in der Genese der Soziologie in Deutschland von den Gründervätern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eingeschätzt wurde, auch wenn Georg Simmel – 309 310 Ebd., S. 26. Vgl. in Bezug auf Schütz und Mead: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 35-76. 128 Recht als Kultur. wie Weber berichtet – nicht wünschte, daß »die Frage der Stellung des ›Rechts‹ u. seiner Wissenschaft allzu stark präponderierend erscheine...«311, während Weber, Bedenken gegenüber zuviel ›Juristerei‹ erwartend, darauf besteht: »Ich bin dafür, es jetzt zu thun.«312 II. Die rechtsfernen ›Zwischenformen‹ des sozialen Lebens Die Soziologie hatte sich nämlich nach Simmel auf die »gesellschaftlichen Erscheinungen beschränkt, bei denen die wechselwirkenden Kräfte schon aus ihrem unmittelbaren Träger auskristallisiert sind, mindestens zu ideellen Einheiten.«313 Aber nicht nur diese auskristallisierten Formen, zu denen auch das Recht gehört, bestimmen das Erscheinungsbild der sozialen Wirklichkeit auf die Durkheim aus methodologischen und sachlichen Erwägungen die Morphologie des Sozialen beschränken wollte, sondern: »Es bestehen außer jenen weithin sichtbaren, ihrem Umfang und ihrer äußeren Wichtigkeit allenthalben aufdrängenden Erscheinungen eine unermeßliche Zahl von kleineren, in den einzelnen Fällen geringfügig erscheinenden Beziehungsformen und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen, die aber von diesen einzelnen Fällen in gar nicht abzuschätzender Masse dargeboten werden, und, indem sie sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen sozialen Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zustandebringen.«314 Es ist also nicht das ›Recht‹, das die Welt im Innersten zusammenhält, sondern erst die ›mikroskopisch-molekularen‹ Vorgänge sind das »wirkliche Geschehen [...], das sich zu jenen makroskopischen, festen Einheiten und Systemen erst zusammenkettet oder hypostasiert.«315 Dieses ›Pulsieren‹ und ›Fließen‹, das die 311 312 313 314 315 Brief Max Webers an Hermann Kantorowicz vom 18. September 1910 (Max Weber, Briefe 1909-1910, hrsg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Momsen, MWG II/6, Tübingen 1994, S. 613). Ebd., S. 614. Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 14. Ebd., S. 14 f. Ebd., S. 15. 129 Werner Gephart Individuen miteinander verbindet, enthält das triviale Geheimnis des sozialen Lebens: »Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken, und daß sie aufeinander eifersüchtig sind; daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen; daß sie sich, ganz jenseits aller greifbaren Interessen, sympathisch oder antipatisch berühren; daß die Dankbarkeit der altruistischen Leistung eine unzerreißbare bindende Weiterwirkung bietet; daß einer den anderen nach dem Wege fragt und daß sie sich füreinander anziehen und schmücken – all die tausend, von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen, aus denen diese Beispiele ganz zufällig gewählt sind, knüpfen uns unaufhörlich zusammen. In jedem Augenblicke spinnen sich solche Fäden, werden fallen gelassen, wieder aufgenommen, durch andere ersetzt, mit anderen verwebt.«316 Simmels Entdeckung der informalen Prozesse317 des sozialen Lebens bedeutet nun keineswegs, daß er die Augen vor dem ›Formcharakter des modernen Rechts‹ – wie Weber es nennt – verschlösse. Anstelle eines Lobes der Form oder juristischen Dogmatik – wie wir es von Luhmann kennen – findet sich bei Simmel allerdings eine vernichtende Kritik des Rechts als perennierender Form des sozialen Lebens. III. Kritik des Rechts als erstarrter Form des Lebens und die Suche nach dem mystischen Grund des Rechts In der ›Philosophie des Geldes‹, diesem Grundbuch der Moderne, findet sich die Fundamentalkritik des Rechts an eher versteckter Stelle, wo Simmel von der Überlebtheit gewisser Ehevorstellungen spricht: »Nicht anders das Recht: von gewissen Grundtatsachen aus logisch entwickelt, in einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen 316 317 Ebd. Vgl. insbes. Birgitta Nedelmann, Georg Simmel als Klassiker soziologischer Prozessanalysen, in: Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel und die Moderne, Frankfurt am Main 1984, S. 91-115. 130 Recht als Kultur. Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird.«318 Zwar gilt ähnliches für die religiöse Dogmatik, wie Simmel sofort anschließt und zum grundsätzlichen Konflikt der modernen Kultur zwischen Form und Leben generalisiert, das Recht besitzt für Simmel jedoch den besonderen Makel, den lebendigen Prozessen prinzipiell entgegenzustehen, was in Eugen Ehrlichs Konzept des ›lebendigen Rechts‹319 gerade bestritten und rechtspolitisch eingefordert wird. 1. Exkurs: Georg Simmel als Ahnherr der Lehre von der Grundnorm? Simmels Analyse ist nüchtern und gleichzeitig überraschend nahe am rechtstheoretischen Habitus von Kelsen, indem Simmel die Notwendigkeit einer Art Grundnorm postuliert, die er eine ›juristische causa sui‹ nennt: »Für die menschlichen Vergesellschaftungen mag es Normen der Praxis geben, die, von einem übermenschlichen Geiste erkannt, das absolute und ewige Recht heißen dürften. Dieses müßte eine juristische causa sui sein, d. h. seine Legitimation in sich selbst tragen, denn sowie es sie von einer höheren Normierung entlehnte, so würde eben diese, und nicht jenes, die absolute, unter allen Umständen gültige Selbstlegitimation des Rechtsbestimmung Rechts, das 320 bedeuten.« seine eigene Diese Änderung, Ausbreitung und Aufhebung antizipiert, steht in einem unendlichen Ableitungszusammenhang: »Und diese Gültigkeit bezieht er, falls seine Setzung selbst schon eine legitime und keine willkürliche ist, aus einer schon vorher bestehenden Rechtsnorm, aus der die Beseitigung des alten Rechtsinhaltes mit derselben Legalität fließt, wie sein bisheriges Bestehen. Jede Rechtsverfassung enthält also in sich die Kräfte – und zwar nicht nur die äußerlichen, sondern auch die 318 319 320 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O., S. 525. Vgl. Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, München, Leipzig 1913. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O., S. 66. 131 Werner Gephart idealrechtlichen – zu ihrer eigenen Änderung, Ausbreitung oder Aufhebung, so daß z. B. dasjenige Gesetz, das einem Parlamente die Gesetzgebung überträgt, nicht nur die Legitimität eines Gesetzes A bewirkt, das ein von demselben Parlament gegebenes Gesetz B aufhebt, sondern es sogar zu einem rechtlichen Akte macht, wenn das Parlament auf seine Legislation zugunsten einer anderen Instanz 321 verzichtet.« Das heißt: legal-rationale Geltung ergibt sich nur aus dem Bezug auf ein anderes Recht, oder: »Jedes Gesetz besitzt seine Würde als solches nur durch sein Verhältnis zu einem anderen Gesetz, 322 keines hat sie durch sich selbst.« Das unabänderliche Naturrecht ist also eine Illusion, das ›in sich selbst ruhende Recht‹ bleibt auf die Ableitungsbeziehung auf anderes Recht angewiesen. 323 In einem Brief an Jodl hatte Simmel bereits ähnliche Überlegungen formuliert: Gerade dieser notwendige Geltungsverweis auf anderes, höherrangiges Recht, könne – ohne als Rechtsinhalt verewigt zu werden – zu einer Bedingung der Möglichkeit von Recht, also einem juristischen Apriori erhoben werden: »Wenn man nämlich auch alle Metaphysik des Rechts verwirft, so kann dabei doch noch ein Apriori des Rechts bestehen bleiben, grade wie man mit Kant zwar keine Metaphysik der Natur, wohl aber ein über der Erfahrung stehendes Apriori anerkennen kann, das die Erfahrung erst möglich macht.« In dieser Richtung ließe sich das ›Naturrecht‹ deuten: »Nur ist freilich die Frage, ob das Apriori des Rechts selbst schon als Recht bezeichnet werden darf. Es war, nach meiner Auffassung von Kant, einer seiner hauptsächlichen u. durch seine rationalistische Tendenz veranlaßten Irrthümer, daß ihm das Apriori der Erkenntniß selbst schon als unmittelbare Erkenntniß, das Apriori der Begriffe als Begriff galt. Diesen Fehler begeht das Naturrecht, wenn es die überrechtlichen Bedingungen der Rechtsvorstellungen zu einem Recht selbst machen 324 will.« 321 322 323 324 Ebd. Ebd. Christian Köhnke hat mir als Herausgeber der Simmelbriefe freundlicherweise den Brief vom 3. Juli 1893 an Friedrich Jodl nebst Kommentierung zur Verfügung gestellt. Ebd. 132 Recht als Kultur. Während Kelsen nun aus logischen Gründen dem infiniten Regreß 325 eine nicht mehr abgeleitete ›Grundnorm‹ entgegenstellt, legt Simmel den Ursprung des Rechts außerhalb des Rechts in ein Gewaltverhältnis. So gibt es »absolut und relativ vorrechtliche Zustände, in denen ein empirisches Recht aus Gewalt- oder anderen Gründen gesetzt wird. Allein das wird eben nicht rechtlich gesetzt; es gilt wohl als Recht, sobald es da ist, aber daß es da ist, ist keine rechtliche Tatsache; es fehlt ihm die Dignität alles dessen, was sich 326 auf ein Gesetz stützt...« Mit dieser Würdelosigkeit der Faktizität gibt sich Herrschaft jedoch nicht ab: »...und es ist tatsächlich das Bestreben jeder Macht, die ein solches rechtloses Recht setzt, irgendeine Legitimierung desselben aufzufinden oder zu fingieren, d. h. es aus einem bereits bestehenden Rechte herzuleiten – gleichsam eine Huldigung an jenes absolute Recht, das jenseits alles relativen steht und von diesem niemals ergriffen werden kann, sondern für uns nur in der Form einer kontinuierlichen Ableitung jeder aktuellen Rechtsbestimmung 327 findet.« von einer davorliegenden sein Symbol In der Denkfigur des ›rechtlosen Rechts‹ ist also durchaus die Idee einer Dignität des Rechts aufbewahrt, die freilich ihre normative Legitimation soweit aus dem Bezug auf höherrangiges Recht schöpft als nicht im Ursprungsakt der Rechtsetzung aus empirischen Gründen auf rechtloses Recht der Gewalt rekurriert wird, das keine Rechtfertigung in sich trägt als die Faktizität der empirischen gewaltförmigen Geltung. *** 325 326 327 Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, 1. Aufl. Leipzig und Wien 1934, insbes. S. 66 ff.; zur Aktualität Kelsens verweise ich nur auf den jüngsten Sammelband Normativity and Norms. Critical Perspectives on Kelsenian Themes, hrsg. Von Stanley Paulson u. Bonnie LitschewskiPaulson, Oxford 1998. Darin zur Grundnorm insbes.: Joseph Raz, Kelsen’s Theory of the Basic Norm, S. 48-67. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O. , S. 67. Ebd. 133 Werner Gephart Recht weist also auf einen nicht einlösbaren Legitimitätsanspruch hin, der den Ursprung der Gewalt kaschiert und sodann eine Starrheit erreicht »durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird.«328 Nur worin sollte überhaupt seine ›Vernunft‹, seine ›Wohltat‹ bestehen? Simmel sieht die Wohltat des Rechts in seinem ›Werkzeugcharakter‹: Durchaus im Sinne überkommener Staatslehren führt Simmel in der Philosophie des Geldes aus: »Ganz abgesehen von dem Allerallgemeinsten: daß das Teilhaben am Staat durch den äußeren Schutz, den er gewährt, überhaupt die Bedingung für die Mehrzahl individueller Zweckhandlungen ist – so verschaffen etwa die besonderen Einrichtungen des Zivilrechts dem Wollen des Einzelnen Realisierungsmöglichkeiten, die ihm sonst völlig versagt blieben.«329 Simmel hegt also keineswegs die Illusion einer rechtsfreien Sozialität. Staat und Recht erweitern das ›Zweckhandeln‹ des Menschen.330 Die zivilrechtlichen Institute erweitern den Handlungsraum des einzelnen, indem sich zwischen das Handlungsziel und den zu erreichenden Zweck, ein Mittel, ein ›Werkzeug‹ schiebt: »Indem sein Wille den Umweg über die Rechtsform des Vertrags, des Testaments, der Adoption usw. einschlägt, benutzt er ein von der Allgemeinheit hergestelltes Werkzeug, das seine eigene Kraft vervielfältigt, ihre Wirkungslinien verlängert, ihre Resultate sichert.«331 Insofern gehört das Recht wie das Geld in die ›Zweckreihen‹ des Menschen. Letzteres drückt dem Recht der geldwirtschaftlichen Gesellschaft seinen eigenen Stempel auf: Das Recht reflektiert den ›absoluten Bewegungscharakter des Geldes‹, wie Simmel an der zivilrechtlichen Sonderstellung des 328 329 330 331 Ebd., S. 525. Ebd., S. 204. Die Nähe zum Weberschen Idealtypus zweckrationalen Handelns ist verblüffend. Vgl. insbesondere das dritte Kapitel der Philosophie des Geldes, a. a. O., S. 197 ff. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O., S. 204. 134 Recht als Kultur. Geldes zeigt: Auch das gestohlene Geld unterliegt nicht einer Rückgabepflicht an den Eigentümer der Geldstücke oder der Geldscheine, sobald es in den Rechtsverkehr gelangt ist. Mit der Ausdehnung dieser römischrechtlichen Tradition auf handelsrechtliche Geschäfte teile sich das Umlauftempo des Geldes an die Warenzirkulation mit: »Das bedeutet also: die Zirkulationsbeschleunigung im Warenverkehr nähert jede Ware dem Charakter des bloßen Geldes an, läßt sie nur als Geldwert funktionieren und unterwirft sie deshalb nur den Bestimmungen, welche das Geld zum Zweck der Leichtigkeit seines Verkehrs fordern muß!«332 Simmels Bild des Rechts ist also ambivalent: Erweiterung der Zweckreihen und zugleich Verselbstständigung seiner Zweckinhalte, Erstarrung zu bloßen Formen bei gleichzeitiger Veränderbarkeit des Rechts einer Moderne, das durch sein Tempo gekennzeichnet ist. Ein über dem positiven Recht schwebendes, ewiges, überzeitliches Recht ist eine bloße Legitimitätsvorstellung, die den Tatbestand der legitimatorischen Relationalität des Rechts in der Idee eines in sich selbst ruhenden Rechts ausdrückt, das die juristische causa sui enthalten müsse. Nur wie diese erstarrten durch Legitimitätsdefizite gekennzeichneten Institutionen in den von Simmel so anschaulich beschriebenen Verflechtungszusammenhang des sozialen Lebens – die »unermeßliche Zahl von kleineren, in den einzelnen Fällen geringfügig erscheinenden Beziehungsformen und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen«333 eingebunden ist, dieses bedürfte doch auch eines aufmerksamen soziologischen Blicks. Weil diese Fragestellung mit grundlegenden Wandlungsprozessen der Moderne, der sozialen Differenzierung und der quantitativen Ausweitung der Gruppe zu tun hat, ist dieses auch der theoretische Ort, an dem Simmel 332 333 Ebd., S. 581. Georg Simme, Soziologie, a. a. O., S. 14f. 135 Werner Gephart diese Fragen aufnimmt. Das Recht gehört nämlich zu den Einrichtungen, die als Kompensation der persönlich und unmittelbar strukturierten Gebilde auftritt, die kleinen Kreisen eigen ist. Mit der Ausweitung der sozialen Kreise tritt also ein Bedarf an ›Trägern gesellschaftlicher Einheit‹ hervor, der die personalen Bande überschreitet: »Zu diesem Zwecke erwachsen Ämter und Vertreter, Gesetze und Symbole des Gruppenlebens, Organisationen und soziale Allgemeinbegriffe.«334 Das Recht gehört also in diese Reihe der unpersönlichen Strukturen, die auch in Webers Vision der Moderne als bürokratische Herrschaft oder verallgemeinert als ›Herrschaft der Unpersönlichkeit‹ insbesondere in der ›Zwischenbetrachtung‹ den persönlichen Handlungssphären gegenübergestellt wird. Sehr genau benennt Simmel diese Kosten der quantitativen Zunahme der Gruppe, die ihre Einheit »nur um den Preis einer weiten Distanz all dieser Gebilde von dem Einzelnen, seinen Anschauungen und Bedürfnissen, die in dem sozialen Leben eines kleinen Kreises unmittelbare Wirksamkeit und Berücksichtigung finden«335, erringen kann. Wo Durkheim noch eine prinzipielle Vereinbarkeit von Bedingungen der Normgenerierung in der Überschaubarkeit sozialer Lebenszusammenhänge und der Ausweitung der Normprojektionen auf eine universalistische Rechtsgemeinschaft für möglich hielt, ist die Distanz das Schicksal der sich ausweitenden Gesellschaft. Und diese quantitativen Bestimmungen machen den in der ›Zwischenbetrachtung‹ von Weber konstatierten Widerspruch zur tragischen Voraussetzungen der Vergesellschaftung: »Die Beziehungen von Person zu Person, die das Lebensprinzip kleiner Kreise bilden, vertragen sich nicht mit der Ferne und Kühle der objektiv-abstrakten Normen, ohne die der große nicht bestehen kann.«336 Aus dem ›Pathos der Distanz‹ ist ein Leiden an der ›Ferne‹ und ›Kühle‹ der ›objektiv-abstrakten Normen‹, 334 335 336 Ebd., S. 39. Ebd. Ebd. 136 Recht als Kultur. des Rechts also geworden. Auch wenn das Recht – wie wir oben sahen – nicht zu den Aprioris eines jeden sozialen Kreises gehört, die in dem berühmten Exkurs ja gerade auf die soziale Nahbeziehung gemünzt sind, so tritt es zwangsläufig mit der Ausweitung der sozialen Kreise als notwendiges Schicksal einer kalten Gesellschaft der Ferne auf!337 Simmel ist jedoch von der Illusion einer normfreien Sozialität, wie sie bei Marx zu finden war338, weit entfernt. Auch der überschaubare Kreis, bis hin zur Dyade, ist nicht nur in seiner Tatsächlichkeit, sondern auch als Ort der Genese von Normen, unter der Kategorie des Sollens, behandelt. Nur in Andeutungen setzt sich Simmel von einer in Ethnologie und Soziologie verbreiteten Auffassung ab, nach der in der Sitte der Ursprung von Recht und Moral liegen solle, einer ungeschiedenen Einheit, aus der sich weitere Normarten herauskristallisiert hätten. Vielmehr liege der Ursprung des Sollens in dem Bezug zum Anderen. Dieser Andere aber liege in uns selbst: »Nur daß das zweite Subjekt, mit dessen Gegenüberstehen sich in dem Einzelnen die Verhaltungsform der Moral entwickelt, in diesem selbst gelegen ist; mit derselben Spaltung, durch die das Ich zu sich sagt: ich bin – indem es sich selbst, als ein wissendes Subjekt, sich selbst als einem gewußten Objekt gegenüberstellt – sagt es auch zu sich: ich soll.«339 Diese fundamentale Vorstellung des Anderen, der hier nicht nur als Mitglied eines sozialen Kreises typisierend und individuierend erfaßt wird, sondern als Quelle normativen Sollens, dieser Andere ist geschuldet der »fundamentalen Fähigkeit unseres Geistes, sich selbst gegenüberzutreten und sich selbst wie einen andern 337 338 339 Simmel behandelt auch den Fall, in dem der Übergang zur Rechtsform erst die Ausweitung des Kreises bedingt, also die Vereinigung verschiedener Kreise zum Zwecke der Extension gemeinsamen Rechts (Vgl. Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 44). Sowohl der Einigungsprozeß als auch die europäische Rechtsangleichung dürften in diesem Licht gesehen werden. Vgl. Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O. Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 41. 137 Werner Gephart anzuschauen und zu behandeln, innerhalb der individuellen Seele selbst.«340 Die Auffächerung der Normarten richtet sich nicht nach der jeweiligen Qualität des Anderen, sondern nach dem Charakter der Sanktionsmittel. Das Recht weist äußere Organe zur Normkonkretisierung und Erzwingung äußeren Verhaltens und der Konkretisierung von Normen auf, die sich auf die ganz unabänderlichen Voraussetzungen des Gruppenlebens zu beschränken habe. Die innere Sittlichkeit hingegen sei nicht heteronom, sonder autonom bestimmt und nur der Exekutive des Gewissens unterworfen. Hieraus ergibt sich dann auch die Funktionsbestimmung der Sitte, durch die sich ein sozialer Kreis das erwünschte Verhalten sichert, wo der Rechtszwang unzulässig oder undurchführbar ist und auf die innere soziale Kontrolle des Gewissens kein Verlaß ist. Somit also stellt die Sitte das Bindeglied, die Zwischenform zwischen dem personalen Band überschaubarer sozialer Kreise und der Ferne der Rechtsgesellschaft dar. Unsere Vermutung hat sich also bestätigt, daß Simmels antiformalistische Rechtskritik nicht gleich den Tatbestand des Sollens als regulierender Instanz des sozialen Lebens verschwinden läßt und ihn andererseits auch nicht in die Untiefen der individuellen Sittlichkeit verlegt, gerade unter den sozialitätsgefährdenden Bedingungen eines ›individuellen Gesetzes‹341, das Simmel zu vermitteln sucht: »Fast alle Sitte ist Standes- oder Klassensitte; ihre Äußerungsweisen, als äußeres Benehmen, Mode, Ehre, beherrschen immer nur je eine Unterabteilung des größten Kreises, dem das Recht gemeinsam ist, und haben in dem benachbarten schon wieder einen andern Inhalt.«342 Während die Rechtsform der Gesellschaft auf der quantitativen Ausweitung der sozialen Kreise beruht, ist die Ehre ein Element 340 341 342 Ebd., S. 41. Vgl. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hrsg. von Michael Landmann, Frankfurt a.M. 1968. Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 43. 138 Recht als Kultur. der Selbsterhaltung der sozialen Gruppe. In der Auseinandersetzung um Simmels Beitrag in der Année sociologique ›Comment les formes sociales se maintiennent‹ war gerade die Passage über die Ehre zwischen Durkheim und Simmel strittig gewesen.343 Wenn man darüber rätselt, warum gerade diese Passage das Mißfallen Durkheims hervorgerufen hat, dann läßt sich sehen, daß Simmel an die ›Ehre‹ diejenigen Funktionen abtritt, die Durkheim in den Zeiten eines Polymorphismus der Moralen für die Integrationskräfte der Moral reserviert hatte: »Indem die Gesellschaft die Gebote der Ehre aufstellt und sie mit teils innerlich subjektiven, teils sozialen und äußerlich fühlbaren Konsequenzen gegen Verletzung sichert, schafft sie sich eine eigenartige Garantieform für das richtige Verhalten ihrer Mitglieder auf denjenigen praktischen Gebieten, die das Recht nicht ergreifen kann und für die die nur gewissensmäßigen Garantien der Moral zu unzuverlässig sind.«344 Dies ist für den Moralisten nicht akzeptabel, zumal in die Deutung der Ehre ein Moment der Grenzverwischung hineingerät, ein innergesellschaftlicher Relativismus, der die Ehren des Kaufmanns und des Offiziers auseinanderfallen läßt und sogar in Widerspruch zueinander bringt. Für Simmel ist dies nicht irritierend; denn für ihn zählt nicht die widerspruchsfreie Reinheit im Reich des Normativen, sondern die Funktion: »Untersucht man nämlich die Vorschriften der Ehre auf ihre Inhalte hin, so zeigen sie sich durchgehends als Mittel für die Erhaltung eines sozialen Kreises 343 344 Vgl. hierzu Werner Gephart, Soziologie im Aufbruch. Zur Wechselwirkung von Durkheim, Schäffle, Tönnies und Simmel, a. a. O. Über die Auslassung des Abschnitts über die einheitsstiftende Rolle der sozialen ›Ehre‹ ist zwischen Durkheim und Simmel am Ende wohl Einverständnis erzielt worden: Vgl. einerseits den Brief vom 16. Okt. 1897, abgedr. in: Revue française de sociologie, Jg. 16, 1976, S. 168 und andererseits den Brief vom 25. Okt. 1897, abgedr. in: Textes, Bd. 2, a. a. O., S. 412 f. Nur in einem engherzigen Verständnis fallen diese Überlegungen aus Durkheims Programm heraus: die quasiutilitaristische Verbindung von Individual- und Sozialinteresse. Wenn überhaupt, dann hat eher ein anderes Moment zu Irritationen Anlaß gegeben: die Möglichkeit des Konflikts unterschiedlicher ›Ehren‹ der ausdifferenzierten sozialen Kreise, der ›Polymorphismus der Ehren‹. Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 403. 139 Werner Gephart in seinem Zusammenhalt, seinem Ansehen, der Regelmäßigkeit und Fördersamkeit seiner Lebensprozesse.«345 Sie sind integrationsstiftend, reputationsförderlich und für die Sonderinteressen der jeweiligen Gruppe vitalisierend. Als Folge der Kreuzung sozialer Kreise kann der einzelne dann durchaus an unterschiedlichen ›Ehren‹ teilhaben. Soweit freilich seine Funktionsweise darauf beruht, daß dem Inhaber der ›Ehre‹ seine Bewahrung als ›innerlichstes, tiefstes, allerpersönlichstes Eigeninteresse‹ insinuiert wird, liegen hierin auch Grenzen der Kompatibilität widerstreitender Ehrbegriffe. Dies ist freilich das soziologische Wunder der Ehre, die Bewahrung einer reinen sozialen Zweckmäßigkeit zur Selbsterhaltung der Gruppe zum inneren Bedürfnis des Individuums zu machen: »Es gibt vielleicht keinen Punkt, an dem sich das Sozial- und das Individualinteresse derartig verschlingt, wo ein Inhalt, der allein aus dem ersteren verständlich ist, eine imperativische Form angenommen hat, die allein aus dem letzteren zu quellen scheint.«346 Und nur deshalb ist der scheinbar personale Mechanismus der Verteidigung einer ›Ehre‹, die rein präsumtiv auch dem Verleumder oder Ehebrecher zugesprochen wird, zugleich systemerhaltend, solange ›Ehrenhändel‹ und ›Zweikampf‹ ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen aufweisen, nämlich diejenigen einer über Standesehren segmentierten Gesellschaft, deren schärfstes Exklusionsprinzip die Behauptung mangelnder Satisfaktionsfähigkeit ist! In der Gesellschaft der Simmelschen Individuen weiten sich die normativen Kreise über die individuelle Sittlichkeit hinaus, die Sitte, einschließlich der soziale Kreise integrierenden Ehre umfassend, auf die Interdependenzketten der Gesellschaft hin aus, die personale Grenzen der unmittelbaren Wechselwirkung überschreiten. Ist auch hier ein ungetrübtes Reich des Normativen, wie es Durkheim in seinem Modell der Vermaschung partikularer und universalistischer Moralen anvisiert? 345 346 Ebd., S. 403 f. Ebd., S. 405. 140 Recht als Kultur. Das Recht ist eine Sphäre der Moderne, wie Simmel sie versteht: In der Dialektik von Individualinteresse und Gruppenbindung, dem normativen Schein der Ewigkeit und der Faktizität des permanenten Wandels ähnelt es der Mode, die sich dem einzelnen aufzwängt. Freilich übersteigt die Verselbständigung der Form gegenüber dem Leben im Recht all die Beispiele, die Simmel für den Konflikt der modernen Kultur verantwortlich macht. Wenn es eine ›Gesamtnot der Kultur‹ gibt, »in der das Leben die Form als solche wie etwas ihm Aufgedrungenes empfindet[...]«347, dann erfüllt das Recht diese negativen Voraussetzungen. So findet sich nicht zufällig in den ›Lebensanschauungen‹ der Topos der Pathologie der Moderne wieder, der schon in der ›Philosophie des Geldes‹ den schlechten Stil des Lebens gekennzeichnet hatte.348 Zu den lebensfeindlichen Formen gehören danach in den vier metaphysischen Kapiteln der Moderne »›Gesetz und Recht‹, die sich wie eine ewige Krankheit forterben, weil sie für das Leben, dem sie ursprünglich Vernunft und Wohltat waren, bei seiner Fortentwicklung zu Unsinn und Plage werden...«349 Im Konflikt der modernen Kultur ist das Recht Paradigma der Herrschaft der Form über die Kräfte des sozialen Lebens, so sehr die quantitative Ausweitung der Gruppe auch die unpersönliche Form des Rechts erforderlich macht und die Ableitungsketten seiner normativen Gültigkeit verlängert bis zu 347 348 349 Georg Simmel, Der Konflikt der Kultur. Ein Vortrag, München und Leipzig 1918. Vgl. die eingangs zitierte Formulierung aus der ›Philosophie des Geldes‹ (S. 525). Georg Simmel, Lebensanschauung, Vier metaphysischen Kapitel, Münschen 1918, S. 161. 141 Werner Gephart dem Punkt, in dem das Recht als illusorische causa sui auf Außerrechtliches verweist, den gewaltförmigen Grund des Rechts. Diese Grundfrage werden wir im Schlußkapitel aufnehmen als Frage nach dem ›Grund‹ des Rechts. 142 Recht als Kultur. II. ANWENDUNGSFELDER FÜNTE VORLESUNG DIE NORMALITÄT VON BETTLERN, GAUKLERN UND LEPRÖSEN IN DER SYMBOLISCHEN ORDNUNG MITTELALTERLICHER GESELLSCHAFTEN Auf den ersten Blick ist man mit Emile Durkheims Theorie von Strafe und Verbrechen an der völlig falschen Adresse, wenn man die rechtshistorische Devianzforschung350 zu mittelalterlichen Gesellschaften soziologisch anvisieren möchte. So scheint Durkheim dem historischen Denken eher abhold,351 allenfalls evolutionistisch gesinnt und weit entfernt von den Differenzierungsmöglichkeiten einer 352 ›Gesellschaftsgeschichte‹. Vielleicht wäre es klüger, die Verwendungsmöglichkeit soziologischer Arbeit erst gar nicht mitdiskutieren zu wollen, um sich auf die – vermeintliche, Sicherheit des Faches der Soziologie zurückzuziehen. Wenn man nicht so verfahren kann, so liegt das natürlich an dem nach wie vor imperialen Anspruch von Soziologie, auch die Folgen der Anwendung soziologischen Wissens kontrollieren zu wollen. Es gibt aber auch ein starkes soziologisches Motiv, die historische Devianzforschung aus genuinem Interesse zu verfolgen. Es ist in der trivialen Einsicht begründet, daß uns die Definition des Verbrechens und die Reaktion der Normalen 350 351 352 Vgl. Dirk Blasius, Kriminalität und Geschichtswissenschaft. Perspektiven der neueren Forschung, in: Historische Zeitschrift 233, 1981, S. 615-626. Robert N. Bellah hat dem schon früh widersprochen, vgl. Robert N. Bellah, Durkheim and History, in: American Sociological Review 24, 1959, S. 447-461; schließlich ist das soziologische Erbe Durkheims in Frankreich vor allem in der Annales-Schule sichtbar. Vgl. den Beitrag von Hans-Ulrich Wehler, Gesellschaftsgeschichte und Rechtsgeschichte, in: Rechtshistorisches Journal 8, 1989, S. 181-194. 143 Werner Gephart elementare Auskünfte über die jeweilige Gesellschaft zuspielt. Wer also soziologisch an der Struktur mittelalterlicher Gesellschaften interessiert ist, muß den gesellschaftlichen Formen kollektiver Devianz eine besondere Aufmerksamkeit entgegenbringen. Warum aber gerade Durkheim und nicht Tönnies, Simmel, Weber oder Tarde, wenn man schon auf den Schultern der Riesen bauen will? Inwiefern also soll gerade Durkheims Perspektive zu Strafe und Verbrechen für die mediävistische Devianzforschung fruchtbar sein? Der angeblich ahistorische Durkheim ist allerdings gerade für sein vermeintlich ›romantisches‹ Verhältnis zum Mittelalter arg kritisiert worden. Sein Modell der ›groupements 353 professionels‹ bedient sich nämlich in der Geschichte der Zünfte und Gilden, was ihm einen nachhaltigen Konversativismusvorwurf eingebracht hat. Und das Hauptargument seiner berühmten Normalitätsthese ist am Beispiel des mittelalterlichen Klosters entwickelt, wie wir sehen werden. Also doch ein – vielleicht zentraler – Bezug Durkheims zum Mittelalter? Wenn wir alles schön der Reihe nach behandeln wollen, wie es von der Ordnung des Diskurses verlangt wird, dann ergibt sich folgender Argumentationsablauf: Zunächst sind Grundzüge von Durkheims Theorie von Strafe und Verbrechen für die Zwecke dieser Fragestellung darzulegen (I), um diese Perspektive anschließend auf einige Beispiele für die mediävistische Devianzforschung anzuwenden (II). Am Ende wird angedeutet, welchen Problemen sich die Soziologie zu stellen hätte, wenn sie das Mittelalter als ihr eigenes Forschungsfeld entdecken würde. I. Grundzüge der Durkheimschen Theorie von Strafe und Verbrechen Die soziologische Devianzforschung lebt von einer wissenschaftsgeschichtlichen Legende. Im Bemühen, Ordnung 353 Vgl. die Zweite Einleitung zur ›De la division du travail social‹ , Paris 1902 (1893). 144 Recht als Kultur. in das Chaos der Verbrechenstheorien zu bringen, nimmt man eine duale Klassifikation von sog. ätiologischen und prozessualen Theorien vor.354 Durkheim gilt danach als Begründer der Anomietheorie, die als zentraler Ansatz des ätiologischen Ansatzes gehandelt wird. Diese Deutung ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Zunächst ist Durkheim nur schwer ein allgemeiner Begriff von ›Devianz‹ zu entlocken; sein Bezug ist das ›Verbrechen‹. Dieses aber wird durch die strafende Reaktion der Gesellschaft erst konstituiert, Durkheim wäre danach also ein Etikettierungstheoretiker und nicht Begründer einer ätiologisch verfahrenden ›Anomietheorie‹, die im übrigen explizit auf die Erklärung von Selbstmordraten, aber nicht jede Art von Devianz zugeschnitten ist.355 Es ist also zunächst von den lehrbuchartigen Darstellungen einer Durkheimschen Devianztheorie Abschied zu nehmen, um den Kern seiner Straf- und Verbrechenslehre herauszupräparieren. 1. Das Verbrechen wird durch die ›Reaktion der Normalen‹ konstituiert. Diese These wird in der ›Division du travail social‹ aus einer gesellschaftsgeschichtlichen Motivation heraus formuliert. Durkheim möchte den Wandel gesellschaftlicher Solidarität über die Entwicklung vom repressiven zum restitutiven Recht indizieren. Dafür benötigt er einen Verbrechensbegriff, der die historisch kontingenten Varietäten überschreitet, weil sich aus der unendlichen Aufzählung der inkriminierten Handlungen kein gemeinsamer Begriff herausschälen läßt: »Ces variations du droit répressif prouvent en même temps que ce caractère constant ne saurait se trouver parmi les propriétés intrinsèques des actes imposés ou prohibés par les règles pénales, puisqu’ils présentent une telle diversité, mais dans les rapports qu’ils 354 355 Einen guten Überblick grundlegender Ansätze liefert nach wie vor der Sammelband von Fritz Sack und René König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt am Main 1968. Inwieweit dennoch Übertragungen möglich sind, habe ich in ›Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims‹, a. a. O., Erster Teil, drittes Kap. dargelegt. 145 Werner Gephart soutiennent avec quelque condition qui leur est extérieure.«356 Durkheim versucht im einzelnen darzulegen, daß weder die ›objektive‹ Sozialschädlichkeit noch ihre kollektive Definition ein taugliches Kriterium liefert, sondern allein die ›von außen‹ kommende gesellschaftliche Reaktion. So heißt es: »En effet, le seul caractère commun à tous les crimes, c’est qu’ils consistent – sauf quelques exceptions apparantes ... en des actes universellement réprouvés par les membres de chaque société.«357 Damit scheint Durkheim gar der extremen von Sack358 vertretenen Etikettierungstheorie zuzuneigen, die ausschließlich im Akt der mißbilligenden Etikettierung das Verbrechen begründet sieht, also die Strafe erst das Verbrechen konstituiert und nicht die Strafe als eine Reaktion auf das Verbrechen deutet. Nun lenkt Durkheim in einem für unseren Kontext wichtigen Schwenk von der strafenden Reaktion auf die vorgängige Verletzung von ›Gefühlen‹ zurück, die sich im Akt der Bestrafung Ausdruck verschaffen. Aber auch hier scheint sich dann das Problem der Enumerierung von inkriminierten Handlungen nur zu wiederholen, indem nunmehr eine Liste der verletzten Gefühle aufgestellt werden müßte: »On ne saurait donc dresser une liste des sentiments dont la violation constitue l’acte criminel; ils ne se distinguent des autres que par ce trait, c’est qu’ils sont communs à une même société.«359 Welcher Grad von Allgemeinheit aber wird für die Verletzung kollektiver Gefühle verlangt? Es muß sich um – wie Durkheim sagt – zentrale Zonen der ›conscience collective‹ handeln. 356 357 358 359 Emile Durkheim, De la division du travail social, Paris 1973 (1893), S. 36. Ebd., S. 39. Vgl. Fritz Sack, Definition von Kriminalität als politisches Handeln: Der ›labeling approach‹, in: Kriminologisches Journal 4, 1972, S. 3-31. Das heißt, es fallen primäre und sekundäre Abweichung (Edwin M. Lemert) zusammen. Emile Durkheim, De la division du travail social, a. a. O., S. 40. 146 Recht als Kultur. »Nous pouvons donc, résumant l’analyse qui précède, dire d’un acte est criminel quand il offense les états forts et définis de la conscience collective.«360 Das Verbrechen besteht also in der Verletzung zentraler Bereiche der ›conscience collective‹, die durch entsprechende Reaktionen ihrer Agenten manifestiert wird. Die Sachwalter der conscience collective definieren also – im Namen des geteilten Wert- und Normbewußtseins – all diejenigen, die sich ihrer Definitionsmacht zu entziehen suchen. Die Verletzung kollektiver Gefühle zieht emotiv geprägte Sanktionen expressiver Art auf sich, die einen tiefen Graben zwischen den Vertretern der ›conscience collective‹ und ihren Gegnern aufwerfen. So scheint über den Begriff des Verbrechens, der durch die Verletzung der normalen, eben allgemein geteilten kollektiven Gefühle und entsprechender Sanktionen der Allgemeinheit konstituiert wird, eine Aufteilung der sozialen Welt in das Reich der ›Normalen‹ und die Sphäre der ›Anormalen‹ unausweichlich. Durkheims These von der ›Normalität‹ des Verbrechens kehrt diesen dualen Schematismus überraschenderweise wieder um. 2. Das Verbrechen ist nämlich ein ›normales‹ Phänomen des sozialen Lebens. Die Reaktion der ›Normalen‹ konstituiert demnach nicht das schlechthin Andere, sondern das Vorkommen dieser Differenz wird selbst als ein ›normaler‹ und nicht etwa ›pathologischer‹ Zustand des sozialen Lebens begriffen. Diese berühmte These der ›Normalität‹ des Verbrechens wird nur ein Jahr nach der Publikation der ›Division du travail social‹ in den ›Règles de la méthode sociologique‹361 vorgestellt. Dieser Kontext ist nicht unwichtig, denn die These von der Normalität des Verbrechens wird nicht als ein bloßes Gedankenspiel, ein moralischer Grenzgang oder gar als eine 360 361 Ebd. Vgl. Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, in: Revue philosophique 37, 1894, S. 465-498, S. 577-607, S. 14-39, S. 168-186; erschien mit einem Vorwort in der bibliothèque de philosophie contemporaine, Paris 1895. 147 Werner Gephart Verherrlichung des Verbrechens vorgestellt, sondern als zwangsläufiges Produkt methodisch geleiteter Operationen. Gerade entgegen dem Alltagsverstand, gerade weil der ›gesunde‹ Menschenverstand oder schlicht: die ›conscience collective‹ einer solchen Annahme widerspricht, erweist sich an diesem Beispiel die Autonomie der von Durkheim postulierten Soziologie als Wissenschaft. Die These der ›Normalität‹ des Verbrechens wird in folgenden Schritten begründet: (1) Zunächst behauptet Durkheim, daß Verbrechen universell auftreten. Keine Gesellschaft – auch nicht die ›sozialistische‹ müssen wir hinzufügen – könne das Verbrechen eliminieren. Historisch zeige gerade der Wechsel der Formen, wie universell das Phänomen sei. Die inkriminierten Handlungen sind unter historisch und kulturell vergleichendem Blickwinkel im Wandel. Aber: »Partout et toujours, il y a eu des hommes qui se conduisaient de manière à attirer sur eux la répression pénale.«362 Aufgrund der oben gezeigten Verquickung von ätiologischem und prozessualem Verbrechensbegriff impliziert die Unterthese der Universalität des Verbrechens also zweierlei: einmal die universelle Verbreitung von Handlungen, die sich im Widerspruch zum allgemeinen Wert- und Normbewußtsein befinden, sowie die Universalität repressiver Sanktionen. Allein dieser Tatbestand würde es nach Durkheim verbieten, das Verbrechen unter die pathologischen Phänomene des sozialen Lebens zu rechnen. Sonst müßte man auch die ›Krankheit‹ als natürliches, mit der Erscheinung rechnen. Existenz des Lebens verbundene Nur wie hat man sich zu erklären, daß Verbrechen, die von der ›conscience collective‹ verdammt werden, dennoch zu den ›normalen‹ Bedingungen des sozialen Lebens zählen? Ist dies eine säkularisierte Form des biblischen Sündenfalls, der ja schließlich seine theologische Funktion besitzt? Ist auch das 362 Ebd., S. 82. 148 Recht als Kultur. soziale Leben durch den Makel des Verbrechens befleckt? Durkheim hat diese Frage einer Soziodizee nicht explizit gestellt. Seine Überlegungen sind jedoch in diesem religiösen Denkmuster formulierbar. Durkheim stellt zwei Argumentationsketten vor, die das Leiden der Gesellschaft am Verbrechen ›erklären‹ sollen: einmal die Unmöglichkeit (2) einer Gesellschaft ohne Verbrechen sowie die soziale Nützlichkeit (3) des Verbrechens. (2) Die Unmöglichkeit einer Gesellschaft ohne Verbrechen ist eine Konsequenz seiner Verbrechensdefinition: Das Verbrechen ist ja nicht durch eine Normverletzung geprägt, sondern durch die Verletzung kollektiver Gefühle. ›Normen‹ könnte man ja vielleicht abschaffen – man denke an das Programm des Abolitionismus, nicht aber die kollektiven Gefühle. Nur wenn sie in jedes Einzelbewußtsein vollständig eingepflanzt wären, würde die Differenz von Individual- und Kollektivbewußtsein entfallen. Diese Kongruenz von Individuum und Gesellschaft läßt sich aber auch in noch so totalitären Systemen nicht herstellen, weil die Logik kollektiver Gefühle eine Verschmelzung von Individual- und Kollektivbewußtsein ausschließt. Jedes ›Defizit‹ mangelnder Anpassung des Individuums ließe sich nur durch eine Verstärkung des moralischen Bewußtseins ausgleichen, womit gleichzeitig – in Durkheims Vorstellung – auch die schwächeren Schichten des emotiven Lebens mitverstärkt würden. Jede Verstärkung spezifischer ›kollektiver Gefühle‹ hat die Aufwertung verwandter Gefühle zur Folge, deren Verletzung nunmehr in den Sog der verdammenden ›conscience collective‹ gezogen wird und damit neue Rechtsbrüche konstituiert: »Mais on ne fait pas attention que ces états forts de la conscience commune ne peuvent être ainsi renforcés sans que les états plus faibles dont la violation ne donnait précedemment naissance qu’à des fautes purement morales, ne soient renforcés en même coup ...«363 363 Ebd., S. 84. 149 Werner Gephart Damit erhöht sich das gesamte Sensibilitätsniveau der Ordnung, periphere Wertschichten rücken ins Zentrum, ohne daß diese neue Wertebene schon bei allen Gesellschaftsmitgliedern emotiv verankert wäre. Das heißt: Jede Maßnahme zur Stärkung des kollektiven Wertbewußtseins im Individuum erzeugt automatisch neue, die conscience collective konstituierende Wertregionen, die insoweit den Anlaß zu neuen ›Verbrechen‹ ergeben, als die entsprechenden Vorstellungen noch nicht jedes Mitglied der Gesellschaft durchdringen. Das karmische Rad von Verstärkung der allgemeinen Rechtstreue, Erhöhung des Rechtsbewußtseins und hierdurch erzeugter neuartiger Rechtsbrüche, ist das zwangsläufige Schicksal einer jeden Gesellschaft. Der Sündenfall – so möchte ich Durkheim fortspinnen – ist aber nicht theologisch erklärbar, sondern er ist nur der Ausdruck der ›condition humaine‹, und zwar in ihren ›conditions sociales‹. Denn es sei nicht einmal eine Gesellschaft von ›Heiligen‹ denkbar, in der die vollständige Konformität erreichbar wäre. So führt Durkheim aus: »Imaginez une société de saints, un cloître exemplaire et parfait. Les crimes proprement dits y seront inconnus; mais les fautes qui paraissent vénielles au vulgaire y soulèveront le même scandale qui fait le délit ordinaire auprès des consciences ordinaires.«364 Läßt sich Durkheims Normalitätsthese also – nochmals gefragt – als eine säkularisierte und soziologisierte Lehre von der Erbsünde begreifen oder verstärkt sie nur die moralische Abgehobenheit eines überweltlichen und übersozialen Schöpfergottes, wie er im Judentum gezeichnet wird? Und erzeugen nicht gerade die zahlreichen Regeln des korrekten jüdischen Lebens die Fülle an Verstößen auch des orthodoxen Gläubigen? Der Rabbinersohn Durkheim hätte sich im antisemitischen Klima der Dritten Republik gehütet, Beispiele aus dem jüdischen religiösen Leben zur Illustration einer soziologischen 364 Ebd., S. 85. 150 Recht als Kultur. These zu verwenden. Aber sehen wir weiter, ob die Interpretationsfolie des religiösen Hintergrunds der Normalitätsthese überhaupt weiter trägt. Der tiefere Grund der aufgezeigten unaufhebbaren Kluft von normativem Anspruchsniveau und realer Erfüllung liegt in einem Grundtatbestand des sozialen Lebens: der notwendigen Differenz von Individuum und Gesellschaft. So heißt es, verschiedene Ebenen der condition humaine differenzierend: »... car le milieu physique immédiat dans lequel chacun de nous est placé, les antécédents héréditaires, les influences sociales dont nous dépendons varient d’un indiviu à l’autre et, par suite, diversifient les consciences.«365 Das Individuum steht also im Schnittpunkt der Einflüsse einer jeweils differenten natürlichen Umwelt, einer jeweils eigenen sozialen Lebenswelt mit tradierten Denk- und Deutungsmustern und einem je individuellen biologischen Organismus, der interessanter Weise zur individualitätsbegründenden Umwelt des Menschen gerechnet wird.366 Die biologisch, sozial und vielleicht auch schöpfungsbedingte Einzigartigkeit des Menschen markiert die Grenze einer vollkommenen Konformität. Das Verbrechen ist also ein unumgängliches Übel, das mit der Erfindung des Individuums auf die Welt gebracht wurde. Durkheims Soziodizee des Verbrechens steigert sich nun über diese soziologischen Erklärungen hinaus zum Postulat der sozialen Nützlichkeit von Verbrechen. (3) Denn wenn wir uns eine Gesellschaft vorstellen könnten, in der Individuum und Gesellschaft miteinander verschmolzen wären, bliebe jede Art sozialen Wandels ausgeschlossen. Es würden nicht nur die ›Verbrechen‹ verschwinden, sondern jede Abweichung von kollektiven Gefühlen, die eine neue Wertorientierung voranbrächten, würde abgeschnitten. 365 366 Ebd., S. 86. Diese Differenzierung ist also nicht erst bei Parsons zu finden. 151 Werner Gephart Die von Durkheim für notwendig erachtete flexible Gestaltung normativer Strukturen ist eben nur dann möglich, wenn Recht und Moral veränderbar sind, das heißt aber: nicht allzu tief in das Individuum eingegraben sind. Hier argumentiert Durkheim ganz strukturalistisch: Jede Verfestigung ist ein Hindernis für neue moralische Formen: »Tout arrangement, en effet, est un obstacle au réarrangement, et cela d’autant plus que l’arrangement primitif est plus solide. Plus une structure est fortement accusée, plus elle oppose de résistance à toute modification ...«367 Somit wird die destrukturierende Wirkung des Verbrechens als Voraussetzung für die Flexibilität normativer Strukturen betrachtet. Aber nicht nur die abstrakte ›Kontingenz‹ der normativen Ordnung, die erst durch ein ›flüssiges‹ Aggregationsniveau möglich ist, sondern auch die Richtung des Wandels kann exemplarisch durch den ›Verbrecher‹ vorgezeichnet werden: »Socrate était un criminel et sa condamnation n’avait rien que de juste. Cependant son crime, à savoir l’indépendance de sa pensée, était utile, non seulement à l’humanité, mais à sa patrie.«368 Das Verbrechen ist ›nützlich‹, weil es den Wandel seiner elementaren Strukturen erst ermöglicht. Damit ist nach Durkheim die These der ›Normalität‹ des Verbrechens erwiesen: Das Verbrechen ist als soziales Phänomen nicht nur universell, sondern notwendig mit den Existenzbedingungen des sozialen Lebens verknüpft und auch noch: ›nützlich‹. Aus der zu Recht anrüchigen Unterscheidung des Normalen und Pathologischen ist bei Durkheim ein gegenteiliger Effekt eingetreten: »S’il est un fait dont le caractère pathologique paraît incontestable, c’est le crime.«369 So führt Durkheim selbst das paradoxe Ergebnis der Normalität des von der Norm 367 368 369 Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, a. a. O., S. 87. Ebd., S. 88. Ebd., S. 81. 152 Recht als Kultur. abweichenden Verhaltens ein. Durkheim ist nicht nur selbst von diesem Ergebnis der ›Normalisierung‹ des Pathologischen überrascht, sondern die zeitgenössische Kritik hat – bis heute – versucht, Durkheims These in vermeintliche Widersprüche zu verwickeln. Wie kann der Moralist die Unmoral soziologisch legitimieren und dies noch als unausweichlich hinstellen? Sollte nicht der Verbrecher belohnt werden, wenn er schon so nützlich ist, als auch noch Strafe auf sich zu ziehen?370 So ironisiert der schärfste Kritiker und Konkurrent, Gabriel Tarde,371 die Normalitätsthese, während Durkheim repliziert, daß diese Art der leichtfertigen Argumentation am Ernst der Wissenschaften vorbeigehe, der eben mehr als ›amusement intelectuel‹ sei. Tarde hingegen zentriert seine Kritik in dem archaischen Bild der Schlange, die Durkheim zu seiner halsbrecherischen These veranlaßt habe: »Le crime glorieux, qui marche la tête dressée, comme le serpent biblique, audacieux séducteur et corrupteur de l’humanité et aussi de ses historiens.«372 Aber Durkheim versteht sich natürlich weder als Verführer noch als Verführter, sondern seinem positivistischen Glaubensbekenntnis folgend zur Besserung der Gesellschaft aufgerufen, die zu einer »règlementation positive de la conduite«373 führen müsse. Dabei ist Durkheim aus positivistischem Geist das Kunststück gelungen, aus der Absicht einer Wertbegründung über die kausalwissenschaftliche Ersetzung des Werturteils im 370 371 372 373 Diese ›Paradoxien‹ lösen sich durch eine Differenzierung der Ebenen von personalem und sozialem System auf. So kann der Verbrecher durchaus ›anormal‹ sein, während die Verbrechensrate ›normal‹ ist. Nur müßte der Soziologe das Verbrechen z. B. dann befördern – im Sinne der ›Gesundheit‹ des Sozialsystems – wenn die Verbrechensrate atypisch niedrig ist. Zu Gabriel Tarde vgl. z. B. Pierre Favre, Gabriel Tarde et la mauvaise fortune d’une baptème sociologique de la science politique, in: Revue française de sociologie 24, 1983, S. 3-30. Gabriel Tarde, Crime et santé, in: Revue philosophique 39, 1895, S. 151. Emile Durkheim in seiner Replik als: Crime santé sociale, in: Revue philosophique 39, 1895, S. 518-523; abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, a. a. O., S. 173-180. 153 Werner Gephart Normalitätskalkül zu einer systematischen Wertenthaltung zu gelangen, wie ich an anderer Stelle dargelegt habe.374 Durkheims Normalitätsthese enthält nämlich eine Anleitung zur Verfremdung unserer Alltagswahrnehmung über das Verbrechen; es ist eine Technik der ethischen Neutralisierung, die weder in den Kult des Bösen lenkt noch aber die jeweils herrschende Moral propagiert. Was aber bedeutet Durkheims unkonventionelle Sicht über die ›Normalität‹ des Verbrechens für die Erforschung mittelalterlicher Devianz? II. Die ›Normalität‹ der Bettler, Dirnen, Henker, Gaukler und Leprösen für die Konstitution mittelalterlicher Gesellschaften Vielleicht ist das fruchtbarste Ergebnis der Durkheimschen Verbrechenslehre die systematische Anweisung, das Verbrechen auf seine denkbare positive Funktionalität hin zu untersuchen. Im Verbrechen vollzieht sich ein Widerspruch zur ›conscience collective‹, die eine Irritation der kollektiven Ordnung zur Folge hat, die in der strafenden Reaktion wieder hergestellt wird. Hierdurch werden die zentralen Werte der sozialen Gemeinschaft im Sinne der positiven Generalprävention gestärkt. Das Verbrechen ist also nicht nur im Sinne einer Stabilitäts- und Wandlungshypothese375 funktional, sondern auch mittelbar über den Effekt der Bekräftigung der zentralen Gefühlswerte. 374 375 Vgl. die ausführliche Entwicklung der Durkheimschen Argumentation aus dem Kontext seiner Methodologie in: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., erster Teil, erstes Kap. Diese Grundthesen habe ich an anderer Stelle (Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., S. 30) so formuliert: (1) Für alle sozialen Systeme gilt: Nur wenn nicht-konforme Handlungen auftreten, wird den Mitgliedern des Sozialsystems die Bedeutung der vom Kollektivbewußtsein geforderten Handlungen bewußt (Stabilitätshypothese). (2) Für alle sozialen Systeme gilt: Nur wenn Individual- und Sozialbewußtsein auseinanderfallen, ist der Wandel sozialer Systeme möglich (Wandlungshypothese). 154 Recht als Kultur. Aus dieser Sicht lassen sich marginale Gruppen mittelalterlicher Gesellschaften beleuchten.376 1. Aussätzige Sie verkörpern negative Eigenschaften im mittelalterlichen Wertsystem: Häßlichkeit und Wollust, Ekel und Schande. Sie bilden eine eigene Gesellschaft, die strikt vom sozialen Kontakt ausgeschlossen sind, sie sind auch räumlich ausgegrenzt, in Siechenhäusern untergebracht, die nicht einmal durch Institutionen sozialer Kontrolle abgeschirmt werden müssen. Sie sind gehalten, ihr Annähern durch Klappern akustisch kundzutun; ihr physiologisches Stigma wird durch soziale Abzeichen indiziert,377 während die medizinische Bezeichnung ›Aussatz‹ sich etymologisch von den sozialen Folgen des ›Aussetzens‹ herleitet.378 In ihrer Gemeinschaft leben zu müssen, ist eine Strafe in sich, die im literarischen Epos von Tristan und Isolde, gar den Scheiterhaufen übersteigt. In der historischen Fassung von Berol wird die Welt der Leprösen mit der Welt des Hofes in Iweins Worten so kontrastiert, Iwein wendet sich an den König: »... überlaß uns Isolde, sie soll uns gemeinsam gehören. Ein schlimmeres Ende nahm noch nie eine Dame. Herr, in uns brennt so große Hitze, daß es unter dem Himmel keine Dame gibt, die den Umgang mit uns auch nur einen Tag ertragen könnte; die Tücher kleben uns am Leib. Bei dir pflegte sie in Ehren zu leben, in buntem und grauem Pelzwerk und in 376 377 378 Vgl. auch aus der neueren Literatur: Bernd-Ulrich Hergemöller (hrsg.), Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, Warendorf 2001; ders.: ›Randgruppen‹ im späten Mittelalter, KonstruktionDekonstruktion-Rekonstruktion, in: Die Aktualität des Mittelalters, hrsg. von Hans-Werner Goetz, Bochum 2000; Bernd Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten, Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit, Göttingen 1993 und Bob Scribner, Wie wird man Außenseiter? Ein- und Ausgrenzung im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für HansJürgen Goertz zum 60. Geburtstag, hrsg. von Norbert Fischer und Marion Kobelt-Groch, Leiden; New York; Köln; Brill 1997. Vgl. z. B. die Hinweise bei Frantisek Graus, Organisationsformen der Randständigen. Das sogenannte Königreich der Bettler, in: Rechtshistorisches Journal 8, 1989, S. 235-255 (S. 239 f.). Vgl. z. B. den Duden, Bd. 7, Ethymologie, Mannheim 1963, S. 41 f. 155 Werner Gephart Freuden. Gute Weine hatte sie da kennengelernt, in großen Sälen aus dunklem Marmor ...«379 Diese im Epos geschilderte Gegenwelt hat aber nicht nur eine literarische Funktion. Sie kondensiert das Böse, naturhaft Abstoßende, kanalisiert den sozialen Ekel auf eine klar definierte und sozial abgegrenzte Gruppe. Die physiologische Pathologie der Leprösen und ihre soziale Ausgrenzung erscheint für den Typus einer um Hof und Ehre zentrierten Gesellschaft durchaus ›normal‹. Für eine an sinnlicher Anschauung orientierten Gesellschaft ist die sichtbare Verderbtheit der Aussätzigen der funktionale Spiegel, aus dem die Gesellschaft der Reinen, Schönen und Ehrenhaften um so deutlicher hervorgeht. Während die literarische Schilderung der Leprosengemeinschaft ein anarchisches Bild von Ekel, Ausschweifung und Laster zeichnet, war der Prozeß der sozialen Ausgrenzung durchaus reglementiert durch das Verfahren der Lepraschau, dem sich ein kirchliches Ritual mit Begängnis und Commendation anschloß, so wie ein Verstorbener aus der Gemeinde ausgesegnet wird.380 Nunmehr ist er einer streng regulierenden Leprosenordnung unterworfen, die den Kontakt zur Außenwelt abschneidet und die innere ›Ordnung‹, insbesondere auch die sexuelle Abstinenz auch unter Ehegatten fordert. So ist nachgewiesen, daß Jost von Coln und Anna von Coln »irer unzuchts halber« eines Leprosiums verwiesen wurden.381 Die magische Vorstellung einer ›contagion‹ mit dem Unreinen mag bei den Aussätzigen einen medizinischen Grund gehabt haben. Als Personifikation des Unreinen und Destruktiven im 379 380 381 Zit. nach Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt am Main 1979, S. 577. So in einem Trierer Ritual, vgl. Dieter Staerk, Gutleuthäuser und Kotten im südwestdeutschen Raum, in: Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift Edith Emen, hrsg. von Werner Besch u. a., Bonn 1973, S. 529-553 (S. 541). Vgl. Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt, München 1989. 156 Recht als Kultur. Menschen verhilft ihre soziale Isolation dazu, sowohl das Unreine zu externalisieren, um die Fiktion vom Reinen aufrecht zu erhalten als gleichzeitig auch die Strafe zu symbolisieren, die auf die Verletzung gesitteter Lebensformen folgt.382 2. Bettler und Arme Ebenso wie sich Durkheims Normalitätsthese zur Erklärung der Arbeitslosenquote marktwirtschaftlich-kapitalistischer Wirtschaftsformen anwenden läßt, so gehört die Armut und das Bettlertum zu den ›Normalitäten‹ mittelalterlicher Gesellschaften. Inwieweit die Bettler hierbei als ›Randgruppe‹ der mittelalterlichen Gesellschaften zu betrachten sind – so Frantisek Graus in seinem spannenden Essay383 – ist nicht unumstritten. So meinen Franz Irsigler und Arnold Lassotta mit Blick auf den ›Armen‹: »... er stand im frühen und hohen Mittelalter durchaus nicht außerhalb oder auch nur am Rande der Gesellschaft, sondern war vielmehr integratives Mitglied ...«384 Bevor wir den Versuch weiterführen wollen, Durkheims soziologische Perspektive auf die historische Devianzforschung zum Mittelalter anzuwenden, lohnt ein erneuter Blick Georg Simmel, der nicht nur in seinem klassischen ›Exkurs über den Fremden‹385 die integrative Funktion des Anderen herauspräpariert hat, sondern auch dem Armen eine kaum gewürdigte soziologische Aufmerksamkeit gewidmet hat. 3. Exkurs: Über den Armen als Vergesellschaftung bei Georg Simmel In Simmels Soziologie des Armen 386 Form der liegt der soziologische Zugang zur Armut in der Unterscheidung begründet, ob die Leistung vom 382 383 384 385 386 Vgl. auch Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, a. a. O., S. 588. Vgl. Frantisek Graus, Organisationsformen der Randständigen. Das sogenannte Königreich der Bettler, a. a. O. Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker, a. a. O., S. 20. Vgl. Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: Soziologie. a. a. O., S. 509-512. Georg Simmel, Der Arme, in: Soziologie, a. a. O., S. 345-374. 157 Werner Gephart Armen als subjektives Recht einforderbar ist oder primär als Pflicht des Gebenden angelegt ist. So bildet das christliche Vorbild unbedingten Gebens in der Pflicht zum Geben und nicht im Recht des Empfangenden den soziologischen Ausgangspunkt. »Im extremen Fall« so Georg Simmel »verschwindet der Arme als berechtigtes Subjekt und Interessenzielpunkt vollständig, das Motiv der Gabe liegt ausschließlich in der Bedeutung des Gebens für den Gebenden. Als Jesus dem reichen Jüngling sagte: schenke deinen Besitz den Armen, – kam es ihm ersichtlich auf die Armen gar nicht an, sondern nur auf die Seele des Jünglings, zu deren Heil jener Verzicht das bloße Mittel oder Symbol 387 ist.« Dieses Motiv sieht Simmel in der mittelalterlichen Praxis fortleben. So fährt Simmel fort: »Das spätere christliche Almosen ist desselben Wesens: es ist nichts als eine Form der Askese, oder ein ›gutes Werk‹, das das jenseitige Schicksal des 388 Gebers verbessert.« Hieran schließt sich nun die weitere Schlußfolgerung an: »Das Überhandnehmen des Bettelns im Mittelalter, die Sinnlosigkeit in der Verwendung der Gaben, die Demoralisation des Proletariats durch die wahllosen, aller Kulturarbeit entgegenwirkenden Spenden – dies ist gleichsam die Rache des Almosens für das rein subjektivistische, nur den Geber, aber nicht den 389 Empfänger berücksichtigende Motiv seiner Gewährung.« Dieses Motiv sieht Simmel auch in der staatlichen Armenpflege fortwirken, wenn staatliche Maßnahmen nicht um der Armen willen geschehen, sondern ihr – wie Simmel wörtlich sagt – »die Struktur der 390 Gesellschaft, wie sie nun einmal besteht« , zugrunde liegt. Insofern gehört er ›als Armer zu der historischen Wirklichkeit der Gesellschaft‹. Er ist also durchaus Bestandteil dieser Gesellschaft. Hieraus ergibt sich die außerordentliche Nähe zur Figur des ›Fremden‹: Er verhält sich nämlich »ungefähr wie der Gruppenfremde, der zwar auch sozusagen materiell außerhalb der Gruppe steht, in der er sich aufhält; aber eben damit entsteht ein Gesamtgebilde, das die autochthonen Teile der Gruppe und den 387 388 389 390 Ebd., S. 348. Ebd. Ebd. Ebd., S. 349. 158 Recht als Kultur. Fremden zusammen umfaßt, die eigentümlichen Wechselwirkungen dieses mit jenem schaffen die Gruppe in weiterem Sinne, charakterisieren den wirklich vorliegenden Kreis. So ist der Arme zwar gewissermaßen außerhalb der Gruppe gestellt, aber dieses Außerhalb ist nur eine besondere Art der Wechselwirkung mit ihr, die ihn in eine Einheit mit dem Ganzen in dessen weitesten Sinne 391 verwebt.« Diese Wechselwirkung geht so weit, daß der ›Arme‹ im soziologischen Sinne nicht durch seine individuelle Notlage definiert wird, »sondern dadurch, daß Andre: Individuen, Vereinigungen, Ganzheiten – eben diese Verfassung zu korrigieren suchen, so daß nicht der persönliche Mangel den Armen macht, sondern der um des Mangels willen Unterstützte erst dem soziologischen Begriffe nach 392 der Arme ist.« *** Von Emile Durkheim, der Simmels »finesse suggestive qu’on lui connaît« zu loben pflegte, um ihn damit aus der Wissenschaft auszugrenzen,393 ist keine umfassende Studie über den ›Armen und den Bettler‹ bekannt. Die Anomietheorie freilich, wie sie im ›Suicide‹ entwickelt ist, zeigt, wie ›Armut‹ nicht etwa eine Selbstmordursache sein muß, sondern im Vergleich mit der unbegrenzten Steigerung des Anspruchsniveaus, wie es durch akzelerierende Prosperität ausgelöst wird, die Armut vor Selbstmordtendenzen eher schützt.394 391 392 393 394 Ebd., S. 352 f. (Hervorh. des letztes Satzes von W. G.). Ebd., S. 374. So Emile Durkheim in seinem Bericht über den ersten deutschen Soziologentag, vgl. Le premier Congrès allemand de sociologie, in: L’Année sociologique 12, 1913, S. 23-26; zur Beziehung SimmelDurkheim vgl. im weiteren: Werner Gephart, Soziologie im Aufbruch. Zur Wechselwirkung von Durkheim, Schäffle, Tönnies und Simmel, a. a. O., S. 1-25. Emile Durkheim, Le suicide. Etude de sociologie, Paris 1973 (1897), S. 280 f. 159 Werner Gephart Freilich ist eine Rezension aus dem 3. Bande der Année sociologique, die übrigens im umfangreichsten Werkverzeichnis, das von Victor Karady besorgt wurde, nicht einmal aufgeführt ist, mit der ›mendicitité en Russie‹ befaßt.395 Es handelt sich um die Rezension einer Arbeit von Tarnowski. Obwohl diese Besprechung gerade 1 1/2 Seiten umfaßt, ist sie für unser Thema außerordentlich aufschlußreich: Durkheim weist zunächst daraufhin, daß das scheinbar geringe Vorkommen der Bettelei in Rußland neben strafrechtlichen Besonderheiten der Inkriminierung vor allem in der sozialen Akzeptanz des Bettelns beruht. So heißt es: »... au village, la mendicité est rarement l’objet d’une répression, parce qu’elle y est considérée comme une pratique normale.«396 Durkheim zeichnet im weiteren das Bild der solidarischen Dorfgemeinschaft, die das Betteln nicht als erniedrigendes, sondern als sozial toleriertes Verhalten einschließt. Welche Faktoren beeinflussen gleichwohl die jahreszeitlichen und lokalen Differenzen der Sanktionspraxis? Für Durkheim, der ja letztlich in der ›Religion‹ das soziale Bindemittel propagiert, ist es wohl irritierend zu sehen, wie die ›Religion‹ einen positiven Effekt auf die Straffälligkeit wegen Bettelei ausübt. Dies zeigt sich in der örtlichen Konzentration dieser Devianzform um die orthodoxen Pilgerstätten, zum anderen in dem paradoxen Effekt einer Steigerung der Betteleirate bei gleichzeitiger Senkung der Delinquenz in den heiligen Zeiten der orthodoxen Religionspraxis. »Il se produit à ce moment« so Durkheim mit Bezug auf die Zeit vor Ostern »une surexcitation du sentiment religieux qui abaisse la criminalité générale, mais stimule la mendicité par les primes exceptionelles qui lui sont alors offertes.«397 Durkheims emotive Theorie der Explikation von Verbrechensraten, die sich aus seiner Konzeption der 395 396 397 Emile Durkheim, E. Tarnowski, La mendecità in Russia, in: L’Année sociologique 4, 1901, S. 460-461. Ebd., S. 460. Ebd., S. 461. 160 Recht als Kultur. Definitionsmacht einer ›conscience collective‹ ergibt,398 läßt sich also auf diesen besonderen Fall des Bettelns im traditionalorthodoxen Rußland in plausibler Weise anwenden. Trägt dies auch zum soziologischen Verständnis des Bettelns in mittelalterlichen Gesellschaften bei? Sicher erklärt die religiöse Pflicht zum Almosen und die damit verbundene Legitimität des Bettelns den spezifischen Standort dieser Gruppe in mittelalterlichen Gesellschaften: Material religiöser Bewährung und gleichzeitige Randständigkeit derjenigen, deren Tun offensichtlich nicht gottgefällig ist. Um so stärker ist der Zwang, zwischen den ›wahren‹ und den ›falschen Bettlern‹ zu unterscheiden.399 Damit wird auch die religiöse Hilfepflicht in Maßnahmen weltlicher Kontrolle profaniert. So macht in Nürnberg die Bettelordnung von 1370 die Erlaubnis zum Betteln für Einheimische von dem Tragen eines Bettelzeichens abhängig.400 Damit wird die doppelte Funktion von Identifikation der Gruppe und sozialer Ausgrenzung mit den Mitteln symbolischer Etikettierung erreicht. Denn auch die Bettler repräsentieren das Gegenbild eines rechtschaffenen tätigen Lebens, wie all die Versuche zeigen, das legitime Betteln auf die wirkliche Bedürftigkeit zu beschränken und nicht auch noch Müßiggang und Laster zu befördern. Daß Versuche scheiterten, ein allgemeines Bettelverbot durchzusetzen, mag aber nicht nur an der – freilich ambivalenten – religiösen Rechtfertigung liegen, sondern in ihrer sozialen Funktion begründet: Denn wer durch die Maschen des familiären und grundherrschaftlichen Netzes sozialer Sicherheit hindurchgefallen war, behielt so eine Überlebenschance, die ihn gleichwohl von der übrigen Gesellschaft abgrenzte. Das Betteln erscheint also fest in den 398 399 400 Diese Theorie ist systematisch rekonstruiert bei Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., S. 63-101. Vgl. im übrigen den ersten Teil, drittes Kap. Vgl. Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker, a. a. O., S. 28. Ebd., S. 25. 161 Werner Gephart Grundbedingungen mittelalterlichen Lebens verhaftet; es ist insofern eine ›normale‹ Erscheinung dieser Gesellschaften, in der die ambivalente Bewertung des Bettelns durch symbolische Ausgrenzung und gleichzeitige Mitgliedschaft manifestiert wird. 4. Dirnen Durkheims Normalitätsthese läßt sich am Beispiel der Prostitution wohl besonders eindrucksvoll demonstrieren. Schließlich tritt die Prostitution nicht nur historisch universell auf, sondern ist in den unterschiedlichsten Kulturen verbreitet. Zur Universalität und Ubiquität tritt die freilich kontrovers beurteilte Funktionalität der Prostitution. So ist für den ambivalenten Mitstreiter und später abtrünnigen Gaston Richard401 in der Rezension einer Arbeit von Fischer die Verknüpfung mit den Grundbedingungen des sozialen Lebens unstreitig. So schreibt Richard: »Si l’historie de la prostitution montre qu’elle est un phénomène inséparable de la vie sociale, il est avéré que la nervosité moderne en multiplie les formes pathologiques, sadisme, masochisme, flagellantisme ...«402 Nur in welchem Sinne ist die ›Prostitution‹ mit den ›Grundbedingungen des sozialen Lebens‹ verbunden und was bedeutet dies für die Dirnen als Randständige mittelalterlicher Gesellschaften? Hans-Peter Duerr meint den ›Mythos vom 403 gerade am Beispiel mittelalterlicher Zivilisationsprozeß‹ Prostitution entlarven zu können. Wenn der kritisierte Norbert Elias meine, daß die »öffentlichen Huren im öffentlichen Leben ihren ganz bestimmten Platz hatten«, so sei diese Integrationsthese völlig falsch. 401 402 403 Vgl. William S. Pickering, Gaston Richard: collaborateur et adversaire, in: Revue française de sociologie 20, 1981, S. 163-182. Gaston Richard, W. Fischer – Die Prostitution, ihre Geschichte und ihre Beziehungen zum Verbrechen, in: L’Année sociologique 8, 1905, S. 502-503. Vgl. Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Frankfurt am Main 1988. 162 Recht als Kultur. Das Gegenteil sei nach Duerr richtig:404 So wurden in Toulouse die Bürger dazu ermächtigt, die öffentlichen Huren aus ihrer Nachbarschaft zu vertreiben, ihnen in demütigender Absicht die Kleider vom Leibe zu reißen usf. Duerr weist weiter darauf hin, daß im 14. Jahrhundert zwei Huren verurteilt wurden, weil sie es gewagt hatten, sich in der Kirche neben ehrbare Frauen zu setzen und schließlich weist er auf die lokale Zentrierung in bestimmten Vierteln hin. Duerrs Schlußfolgerung lautet: »Wenn man also davon spricht, daß die öffentlichen Huren ›ihren ganz bestimmten Platz‹ hatten, dann kann das – entgegen der Behauptung von Elias – nur heißen, daß dieser Platz außerhalb der Ehrbarkeit und damit außerhalb der Gesellschaft lag.«405 Freilich hatte Norbert Elias niemals behauptet, daß Dirnen zum ehrbaren Teil der mittelalterlichen Gesellschaft gehörten. In seinem Modell zivilisatorischer Affektmodulation spielt nur die Tatsache eine erhebliche Rolle, daß der Humanist Erasmus in einem Lehrtraktat so unbefangen einem Schüler gegenüber von den Dirnen sprechen kann, ohne diese Lebenssphäre zu tabuisieren. Er resümiert seine Darlegungen zur Prostitution gerade in unmißverständlicher Weise: »Ihre soziale Stellung war mit einem Wort ähnlich wie des Henkers, niedrig und verachtet, aber durchaus öffentlich und nicht mit Heimlichkeit umgeben.«406 Wenn wir Duerrs Kritik nicht als mutwillige Fälschung deuten wollen, dann kann nur die Bedeutung von ›Integration‹ im Streit sein. So schreibt Duerr auch, daß nur insofern von ›Integration‹ die Rede sein könne (ein Begriff, den Elias gar nicht verwendet), als die städtische Prostitution in stärkerem Maße institutionalisiert und damit kontrollierbar wird.407 404 405 406 407 Vgl. ebd., S. 300 ff. Ebd., S. 301. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1977 (1937), S. 242. Vgl. Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham, a. a. O., S. 301. 163 Werner Gephart Ein Streit um Worte, oder gibt es dennoch Differenzen in der Deutung der Art von Öffentlichkeit und Akzeptanz der ›schönen Frauen‹ und ›Hübscherinnen‹? Elias deutet die Überlieferung, daß man hohen Gästen die Huren zur Begrüßung entgegenschickte, Bürgermeister und Rat im Frauenhaus tafelten oder sie an Wettspielen teilnahmen, im Sinne einer sexuellen Freizügigkeit und geringeren Affektkontrolle.408 Duerr hingegen weist auf magisch religiöse Hintergründe dieser vermeintlichen Integrationsindizien hin. So gebe es in vielen Teilen Europas den Volksglauben, daß die Begegnung mit einer Hure Glück bringe, was sich auch in der Einladung zu religiösen Zeremonien und Festen niederschlage. Dahinter stehe die Vorstellung, so Duerr, »daß eine Prostituierte als Verkörperung der uneingeschränkten Sexualität die Fruchtbarkeit der Felder fördere ...«409 Aber zeigt nicht gerade diese Interpretation, wie sehr das Dirnenwesen ›integrativer‹ Bestandteil der Gesellschaft ist, wenn ihre Funktion nicht nur in der Kanalisierung sexueller Triebe besteht, sondern auch noch in die religiöse Vorstellungswelt und Praxis vormoderner Gesellschaften einbezogen ist? Dieser religiöse Ursprung der Prostitution würde im übrigen Durkheims Postulat entsprechen: »A l’origine tout est religieux«. Nicht aus Durkheims Feder, aber in einer Rezension der Arbeit von Dupouy über die Prostitution in der Antike wird von Gaston Richard die Transformation der ›heiligen‹ in die ›profane‹ Prostitution thematisiert,410 während in einer weiteren Rezension zu P. Hirschs Untersuchung über ›Verbrechen und Prostitution als soziale Krankheitserscheinungen‹ der ökonomische Determinismus in der Erklärung der Prostitution 408 409 410 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, a. a. O., S. 242. Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham, a. a. O., S. 302. Gaston Richard, E. Dupouy – La prostitution dans l’antiquité, in: L’Année sociologique 2, 1899, S. 421-422. 164 Recht als Kultur. kritisiert wird. Nicht erst der Kapitalismus und seine Krisen habe die Prostitution hervorgebracht.411 Wie läßt sich am Ende Durkheims soziologische Perspektive auf die Kategorie der Dirnen anwenden? Aus Durkheims späten Schriften wissen wir um die Bedeutung der symbolischen Ausgrenzung. Roter Schleier, Hüte oder auch das Postulat des Berthold von Regensburg, die Huren in Gelb zu kleiden. Dahinter mögen polizeiliche Kontrollmotive stehen, aber in signifikanter Weise auch das Bedürfnis nach Differenz, nicht allein um die Huren auszugrenzen, sondern um die Anständigen überhaupt erkennen zu können. So solle keine anständige Frau den Schleier tragen, »die sie gelb färben wie die Jüdinnen, jene die auf dem Graben gehen, und die Pfäffinnen«.412 Von einer Integration kann also keine Rede sein, aber durchaus einer sozialen Akzeptanz, solange sie sich den gesellschaftlichen Spielregeln fügen. Diese rücken sie freilich durch die Erkennungszeichen, ihre lokale Konzentration und die Vernetzung mit anderen Randständigen – so oblag den Scharfrichtern in Köln die Aufsicht über das Dirnenwesen413 – an die Peripherie der mittelalterlichen Gesellschaft, an der sie selbst ein eigenes, durchaus statusmäßig differenziertes Milieu von Straßendirnen, Dirnen im Frauenhaus und den freien, heimlichen Prostituierten bildeten. Daß sich hierin auch die soziale Differenzierung der Klientel wiederfindet, zeigt einmal mehr, wie sehr die inkriminierten Gruppen ein Spiegel der guten Gesellschaft sind. Die Prostitution erfüllt das naturalistische Bedürfnis gesellschaftlich unerfüllter Triebbefriedigung, die nach Durkheims Anthropologie des menschlichen Unglücks auch 411 412 413 Gaston Richard, P. Hirsch, Verbrechen und Prostitution als soziale Krankheitserscheinungen, in: L’Année sociologique 2, 1899, S. 413414. Berthold von Regensburg in der 8. Predigt, in: Franz Pfeiffer (Hrsg.), Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten. Wien 1862-1880 (Berlin 1965), Bd. I, S. 114 f. Vgl. Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker, a. a. O., S. 206 f. 165 Werner Gephart niemals zu erreichen ist. Don Juan ist im ›Suicide‹ der Prototyp des Anomikers414 und nur die soziale Institution der Prostitution bewahrt uns davor – so läßt sich Durkheim fortspinnen –, daß unsere Frauen und Töchter den Versuchungen erliegen, da eine Gesellschaft ohne Prostitution ja nur den Donjuanismus befördern könnte. Daher ist die Prostitution eine aus Durkheims Sicht zweifellos in ähnlicher Weise nützliche Erscheinung, wie die Ehe das Sexualleben reglementiert, von dem – wie Durkheim im Suicide darlegt – vor allem der Mann profitiert: seine Suicidneigung steigt nach Scheidung und Tod der Gattin überproportional. 5. Henker In seiner Theorie der Strafe415 hat Durkheim dem ›Personal‹ der Strafausübung keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Man wird daher vergeblich nach Anmerkungen über den Henker suchen. Gleichwohl lassen sich Eigentümlichkeiten dieser Berufsgruppe aus Durkheims Straflehre, insbesondere deren religionssoziologischen Elementen deuten. Wir hatten gesehen, wie das Verbrechen durch die Reaktion der Normalen auf einen Widerspruch zur ›conscience collective‹ konstituiert wird. Die pönalisierten Verhaltensweisen sind danach Indikatoren der zentralen Gefühlswerte einer Gesellschaft. Sie bezeichnen im Reich des Normativen den Ort, an dem die Irritation der kollektiven Ordnung als besonders bedrohlich empfunden wird. Aufgrund der Normalitätsthese kann die Funktion der Strafe nicht darin bestehen, Verbrechen im Sinne der Spezial- oder negativen Generalprävention auszumerzen. Die Strafe dient zwar der kognitiven Bekräftigung der im Verbrechen verletzten kollektiven Gefühle; aus der Eigendynamik kollektiver Reaktionen wird gleichzeitig eine Verstärkung dieser Gefühlswerte erreicht, die sich auf ein neues 414 415 Emile Durkheim, Le suicide, a. a. O., S. 304, Fn. 2, S. 305; zu Durkheims Frauenbild vgl. Philippe Besnard, Durkheim et les femmes où le suicide inachevé, in: Revue française de sociologie 14, 1973, S. 27-61. Ob hiervon in der Vorlesung, die Durkheim in Bordeaux zur Theorie der Sanktionen gehalten hat, die Rede war, scheint mir sehr fraglich. 166 Recht als Kultur. Geltungsniveau hochschrauben. Der Straftheorie von Durkheim liegt also ein Balance-Modell kollektiver Gefühle zugrunde, nach dem eine jede Verletzung gemeinschaftlich akzeptierter und gelebter Gefühle eine hierauf bezogene Reaktion emotiven Charakters hervorruft, die zu einer Austarierung des gestörten Gleichgewichts im ›emotiven Haushalt‹ einer Gemeinschaft führt. Die Straffunktion läßt sich also resümieren: »Sa vrai fonction est de maintenir en faite la cohésion sociale en maintenant toute sa vitalité à la conscience commune.«416 Mit welchen Mitteln diese ›Vitalität‹ in der theatralischen Inszenierung des Schreckens erreicht wurde, ist von Michel Foucault,417 der übrigens als einzigen Klassiker Emile Durkheim der Zitation für wert befindet,418 in eindrucksvoller Weise dargelegt. Die Strafrituale der Kölner Schöffengerichtsordnung von 1435 sind eine normative Quelle für den würdevollen und feierlichen Gang des Hinrichtens,419 und Foucaults These von der Entwicklung der Strafe als Geschichte der Machttechnik420 läßt sich gleichfalls aus den Kölner Turmbüchern belegen. So wurden vor allem Hinrichtungen nach erfolgreichen oder mißglückten Revolten als aufwendige Schauspiele inszeniert. Franz Irsigler und Arnold Lassotta geben die Quelle wieder: »Nach dem Aufstand gegen den Rat von 1481/82, an dem auch Mitglieder der alten Geschlechter beteiligt waren, wurden sechs Rädelsführer am 19. Februar 1482 auf dem Heumarkt enthauptet – nicht durch den berufsmäßigen Henker, sondern durch ›der stat swertdreger, der dat swert mit dem overgulden knouf zo dragen plecht‹.«421 416 417 418 419 420 421 Emile Durkheim, De la division du travail social, a. a. O., S. 72. Vgl. Michel Foucault, Surveiller et punir, a. a. O. Vgl. ebd., S. 28. Siehe die Darstellung bei Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker, a. a. O., S. 232. Zur Parallele bei Durkheim vgl. im einzelnen Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., zweiter Teil, drittes Kap. Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker, a. a. O., S. 241; dort die Koelhoffsche Chronik (Chroniken der deutschen Städte, Köln 3, S. 856 f.) zitierend. 167 Werner Gephart Eine Reihe von Eigenheiten in der Lebensform und sozialen Stellung der Henker ist aber weniger durch ihre Verflechtung in den Machtapparat erklärbar, in dem sie ein eigenes Subsystem von Dirnen, ›Goldgräbern‹ und Schindern dirigieren, sondern aus der magisch-religiösen Wurzel der Strafe zu erhellen. Emile Durkheim hatte schon in der ›Division du travail social‹ den heiligen Ursprung der Strafe anvisiert: »Quand nous réclamons la répression au crime, ce n’est pas nous que nous voulons personellement venger, mais quelque chose de sacré que nous sentons plus ou moins confusément en dehors et audessus de nous.«422 Es war der Neffe Marcel Mauss, der den religiösen Charakter der Strafe und des Strafrechts weiter entwickelt hat, indem er als Urbild der ›Norm‹ das Tabu und seine contagieuse Aura ins Spiel gebracht hat.423 Am Beispiel der Blutrache zeigt Mauss, wie das vergossene Blut Symbol der Gruppeneinheit ist, die nur durch einen kompensatorischen Blutakt wiederherzustellen ist. Religiöse Tabus ziehen drakonische Strafen nach sich; der rituelle Schutz der heiligen Orte und sakralen Feste, der Schutz der Männerbünde, das Inzesttabu. Und all diesen Tabunormen liegen kollektive Gefühle religiösen Ursprungs zugrunde, die eine eigenartig ansteckende Wirkung zeitigen. Sie erstrecken sich auf Gegenstände und Personen, die mit der Tabuverletzung in Berührung stehen. Zugleich aber ist der Kontakt mit dem Verbotenen ambivalent: es läßt den Schuldigen an den Folgen seiner Tat umkommen oder läßt ihn an magischen Kräften gewinnen. So schreibt Mauss: »Le caractère ambigu des conséquences du tabou répond 422 423 Emile Durkheim, De la division du travial social, a. a. O., S. 68. (Hervorh. v. W. G.). Durkheim merkt in einer Rezension lobend an: »M. Mauss a su démêler dans le tabou l’institution religieuse d’où dérive cette religiosité du droit pénal et nous croyons l’idée féconde.« (Emile Durkheim, Rez. zu Marcel Mauss, La Religion et les Origines du droit pénal, in: L’Année sociologique 1, 1898, S. 353-358, hier S. 357). 168 Recht als Kultur. à sa nature même: il consilie le sacré et l’impur, il fait les dieux comme les criminels.«424 So läßt sich erklären, daß der Henker einerseits zu den ›unreinen‹ Berufen gezählt wird, ihm andererseits aber auch magische Kräfte zugeschrieben werden. Die ansteckende Wirkung des Tabus geht soweit, daß ein Faßbinder, der in eine mißratene Hinrichtung eingreift, indem er ein in die Menge gefallenes Haupt dem Henker zuwirft, umgehend aus der Zunft ausgestoßen wird.425 Ein Eingreifen in die tabuierte Tätigkeit des Henkers macht ihn ›unehrlich‹. Diese Wirkung erstreckt sich auch auf die vom Henker verwendeten Gegenstände. So wird einem Scharfrichter der Prozeß gemacht, weil er vom Richtplatz etliche Pfosten mit Rädern, auf denen noch Gebeine von Hingerichteten gelegen haben, für den Bau eines Stalles verwendet.426 Also nicht die Eigentumsverletzung war das Delikt, die Gerätschaften hatte der Scharfrichter auch selbst zu stellen, sondern die Profanierung des tabuierten, in seiner Wirkung ambivalenten Unreinen wird pönalisiert. Die Ansteckungsgefahr ging so weit, daß entgegengenommenes Geld durch bestimmte Rituale gereinigt werden mußte,427 von einem Handwerksmeister aus Basel wird berichtet, er habe Selbstmord begangen, weil er in betrunkenem Zustand mit dem Scharfrichter gemeinsam gezecht habe.428 Da sich die Gemeinschaft von der unehrenhaften Tätigkeit des Henkers abgrenzen will, ist sie auf Selbstrekrutierung 424 425 426 427 428 Marcel Mauss, La relgion et les origines du droit pénal d’après un livre récent, in: Revue de l’histoire des religions 34, 1896, S. 269-295; 35, 1897, S. 31-60; abgedr. in: Marcel Mauss, Oevres, Bd. 3, Paris 1968, hrsg. von Victor Karady, S. 696. Vgl. die Darstellung bei Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler, und Gaukler, Dirnen und Henker, a. a. O., S. 243 f. Auch dieses Beispiel findet sich bei ebd., S. 276. Vgl. Karl Bruno Leder, Todesstrafe. Ursprung, Geschichte, Opfer, Wien/München 1980, S. 265; Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, München 21985, S. 176 ff. Vgl. Albrecht Keller, Der Scharfrichter Kulturgeschichte, Hildesheim 1968. in der deutschen 169 Werner Gephart angewiesen: Söhne müssen das Handwerk des Vaters ausüben; Töchter dürfen nur Henker heiraten. Da gleichzeitig aber eine lokale Verfestigung unerwünscht ist, und ein aus der Fremde Stammender weniger Makel auf der Gemeinschaft zurückläßt, ergibt sich eine hohe Mobilität auch dieser Gruppe der Randständigen in mittelalterlichen, insbes. spätmittelalterlichen Gesellschaften. Inwieweit die hier ›idealtypisch‹ betrachteten Gruppen der Aussätzigen, Bettler, Dirnen und Henker eine eigene Form der Vergesellschaftung oder eine Art Subkultur mit eigenen Lebensformen429 und miteinander vernetzten Lebenswelten430 bilden, läßt sich nur für konkrete, historische Lebenszusammenhänge in mittelalterlichen Gesellschaften beurteilen. Es drängt sich freilich der Eindruck einer Gegenwelt auf, die unterschiedliche Funktionen in dieser gesellschaftlichen Formation zeitigen. Sie genügen den Bedürfnissen eines dualen 431 Klassifikationsschemas, in dem die Reinen von den Unreinen separiert werden. Diese Differenzierung vollzieht sich auf einer symbolischen Ebene durch die normative Kennzeichnungspflicht und Praxis bei Aussätzigen, Bettlern, Dirnen und Henkern; auf einer räumlichen Ebene scheint in den Städten eine topographische Konzentration in ›unreine‹ Gebiete und Viertel stattzufinden; im sozialen Sinne sind sie in wechselseitiger Abhängigkeit, Notgemeinschaft und erzwungener sozialintegrativer Distanz zur übrigen sozialen Welt. Sie lassen sich in einem System der Ächtung verorten, in dem das ›Unehrenhafte‹ die Basis der Gemeinsamkeit darstellt. 429 430 431 Der soziologische Streit um ›Lebensform‹ oder ›Mentalität‹ ist noch nicht geführt. Auch Bernhard Waldenfels wendet das Lebensweltkonzept auf die ›Moderne‹ an. Gerade für das Mittelalter wäre ein phänomenologischer Zugang aus soziologischer Sicht spannend. Vgl. Emile Durkheim und Marcel Mauss, De quelques formes primitives de classification, in: L’Année sociologique 6, 1903, S. 1-72. 170 Recht als Kultur. Wir haben an verschiedenen Stellen zu zeigen versucht, in welchem Sinne die betrachteten ›Außenseiter‹ funktionaler Bestandteil der mittelalterlichen Gesellschaften sind. Durkheims Theorie legt einen besonderen Akzent auf die emotive Dimension des sozialen Lebens. Diese scheint gerade für das Verständnis mittelalterlicher Gesellschaften nicht unwichtig.432 So ließe sich in Fortführung von Durkheim z. B. ›Ehre‹433 als ein ›symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium‹ entfalten, an dessen Teilhabe sich die mittelalterliche Gesellschaft scheidet. Wie freilich im soziologischen Sinne das Mittelalter kategorial und theoriebezogen in seiner Wirklichkeitsstruktur begriffen werden kann, läßt sich an dieser Stelle nicht weiter diskutieren. Mir scheint allerdings, daß eine Verknüpfung sozialstruktureller Ansätze, wie sie von Duby, Le Goff u. a. vertreten werden, mit einer dynamischen Konzeption von ›Interaktion‹434 und ›Kommunikation‹ in mittelalterlichen Gesellschaften vielversprechend ist. 432 433 434 Vgl. Irmgard Gephart, Geben und Nehmen im ›Nibelungenlied‹ und in Wolfram von Eschenbachs ›Parzival‹, Diss. Bonn 1994 und Peter Dinzelbacher, Gefühl und Gesellschaft im Mittelalter. Vorschläge zu einer emotionsgeschichtlichen Darstellung des hochmittelalterlichen Umbruchs, in: Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200, Düsseldorf 1986, S. 213 ff. Hierzu findet sich z. B. Material bei Hubertus Fischer, Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns ›Iwein‹, München 1983. Vgl. die glänzende Arbeit von Harald Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989. 171 Werner Gephart Die Randgruppen könnten ein solches dynamisches Element darstellen, gerade wenn man ihre positive Funktionalität für die normative Flexibilität des sozialen Lebens in Rechnung stellt, wie sie Emile Durkheim in seiner nach wie vor revolutionären These der Normalität des Verbrechens entwickelt hat. 172 Recht als Kultur. SECHSTE VORLESUNG DIE SYMBOLISCHE INSZENIERUNG DES UNRECHTS IM NATIONALSOZIALISMUS Der ›Historikerstreit‹ ist längst aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Daß es ein ›historischer‹ Streit um Fragen deutscher Identität war, hat sich inzwischen erwiesen. Und so wird es eine wichtige Frage für die längerfristige Identität Deutschlands sein, ob man sich dieser Geschichte als einer gemeinsamen Verantwortung wird erinnern wollen. Unter diesen Voraussetzungen gewinnt die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einen neuen Akzent. Die Soziologen haben sich bei dieser Auseinandersetzung eigenartig bedeckt gehalten. Lange Zeit im Ruf, durch den Nationalsozialismus nicht belastet zu sein, waren die Forschungsanstrengungen, das Phänomen des Nationalsozialismus zu beschreiben oder gar zu erklären, außerordentlich gering.435 Das soziologische Desinteresse am gegenwärtigen Prozeß einer soziologisch einmaligen Art der Gesellschaftsbildung scheint auf dem gleichen Mißverständnis über die Arbeitsteilung von ›Geschichtswissenschaft‹ und ›Soziologie‹ zu beruhen: die ›Geschichte‹ und auch noch die ›Gegenwart‹ den Historikern zu überlassen, um sich auf nichts als ›Gesellschaft‹ zu beschränken. Ob sich die Soziologie diese Art von Abstinenz in der Konkurrenz der Disziplinen leisten kann, wage ich zu bezweifeln. Sie ist aber nicht nur gefährlich, weil das Fach damit leichtfertig sein Ideal auch: kultursoziologischer Aufklärung verspielt, sondern ein Eingreifen ist angesichts der latenten Soziologisierung der Geisteswissenschaften unumgänglich. Wenn sich das Fach nämlich von dem soziologischen Jargon, den es selbst in die Welt gesetzt hat (›Sozialisation‹, ›Identität‹ etc.), indigniert wieder abwendet, 435 Vgl. hierzu den Beitrag von Thomas Herz, Nur ein Historikerstreit? Die Soziologen und der Nationalsozialismus, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39, 1987, S. 560-570. 173 Werner Gephart darf es sich über Trivialisierungen und Banalisierungen soziologischen Wissens nicht wundern. I. Mythen, Klischees und differenzierte Wirklichkeiten der Gesellschaft im Nationalsozialismus Das Zauberwort des ›Historikerstreits‹ war die 436 Identitätsformel. Ist dies nur ein Zufall oder gleichsam die Spitze einer Begriffspyramide, auf der die historische Forschung zum Nationalsozialismus aufruht? Was ist von ›soziologischer‹ Bedeutung in neueren Arbeiten zum Nationalsozialismus und welche weiteren Fragen hätte sich die soziologische Forschung zu stellen, wenn sie die Gesellschaft im Nationalsozialismus als ein legitimes Thema akzeptieren würde? Unter diesem Blickwinkel wird die – wie immer – kontingente Auswahl neuerer Schriften gelesen. 1. Nationalsozialismus als Herrschaftssystem Für die Analyse der Herrschaftsstrukturen im Nationalsozialismus liefert der von Hans Mommsen herausgegebene Band über den ›Herrschaftsalltag im Dritten Reich‹ (1988) vielfältiges Material und komplexe Deutungsangebote. Im Streit um Führerzentrismus vs. Polykratismus tendieren die Beiträge zu einer vermittelnden Position: Ian Kershaw demonstriert, wie sehr Hitler zum Mythos wurde, von dem die Realität der ›außerordentlichen Eigenschaften‹ des Führers weit entfernt war. Dem Hitler-Mythos ist ja auch die Forschung lange Zeit aufgesessen und so besteht nun eher die Gefahr, die heuristischen Qualitäten der mehr oder minder explizit verwendeten Kategorie ›charismatischer Herrschaft‹ wieder zu verspielen. Ob das ›Charisma‹ – wie Kershaw meint – nach Weber »primär ein gesellschaftliches Produkt« sei,437 mag dahinstehen. Jedenfalls belegen die von Kershaw beigebrachten 436 437 Vgl. meine Besprechung in: Soziologische Revue 12, 1989, S. 314-318. Ian Kershaw, Hitlers Popularität. Mythos und Realität im Dritten Reich, in: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne Willems, Düsseldorf 1988, S. 24-52 (S. 25). 174 Recht als Kultur. Dokumente die außerordentliche inhaltliche Nähe zum ›charismatischen Legitimitätsglauben‹438 im Sinne Webers. Aber auch die strukturelle Problematik charismatischer Herrschaft, nämlich die Veralltäglichung des Außeralltäglichen in eine dauerhafte Organisation der Herrschaft, ist als Interpretationsfolie verwertbar. ›Anerkennung‹ des Führers als Pflicht, ›Bewährung‹ durch Erfolge (durch die kaum vorstellbaren Blitzkrieg-Siege 1939 bis 1941) und schließlich auch die Erosion des Charisma im Scheitern des Diktators. Es sind weitere Elemente der Selbststilisierung Hitlers und der gezielten Verbreitung des Mythos, die zu dem Idealtypus charismatischer Herrschaft passen: Das ›Zölibat‹ betont die Lösung von allen privaten Bindungen, und der demonstrative Verzicht auf das Reichskanzlergehalt stellte Hitler auch ökonomisch außerhalb der Banalitäten des Alltags.439 Sendboten und Satrapen sowie eine emotionale Vergemeinschaftung der ›Gemeinde‹ kennzeichnen das Umfeld des charismatischen ›Führers‹. Der ›Führerkult‹ ist daher das quasi-religiöse Instrument zur Erzeugung kollektiver Begeisterung.440 Hans Mommsen lenkt in der instruktiven Einleitung unser Augenmerk auf die Grenzen dieser ›emotionalen Vergemeinschaftung‹. Ebenso wie der ›Führer‹ vielfach ein ›Geführter‹ war, so ist auch der Mobilisierungseffekt der Gemeinschaftskulte in den Augen von Mommsen schlichtweg überschätzt. Vielmehr zeigten sich zunehmend ritualistische Züge in der nationalsozialistischen Repräsentation der Herrschaft,441 die mit dem Typus ›charismatischer Herrschaft‹ 438 439 440 441 Vgl. Dokumente zu Hitlers Popularität im Dritten Reich, in: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 54-96. Vgl. Ian Kershaw, Hitlers Popularität. Mythos und Realität im Dritten Reich, a. a. O., S. 45. Zu den religiösen Zügen im Hitler-Bild, vgl. ebd., S. 32 ff. Vgl. Hans Mommsen, Einleitung zu: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 9-23 (S. 19 ff.) 175 Werner Gephart eben nur unvollständig zu fassen sind. Neben Funktionsdefiziten der NSDAP hebt Mommsen einen grundlegenden Zielkonflikt des Herrschaftssystems hervor, der eine auffällige Parallele zum Scheitern sozialistischer Gesellschaften aufweist, dem Konflikt zwischen ›sozialer Betreuung und sozialer Kontrolle‹.442 Eine im übrigen nicht-fachliche Rekrutierung des HerrschaftsPersonals443 führt nicht nur zu Kompetenzmängeln, sondern öffnet den verschiedensten Spielarten mäzenatischer Versorgung, operettenhaftem Luxus und den schwarzen Limousinen Tür und Tor. Insofern also sind nicht die Auswüchse bürokratischer Herrschaft, sondern der Mangel einer spezifischen Ethik der Unpersönlichkeit für diese z. T. grotesken Erscheinungen nationalsozialistischer Herrschaft verantwortlich, die uns wiederum in sozialistischen Gesellschaften wiederbegegnet. Mir scheint Mommsens Fazit auch für den Soziologen außerordentlich bedenkenswert. Das praktische Versagen der Nationalsozialisten wird auf die Defizite ihres Politikverständnisses zurückgeführt: »Es ging von der Erwartung aus,« so Mommsen »die geforderte Gefolgschaftstreue durch ständige propagandistische Beeinflussung herbeizwingen zu können, und leugnete die Existenz divergierender gesellschaftlicher Interessen, die durch die Beschwörung der ›Volksgemeinschaft‹ nicht einfach verschwanden.«444 Die übrigen Beiträge des instruktiven Sammelbandes können im Lichte dieser These gelesen werden. Es geht um den ›Herrschaftsalltag‹ im Dritten Reich, der auf einer ›mittleren Ebene zwischen dem politischen System als ganzem und der Erfahrungswirklichkeit des Einzelnen‹445 anvisiert wird. 442 443 444 445 Ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 19 ff. Ebd., S. 21. Vgl. das Vorwort zu: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 6-8 (S. 6). 176 Recht als Kultur. Da Herrschaft im Alltag aber schlicht ›Verwaltung‹ heißt, geht es um verschiedene verwaltungsmäßig gesteuerte Lebensbereiche. Delia und Gerd Nixdorf räumen in ihrem Beitrag über ›Politisierung und Neutralisierung der Schule in der NS-Zeit‹446 mit einem verbreiteten Klischee über die totale Indoktrination auf, ohne aus der Schule einen Ort des Widerstands zu machen. Die Wirklichkeit ist eben komplizierter und dies je mehr man sich auch als Forscher vom Propagandabild des ›Führerstaats‹ befreit.447 Diese Studie läßt sich gerade als Enttrivialisierung platter ›Sozialisationstheorien‹ soziologischer Herkunft deuten. Delia und Gerd Nixdorf bringen zahlreiche Belege für ihre differenzierende Grundhypothese ein: »Die Schule erwies sich offenbar als nicht so brauchbar, Kinder und Jugendliche in den nationalsozialistischen Staat zu integrieren, sie für das Dritte Reich zu sozialisieren. Sie blieb aufgrund von Kontinuitäten und Traditionen, durch die die Lehrer gebunden waren, immer ein denkbarer potentieller Unsicherheitsfaktor – und das, obwohl eine tatsächliche Gefahr für das Regime nie von ihr ausging.«448 Zu dieser differenzierten Hypothese gelangen die Autoren aufgrund einer auch für die Soziologie gewinnbringenden Methodenvielfalt: Interviews, Aktenauswertung von Schularchiven, Schulaufsätze, Abiturthemen sowie den ergiebigen Gestapo-Akten aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, die z. T. im Dokumentationsanhang abgedruckt sind. Die Polykratismusthese bestätigt sich in der folgenreichen Konkurrenz von Schule und HJ um den Bildungsauftrag, der ganz im Sinne charismatischer Herrschaftsansprüche als ›erzieherische Sendung‹ bezeichnet wird. Die Orte der Erziehung sind in diesem Sinne, mit Hitlerbild und 446 447 448 Delia und Gerd Nixdorf, Politisierung und Neutralisierung der Schule in der NS-Zeit, in: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 225303. Vgl. ebd., S. 233. Ebd., S. 225. 177 Werner Gephart Hakenkreuzfahnen, symbolisch ausstaffiert,449 ohne daß diese Optik mit der tatsächlichen nationalsozialistischen Prägung des Schulsystems zu verwechseln wäre. Wurde hier bereits der Antisemitismus in der Schulpolitik differenziert gewichtet,450 so bietet die Studie von Hans Mommsen und Dieter Obst vielleicht die größten Überraschungen: ›Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933-1945‹451 zeichnet ein vielschichtiges Bild. Zunächst werden die Erkenntnisse bestätigt, wonach der Antisemitismus in der Öffentlichkeit eine regional stark unterschiedliche Intensität besaß und zumindest bis 1938 von einer geschlossenen antisemitischen Bewegung keine Rede sein kann.452 So wird auch die Reaktion auf die sog. ›Reichskristallnacht‹ schichtendifferenzierend behandelt. Es war ganz offensichtlich, daß das »brutale und hemmungslose Vorgehen von SA und NSDAP« im Widerspruch zu »tradierten gesellschaftlichen Normen« stand und auch als eine »ernsthafte Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« empfunden wurde.453 Hier freilich wurde wiederum der HitlerMythos wirksam, wonach der Diktator solche ›Übergriffe‹ mißbilligen würde. Es ist die sukzessive Verstrickung von Entrechtlichung, Deportation, gewaltsamer Aussiedelung unter stillschweigender Zustimmung der Kirchen, die bis zur Vernichtung führte. Dieser kumulative Prozeß hatte die wichtige sozialpsychologische Voraussetzung – die m. E. zumindest in die Zeit des ersten Weltkrieges mit Gaskrieg u. ä. zurückreicht – 449 450 451 452 453 Vgl. ebd., das Bildmaterial, S. 261-264. Vgl. ebd., S. 255 ff.; vgl. auch Dokumente zur Politisierung und Neutralisierung der Schule in der NS-Zeit, in: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 265-303. Hans Mommsen und Dieter Obst, Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933-1943, in Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 374-426. Vgl. ebd., S. 387. Ebd., S. 379. 178 Recht als Kultur. , daß wichtige ›moralanaloge Hemmungsmechanismen‹454 weggefallen waren. Die hieraus entstehende doppelte Moral, die sich im kinderlieben KZ-Schergen symbolisiert, war mit einer selektiven Wirklichkeitswahrnehmung in der Bevölkerung gekoppelt,455 die noch dadurch begünstigt wurde, daß auch die Opposition erst spät Kenntnisse über die Strategie der ›Endlösung‹ erhielt. Aber dies beruhte – wie Mommsen und Obst darlegen – nicht auf intendierter Geheimhaltung, sondern es ist durch »das für das Regime bezeichnende System fehlender Kommunikation der Spitzenbehörden untereinander« zu erklären.456 Also auch in der Behandlung der Juden führt der von Mommsen verfolgte Deutungsansatz zu einer Entdämonisierung des Diktators, sowie einer Entideologisierung eines vereinfachten Bildes vom häßlichen und blutrünstigen Deutschen. Es ist vielmehr – so das Fazit – eine Verknüpfung von Verdrängungswille und Verdrängungsbereitschaft auf der einen Seite und die innere Dynamik eines Systems, in der die Verfolgung eskaliert, nachdem die ›Gemeinschaftsbildung‹ nicht nur symbolisch, sondern negativ durch soziale Ausgrenzung vollzogen wird, ohne daß relevante Gegenkräfte verblieben wären.457 Zu diesen Gegenkräften hätte die Justiz als Wahrer von Recht und Gerechtigkeit gehören können. So hat es zwar die Unterbindung antijüdischer ›wilder‹ Aktionen gegeben,458 aber nur vor dem Hintergrund der juristischen Forderung einer Paradoxie, nämlich die Entrechtlichung der Juden ›rechtlich‹ zu sichern. Hiervon versprach man sich gar eine ›Normalisierung‹ der Judenfrage. Hier liegt vielleicht eine besonders scharfsichtige Deutung der objektiven Systemfunktion der Judenverfolgung: »Die Judenfrage wurde gleichsam zum Ventil, durch das sich die schrittweise Aushöhlung des Rechtsstaates 454 455 456 457 458 Vgl. ebd., S. 409. Vgl. ebd., S. 411. Vgl. ebd., S. 414. Vgl. insbesondere ebd., S. 418. Vgl. ebd., S. 383. 179 Werner Gephart und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung mit gesteigerter Kraft vollzog, um schließlich auf das gesamte System zurückzuschlagen.«459 Somit gewinnt die Deutung des Rechtssystems einen wichtigen Stellenwert für die Analyse der Herrschaftsstrukturen im Nationalsozialismus. 2. Nationalsozialismus als Unrechtssystem Den Gründen der Justizkatastrophe in der NS-Zeit gehen die Autoren eines von Ralf Dreier und Wolfgang Sellert herausgegebenen Sammelbandes über ›Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹ weiter nach, der aus einer Göttinger Vorlesungsreihe hervorgegangen ist. Manfred Walther setzt sich umfassend mit der These Gustav Radbruchs auseinander, nach der aus dem Geist des Rechtspositivismus das ›gesetzliche Unrecht‹ des 460 Nationalsozialismus hervorgegangen sei. Walther zeichnet die ›idealistischen‹ Züge dieser Deutung nach, die ja auch den Charakter einer Selbstanklage hatte. Freilich ist weniger Radbruchs Theorie der Rechtsgeltung zu bemühen, als eine ›positivistische‹ Mentalität, in der sich Recht vollständig in Politik auflöst. Das Schwanken zwischen (Schein-) Legalismus und der Erosion des Ideals der Gesetzesbindung, das sich in der Abschaffung des Analogieverbots im Strafrecht besonders deutlich zeigt,461 dieses Wechselbad hatte seine Funktion: »Es ging letztlich darum, jede eigene Struktur eines gegenüber Politik ausdifferenzierten Rechtssystems zu zerstören und in diesem Sinne den totalen Staat durchzusetzen, Recht vollständig in Politik aufzulösen.«462 459 460 461 462 Ebd., S. 399. Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen im ›Dritten Reich‹ wehrlos gemacht?, in: Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹, hrsg. v. Ralf Dreier und Wolfgang Sellert, Frankfurt am Main 1989, S. 323-355. Vgl. hierzu den Beitrag von Hans-Ludwig Schreiber, Die Strafgesetzgebung im ›Dritten Reich‹, in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹, a. a. O., S. 151179. Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen im ›Dritten Reich‹ wehrlos gemacht? a. a. O., S. 343. 180 Recht als Kultur. Soziologisch gesprochen sind es also Defizite der strukturellen Differenzierung, die zur Willfährigkeit der Justiz unter dem Hakenkreuz beitrugen. Der Beitrag von Hubert Rottleuthner, in dem die Rolle von ›Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie‹ im Nationalsozialismus thematisiert ist, wirft irritierende Fragen auf. So ist es ›Rechtsphilosophen und Helfern aus den dogmatischen Disziplinen‹ offensichtlich nicht schwer gefallen, für die Einrichtung von Konzentrationslagern, die Auflösung der Gewerkschaften, die Abschaffung des Rechtsstaates und die Entrechtlichung der Juden ›Begründungen‹ zu finden. Aber Rottleuthner stellt die skeptische Frage nach der Kausalbedeutung dieser Arbeiten: »Die Rechtsphilosophen im Nationalsozialismus mögen alles mögliche an (rechts-) politischen Maßnahmen der Machthaber legitimiert haben. Ihre Produkte dürften aber kaum von einem größeren juristischen, geschweige denn nicht-juristischen Publikum zur Kenntnis genommen worden sein ...«463 Dies ist nicht als Entlastung gemeint, sondern als soziologische Differenzierung rein idealistischer Deutungen des Nationalsozialismus. Freilich verbleibt auch nach diesem material- und deutungsreichen Band464 über »Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹« der Eindruck, daß eine rechtssoziologische Interpretation des nationalsozialistischen ›Rechts‹systems noch aussteht. Wie der Weg von der ›Freirechtsschule‹ in das ›konkrete Ordnungsdenken‹ umschlagen konnte, wird von Okko Behrends465 plausibel gemacht. (Dies stützt im übrigen nochmals Webers Skepsis gegenüber Ehrlich und Kantorowicz, 463 464 465 Hubert Rottleuthner, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie im Nationalsozialismus, in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹, a. a. O., S. 295-322 (S. 302). Vgl. u. a. die Beiträge von Hinrich Rüping, Zur Praxis der Strafjustiz im ›Dritten Reich‹, in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹, a. a. O., S. 180-193, und im selben Band von Uwe Diederichsen, Nationalsozialistische Ideologie in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Ehe- und Familienrecht (S. 241-272). Okko Behrends, Von der Freirechtsschule zum konkreten Ordnungsdenken, in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹, a. a. O., S. 34-79. 181 Werner Gephart der eben im propagierten Verlust formaler Rechtsrationalität auch eine Gefährdung materialer Rationalität befürchtete.) Eine komplexere, theoriegeleitete und empirisch gehaltvolle Deutung des nationalsozialistischen Unrechtssystem steht also noch aus, während in der Studie von Lothar Gruchmann466 ein komplexes historiographisches Bild der NS-Justiz entwickelt wird. Der vom Bundesjustizministerium herausgegebene Katalog zu einer Ausstellung ›Justiz im Nationalsozialismus‹467 liefert ungewöhnlich reichhaltiges Material, das auch für den soziologischen Zugang inspirierend ist. So gewinnt das umfängliche Bildmaterial eine eigenständige Bedeutung, nicht nur als Illustration des Geschehens im Sinne einer Bebilderung, sondern als Strukturmerkmal des nationalsozialistischen ›Rechts‹. Hier finden sich eindrucksvolle Belege für eine EntSprachlichung des Rechts, eine Flucht in den Mythos und eine vormoderne Rechtssymbolik, die an das zwiespältige Rechtsgefühl appelliert und nicht an die Vernunft. Die Abstreifung konkret sinnlicher Tatbestandsmerkmale im abstrakten Recht ist nach Max Weber der Ausgangspunkt rechtlicher Rationalisierung, ein Prozeß, der im Nationalsozialismus wieder zurückgeschraubt wurde. Schließlich möchte ich auf die Ergebnisse komparativer Analysen über ›Law in Totalitarian Societies‹, die auf dem Weltkongreß für Soziologie in Madrid vorgestellt wurden, verweisen.468 3. Nationalsozialismus als Phänomen der Kultur/Unkultur Die ›kulturellen‹ Aspekte des Nationalsozialismus sind nicht erst in allerjüngster Zeit in den Blick genommen. Saul Friedländers faszinierende Studie ›Kitsch und Tod. Der 466 467 468 Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, 1933-1940, München 1988. Im Namen des deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus, Köln 1989. (Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz). Vgl. meinen Beitrag auf dem ISA-Kongreß in Madrid 1990, The Totalitarian Use of Symbols in the Nazis’ Perversion of the Law (unveröffentl.). 182 Recht als Kultur. Widerschein des Nazismus‹ (München/Wien 1984) gehört dazu, wie verschiedene Arbeiten von George L. Mosse. Die Kunsthistoriker haben aus Anlaß der 50 Jahre zurückliegenden Ausstellung zur ›Entarteten Kunst‹ das Scheitern der ästhetischen Moderne im Nationalsozialismus dokumentiert und analysiert.469 Hier ist nun eine Arbeit anzuzeigen, in der Ergebnisse und neuere Deutungen zur ›Sprache im Faschismus‹ vorgestellt werden. Der gleichnamige, von Konrad Ehlich herausgegebene Band umfaßt verschiedene Einzelstudien, die wiederum Mythen und Klischees zur Sprachpolitik im ›Dritten Reich‹ differenzieren. Es handelt sich um linguistische Arbeiten, die freilich aufgrund der hervorgehobenen pragmatischen Sprachfunktion eine besondere Nähe zur Soziologie aufweisen. Ein Beitrag von Claus Ahlzweig über ›Die deutsche Nation und ihre Muttersprache‹ ist nicht nur aus gegebenem Anlaß der Angleichung zweier deutscher Sprachkulturen von Interesse. Die ›Muttersprache‹ zeigt deutlich die Ambivalenzen des Konzepts der ›Gemeinschaft‹ auf, für die man nicht allein Tönnies haftbar machen kann. Der organisatorische Streit um die wahre Sprachpflege im Dritten Reich offenbart nicht nur ihre unfreiwillige Komik, sondern ergänzt zugleich das Bild polykratischer Herrschaftsstrukturen auch in diesem Feld der ›Kulturpolitik‹.470 Angesichts der propagierten ›völkischen‹ Ideologie ist es aufschlußreich zu sehen, wie wenig man von Dialekten hielt, um eine nazistisch infizierte Standardsprache zu ›pflegen‹. Arbeiten zur impliziten Texttheorie der Nationalsozialisten471 sind auch für den Sprachsoziologen interessant. Der instruktive Beitrag von Johannes Volmert über ›Politische Rhetorik des 469 470 471 Vgl. z. B. den Katalog zur Ausstellung: Museum der Gegenwart. Kunst in öffentlichen Sammlungen bis 1937. Kunstsammlung NordrheinWestfalen, Düsseldorf 1987. Vgl. Gerd Simon, Sprachpflege im ›Dritten Reich‹, in: Sprache im Faschismus, hrsg. v. Konrad Ehlich, Frankfurt am Main 1989, S. 58-86. Vgl. Otto Ludwig, Texte als Explikationen von Haltungen. Zur Texttheorie der Nationalsozialisten in Deutschland, in: Konrad Ehrlich (Hrsg.), Sprache im Faschismus, a. a. O., S. 120-136. 183 Werner Gephart Nationalsozialismus‹ ist für meine oben formulierte These der ›Entsprachlichung‹ weiterführend. Er betont nämlich, neben den intrinsischen Eigenschaften politischer Rhetorik, die ›situativen Faktoren‹, ohne sie freilich weiter auszudeuten. So nennt Volmert unter den ›redebegleitenden Faktoren und Rahmenbedingungen kommunikativen Handelns‹ die situativen Elemente »als für den Faschismus unverzichtbarer Rahmen für die Inszenierung des Redeereignisses: ›historische Stätten‹ ›geschichtliche‹ Kulissen, Daten und Räume; die Ausstattung der Redner-Tribüne als ›Altar‹ eines gleichsam rituellen Geschehens, dazu die Choreographie des ›Gefolges‹ und der militärischen Formationen, die Dramaturgie des szenischen Ablaufs usw.«472 Trotz verschiedener Anläufe, diesen quasireligiösen Charakter der Parteiliturgien einzufangen, steht die Verknüpfung der soziologisch faßbaren situativen Elemente mit der Struktur dieser Art entsprachlichter Sprechakte noch aus. 4. Nationalsozialismus als Bewegung zur ›Gemeinschaft‹ Die soziologisch ambivalente, ›gemeinschaftliche‹ Dimension, für die man aber auch nicht beliebige Substitute anbieten kann – wenngleich Webers Idee des ›Gemeinschaftsglaubens‹ auch theoretisch ausbaufähig ist – wird in verschiedenen Arbeiten berührt. Es wäre fatal, die nazistische Art der Gemeinschaftstechnik auf begriffssoziologische Konstrukte reduzieren zu wollen. Die Art, tödliche Grenzen der ›Gemeinschaft‹ nach außen zu ziehen, um gleichzeitig die Binnenvergemeinschaftung hochgradig emotional zu steuern, verdient m. E. gleichwohl eine größere soziologische Aufmerksamkeit. Konrad Kwiet bietet einen umfassenden historiographischen Überblick über ›Judenverfolgung und Judenvernichtung im Dritten Reich‹, der in einem von Dan Diner (1987) herausgegebenen Sammelband zum Historikerstreit zu finden ist. Hier sind nicht nur die grausigen Fakten zu finden, sondern 472 Johannes Volmert, Politische Rhetorik des Nationalsozialismus, in: Konrad Ehrlich (Hrsg.), Sprache im Faschismus, a. a. O., S. 137-161 (S. 138). 184 Recht als Kultur. weitere Differenzierungen bei dem letztlich wohl untauglichen Versuch, die Judenvernichtung zu ›erklären‹. Nochmals steht die ›idealistische‹ Erklärungsstrategie im Zweifel, nämlich den Sprung von Rassenfanatismus und Heilsgewißheit in die schreckliche Wirklichkeit zu überbrücken. Prüfenswert erscheint die zitierte These Martin Broszats, nach der die Judenvernichtung »nicht nur aus dem vorgegebenen Vernichtungswillen [entstand], sondern auch als ›Ausweg‹ aus einer Sackgasse, in die man sich selbst manövriert hatte. Einmal begonnen und institutionalisiert, erhielt die Liquidierungspraxis jedoch dominierendes Gewicht und führte schließlich faktisch zu einem umfassenden ›Programm‹.«473 Diese These einer gewissen Eigendynamik der Entwicklung, wie Mommsens funktionale Deutung der Ventil-Funktion der Entrechtung (s.o.), sollen freilich die Beteiligung der Bevölkerung in den verschiedenen Phasen der Judenverfolgung nicht herabspielen. Und die Aufklärung hierüber ist noch nicht abgeschlossen. Die DDR-Historiographie hat sich im Mantel des staatlich verordneten Antifaschismus unangenehmen Fragen entziehen können. Die Öffnung der Archivbestände in den ehemals ›sozialistischen‹ Ländern wird neues Tatsachenmaterial zu Tage fördern, wie es zuvor schon der Durkheim-Spezialist Victor Karady für den Holocaust der ungarischen Juden in eindrucksvoller Weise verwendet hat. In der Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus ist schon seit Jahren die Alltagsgeschichte thematisiert. Detlev J. K. Peukert greift in seinem Beitrag ›Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Dritten Reiches‹474 diese Perspektive auf, um den Schein irgendeiner Art von ›Normalität‹ wieder zu entlarven. Es 473 474 Martin Broszat, Hitler und die Genesis der Endlösung. Aus Anlaß der Thesen von David Irving, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25, 1977, S. 739-775, S. 753; hier zitiert nach Konrad Kwiet, Judenverfolgung und Judenvernichtung im Dritten Reich. Ein historiographischer Überblick, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, hrsg. v. Dan Diner, Frankfurt am Main 1987, S. 237-264 (S. 246). Detlev J. K. Peukert, Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Dritten Reiches, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, hrsg. v. Dan Diner, a.a.O., S. 51-61. 185 Werner Gephart wird eindringlich auf weitere Opfergruppen und ihre symbolische Stigmatisierung wie faktische Vernichtung hingewiesen. Was Peukert beunruhigt, ist das Verhältnis von Barbarei und Moderne, das im Prozeß der Zivilisation nicht gelöst wurde. Aber dies bleibt eine zentrale Frage der Deutung des Nationalsozialismus, der sich Soziologen nicht so ohne weiteres entziehen können: Sind es bloße ›Katarakte der Moderne‹ (Stürmer), Rückfälle im ›Projekt der Moderne‹ (Habermas) oder ist es die Kehrseite des Rationalisierungsprozesses, die erst eine Verknüpfung von ›wissenschaftlicher‹ Rassebiologie mit den Techniken ›tödlicher Wissenschaft‹ ermöglicht hat unter Verwendung des ›rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare‹ (M. Weber), insofern ›rationalste‹ Herrschaftsausübung: der Bürokratie. 5. Instrument der Nationalsozialismus als ökonomisches System Die Debatte über den Anteil des Kapitals an Genese und Fortbestand des Nationalsozialismus ist nicht neu. Auch in dieser Fragestellung sind Differenzierungen zu vermelden, wie sie z. B. in dem Beitrag von Ulrich Herbert ›Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der Weltanschauung im Nationalsozialismus‹ zu finden sind.475 Dieser Artikel bietet ein komplexes Bild des Einsatzes ausländischer Zwangsarbeiter, Kriegsgefangener, KZ-Häftlinge und Juden. Der Einsatz geschah »während des Krieges durchweg nicht allein nach kriegswirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern durchgängig nach politischideologischen, insbesondere rassischen Kriterien. Dabei rückten kriegswirtschaftliche Aspekte im Verlaufe des Krieges a) parallel zur Verschlechterung der Kriegslage und insbesondere zur Verschärfung des Arbeitskräftemangels und b) wiederum gestuft nach der Stellung der einzelnen Gruppen in der 475 Vgl. Ulrich Herbert, Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der ›Weltanschauung‹ im Natonalsozialismus, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, hrsg. v. Dan Diner, a.a.O., S. 198-236. 186 Recht als Kultur. rassistischen Hierarchie Vordergrund.«476 der Nationalsozialisten in den In der Studie von Klaus-Jörg Siegfried über ›Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939-1945‹477 wird diese These der abgestuften Diskriminierung der Zwangsarbeiter bestätigt. Das Volkswagenwerk ist wegen seines hohen sozialpolitischen Anspruchs, der von dem ›genialen Konstrukteur‹ Porsche in der Motorisierungskampagne des NSRegimes gestützt wurde, von besonderem Forschungsinteresse. In Parallele zu der Hamburger Daimler-Benz-Studie (1984) kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, daß trotz der Präsenz der Gestapo im Werk und des Kontrollanspruchs von NSDAP und DAF478 durchaus Handlungsspielräume bestanden. Das Modell einer reinen Kommandowirtschaft ist verabschiedet, und damit auch die Vorstellung einer Auflösung von Ökonomie in Politik, wie umgekehrt die These der ökonomischen Steuerung der Politik nicht haltbar ist. Um welche Art von ›relativer Autonomie‹ es sich dann am Ende handelt, dies scheint mir zu den wichtigen Fragen zu gehören, in denen die soziologische Theorie weiterführen könnte. Auf unsere Ausgangsfrage nach dem impliziten Gebrauch von Soziologie in neueren historischen Arbeiten zum Nationalsozialismus und den hieran anschließenden soziologischen Folgeproblemen läßt sich nunmehr eine Antwort geben. Eine soziologische Forschungsperspektive steht – wenn man von Ausnahmen absieht 479 – den historischen Arbeiten 476 477 478 479 Ebd., S. 233. Klaus-Jörg Siegfried, Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939-1945. Wolfsburger Beiträge zur Stadtgeschichte und Stadtentwicklung, Frankfurt am Main/New York 1988. Siehe hierzu auch die eindrucksvolle Studie von Tilla Siegel, Rationalisierung statt Klassenkampf. Zur Rolle der Deutschen Arbeitsfront in der nationalsozialistischen Ordnung der Arbeit, in: Herrschaftsalltag im Dritten Reich, hrsg. v. Hans Mommsen, a. a. O., S. 97-150. So vor allem Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Berlin 1987; vgl. hierzu statt vieler die Kritik von Hans Mommsen, Das Ressentiment als Wissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988, S. 495-512. 187 Werner Gephart durchaus nahe. Um so erstaunlicher bleibt die Tatsache, daß – wie Hans Ulrich Wehler in seinem ›polemischen Essay‹ zum Historikerstreit formuliert – »die kompetenten Politikwissenschaftler, die Politischen Soziologen, ja die Sozialwissenschaftler überhaupt ... als interessierte, gleichwohl stumme Beobachter am Rande standen.«480 Es mag sein, daß auch methodisch begründete Unklarheiten im Verhältnis der Soziologie zur Geschichtswissenschaft eine Rolle spielen. In der Sache sehe ich die schwierige Aufgabe der Soziologie darin, die Einseitigkeiten rein interessentheoretischer oder idealistischer Ansätze, gemeinschaftstheoretischer und kulturalistischer Deutungsmuster des Nationalsozialismus zu überwinden. Wenn die Soziologie hierbei nicht in schwindelnde Theoriehöhen abheben will und auch noch von den Historikern ernst genommen werden will, läßt sich die unbequeme Auseinandersetzung mit ›historischen‹ Details unerfreulichster Art hierbei nicht vermeiden. Die symbolische Dimension des Rechts eröffnet ein aussagekräftiges Forschungsfeld. II. Zur symbolischen Inszenierung Nationalsozialismus des Unrechts im Zwar ist die symbolische Dimension von Recht als einer primären Sphäre der Kultur noch immer weitgehend verkannt. Allerdings gibt es Hypothesen oder Tendenzaussagen über langfristige Prozesse der De-Symbolisierung481 im Recht, ohne daß Rückschläge und Kehrtwendungen dieser Art von ›Rationalisierung‹ des Rechts in hinreichender Weise analysiert sind. So gilt es einmal, die symbolgeschichtlichen Hypothesen zur Entwicklung des Rechts zu präzisieren. Am Beispiel des symbolischen Gebrauchs von Recht im Unrechtssystem des Nationalsozialismus läßt sich nicht nur der Fehlschlag einer Re- 480 481 Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum ›Historikerstreit‹, München 1988, S. 200. Die verschiedenen Ansätze zur soziologischen Analyse von Symbolen und Symbolsystemen haben sich noch nicht zu einem eigenständigen Gebiet soziologischer Symbolforschung ausdifferenziert. 188 Recht als Kultur. Symbolisierung studieren, sondern es wird behauptet, mit der symbolischen Dimension ein wichtiges Instrument zur Analyse der nationalsozialistischen Herrschaft einschließlich seines ›Rechts‹-systems fruchtbar zu machen. Der Ausbau der ›Symbolschutzdelikte‹ und ihre Verfolgung in den ›Sondergerichten‹ wird als Indikator für die Empfindlichkeit eines Systems betrachtet, das sich nicht nur physischer, sondern auch symbolischer Gewaltmittel zur Absicherung seiner Herrschaft bedient, die in einer unheilvollen Mischung aus antimodernen und ›modernen‹ Elementen besteht. 1. ›Symbolische‹ Elemente des Unrechtssystems Die nationalsozialistische Bewegung hat sich auch als eine symbolische Revolution verstanden. In unserem heutigen Bild, wie es in fotografischen Darstellungen, Film und Fernsehen vermittelt wird, ist diese Epoche manchmal verführerisch einfach jeweils über die symbolischen Formen identifiziert: die Hakenkreuze, Armbinden, Uniformen, der Judenstern, die gestreifte Kleidung der KZ-Häftlinge usf. prägen das Bild des Nationalsozialismus. Das Recht und die Träger der Entwicklung eines ›neuen‹ ›germanischen Rechts‹ waren hiervon nicht ausgenommen. Am 1. Oktober 1936 legten Richter, Staatsanwälte und alle sonstigen zum Tragen einer Amtstracht verpflichteten Beamten der Reichsjustizverwaltung das – wie es in einem Zeitungsbericht heißt – zum erstenmal »vom Führer verliehene Hoheitsabzeichen« kollektiv an.482 Der sog. ›deutsche Gruß‹ hatte nach einem Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 22. Januar 1935 schon vorher ganz ebenso wie die ›Führerbilder‹ in die Gerichtssäle Eingang gefunden 482 Stadtanzeiger Köln, 2. 10. 1936. 189 Werner Gephart Feier aus Anlaß des Anlegens der ›Hoheitszeichen‹ am 1.10.1936 im Kriminalgericht Moabit. Quelle: Bilderdienst Süddeutscher Verlag, abgedr. in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und Nationalsozialismus, Kataog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz, hrsg. vom Bundesminister der Justiz, Köln 1989, Abb 198 S. 303. Schutz der ›inneren Front‹. Quelle: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und Nationalsozialismus, a. a. O., Abb 166 S. 208. Aber was soll an diesem Vorgang der symbolischen Gleichschaltung bzw. symbolischen Überblendung der Justiz so aufregend sein? Ist es mehr als die symbolhafte Angleichung an andere Staatsbereiche in einem Herrschaftssystem, das die subtile Verknüpfung von Symbolen der Gemeinsamkeit und Verschiedenheit (etwa zwischen SA und SS) zur höchsten Perfektion getrieben hat? 190 Recht als Kultur. Der symbolische Zugriff auf das Recht ist symptomatisch für das ›Rechtsverständnis‹ im Nationalsozialismus. Es muß – nach einer Rede Görings vor der Akademie für Deutsches Recht – immer »blut- und gehaltvoll in lebendiger Verbindung mit dem Volke stehen und aus dem Volke heraus geboren werden«. Dieses symbolhafte Pathos, das ja dadurch seinen Schrecken gewinnt, daß die vermeintliche Metapher des Blutes in die blutige Wirklichkeit übersetzt wurde, ist im Parteiprogramm der NSDAP auch auf die Rechtssprache übertragen. So heißt es: »Das Recht des nationalsozialistischen Reiches muß somit der Ausdruck des neugermanischen Lebens und Raumgefühls sein, es muß in seinem klaren Stilgefüge den grandiosen Bauten des Dritten Reiches entsprechen...«483 Es wird also eine Entsprechung von ›innerer‹ und ›äußerer‹ Architektur des Rechts postuliert. Was ist aus diesem penetranten Symbol- und Gestaltungswillen für das Recht geworden? Z. B. die berüchtigte ›Volksschädlingsverordnung‹, das ›Heimtückegesetz‹, das Gesetz zur sog. ›Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹ und schließlich eine für unseren Zusammenhang bemerkenswerte Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935, in dem die – wie ich es nennen möchte – Clanverfassung des NS-Regimes die symbolische Verletzung seiner Totems unter Strafe stellt: »Wer öffentlich die NSDAP, ihre Gliederungen, ihre Hoheitszeichen, ihre Standarten oder Fahnen, ihre Abzeichen oder Auszeichnungen beschimpft oder böswillig und mit Überlegung verächtlich macht wird mit Gefängnis bestraft.« (Art. 5 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, §134b StGB) Das System hat sich damit unter strafrechtlich sanktionierten Symbolschutz gestellt, was nochmals deutlich macht, welche ungeheure Bedeutung die nationalsozialistische Herrschaftstechnik den Totems und ihrer Tabuierung zumaß, während Goebbels z. B. vom Vorwurf eines 483 Hans Frank, Der Schulungsbrief 1939, S. 182 ff.; abgedr. in: Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Im Namen des deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung, Köln 1989, S. 110. 191 Werner Gephart Verstoßes gegen das Republikschutzgesetz – nach einer haßerfüllten Rede, die er im Volksgarten in Mönchengladbach 1930 gehalten hat – von den Richtern der Weimarer Republik frei gesprochen wurde, mit bemerkenswerten Gründen, wie man im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf nachlesen kann.484 Diese symbolische Aufladung des Rechtssystems führt zu ungeheuren Spannungen. Denn die langfristige Entwicklung des Rechts ist eher durch eine Ent-Symbolisierung 485 gekennzeichnet, nämlich durch eine Lösung vom materiellen Substrat des Damnums, der erhobenen Schwurhand, der ausgeklügelten Strafen am Körper486 usf. Die bedrückendsten Beispiele der Mißachtung rechtsstaatlicher Traditionen sind – wie ich meine bezeichnenderweise – Praktiken der symbolisch inszenierten Mißachtung des Menschen. So wird der Reichstagsabgeordnete Kuhnt (SPD), von SA-Leuten umringt, auf einem Karren zum ›Verhör‹ abgeholt. Chemintzer SA fährt den Reichtagsabgeordneten Kuhn (SPD) auf dem Karren zum ›Verhör‹. Quelle: Bildarchiv Gerstenberg, abgedr. in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und Nationalsozialismus, a. a. O., Abb 58 S. 61. 484 485 486 Vgl. Rep. 10/230, 231 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Kalkum. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 396 f. Vgl. Michel Foucault, Surveillir et punir, a. a. O. 192 Recht als Kultur. Der symbolische Terror ist subtil. In Gesellschaftskleidung – vor den Augen der Öffentlichkeit – auf einer Art Mistkarren zu sitzen, ist im höchsten Grade demütigend. Dem als ›hohen Herrn‹ Verachteten wird – so suggeriert das Arrangement – sein Wagen mit Chauffeur nicht mehr nützen, denn er sitzt schon auf dem Schinderkarren, der zur Richtstätte führt, obwohl doch ›erst‹ ein Verhör angesagt ist. Dabei hatte Göring die ›Acht‹ als ruhmvolles Beispiel deutscher Rechtsgeschichte herausgestellt: »Man ächtete gewisse Elemente, machte sie vogelfrei und stellte sie damit außerhalb des Rechts und des Gesetzes.«487 Der ehemalige Reichstagspräsident Paul Löbe muß – als er in das KZ Dürrgoy eingeliefert wird – ein Spalier von Mitgefangenen abschreiten, so als nähme er eine Parade ab, wobei er einen Strauss aus Disteln in der Hand hält. Einlieferung von Paul Löbe in das KZ Dürrgoy. Quelle: Bildarchiv Gerstenberg, abgedr. in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und Nationalsozialismus, a. a. O., Abb 84 S. 87. Diese Art der symbolischen Verhöhnung des Menschen ist durch ihren nicht-sprachlichen Charakter gekennzeichnet. 487 Hermann Göring, Die Rechtssicherheit Volksgemeinschaft, Hamburg 1935, S. 9. als Grundlage der 193 Werner Gephart Die oktroyierte Selbstbezichtigung der Nazi-Opfer, die sich wegen ›Rassenschande‹, ›Beschwerdeführung‹ bei der Polizei oder als ›Staatsverbrecher‹ eine Schrifttafel umzuhängen hatten, indiziert hingegen auf widersprüchliche Weise den symbolischen Notstand des Regimes. Links: Verhöhnung wg. ›Rassenschande‹, rechts: Rechtsanwalt Dr. Spielgel wird von SA-Männern durch die Straßen von München getrieben. Quelle: Ullstein-Bilderdienst, abgedr. in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und Nationalsozialismus, a. a. O., Abb. 108 S. 117 (links), Abb 81 S. 86 (rechts). Verhöhnung eines jüdischen Mitglieds der ›kommunistischen Jugend‹. Quelle: Bildarchiv Gerstenberg, abgedr. in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und Nationalsozialismus, a. a. O., Abb 79 S. 85. Denn wo die ›Rassenschande‹, ›Querulantentum‹ und ähnliche Tätertypiken nicht inszenierbar und auch nicht ohne Deutung an Gesicht und Gestalt ablesbar sind, da erst werden Menschen mit 194 Recht als Kultur. einem buchstäblichen Etikett versehen, so wie man eine Ware auszeichnet. Der Versprachlichung wird also nicht nur durch den verhöhnenden Inhalt der Worte ihr partiell rationaler Charakter genommen, sondern die symbolische Verdinglichung des Subjekts zu einem Etikettenträger (dem auch noch der Schein einer freiwilligen Sprachform unterschoben wird) setzt die Eigendynamik der diffusen Symbolisierung wieder frei. Die nationalsozialistischen Repressionstechniken haben sich also archaischer Mechanismen des Symbolgebrauchs bedient: die Symbole einer neuen Identität (das Hakenkreuz), die zugleich das identitätsverbürgende symbolische Pendant, den Judenstern, hervorbringt;488 die Anknüpfung an mittelalterliche Techniken der Etikettierung – wie wir sie oben kennen lernten – ist hierbei auffällig.489 Die symbolischen Techniken der Verfemung und des Verächtlichmachens und schließlich die bekannte Inszenierung des Symbolrausches auf den Parteitagen.490 Woher kommt dieser fanatische Glaube an die Macht der Symbole? Gibt es gar einen anthropologisch bedingten Symbolbedarf? Haben diese Symbole wirklich Anteil an der Macht oder sind sie nur der äußere, pseudoreligiöse Schein der neuen Gemeinschaft? Gibt es u. U. Symbolschübe im Prozeß der Entfaltung nationalsozialistischer Herrschaft? Und ist am Ende diese Entsprachlichung des öffentlichen Lebens vielleicht schon der treffsichere Indikator für das Unrecht, das in ihrem Namen geschieht? 488 489 490 Dies sind insofern ›kognitive‹ Funktionen des Symbolgebrauchs im Sinne primitiver Klassifikationssysteme (vgl. Emile Durkheim und Marcel Mauss, De quelques formes primitives de classification. Contribution à l’étude des représentations collectives, in: L’Année sociologique 6, 1903, S. 1-72); diese ›klassifikatorische‹ wird von der emotiven Funktion überdeckt. Vgl. Frantisek Graus, Organisationsformen der Randständigen. Das sogenannte Königreich der Bettler, in: Rechtshistorisches Journal 8, 1989, S. 235-255 (S. 239 f.). Vgl. hierzu den Beitrag von Horst Ueberhorst, Feste, Fahnen, Feiern. Die Bedeutung politischer Symbole und Rituale im Nationalsozialismus, in: Politik der Symbole, Symbole der Politik, hrsg. v. Rüdiger Voigt, Opladen 1989, S. 157-178. 195 Werner Gephart Bevor wir auf diese Fragen weiter eingehen, ist ein Blick auf die Strukturen des ›Rechtssystems‹, insbesondere die Rolle der ›Träger‹ der Ent-Rationalisierung des Rechts vonnöten. 2. Träger des nationalsozialistischen Unrechts Ralph Angermund hat für die ambivalente Haltung der Justiz im Nationalsozialismus die prägnante Formel vom ›geprellten Richterkönig‹491 verwendet. Eigene Karriereinteressen der Justiz und weniger innere Verwandtschaften mit der SA, Hoffnungen der Richterschaft auf einen autoritären Führerstaat sowie die probate Mischung aus ›justizfreundlichen‹ Maßnahmen und Bedrohungen haben die Willfährigkeit der Justiz befördert. Hierbei war offensichtlich zunächst einigermaßen unklar, welche Vorstellungen über Rechtspolitik überhaupt bestanden, bis schließlich die bekannten Kompetenzstreitigkeiten zwischen Gestapo und Justiz auftraten, die freilich durch Gesetz (vom 10. Februar 1936) die Nicht-Nachprüfbarkeit der staatspolitischen Maßnahmen durch die Verwaltungsgerichte statuierte. Insofern trug das System eben durchaus Züge einer ›legal-rationalen Herrschaft‹ im Sinne Webers, die durch den Legitimitätsglauben der Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns getragen wurde, gerade wenn sie für die Abschaffung des Rechtsstaates eine ›Rechtsgrundlage‹ fordert. Es gehört aber zu den weniger beachteten Strukturmerkmalen ›charismatischer Herrschaft‹, daß dieser Herrschaftstypus gerade antiformal und antijuridisch geprägt ist. Max Weber hat den Charismabegriff ja der kirchenrechtlichen Dogmatik entnommen, wo er als Rechtsbegriff gerade den »nicht rechtlichen, sondern charismatischen« Charakter der ›ecclesia‹ bezeichnet (Rudolph von Sohm). Die berüchtigte, durch eine Reichstagsrede vom 26. April 1942 ausgelöste ›Justizkrise‹ hat also durchaus strukturelle Gründe, die aus dem Anteil ›charismatischer‹ Elemente im nationalsozialistischen Herrschaftssystem erklärlich sind. Denn 491 Vgl. Ralph Angermund, Die geprellten ›Richterkönige‹. Zum Niedergang der Justiz im NS-Staat, in: Herrschaftsalltag im Dritten Reich, hrsg. v. Hans Mommsen, a. a. O., S. 304-342. 196 Recht als Kultur. der ›Führer‹ stellt sich außerhalb des Rechts, ist an keine Traditionen und abstrakte Rechtssätze gebunden, sondern er schafft das Recht kraft Offenbarung oder aber »kraft konkretem Gestaltungswillen« (Max Weber). Die Richterkönige standen so in Konkurrenz mit den Sendboten des Führers. »In der Hoffnung auf einen von ›Richterkönigen‹ getragenen nationalsozialistischen Rechtsstaat hatte man trotz einiger Probleme mit den überzogenen Kompetenzansprüchen von SAund Parteistellen mit dem NS-Staat bereitwillig kooperiert und die Rechtsprechung den politischen Bedürfnissen der NSFührung angepaßt.«492 So das Resümee von Angermund. In der nationalsozialistischen Selbstdeutung des Rechtssystems wird gar der Begriff der ›Rechtskultur‹ beschworen, um die Reste an Rechtsstaatlichkeit gegen eine vollständige Auflösung von Recht in Politik zu verteidigen. ›Deutsche Rechtskultur‹ wird hierbei dem ideologischen Topos der asiatischen ›Barbarei‹ entgegengestellt, die kein Recht kenne, während die ›germanisch-arische Staatsidee‹ das Recht als ein ›heiliges Gemeinschaftsgut‹493 ansehe. 3. Zum Symbolgebrauch in totalitären Gesellschaften Zu den auffälligsten Parallelen zwischen der Gesellschaft im Nationalsozialismus und den Gesellschaften des Sozialismus gehört der gemeinsame Kult der Symbole. Dieser Vergleich ist freilich nicht unbelastet. Im Historikerstreit494 war nicht zuletzt diese Frage der Vergleichbarkeit zwischen nationalsozialistischer und stalinistischer Terrorherrschaft im Spiel. 492 493 494 Ebd., S. 336. Vgl. Deutsche Rechtskultur und asiatische Barbarei. Der Reichsministers Dr. Hans Frank in einer Rede über Recht und Richter im Kriege in der Universität München am 20. Juli 1942; abgedr. in: Dokumente zum Niedergang der Justiz im NS-Staat, in: Hans Mommsen (Hrsg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich, a. a. O., S. 364366. Vgl. die Sammlung des Streitstandes: ›Historikerstreit‹. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987. 197 Werner Gephart Das Interesse am Phänomen des Nationalsozialismus im Rahmen der Vorlesungsreihe am Centre for Advanced Sociological Studies spricht allerdings für sich. Und zwar nicht etwa als ›Nachschlag‹ zum ›Kalten Krieg‹, sondern primär unter der Frage: Was man aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Nationalsozialismus für die Analyse des ›Sozialismus‹ und der Probleme postsozialistischer Gesellschaften lernen könne. Diese Art der Fragestellung systemübergreifender Faschismusbzw. Totalitarismustheorien stand lange Zeit in Verruf, unzulässige Gleichungen vorzunehmen, die Eigenart des jeweiligen Systems aus letztlich allzu durchsichtigen politischen Motiven zu verdecken.495 Faschismustheorien marxistischer Herkunft mußten diese Gleichung ablehnen, weil im Sozialismus ja gerade der vermeintliche Urheber des Nationalsozialismus, das Kapital, entmachtet war, während aus dem ideologischen Blickwinkel des Nationalsozialismus das Fehlen völkischer Elemente und der Internationalismus den Nationalsozialisten mißfiel. Wenn man die These der Unvergleichbarkeit, juristisch gesprochen, im Sinne eines Aufrechnungsverbots deutet, dann hat sie m. E. noch immer ihre Berechtigung. Wir dürfen uns aber nicht der Einsicht verschließen, daß mancherlei Gemeinsamkeiten sichtbar sind. Ob dies nur die Oberfläche der Phänomene betrifft, oder auch Tiefenstrukturen erfaßt, bedarf dann eben einer genauen wissenschaftlichen Analyse. Die symbolischen Mittel der Herrschaftsrepräsentation und der Symboleinsatz im Recht weisen jedenfalls große Ähnlichkeiten auf. Was der deutsche Diktator an architektonischen Phantasmagorien über der Erde produzierte, verlegte Stalin in die Untergrundbahn, die Metro in Moskau. 495 Ein ausgezeichneter Überblick über ›Das Wesen des Nationalsozialismus: Faschismus, Totalitarismus oder einzigartiges Phänomen?‹ in: Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek bei Hamburg 1988 (zuerst als: The Nazi Dictatorship: Problems and Perspectives of Interpretation, London 1985), S. 41-81 (zweites Kap.). 198 Recht als Kultur. Am heiligen Platz des Kreml verkündete einst – mitten im Freien – ein rotes Warnschild, daß von nun an das Rauchen (wie in einer Kirche) verboten sei. Öffentlichen Räume pflegten durch Leninbüsten sakralisiert zu sein, die vor einem roten Vorhang in immer gleicher Ordnung drapiert sind. Walter Benjamin hatte für die Kunst den Verlust der ›Aura‹ in der Zeit der beliebigen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks behauptet. Die Multiplikation der Führerbüsten, Fahnen und Embleme in Massenstaat und Reichsgebilden ist einem ähnlichen Inflationseffekt des ›Heiligen‹ ausgesetzt. Fahnenweihe, Beeidigungen, das feierliche Anlegen der Hoheitszeichen hatten zwar die Funktion, den Kontakt zum heiligen Zentrum dieser Gesellschaften als eine lückenlose magische Legitimitätskette zu suggerieren. Gescheitert sind diese Gesellschaften aber an dem Versuch, differenzierte Wirklichkeiten und Widersprüche hinter dem einheitlichen Schein der Symbole zu verstecken, der um so deutlicher wird, je mehr die emotionalisierende Wirkung für die Gemeinschaft zerschellt. Der Verfall des Gemeinschafts- oder besser: ›Gemeinsamkeitsglaubens‹, wie Weber es nennt, wird dann im Fehlschlag der Symbole sichtbar, an denen sich Spott, Ironie und ein eigener Widerstand entzündet. 199 Werner Gephart SIEBTE VORLESUNG ORTE DER GERECHTIGKEIT. GERICHTSARCHITEKTUR ZWISCHEN SAKRAL- UND PROFANBAU In einem unscheinbaren Büchlein hat Jakob Grimm ›Von der Poesie im Recht‹ erzählt und die Bedeutung des kulturellen Gehalts der Rechtsformen hervorgehoben. So ist zu lesen: »Es ist eine unbefriedigende ansicht, welche in solchen symbolen blosze leere erfindung zum behuf der gerichtlichen form und feierlichkeit erblickt. im gegentheil hat jedes derselben gewisz seine dunkle, heilige und historische bedeutung; mangelte diese, so würde der allgemeine glaube daran und seine herkömmliche verständlichkeit fehlen.«496 Der Rechtssoziologie ist jedenfalls das Verständnis für diese »dunkle, heilige und historische bedeutung« verloren gegangen. Für die Genese der Soziologie, die sich ja in weiten Teilen als ›Rechtssoziologie‹ etabliert hat, mochte dies noch angehen, galt es doch, überhaupt ein eigenes Profil gegenüber anderen Kulturwissenschaften, nicht zuletzt gegenüber der Rechtsgeschichte zu entwickeln. Berührungsängste, die auf der Identitätssuche der soziologischen Disziplin beruhten, dürften mittlerweile obsolet sein. Dafür hat sich die soziologische Theorieentwicklung über weite Strecken von ihrem juristischen Ursprung entfernt und dabei auch das Recht gerade in den Dimensionen aus den Augen verloren, die für den kultursoziologischen Blickwinkel relevant sind. Dies haben wir im ersten Teil dieser Untersuchung skizziert und in verschiedenen Schritten hervorgehoben. kulturelle Aspekte des Rechts Ich möchte mich im folgenden auf die ›Orte der Gerechtigkeit‹ konzentrieren und hoffe, daß der ›Blick‹ schon ein Stück weit in die anvisierte kultursoziologische Richtung eingestellt ist. Denn Georg Simmel meinte in einem Brief an den Mitstreiter Emile Durkheims, Célestin Bouglé, in Bezug auf die 496 Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, a. a. O., S. 48. 200 Recht als Kultur. soziologischen Studenten: »Es ist freilich eine schwere Aufgabe, die Studenten zu dem soziologischen Blick zu erziehen, auf den alles ankommt und der in der einzelnen sozialen Erscheinung sogleich die soziale Form und den materialen Inhalt zu scheiden versteht. Hat man aber erst einmal diesen Blick, so sind die soziologischen Thatsachen nicht so selten zu finden.«497 Gerichtsarchitektur ist nicht gerade ein klassisches Thema der Rechtssoziologie oder auch der Kultursoziologie, wie überhaupt die ›Architektur der Moderne‹ den Architekten und Kunsthistorikern überlassen wird. Nun weiß man, daß die Soziologie imperiale Ansprüche erhebt und man könnte das Postulat einer hier vorgeschlagenen rechtssoziologischen Befassung mit Gerichtsarchitektur als einen weiteren Versuch der Grenzüberschreitung abtun, wenn es nicht eine eigenständige Problematik gibt, zu deren Lösung die soziologische Perspektive hilfreich wäre. Ich möchte im folgenden zunächst weiter ausführen, welche Art von Fragestellungen sich um den Komplex der Gerichtsbauten gruppieren läßt und wo der mögliche Erklärungsbeitrag der Soziologie, insbesondere der kultursoziologischen Optik liegt (I). Sodann möchte ich eine exemplarische Deutung von ›versteinerter Rechtskultur‹ anhand von Gerichtsbauten des 19. Jahrhunderts vornehmlich wilhelminischer Bauten und nationalsozialistischer Gerichtsarchitektur versuchen (II). Abschließend gehe ich auf die Funktion der erstaunlichen Kontinuität der Rechtsbauten trotz einer auf Wandel eingestellten Positivität des Rechts ein (III). I. Gerichtsbauten als Gegenstand der soziologischen Betrachtung »Ein gebautes Werk« – so heißt es bei Lampugnani in der lesenswerten Arbeit ›Architektur als Kultur‹ – »ist zunächst ein Gebrauchsgegenstand. Es wird mit bestimmten Materialien nach 497 Brief vom 22. 11. 1896, Nachlaß Célestin Bouglé, Bibliotheque Nationale, Paris. 201 Werner Gephart bestimmten konstruktiven und bestimmten nutzungsbezogenen Regeln gemacht, damit es als Ding funktioniert.«498 Umberto Eco499 hat dies als Primärfunktion des Bauwerks bezeichnet. Für Gerichtsgebäude leitet sich die Nutzenfunktion aus der jeweiligen Gerichtsverfassung her, aus der sich nutzenbezogene architektonische Regeln zur Erstellung des Gebäudes ergeben. So erfordert das Prinzip der ›Öffentlichkeit‹ der Verhandlung, daß überhaupt ein Publikum Platz findet. Der Größe des Spruchkörpers ist in der räumlichen Konzeption Rechnung zu tragen. Auch die jeweilige Aufgabenstellung des Gerichtspersonals im weitesten Sinne stellt gewisse bauliche Anforderungen, je nachdem, wie weit das Gericht z. B. mit Aufgaben der Selbstverwaltung betraut ist oder nicht. Hierbei haben wir freilich bereits unterstellt, daß das ›Gericht‹ aus anderen öffentlichen Bauten ausgegliedert ist, daß eine funktionale Spezifikation und Ausdifferenzierung des Gerichtswesens aus anderen öffentlichen Aufgaben bereits erfolgt ist.500 Dies ist freilich kein selbstverständlicher Schritt der Rechtsentwicklung, sondern vielmehr ein Element fortgeschrittener Rechtssysteme. Das Bauwerk ›Gericht‹ läßt sich soweit also im Hinblick auf drei verschiedene Regelsysteme erfassen: (1) Die Regeln der Gerichtsverfassung, (2) ihre Umsetzung in technische Regeln des Bauens sowie (3) sehr viel abstraktere Regeln, die den Charakter eines Rechtssystems bestimmen. Ohne die Angelegenheit unnötig zu komplizieren, ist zu beachten, daß die technischen Regeln der 3. Stufe einem Teil des Rechtssystems entsprechen müssen, d. h. vor allem den 498 499 500 Vittorio Magnago Lampugnani, Architektur als Kultur, Köln 1986, S. 46. Vgl. Umberto Eco, La struttura assente. Introduzione alla ricera semiologica, Bompiani/Mailand 1968. Wenn das brandenburgische Kammergericht als ›Anbau‹ des Berliner Schlosses plaziert ist, hat sich die Lösung aus der persönlichen Rechtsprechung des Landesherrn auch symbolisch noch nicht vollzogen. 202 Recht als Kultur. Regeln über die rechtmäßige Erstellung eines Gebäudes, dem Baurecht z. B. nicht zuwiderlaufen dürfen. Wenn wir nunmehr fragen, ob ein Gerichtsgebäude überhaupt der soziologischen Betrachtung unterfallen kann, so ist die Antwort schnell gegeben. Definiert man den Gegenstandsbereich der Soziologie über die Lehre vom ›fait social‹,501 so gehören Gerichtsgebäude zu einem ganz unzweifelhaften Bereich soziologischer Forschung, nämlich der durch Regeln bestimmten materiellen Kultur einer Gesellschaft, die Durkheim auch mit dem Begriff der morphologischen Erscheinungen umriß: Exteriorität, Zwang und Universalität sind die Bestimmungsmerkmale der faits sociaux, eine Merkmalsliste, die – wie an anderer Stelle gezeigt – die normative Konstitution des sozialen Lebens in der Theorie Emile Durkheims wiedergibt.502 Wenn sich eine Architektursoziologie oder gar eine Soziologie der Gerichtsbauten bei Durkheim nicht findet, so hat dies jedenfalls nichts mit der ›découpage de l’objet sociologique‹ zu tun. Kehren wir zur Bestimmung des gebauten Werkes zurück, so erschöpft es sich nicht – so Lampugnani – in der reinen Nutzenfunktion, sondern: »Ein gebautes Werk ist aber mehr: Es ist – oder, besser, es sollte sein – ein Kunstwerk. Es interpretiert die geistige Position eines Individuums innerhalb einer Gesellschaft, spiegelt die Widersprüche seiner Zeit wieder und hat eine kommunikative, ästhetische Aufgabe.«503 Ob man diese Bestimmung von sog. Sekundärfunktionen, wie sie Umberto Eco nennt, nun für hinreichend widerspruchsfrei oder nur plausibel hält, muß man nicht im einzelnen diskutieren. Das Bauwerk hat jedenfalls eine über die Funktionserfüllung hinausgehende ›Bedeutung‹, indem das gebaute Werk als 501 502 503 Vgl. Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, a. a. O. Vgl. Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., zweiter Teil, zweites Kap., S. 321-418. Vittorio Magnago Lampugnani, Architektur als Kultur, a. a. O., S. 46. 203 Werner Gephart materielles Substrat eines symbolischen Verweises begriffen wird, der auf etwas anderes als den bloßen Nutzen hinweist. Aus Privatbriefen geht hervor, wie sich Max Weber in der Vorbereitung der Protestantismusstudie von dem Eindruck der protestantischen Kirchenbauten in den Niederlanden hat leiten lassen. So heißt es in einem Brief vom 13. Juni 1903 aus Scheveningen: »... die großen katholischen Kathedralen paßten eben für Predigtzwecke gar nicht, zumal für die nordische Predigt, die nicht mit den Mitteln der Bettelmönche arbeitete.« Und weiter: »Für den reformierten Protestantismus ist eben die kleine helle Dorfkirche die eigentlich ideale Kirchenform ...«504 Architekturbetrachtung kann also durchaus im Sinne einer verstehenden Soziologie betrieben werden, die das Bauwerk als Resultat sozialer Handlungsprozesse unterschiedlichster Akteure begreift, deren Sinn sowohl den subjektiv gemeinten und über Regelrekonstruktionen erfaßbaren Gehalt wie aber auch die Einbettung in die Sphäre der objektiven Kultur einschließt. So ließe sich ja fragen, inwieweit sich in Gerichtsgebäuden der ›Geist‹ der okzidentalen, römischen oder französischen Rechtskultur niederschlägt ganz ebenso wie Gerichtsgebäude ihrerseits ja auch ein konstitutiver Bestandteil der Rechtskultur sein können. Um auf Lampugnanis Definition zurückzukommen, ließe sich ein Gerichtsgebäude dann eben auch als Interpretation der gesellschaftlichen Funktion, der »geistigen Position ... innerhalb der Gesellschaft« deuten. Hierunter mag man sehr Unterschiedliches verstehen. Zunächst ist aber wichtig, daß diese interpretative Funktion des Bauwerks mit seiner ästhetischen Funktion verknüpft wird. Allein, wenn ein Gerichtsgebäude nicht nur unter dem funktionalen Gebrauchswert, sondern auch auf seinen ästhetischen Wert hin betrachtet wird, ließe sich das Gericht als ein ›phénomène totale‹ im Sinne von Marcel Mauss begreifen. 504 Brief vom 13. Juni 1903 (Max Weber-Schäfer, Konstanz). 204 Recht als Kultur. Unabhängig von der Luhmannschen Frage, ob Kunst vollständig kodierbar sei,505 so bedarf es zum Verstehen von Architektur als eines ›Kulturinhalts‹506 der Auseinandersetzung mit ästhetischen, in diesem Falle architektonischen ›Theorien‹ praktisch normativer Art über das schöne Bauwerk. Freilich sträubt sich bei dem Gedanken einer Rechts- und gar ›Gerichtsästhetik‹ das deutsche Gemüt in ähnlicher Weise, wie die Möglichkeit einer ›Wirtschaftsästhetik‹ im Deutschen undenkbar ist. Dies hat – wie ich an anderer Stelle zeigen konnte507 – etwas mit dem problematischen Verhältnis von religiöser Ethik und Ästhetik im Klima des Protestantismus zu tun. Wir können jedenfalls festhalten, daß neben der reinen Nutzenfunktion eine Sinnschicht des Bauwerks zu betrachten ist, die mit Merkmalen der allgemeinen Wertkultur einschließlich der ästhetischen, sowie der jeweiligen Rechtskultur verknüpft zu sein scheint. II. Zur Deutung der versteinerten Rechtskultur Welche Deutungsergebnisse lassen sich mit diesem Rüstzeug erzielen? Zunächst lassen sich z. B. Wandlungen der Gerichtsverfassung in den Grundrißzeichnungen der Gerichtsbauten wiederfinden: Das alte Gericht am Appellhofplatz in Köln gibt den Einfluß des französischen Verfahrensrechts mit der Betonung der Mündlichkeit und Öffentlichkeit in der Konzeption der Gesamtanlage wieder, während nach Verabschiedung der Reichsjustizgesetze 505 506 507 am 1. Oktober 1879 eine Fülle Vgl. nunmehr Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995. Diese Möglichkeit einer Soziologie der Kulturinhalte behauptet Weber in einem Brief vom 30. Dezember 1913 an den Verleger Paul Siebeck: »Später hoffe ich Ihnen dann einmal eine Sociologie der Cultur-Inhalte (Kunst, Litteratur, Weltanschauung) zu liefern ...« (a. a. O., S. 450.). Vgl. Werner Gephart, Von der ›Unternehmensethik‹ zur ›Unternehmensästhetik‹. Einige Konsequenzen der kunstsoziologischen Fragestellung Max Webers, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, ZfBErgänzungsheft 1, 1992, S. 51-74. 205 Werner Gephart verfahrensrechtlicher Änderungen und zusätzliche Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit entscheidende bauliche Maßnahmen erforderte. Ansicht des alten Appellhofs (erbaut 1824-1826 nach Plänen von J. P. Weyer). Quelle: Adolf Klein; Günter Rennen, Justiti Coloniensis, Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), Köln 1981, S. 80. Gegenüber dem schlichten klassizistischen Bau, der ursprünglich von dem Stadtbaumeister Johann Peter Weyer gestaltet war, wurde nicht nur zusätzlicher Raum geschaffen, also die primäre Funktion erweitert, sondern der Bau wurde auch zu einem Träger gewandelter Bedeutungen im Selbstverständnis der Justiz. 206 Recht als Kultur. Grundriß (Erdgeschoß) des Justizgebäudes Appellhofplatz nach der Erweiterung. Unten quer der Neubau, errichtet 1884-1887; im Halbkreis oben die zunächst weiterbenutzten Teile des Weyerschen Appelhofs (abgerissen 1888). Quelle: Franzjosef Ploenes, Justiz ohne Raum, in: Adolf Klein; Günter Rennen, Justiti Coloniensis, Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), a. a. O., S. 307-324 (S. 316). Justizgebäude Appelhofplatz (Erdgeschoß) in der 1893 fertiggestellten und noch heute weitgehend erhaltenen Gestalt nach Plänen von Thoemer und Mönnich. Quelle: Franzjosef Ploenes, Justiz ohne Raum, a. a. O., S. 318. 207 Werner Gephart Reich verzierte Giebel und flankierende Türme sind auf Repräsentation und Darstellung staatlicher Macht angelegt. Erweiterungsbau zum alten Appellhof (errichtet 1884-1887 nach Plänen Thoemers). Quelle: Adolf Klein; Günter Rennen, Justiti Coloniensis, Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), a. a. O., S. 80. Die Kritik an Weyers ursprünglichem Entwurf des Justizgebäudes am Appelhofplatz, es sei nämlich zu sehr ein Justizpalast als ein Dienstgebäude, wird nunmehr in dem Erweiterungsbau durch den Regierungsbaumeister Paul Thoemer nachgeholt: »So wurde das Treppenhaus pompös mit edlen Materialien wie schwedischem und schlesischem Granit, belgischem Kalkstein und viel Stuck ausgestattet.«508 Die zeitgenössische Bewertung durch den bedeutenden Königlichen Regierungsbaumeister Mönnich sah freilich anders aus. So heißt es in einer Darstellung, die er auf dem 21. Deutschen Juristentag vorgestellt hatte: »Bei der inneren Durchbildung des vollendeten Bautheils ist überall eine würdige, in keiner Weise jedoch an Luxus erinnernde 508 Franzjosef Ploenes, Justiz ohne Raum, in: Justitia Coloniensis. Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), hrsg. von Adolf Klein und Günter Rennen, Köln 1981, S. 317. 208 Recht als Kultur. Ausstattung erstrebt worden. Die vom Verkehr hauptsächlich berührten Räume, die Treppenhäuser und Corridore, sind, soweit praktische Gründe es erforderten, aus echtem Material hergestellt.«509 Zwar ist nicht einsichtig, welche ›praktischen‹ Gründe dies gewesen sein sollten, dafür wird um so unverstellter die Absicht, einen räumlichen ›Eindruck‹ zu hinterlassen, dokumentiert: »Überall, auch in den Geschäftsräumen, ist eine massive Wölbung durchgeführt, und letztere so gestaltet, daß die langen Gänge durch rhythmische Theilung der Decken einen hallenartigen Eindruck hervorrufen.« Schließlich plagt den Königlichen Regierungsbaumeister die Tatsache, daß die Finanzmittel für die repräsentativen Absichten viel zu knapp waren. So wird der monumentale Effekt in asketischer Manier erzielt: »Der Hauptreiz des Bauwerkes – so Mönnich – liegt in der Gruppierung der Massen, in der Mannigfaltigkeit der Dachformen und im Aufbau der mächtigen Giebel.«510 Freilich geraten wir hier auch unmittelbar an Grenzen der Interpretation bzw. die Grenzen der Nachprüfbarkeit. Denn was wird durch diese Art der Repräsentation eigentlich ›repräsentiert‹? Peter Landau meint, hierin das »Selbstgefühl des Bürgertums« zu finden, das »in monumentalen Justizbauten eher als in Verwaltungsgebäuden seinen Ausdruck [fand], da die Justiz mehr als die Exekutive vom Bürgertum personell erobert worden war.«511 Solche Deutungen liegen freilich im Fahrwasser eines grundsätzlichen Mißverständnisses über die Aufgaben der Kunstsoziologie, ausschließlich nach Widerspiegelungen der Klassenlage Ausschau zu halten. Sicher ist auch das Syndrom der wilhelminischen Kultur nicht unabhängig von Klasseninteressen zu sehen. Aber was ist mit 509 510 511 Rudolf Mönnich, Das neue Justizgebäude in Köln, in: XXI. Deutscher Juristentag Köln 1891, S. 61-74, S. 70. Rudolf Mönnich, Das neue Justizgebäude in Köln, a. a. O., S. 72. Peter Landau, Reichsjustizgesetze und Justizpaläste, in: Ekkehard Mai u. a. (Hrsg.), Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich. Kunst im Wandel der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1982, S. 197223, S. 203 f. 209 Werner Gephart ›wilhelminischer Kultur‹ i. e. ›wilhelminischer Architektur‹ gemeint? Julius Posener charakterisiert sie folgendermaßen: »Es ist die Architektur des Auftrumpfens, die Architektur, die dem Wesen des Kaisers am meisten entgegenkommt und die der Stimmung ›Deutschland in der Welt voran‹ entspricht ...«512 Und wie materialisiert sich dieser Wilhelminische Geist? Wiederum ist Posener einschlägig: »... wir können diese (wilhelminische, W. G.) Haltung nicht genauer definieren als durch Eigenschaften wie große Dimensionen, monumentale Haltung, Weiträumigkeit, kostbare Materialien ...«513 Gegenüber dieser Art der protzigen Architektur, die man mit dem in Verbindung bringen darf, was Wolfgang J. Mommsen als den ›autoritären Nationalstaat‹514 bezeichnet hat, ist das ebenfalls von Rudolf Mönnich gestaltete Kriminalgericht Moabit weit subtiler zu deuten. Kriminalgericht Moabit, Treppenhaus. Quelle: Julius Posener, Berlin auf dem Weg zu einer neuen Architektur, das Zeitalter Wilhelms II., München 1979, S. 85. 512 513 514 Julius Posener, Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelm II., München 1979, S. 81. Ebd. Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1990. 210 Recht als Kultur. Architektonisches Zentrum ist ein Treppengebilde, das wie eine eigenständige Raumskulptur, an die Virtuosität Naumannscher Treppenkonstruktionen erinnernd, in einer neugotischen Pfeilerhalle plaziert ist. Mit jedem Schritt entfalten sich neue Ein- und Durchblicke des Treppenlabyrinths, die eine Parallele findet in anderen Berliner Gerichtsbauten, dem Amtsgericht Wedding und dem Amtsgericht Schöneberg. Kriminalgericht Moabit, Treppenhaus. Quelle: Julius Posener, Berlin auf dem Weg zu einer neuen Architektur, das Zeitalter Wilhelms II., a. a. O., S. 86. Posener sieht in dieser Anlage einen ›geheimen Expressionismus‹, der das banale Pathos der wilhelminischen Monumentalarchitektur überschreiten würde. Freilich entziehe sich – so Posener – ihre »symbolische Deutung dem heutigen Betrachter«.515 Die Treppenkonstruktion mit ihren verwirrenden Winkeln läuft der Imposanz einer einfachen, aufstrebenden und wuchtigen Treppe wie in der Eingangshalle des Justizgebäudes am Reichensperger Platz in Köln zuwider. 515 Julius Posener, Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur, a. a. O., S. 87. 211 Werner Gephart Eingangshalle des Justizgebäudes Reichenspergerplatz (heutiger Zustand). Quelle: Adolf Klein; Günter Rennen, Justiti Coloniensis, Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), a. a. O., S. 83. Sollte in dieser ohne funktionalen Grund verwinkelten labyrinthischen Raumauffassung ein heimliches Bild von den verworrenen Wegen und ›Winkelzügen‹ im Recht geschaffen sein? Auffällig ist im übrigen die Parallele zu den Treppengestaltungen in den Lichthöfen der Warenhäuser, die über die reine Transportfunktion hinaus die Warenzirkulation versinnbildlichen. Ist es also nur ein stilistisches Element, das in verschiedenen Funktionsräumen rein dekorativ verwendet wird oder wird gar eine das Warenhaus und das Gerichtsgebäude 212 Recht als Kultur. gleichermaßen überstrahlende Aura eines quasi-sakralen Baus in den Treppengebilden symbolisch verdichtet?516 In der Literaturwissenschaft hat sich, in Überwindung der reinen Rezeptionssoziologie und Rezeptionsgeschichte, der Ansatz einer ›Rezeptionsästhetik‹517 Ansehen verschafft. In diesem Sinne ist eben auch eine andere Lesart der von Posener treffend als ›Treppenskulptur‹ bezeichneten Anlage im Kriminalgericht Moabit möglich. Anläßlich der Feier zur Anlegung der ›Hoheitszeichen‹ an die Roben der Richter518 fungiert die Treppe nämlich zur Aufstellung der ›Rechtsfront‹, die nunmehr von dem Fotografen als höchst symmetrisches Gebilde in einer starren, zu den Richtern und der gewaltigen Hakenkreuzfahne aufschauenden Perspektive aufgenommen wird. Kriminalgericht Moabit, Treppenhaus (Feier aus Anlaß der Anlegung des ›Hoheitszeichens‹ an die Richterroben). Quelle: Ullstein-Bilderdienst, abgedr. in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und Nationalsozialismus, a. a. O., Abb 190 S. 273. 516 517 518 Auf die spezifische Qualität der Monumentalität der Gerichtsarchitektur im Verhältnis zu Schwimmbad, Tiergarten, Bahnhofsbauten und Museen im Kaiserreich kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Vgl. insbes. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main 1982. Der symbolische Aspekt des Rechts im Nationalsozialismus war näher ausgeführt in meinem Deutungsversuch: The Totalitarian Use of Symbols in the Nazis’ Perversion of the Law (ISA-Kongress, Madrid 1990). 213 Werner Gephart Somit kommt es eben nicht nur auf eine scheinbar ›objektive‹ Raumqualität an, sondern auch auf die ›Perspektive‹, in der sich der Raum dem subjektiven Betrachter erschließt. Nun hat der Nationalsozialismus bekanntlich in besonderer Weise auf grandiose Bauten Wert gelegt, was so weit ging, die Baumetapher zur Kennzeichnung des ›Deutschen Rechts‹ selbst zu verwenden. So heißt es in einem Schulungsbrief von Frank – wie wir oben bereits sahen: »Das Recht des nationalsozialistischen Reiches muß ... der Ausdruck des neugermanischen Lebens und Raumgefühls sein, es muß in seinem klaren Stilgefüge den grandiosen Bauten des Dritten Reiches entsprechen ...«519 Nicht nur in der fotografischen Wahrnehmung des Moabiter Treppenlabyrinths im Sinne des nationalsozialistischen »klaren Stilgefüges«, sondern auch in eigenen Bauten sollte sich die Entsprechung von innerer und äußerer Architektur des Rechts manifestieren. So sollte vor allem das Haus des Deutschen Rechts ein Hort des neuen Rechtsbewußtseins werden. Der Präsident der Akademie für Deutsches Recht umschreibt das Vorhaben: »Dieses Projekt des Hauses des Deutschen Rechts, welches nicht nur die Heimstätte der Reichsrechtsführung des deutschen Volkes sein wird, hat bereits mir gegenüber« so Hans Frank »die Billigung des Führers gefunden. Es wird entsprechend dem Grundsatz des Führers, daß große Geschichtsepochen sich in großen Bauten repräsentieren, dem deutschen Rechtsleben einen monumentalen Hauptbau schaffen, der der Stolz der deutschen Rechtswahrer und, wie wir hoffen wollen, der von kommenden Generationen stets in Ehren bediente Hort des Rechtsgewissens werden soll.«520 In den monumentalen Phantasmagorien der nationalsozialistischen Herrschaft hatte, wie das Haus des Deutschen Rechts zeigt, auch das Recht einen, wenngleich 519 520 Hans Frank, in: Der Schulungsbrief 1939, a. a. O., S. 110. Hans Frank, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 3, 1936, S. 1. 214 Recht als Kultur. nachrangigen Platz in einem aus strukturellen Gründen der charismatischen Herrschaft letztlich rechtsfeindlichen Klima. III. Zur KontinuierungsGerichtsbauten und Geltungsfunktion alter Wir hoffen zunächst, mit diesem kursorischen Blick auf die ›Erscheinungsebene‹ der Organisationskultur ›Gericht‹ – wie es in der Sprache von Edgar Schein auszudrücken wäre521 – einige Gesichtspunkte und Probleme der Deutung von Gerichtsarchitektur transparenter gemacht zu haben. Dabei bestand die ursprüngliche Faszination am Gegenstand ›Gerichtsgebäude‹ in etwas ganz anderem. Es ist dies die Frage danach, ob wir den räumlich-materiellen Aspekt des Gerichtswesens berücksichtigen müssen, um die Funktionsweise von Recht zu verstehen und zwar nicht nur als halt unabdingbare physikalische ›Umwelt‹ des Rechtssystems, sondern als einen: integrierenden Bestandteil der Rechtsordnung. Wenn man die schnöden Amtszimmer und beengten Verhältnisse, Aktenstaub und Patina einer vergilbten Rechtskultur vor Augen hat, dann mag man den Gerichtsgebäuden kaum eine Rolle bei dem nach wie vor ungelösten Rätsel der Rechtssoziologie beimessen, wie nämlich die Geltung des Rechts zu erklären sei. Pierre Bourdieu hat in seiner Studie über die ›force du droit‹ offensichtlich gerade den Darstellungsmomenten des Rechts besondere Bedeutung beigemessen.522 So schwierig dieser Effekt der ›Beeindruckung‹ auch 523 methodisch zu messen ist, so sehr gehört es zumindest zur Eigentheorie der Juristen von der Würde des Rechts, daß dies auch einer ›würdigen‹ Umgebung bedürfe. 521 522 523 Vgl. Edgar Schein, Organizational Culture and Leadership, San Francisco/Washington/London 1985. Vgl. Pierre Bourdieu, La force du droit. Eléments pour une sociologie du champ juridique, in: Actes de la recherche en sciences sociales 64, 1986, S. 3-19. Jedenfalls sind mir keine methodisch befriedigenden Untersuchungen bekannt. 215 Werner Gephart Mir scheint eine ganz andere Funktion der Gerichtsbauten bedenkenswert zu sein, die sich nicht im ersten Blick erschließt. Unserem Modell der normativen Konstitution des Erklärungsgegenstandes Gerichtsbauten zufolge, müßten ja die Wandlungen der Verfahrensordnungen im Kontext eines sich wandelnden Rechtssystems Stück für Stück in der ›versteinerten Rechtskultur‹ wiederzufinden sein. Neue Gerichtsbauten scheinen aber eher durch Raumbedürfnisse als durch den normativen Wandel bedingt zu sein, wobei zunehmend Gesichtspunkte einer arbeitsökonomischen, d. h. kommunikativen und auch die ›corporate identity‹ fördernden Raumkonzeption artikuliert werden.524 Und so überrascht eher die erstaunliche Kontinuität der Gerichtsgebäude, die vom Kaiserreich über die Weimarer Republik auch das nationalsozialistische Unrecht beherbergt haben, wie es im Moabiter Amtsgericht sinnfällig wird. Das führt zu der Überlegung, der Gerichtsarchitektur nicht nur einen explikativen Ort in der Frage der Rechtsgeltung zuzuweisen, sondern gerade die Kontinuität eines Rechtssystem zu symbolisieren, dessen Geltungsbasis auf die – scheinbar – beliebige Veränderbarkeit des Rechts gestellt ist.525 Alte Gerichtsgebäude erscheinen somit auch als Rechtsmuseen, in denen die Idee des Rechts trotz aller Wandlungen und Schwankungen, die sich aus seiner Positivierung ergeben, aufbewahrt wird. Wenn wir also diese Gerichtsbauten als eigene Bedeutungsträger interpretieren, liegt auch die Vorstellung nicht mehr fern, den Bedeutungsanspruch und die Doppelcodierung der Architektur, wie sie in der Postmoderne diskutiert wurde, auf neue Gerichtsbauten zu übertragen: Warum sollte man nicht die Replikationen des wilhelminischen Neu-Barock und der Neo- 524 525 Vgl. den Forschungsbericht Organisation der Verwaltungsgerichte/Finanzgerichte der Wibera Wirtschaftsberatung AG (erstellt im Auftrag des Bundesjustizministeriums). Zu dieser Idee der Rechtsgeltung vgl. insbesondere Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2 Bde., a. a. O. 216 Recht als Kultur. Gotik im kalkulierten Eklektizismus der Postmoderne526 wiederaufnehmen? – Freilich würde dies voraussetzen, daß die Verbindung von Recht und Ästhetik bzw. ein ironisches Verhältnis zu den Ursprüngen des Rechts im Kaiserreich überhaupt denkbar ist. Das 1981 in Köln eingeweihte Gerichtshochhaus an der Luxemburger Straße ist jedenfalls von postmodernen Schnörkeln frei. Dafür weisen die Büros Einbauschränke auf, die symbolisch wichtigen Handwaschbecken sind eingebaut und man geht über textile Bodenbeläge.527 Wiederum ist die Entsprechung von Bedeutung des Gerichts und seiner Ausstattung anvisiert. So heißt es in der Baubeschreibung: »Die Säle sind entsprechend ihrer Bedeutung gestaltet, in der Regel mit einer holzverkleideten Stirnwand und einer Textiltapete an den übrigen Wandflächen. Auch Decke und Beleuchtung tragen Funktion und Bedeutung der Säle Rechnung.«528 Der gleiche Autor insistiert nun auch darauf, daß das Gebäude auch nach außen nicht nur Funktions-, sondern ›Bedeutungsarchitektur‹ darstellen soll, wie es vor allem der französischen Architekturtradition zugesprochen wird. Als architektonischer Imperativ formuliert: »... das Gebäude muß sich als Gericht darstellen, Würde zeigen und keine Abschreckung bewirken.«529 So löblich dieser moderate Anspruch sein mag, so unklar ist die Art der Umsetzung, wenn sich nämlich ein 23-geschossiges Bürohochhaus von den Traditionen des Gerichtsbaus endgültig gelöst hat. Und wenn auch diese neue Justizarchitektur mit 34.940 m2 Nutzfläche und 48 Gerichtssälen sowie 398 Büroräumen von den Erbauern wiederum als ein ›Rechtsdenkmal‹ konzipiert wurde, so mag es einmal als ein 526 527 528 529 Vgl. die Beiträge von Umberto Eco, Robert Venturi und Charles Jencks, in: Wolfgang Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988. Vgl. Fridolin Hallauer, Der Neubau der Justizbehörden in Köln 19771981, in: Justitia Coloniensis Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), hrsg. von Adolf Klein und Günter Rennen, a. a. O., S. 325-345 (S. 334). Ebd., S. 334. Ebd., S. 338. 217 Werner Gephart Sinnbild der ›Verrechtlichung‹, der ›Prozeßflut‹ und steigenden ›Geschäftsanfalls‹ betrachtet werden, denen man nur mit einer Hochhausarchitektur meint beikommen zu können. Inwieweit die These der ›Verrechtlichung‹ empirischer Überprüfung statthält, ist umstritten. Methodisch hat man sich eigenartigerweise noch nicht des Instruments bedient, das nach unseren Überlegungen ja nunmehr zum Greifen nahe liegt, nämlich die Erstellung von Gerichtsgebäuden als einen objektiven Indikator für den Wandel der Gerichtsbarkeit zu verwenden. Eine erste Auswertung der von dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen freundlicherweise zur Verfügung gestellten Daten ergibt folgendes Bild für die Entwicklung der Amts- und Landgerichte: Amts- und Landgerichte in Nordrhein-Westfalen Kumulierte Häufigkeiten (%) nach Baujahr 100 90 80 70 Prozent 60 50 40 30 20 Amts- und Landgerichte in NRW 10 88 96 19 80 19 72 19 64 19 56 19 19 40 48 19 19 24 32 19 16 19 08 19 19 92 00 19 84 18 76 18 68 18 60 18 52 18 44 18 18 18 36 0 Jahr Mir scheint eine quantitative Aufbereitung der in Gerichtsbauten ›versteinerten Rechtskultur‹ jedoch auch für die vergleichende Forschung fruchtbar zu sein, wenn man die geläufigen Bilder 218 Recht als Kultur. der grandiosen Gerichtsbauten in Belgien und Frankreich über die Erscheinungsebene hinaus interpretieren will.530 Dann würde es sich anbieten, die soziologischen Denkmittel eines Autors zu mobilisieren, dessen soziologischer Ansatz bis in die letzten Winkel seines mitunter labyrinthische Formen annehmenden Gedankengebäudes von der Subkultur des Juristen geprägt ist: gemeint ist Max Weber. Es würde wohl auch die Paradoxie sichtbar werden, wie das nach Webers Auffassung im höchsten Maße formal ›rationale‹ Recht in Bauten verwaltet wurde, die symbolüberladen und machtstrotzend im Stile eklektizistisch und monumental pompös genau diejenige Bauform repräsentieren, die Weber in seinem Vortrag ›Wissenschaft als Beruf‹ so unerträglich fand: »Versuchen wir, monumentale Kunstgesinnung zu erzwingen und zu ›erfinden‹, dann entsteht so ein jämmerliches Mißgebildete wie in den vielen Denkmälern der letzten 20 Jahre.«531 Ob wir diese Wertung Max Webers teilen müssen oder für uns heute der museale Charakter dieser Gerichtsarchitektur überwiegt, ist freilich eine andere Frage. 530 531 Hierzu ist die erwähnte Studie von Peter Landau ein erster Anhaltspunkt, vgl. Peter Landau, Reichtsjustizgesetze und Justizpaläste, a. a. O. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 582-613, S. 612. 219 Werner Gephart ACHTE VORLESUNG ALTE UND NEUE BILDER DER GERECHTIGKEIT. VON DEN SYMBOLEN DES RECHTS ZUM SIMULACRUM DER GERECHTIGKEIT »Es ist eine unbefriedigende ansicht, welche in solchen symbolen blosze leere erfindung zum behuf der gerichtlichen form und feierlichkeit erblickt. im gegentheil hat jedes derselben gewisz seine dunkle, heilige und historische bedeutung; mangelte diese, so würde der allgemeine glaube daran und seine herkömmliche verständlichkeit fehlen.«532 Den Bildern der Gerechtigkeit wäre bei einigen der von uns propagierten Ahnherrn einer noch ungeschriebenen Kulturwissenschaft des Rechts wohl eine besondere Aufmerksamkeit sicher gewesen: Simmel würde zweifellos die Korrespondenz von Über-Formung des Lebens im Recht und seiner ästhetischen Formentsprechung533 einfordern, bei Durkheim wäre damit zu rechnen, daß die imaginäre Kraft534, der überschießende Gestaltungsbedarf der Rechtsgemeinschaft, auch in den Rechtsbildern sich niederschlagen müßte, denen dann auch eine legitime soziologische Aufmerksamkeit zukäme, während Webers unvollendetes Projekt einer Soziologie der Kunst- und Kulturinhalte535 auf die Rationalitätsunterschiede juridischer Repräsentation im Gewande der Kunst zu lenken wäre. 532 533 534 535 Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, a. a. O., S. 48. Zu Simmels Beitrag zur Soziologie der Kunst als einer Sphäre der Moderne vgl. meine Deutung in: Bilder der Moderne. Studien zu einer Soziologie der Kunst- und Kulturinhalte, Opladen 1998, S. 25-44. Vgl. ebd., S. 45-56. Vgl. ebd., S. 47-82. 220 Recht als Kultur. Diese doppelten Ansprüche einer gesellschaftstheoretisch anspruchsvollen Kunstsoziologie und einer kultursoziologisch inspirierten Rechtsanalyse werden sich hier nicht einlösen lassen. Marie-Theres Fögen hat gezeigt, wie sich ›Römische Rechtsgeschichten‹536 anhand von Bildern erzählen lassen. Läßt sich etwas über das Recht der Dritten Französischen Republik in den bildlichen Darstellungen von Daumier erfahren, die den Anwaltsstand in aller Welt noch heute zu Höchstgeboten motiviert? Erzählt das Fakultätenbild der Jurisprudenz von Klimt eine andere Geschichte, die mehr als mit stilistischen Differenzen vielleicht mit einer anderen Rechtskultur und der kulturellen Gemengelage im Wien des Fin-de-siècle zu tun hat ? Läuft schließlich die Medialisierung der Gesellschaft nicht nur auf die Darstellung der Intimität im Medium der Öffentlichkeit hinaus, sondern hat sie auch der Erfahrung von Recht und Gerechtigkeit einen neuen Raum der Imagination und Simulation unter dem Vorwand des Reality-TV geliefert, demgegenüber der klassische Geschworenen- und Gerichtsfilm nur dadurch interessant ist, daß im Zuge der amerikanistischen Globalisierung systematisch ein Rechtsbild produziert wird, das amerikanischer Rechtswirklichkeit entsprechen mag, aber mit der Vielfalt völlig anders gearteter Rechts- und insbesondere Prozeßkulturen gar nichts zu tun hat? Zunächst werden wir einen Blick auf das Recht als einer theatralischen Inszenierung werfen, das als Theater des Schreckens von Foucault bis van Dülmen, hier nun im Sprachspiel der Durkheimschen Religionssoziologie als ein religiöses Ritual537 begriffen wird: 536 537 Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, Göttingen 2002. Über den Parallelismus von »dogmatischer Jurisprudenz und orthodoxer Theologie« handelt schon die Kampfschrift der Freirechtsschule von Hermann U. Kantorowicz (als Gnaeus Flavius): Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906, S. 35 f., dort freilich in polemischer, nicht in analytischer Absicht. 221 Werner Gephart Werner Gephart, Recht als Kultur (1998), Collage, Pastell (57,5 × 40,5 cm) I. Das Gerichtsverfahren als religiöses Ritual An die Stelle der alten Götter und ihrer profanen Deuter und Vermittler sind professionelle Akteure getreten, die mit besonderer Sorgfalt die Differenz zum ›Laien‹ pflegen: Ihre Sprache ist ›geheim‹, ihr Wissen bleibt dem Laien unverständlich, und dieser Unterschied wird in ausgeklügelten Arrangements symbolisiert: von der Robe des Richters, einer Gewandform538, die noch im Äußerlichen die Nähe zum 538 Zum ›effet de manche‹ des plädierenden Anwalts in Frankreich siehe unten! 222 Recht als Kultur. Gewand des Priesters bewahrt, bis zur räumlichen Symbolisierung des ›Geheimen‹. Für das Publikum des Strafprozesses, den ›Sünder‹ mit eingeschlossen, tritt das Gericht aus einer heiligen Zone in eine profane ›Öffentlichkeit‹, ganz ebenso wie das ›Allerheiligste‹, die ›Sakristei‹ und andere heilige Räume539 dem ›Laien‹ verschlossen und vom Geheimnis des Unbekannten umhüllt sind. 1. Rituelle Dimensionen Das Verfahren540 selbst ist von der Aura des Heiligen und Feierlichen umgeben. Die rituelle Anordnung legt die zulässigen Schritte der Akteure auf das Genaueste fest, die in heiligen Büchern – für den Laien unbegreiflich – fixiert sind. Die soziale Veranstaltung des Prozesses bürdet damit den Akteuren – im Unterschied zur zeremoniellen Praxis – eine weit größere Verhaltensunsicherheit auf, in der der Angeklagte nach und nach von allem sozialen Schein, Beruf, Herkunft, Leben entkleidet wird, um als nackter ›Täter‹ wie ein rituelles Opfer dargebracht zu werden. Die kultischen Handlungen von Anklage, Verteidigung, Beeidigung und Richterspruch inszenieren eine Stimmung der emotiven Spannung, des Mitleids und der existentiellen Furcht all der potentiellen ›Opfer‹, die einmal zum Täter oder auch Objekt der Tat werden können. Die Rekonstruktion der Tat führt das Geschehen der ›Öffentlichkeit‹ bildhaft vor Augen, die am Grauen auf diese Weise in anschaulicher Weise teilhat. Über den Gegenstand des Kultes sind sich die Teilnehmer des Rituals nicht unbedingt einig: ›Ordnung‹, ›Gerechtigkeit‹ und ›Schuld‹ sind die unerbittlichen 539 540 Dieser räumliche Aspekt der sozialen Organisation des Strafverfahrens bedürfte einer eingehenden Deutung, in der neben der architektonischen Verwandtschaft mit religiösen Räumen die ›choreographischen‹ Entsprechungen, die Bedeutung der ›heiligen Bücher‹, die Sequentialisierung der Eröffnungs-, Haupt- und Schlußrituale Beachtung finden sollten. Die Studie von Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied und Berlin 1969, verzichtet unverständlicherweise auf den naheliegenden Bezug zur Religionssoziologie. Der Versuch, eine normative Legitimation durch Verfahren zu begründen, ist zum Scheitern verurteilt. Was bleibt, ist die weittragende Idee der Selbstbindung durch die Verstrickung in Rollen. 223 Werner Gephart Embleme der Justitia, deren allegorische Blindheit die Laien zu häretischen Zweifeln animiert. 2. Die Rechts- als Kultgemeinde Zwischen den Richter-Priestern und der vagen Öffentlichkeit vermittelt die ›Gemeinde‹541 als Gemeinschaft all derer, die an Gerechtigkeit noch glauben, aber auch als Häretiker dem unerbittlichen Schwert des Gesetzes ausgeliefert sind. Ihre Gemeinschaft wird gestiftet auf der spirituellen Basis des ›Gemeinsamkeitsglaubens‹542, Angehörige derselben Rechtsordnung zu sein, auch wenn die Verteilung der ›Rechtsgüter‹ durchaus mehr und minder Privilegierte kennt. Der Glaube an die Rechtsordnung bzw. das ›Verbindlichkeitsgefühl‹ löst den verlorenen Glauben an die außerweltliche Gerechtigkeit ab. So gewinnt das Zeremonielle einen eigenen Legitimitätsgrund und die verlorene Idee der religiösen Klassen und Rassen überspringenden Gemeinschaft kehrt im Gefühl der ›Rechtsgemeinschaft‹ wieder, deren Mitglieder sich gegenseitig als Rechtsgenossen verpflichtet fühlen sollen. Die Zelebrierung des Rechts setzt schließlich auf geheimnisvolle Weise Kräfte frei, in der Priester, Gemeinde und Gemeinschaft miteinander im Opfer versöhnt werden. Der Spruch des Richters543 löst die Spannung des Kampfes zwischen 541 542 Max Weber hat in seiner systematischen Religionssoziologie die Eigengesetzlichkeit der Konfiguration von Priester, Laien und Gemeinde gegenüber den bloßen religiösen Ideen herauspräpariert. Vgl. § 5 der in ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ abgedruckten Religionssoziologie, S. 275-279. Ebenso wie das Problem der Legitimität bei Weber in den Legitimitätsglauben verwandelt ist, so löst sich die Frage nach dem Realitätsgehalt von religiöser, ethnischer und kultureller Gemeinschaft in den Gemeinsamkeitsglauben auf. Vgl. z. B. Wirtschaft und Gesellschaft, S. 235 ff. 543 Der Richter-Spruch ist Paradigma des Sprechaktes, dessen Bindungswirkung bzw. illokutionären Bindungseffekte Jürgen Habermas aus der immanenten Rationalität der Rede herleiten möchte (vgl. Theorie des kommunikativen Handelns, a. a. O., Bd. II, S. 112 ff.), während sich bei Durkheim eine religionssoziologische Wurzel des bindenden Wortes finden läßt; vgl. die interessante Rezension zu Richard Lasch, Der Eid. Seine Entstehung und Beziehung zu Glaube und Brauch der Naturvölker, Stuttgart 1908, in: L’Année sociologique 11, 1910, S. 460-465. Vgl. im übrigen Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 409 f. 224 Recht als Kultur. Gott und Teufel, Gut und Böse. Das Wort erzeugt die Bindungswirkung von Entscheidungen und setzt die eigentümliche Kraft der Rechtskraft frei, wenn dies im Einklang mit den Regeln des Kultus zu erwarten ist. Wie der Gläubige nicht einfach mehr ›weiß‹, sondern mehr ›kann‹, hat sich im Verfahren eine Stimmung der ›effervescence‹544 verbreitet, in der Richter – Priester –, Öffentlichkeit und Angeklagter vom Pathos des Heiligen getragen und über sich selbst erhoben werden. 3. Heilige und profane Zeiten des Rechtslebens Diese Zeiten der ›effervescence‹ werden periodisch unterbrochen; wie der Gläubige wird der Zuschauer wieder in den Alltag entlassen, der Richter entledigt sich der Robe und kehrt in die profane Welt zurück, in der er sich gerade durch soziale Unauffälligkeit wieder in die Gemeinschaft der Laien einreiht. Aber wie in der Diskurszeitschrift ›Betrifft: Justiz‹ berichtet wird, fahren auch Richter Porsche, haben Krach mit ihrer Frau oder sind gar alkoholkrank und wollen befördert werden.545 Die ›Veralltäglichung des Heiligen‹ widerstrebt immer wieder dem Anspruch des Sakralen, auf Dauer gestellt zu werden. Die Einheit des Kultes aber wird in Legenden und Mythen erzeugt, deren – für moderne Gesellschaften – konstitutiver Teil den Mythos der Gleichheit und Gerechtigkeit kultiviert, der noch um die Idee einer Brüderlichkeit ergänzt wird, die in vielen Bildern und Erzählungen beschworen wird. So werden die Werte der sakralen Rechtsgemeinschaft zu heiligen Dingen erhoben, deren Verletzung fest umschriebener Reinigungsriten546 bedarf, um die unumstößlichen Grenzen 544 545 546 Zu weitern Ausdeutungen dieses Durkheimschen Konzepts vgl. N.J. Allen, W.S.F. Pickering und W. Watts Miller (Hrsg), On Durkheim’s Elementary Forms of Religious Life, London/New York 1998. Vgl. den Artikel von Rolf Lamprecht in der Süddeutschen Zeitung vom 8./9. Januar 2000. Die Untersuchungsausschüsse sind ein besonders interessanter Fall zur Reinigung von politischen Schandtaten. Die Verarbeitung politischer Unmoral ist zweifellos vom Stil der jeweiligen politischen Kultur bzw. Unkultur geprägt. So werden politische Skandale in Großbritannien (z. B. Profumo), den USA (Watergate) und der Bundesrepublik (Flick) 225 Werner Gephart zwischen dem aufrechtzuerhalten. 4. Heiligen und dem Un-Heilgen Orte der Gerechtigkeit Ebenso wie es die heiligen Räume547 des Rechts als Orte der Gerechtigkeit548 zu beachten gilt, sind auch die Stätten der Reinigung selbst vom Charakter des Heiligen durchdrungen: magische Orte der Besserung, die das Opfer durch bloße Anwesenheit und asketische Riten vom Zustand des Bösen in die Welt des Guten zurückführen soll. Diese ›rites de passage‹ erfordern allergrößte rituelle Vorkehrungen und schließlich auch eine räumliche Ausgrenzung, die das Böse verdrängt und das Gute in Ruhe wachsen läßt. Was läßt sich von dieser Beobachtung des Verfahrens, durch den religionssoziologischen Blick vermittelt, in den Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung der Künstler und Format-Produzenten wiederfinden? II. Honoré Daumier: Der Maler des modernen Rechtslebens »C’est un satirique, un moqueur; Mais l’energie avec laquelle Il peint le Mal et sa séquelle ganz unterschiedlich entwickelt, in Szene gesetzt und ›verarbeitet‹. Gemeinsam ist den kuturell geprägten Reinigungstechniken, daß sie als Ritual vollzogen werden. Soziologisch ist bei aller Verärgerung und Empörung nicht die positive Funktion des Skandals und der rituellen Abarbeitung zu vergessen. Es ist eine interessante dogmatische Frage, ob sich die juristischen Unsicherheiten in der Anwendung der Strafprozeßordnung auf die Untersuchungsausschüsse durch eine funktionale Betrachtung der jeweiligen Verfahren eingrenzen ließen. Zu Watergate vgl. den religionssoziologisch inspirierten Versuch von Jeffrey C. Alexander, Culture and political Crisis. ›Watergate‹ and Durkheimian Sociology, in: ders. (Hrsg.), Durkheimian Sociology. Cultural Studies, Cambridge 1988, S. 187-224. 547 548 Der rechtliche Schutz der Bannmeile gehört zur modernen Sakralisierung des Raumes. Vgl. im übrigen auch Georg Simmel, Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, in: Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, 1968, S. 460-526. Siehe oben (zweiter Teil, drittes Kapitel). Vgl. auch daran anknüpfend: Klemens Klemmer, Rudolf Wassermann und Thomas Michael Wessel, Deutsche Gerichtsgebäude. Von der Dorflinde über den Justizpalast zum Haus des Rechts, München 1993. 226 Recht als Kultur. prouve la beauté de son cœur« – Baudelaire über Daumier In Deutschland dürfte unter Juristen das Bild von Daumier durch Gustav Radbruchs glänzende und sympathetische Analyse bestimmt sein. Er bemüht sich hinter dem Karikaturisten den Ernst des Moralphilosophen aufscheinen zu lassen, der das »Menschliche, allzu Menschliche« mit scharfen Augen beobachtet und der doch eine »heimliche ästhetische Liebe für die gens de justice nicht ganz unterdrücken konnte«549 Radbruch sieht die außerordentliche Leistung Daumiers gerade darin, daß er als Karikaturist »überindividuelle Individualitäten, menschliche Idealtypen und Urphänomene« geschaffen habe.550 Damit aber habe er ein Bild der Justiz gezeichnet, das nicht nur seine eigenen negativen Erfahrungen aufnimmt, sondern zu einer einzigartigen Quelle geworden sei, »für den damaligen Geist der französischen Bourgeoisie und ihrer Justiz.«551 Es ist bezeichnend, daß Radbruch im Jahre des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs auch die dahinter stehende Differenz französischer und deutscher Kultur, insbes. ihrer Rechtskultur wahrnimmt: Noch hinter der Entlarvung des falschen Pathos, der unangemessen großen Geste lauere eine Wahrheit: Forensische Rhetorik ist in Frankreich legitimes Mittel der Überzeugungsbildung im Gerichtssaal, während für Deutschland Radbruch zu Recht festhält: »Die Rhetorik ist uns verdächtig, sie steht im Geruch der Unechtheit und Unehrlichkeit.«552 Diese Beobachtung läßt sich bis in die heutige universitäre Ausbildung in den Grands Ecoles verfolgen, wo noch immer die geschliffene Rede als Ausweis der Vernunft gilt und am Collège 549 550 551 552 Gustav Radbruch, Honoré Daumier: Gens de Justice, abgedr. in: Gustav Radbruch, Gesamtausgabe Band 5: Literatur und kunsthistorische Schriften, hrsg. von Arthur Kaufmann, bearb. von Hermann Klenner, Heidelberg 1997, S. 234-244 (S. 236), nach einem 1914 in Manheim gehaltenen Lichtbildvortrag. Ebd., S. 237. Ebd. Ebd., S. 239. 227 Werner Gephart de France bedeutende Lehrstühle dem Studium der Rhetorik gewidmet sind.553 Insofern sind Radbruchs Beobachtungen treffend und klingen nach medientheoretischer Belehrtheit, wie sie von Baudrillard formuliert sein könnte: »Der ganze Prozeß, das Schicksal eines Menschen, das seinen Gegenstand bildet, ist in einem rhetorischen Kunstereignis, einer illusionären Scheinwelt untergegangen.«554 So ließe sich die berühmte Lithographie ›Une péroraison à la Démosthène‹ charakterisieren. Honoré Daumier, Une péroraison à la Démosthène (Planche 33 de la série Les Gens de jusice Le Charivari, 27 avril 1848), Lithographie sur blanc; deuxième état sur deux (25,2 × 19 cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur Ausstellung in Ottawa 1999, Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb. 98, S. 217. Es demonstriert zugleich den berühmten ›effet de manche‹, den mit dem schwungvollen Wurf des Talars erzielten theatralischen Effekt. Hier macht es übrigens Sinn, Daumiers Vorliebe für das Theater, das Beobachten der Beobachter, auch am Theatersujet selbst zu verfolgen. Wir wissen, daß Daumier nach einer über 30 Jahre währenden Tätigkeit als rastloser Zeichner in Stein, als Lithograph also, nach einer dauerhafteren, weniger auf flüchtige 553 554 Vgl. die glänzenden Arbeiten Fumalis! Gustav Radbruch, Honoré Daumier: Gens de justice, a. a. O., S. 239. 228 Recht als Kultur. Effekte zielenden Kunstform strebte. Eine in Öl gemalte Theaterszene, die sich in der Neuen Pinakothek in München befindet, macht bei aller Seriosität der Maltechnik das Theatralische auch des Theaters durchsichtig: Wir schauen mit den Theaterzuschauern auf eine Guckkastenbühne, auf der sich eine weiße Lichtgestalt händeringend von dem dunkel konturierten Mörder einer am Boden liegenden Person abwendet, denen man eben die Gespieltheit ihrer Gesten in der dramatischen Übertreibung deutlichst anmerkt. Honoré Daumier, Au théâtre (Vers 1860-1864), Huile suir toile (97,5 × 90,4 cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur Ausstellung in Ottawa 1999, Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb. 260, S. 412. Eine weiterer Blick in den Zuschauerraum eines heute im Metropolitan Museum befindlichen Werks zeigt, wie ernst der Beobachter Daumier den Status des Beobachters nimmt, der im Mittelgrund zu einer typisierten Masse verschwimmt, während die halb beschienenen Herren im Vordergrund individuell, aber gerade in einer differenzierten Gestik gezeichnet sind: die zur Seite gedrehte, um bessere Sicht auf die Bühne bemühte Gestalt 229 Werner Gephart neben der statuarischen Würde des backenbärtigen Herrn mit Zylinder und dem vorgereckten Kopf des ins Bühnengeschehen hineingezogenen jugendlicheren Beobachters. Honoré Daumier, Les Spectateurs (Vers 1863-1865), Plume, aquarelle et rehauts de gouache (34 × 29 cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur Ausstellung in Ottawa 1999, Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb. 262, S. 414. Radbruchs Deutung verdient noch in einem weiteren Punkt gewürdigt zu werden: Noch bevor das volle Ausmaß der plastischen Tätigkeit Daumiers von der Forschung herausgearbeitet war, sieht der Rechtsphilosoph und Rechtshistoriker das plastische Talent Daumiers, gleichviel, ob Daumier nun die überlieferten Statuetten für sich selbst als Erinnerungshilfe produziert habe, was angesichts des tausende von Zeichnungen umfassenden Werks ziemlich absurd 230 Recht als Kultur. erscheint.555 Radbruch sieht zu recht: »Nicht ein verhinderter Maler offenbart sich in Daumiers Lithographien – viel eher ein berufener Plastiker«. Und zwar ein solcher – so ist zu ergänzen – der wie Rodin556 insofern ›Impressionist‹ war als er den Augenblick festhielt, den Körper in einer wie in Ton fixierten Bewegung.557 Das Plastische im Werk von Daumier benennt Radbruch in der folgenden Weise: »Die Umwelt bedeutet ihm nichts, Landschaft oder Straße werden nur angedeutet, allein wichtig ist ihm die menschliche Gestalt und ihre Gebärde, sie hat wie die wirkliche Freiplastik die Kraft, den Raum gleichsam aus sich heraus zu erschaffen und zu gestalten.«558 Aber auch dies erscheint einseitig, läßt man die Studien zu dem berühmten Werk ›Une Cause célèbre‹ beiseite. Sie zeigen, wie aus kreisenden Zeichenbewegungen die plädierende Geste herausgeformt wird und insofern auch in der Zeichnung das ›Bewegungsmotiv‹ innovativ behandelt ist – wie in den Lithographien der Rennbahnbilder Manets, mit dem Daumier gemeinsam im Salon ausstellt.559 Honoré Daumier, Étude d’expression pour pour Une cause célèbre, 555 556 557 558 559 Vgl. auch Juergen Albrecht, Daumier, Reinbeck bei Hamburg 1984, S. 62. Dem jungen Rodin wird – als er die Statuette Ratapoil (1850) sah – die Bemerkung nachgesagt: »Was für ein Bildhauer«! Dies war Georg Simmels Entdeckung bei Rodin: Georg Simmel, Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik, in: Nord und Süd 1909. S. 199. Gustav Radbruch, Karikaturen der Justiz. Lithographien von Honoré Daumier, 1947, in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe Bd. 5, Heidelberg 1997, S. 245-289 (S.251). Sein Kommentar über Manet war im übrigen nicht unkritisch: »Manet me dégoûte de la peinture compliquée de l’école, sans me faire aimer sa peinture à lui.« (in: La promenade du critique influant, Anthologie de la critique de l’art en France 1850-1900, Paris 1990, S. 261). 231 Werner Gephart Charcoal, pen and ink (27 × 17,5) et (27 × 21). Quelle: Bruce Laughton, Honoré Daumier New, Haven/London 1996, Abb. 121 und. 122, S. 99 Honoré Daumier, Une cause célèbre (Vers 1865-70), Pierre noire, lavis, plume, encre, aquarelle, gouache et crayon, Conté sur papier vélin (26 × 43 cm). Quelle: Bruce Laughton, Honoré Daumier, a. a. O., Abb. 120, S. 98. Damit wäre eigentlich Daumier ein geeigneter Kandidat für den Ehrentitel eines ›Peintre de la vie moderne‹ geworden, den Baudelaire aber anderweitig vergeben hatte, ohne Daumier – wie der Eingangsvers zeigt – den Respekt zu versagen, als jemand, der sich nicht scheut die Häßlichkeit und die Fratzen der Gerechtigkeit zu zeigen: le Mal dans la société. Dieser eher konventionellen Deutung des Werks von Daumier gegenüber560 bahnt sich nun eine neue Sicht an, die Daumier aus dem Dunstkreis des Karikaturisten zugunsten höherer künstlerischer Berufung befreien möchte. Freilich sollte man sich hierbei vor Augen halten, wie kritisch Daumier das Geschäft des Kritikers selbst eingeschätzt hat. Die selbstgefällige ›Promenade du critique influant‹, dem sich die Künstlerkollegen tief zum Gruß verneigend, bzw. um die milde Gabe einer wohlwollenden Besprechung bettelnd annähern, müßte eigentlich einen jeden Kritiker gegenüber Daumier zumindest verstummen lassen. 560 Vgl. Colta Ives Juristen und das Gericht, in: Colta Ives et al. Honoré Daumier, Zeichnungen, a. a. O., S. 174 ff. sowie die präszise Studie von Bruce Laughton: Honoré Daumier, Yale University Press. New Haven and London 1996. 232 Recht als Kultur. Honoré Daumier, La Promenade du critique influent (1865), lithographie. Quelle: La promenade du critique influent, Anthologie de la critique d’art en France 1850-1900, Paris 1990, S. 2. Aber schauen wir auf die ›Ehrenrettung‹ Daumiers in der New Yorker Ausstellung561. Wie in der zu Lebzeiten, mit ungeheurem Defizit, veranstalteten Pariser Ausstellung (1878), werden die Gemälde als die eigentliche Überraschung empfunden.562 Formal-technisch wegweisend für Cézanne und gar Giacometti, wird ihre differente Stimmungslage immer wieder bemerkt. »But his paintings, far from being caricatures in another medium, exist in an entirely different spiritual and aesthetic register…They possess rare depths of solitude and 561 562 In der Ausgabe vom 28. Februar 2000 lautet der Artikel von Hilton Cramer bezeichnenderweise: ›The Daumier Retrospective: More Than A Caricaturist‹. Vgl. Roger Kimball, ›Strange Seriousness‹: Discovering Daumier, in: The New Criterion, 18. April 2000. 233 Werner Gephart melancholy tenderness.«563 Läßt sich dies in den hier interessierenden Bildern von Recht und Gerechtigkeit wiederfinden? Eine aquarellierte Gouache, die in das Jahr 1850 datiert wird, mag diesen Unterschied deutlich machen: Honoré Daumier, Au palais de Justice (Vers 1862-1865), Plume, encre, lavis, pierre noire, aquarelle et gouche, sur papier vergé, (14 × 23 cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur Ausstellung in Ottawa 1999, Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb. 283, S. 441. Hier finden sich alle Motive, die wir aus den Gerichtskarikaturen kennen:564 die verzweifelt Rechtsuchende, von Daumier immer wieder mit Empathie gezeichnete junge Frau. Anders in dem Verhör einer Minderjährigen: 563 564 Ebd. Ich verweise auf die glänzende Beschreibung von Gustav Radbruch, Karikaturen der Justiz, a. a. O. 234 Recht als Kultur. Honoré Daumier, La Déposition d’une mineure, dit aussi La Séance à huis clos (Vers 1865-1868), Fusain, lavis gris et crayon Conté sur papier vergé (21,5 × 34,5 cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur Ausstellung in Ottawa 1999, Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb. 288, S. 446. Hier geht es nicht um die anklagend gezeichnete Atmosphäre einer schlüpfrigen Befragungssituation eines jungen Mädchens. Und es geht auch nicht um die triumphale Geste des Anwalts, der sich im Glanz des rhetorischen Triumphes eines verlorenen Prozesses sonnt. Honoré Daumier, Deux avocats (Vers 1862), Pierre noire, lavis, aquarelle, gouche et crayon, Conté sur papier vergé (20,9 × 27 cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur Ausstellung in Ottawa 1999, Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb. 212, S. 364. 235 Werner Gephart Anwälte, die ihre Köpfe so nahe zusammenstecken, daß dem ohnehin bestehenden Kollusionsverdacht nur weiter Nahrung gegeben wird. Es findet sich auch das gotisierende massive Gemäuer eines Eindruck schindenden Justizpalastes, wie in manchen Karikaturen der ›Gens de la Justice‹. Eine wogende Masse von Rechtssuchenden im Hintergrund der endlosen Flure der Justizgebäude, vor dem sich ein offensichtlich erfolgreicher Anwalt mit Stolz vorgewölbtem Leib in heller Beleuchtung abhebt. Honoré Daumier, Le grand escalier du Palais de Justice (1860-64), Charcoal, black chalk, pen and wash, watercolour and gouache (35,8 × 25,6). Quelle: Bruce Laughton, Honoré Daumier, a. a. O., Abb. 123, S. 99. 236 Recht als Kultur. Mir scheint dieses Bild, das von Bruce Laughton565 als additive Anhäufung bekannter Justizmotive geschildert wird, hierüber in seiner Bedeutung doch hinauszugehen. Es sind die narrativen Episoden, von denen Daumiers Karikaturen leben, zu einer Gesamterzählung der juridischen Lebenswelt zusammengefaßt, in der es einen einzelnen Sinn oder Pointen der Kritik gar nicht mehr zu transportieren gilt: In diesem unscheinbaren Bild sind Triumph und Tristesse, Elend und Glanz, sich überkreuzende Beziehungskonstellationen des juristischen Personals in unterschiedlichen Rollen, das Publikum der Recht suchenden Rechtsgemeinschaft, die in eine partikulare Masse zerfällt und das in den Vordergrund gerückte Schicksal der Recht Suchenden und zu Tränen enttäuschten Rechtsnachfrager in einem einzigen Bild zusammengeführt. Das ist der nicht mehr narrativ erfaßbare Gesamtsinn eines Rechtssystems, das Simmel wie folgt beschrieb: »Von einem besonderen Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird.«566 Dieser ›besondere Stand‹ ist in seinen Schwächen, Schläfrigkeiten des Justizsystems, Eitelkeiten und narzißtischen Kränkungen in den ›Gens de la justice‹ ja eher liebevoll gezeichnet, weshalb auch Anwälte zu den bedeutendsten Sammlern der Lithographien gerechnet werden. In diesem Bild aber, das weniger bissig ist und die niederen Beweggründe der Justiztäter schont, ist gleichwohl eine düstere Stimmung wiedergegeben, die über dem Rechtswesen liegt, und für ironisch-sarkastische Distanzierungen Identifikationen keinen Raum mehr läßt. 565 566 und paradoxe Bruce Laughton: Honoré Daumier, Yale University Press. New Haven and London 1996, S. 98ff. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O.,S. 525 237 Werner Gephart III. In den Polypenarmen der Gerechtigkeit: Das Rechtsbild des Gesellschaftsmalers Gustav Klimt »Kein Symbol kann dem Menschen, der am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts denkt, reichere Beziehungen offenbaren als jenes der Jurisprudenz; die Allgegenwärtige in allen politischen, sozialen, wirtschaftlichen Kämpfen, die da schlichtet, zwischen jenen, welche die Macht festhalten, und jenen, welche die Macht erfassen wollen, zwischen Hohen und Niedrigen, Reichen und Armen, Mann und Weib, Kapital und Arbeit, Erzeugung und Verbrauch, – das alles ist uns die Jurisprudenz... Aber für Herrn Klimt erschöpft sich der Begriff der Jurisprudenz in Verbrechen und Strafe...«567 Nicht der französische Symbolismus eines Gustave Moreau oder andere Vertreter der Nabis haben eines der kraftvollsten Symbolbilder der Gerechtigkeit in der ästhetischen Moderne hervorgebracht. Es war der Gesellschaftsmaler der schönen Damen und erotischen Lasziva, der ein eindrucksvolles Bild der ›Jurisprudenz‹ geschaffen hat: Gustav Klimt. Wir befinden uns im Aufschwung der Psychoanalyse, des Neopositivismus und der Geburt der Reinen Rechtslehre, die in den ›Hauptproblemen der Staatrechtslehre‹ erstmals Gestalt gefunden hat (1911), während Eugen Ehrlich seine Erfahrungen mit dem Vielvölkerstaat der KUK-Monarchie in das Postulat des ›lebendigen‹ Rechts gekleidet hat. Läßt sich dies in den Fakultätenbildern, insbesondere der Jurisprudenz, wiederfinden und kultursoziologisch für ein Verständnis von Recht ausdeuten? 567 Zit. nach Christian M. Nebehay, Gustav Klimt. Sein Leben nach zeitgenössischen Berichten und Quellen, München 1976, S. 71. 238 Recht als Kultur. Klimt durfte das Fakultätenbild auf der Weltausstellung in St. Louis, die Weber, Troeltsch und Tönnies nach Amerika geführt hatten und Webers revolutionäre Protestantismusthese eingeleitet hatte, nicht zeigen. Auch die Ausstellung weiterer Bilder versuchte man zu vereiteln. Klimt war hiervon so tief getroffen, daß er den ministeriell erteilten Auftrag zur Ausschmückung der neu gegründeten Universität an der Ringstraße und das vorab gezahlte Honorar für diesen großen Staatsauftrag zurückgab. Dabei hatte alles ungewöhnlich begonnen. Die Wiener Sezessionisten arbeiteten nämlich mit staatlicher Unterstützung an ihrem neuen Bild der Moderne, das zugleich mit dem gesellschaftlichen Auftrag versehen war, zwischen den Kulturen des Habsburgerreiches zu vermitteln: »Wenn auch jede Kunstentwicklung in nationalen Bahnen wurzelt, so sprechen doch die Gebilde der Kunst eine gemeinsame Sprache und führen, in einen edlen Wettstreit tretend, zu gegenseitigem Verständnis mit wechselseitiger Wertschätzung.«568 Schon das erste der Fakultätenbilder, eine allegorische Darstellung der Philosophie hatte Proteststürme ausgelöst und die Wiener Universität und kunstliebende Gesellschaft erschüttert. Der Rektor sprach davon, die Philosophie verdiene es nicht »als nebelhaftes, phantastisches Gebilde, als rätselhafte Sphinx dargestellt zu werden.«569 Gerade Friedrich Jodl, den Georg Simmel als philosophischen Gewährsmann seiner ja nicht unkritischen Sicht des Rechts genannt hatte,570 und dessen Rechtsauffassung er in höchsten Tönen gelobt hatte, wird zum wichtigsten Sprecher im Protest gegen die Darstellung der Philosophie. Dieser Repräsentant eines ›rationalen Liberalismus‹ (Schorske) oder eines liberalen ›Rationalismus‹, der an angelsächsischem Empirismus und 568 569 570 Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien, Protokoll des Kunstrates vom 16. Februar 1899; zit bei Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München 1994, S. 224. Vgl. Strobl, in: Albertina-Studien, Bd. 2, S. 152-154 (S.153), zit. bei Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, a. a. O. S. 220. Vgl. oben im Simmel-Kapitel. 239 Werner Gephart Utilitarismus ausgerichtet war, aber auch politisch der EthikBewegung angehörte, um die Wiener ›Gesellschaft für Ethik‹ mitzubegründen, die sich der Frauenfrage, der Bürgerrechte sowie der Volksbildung annahm, aber keinen Raum für »die dunkle unklare Symbolik des Bildes, die nur von wenigen erfaßt und verstanden werden dürfte«571 ließ. Die schrillen, antisemitischen Töne im ›Deutschen Volksblatt‹ sind wie ein Vorschein des Schicksals der Fakultätenbilder, die nach ihrer ›Arisierung‹ im Mai 1945 in Niederösterreich verbrannten, nachdem das Schloß Immendorf von abziehenden SS-Truppen in Brand gesteckt worden war. Nur was war so provozierend an einem Bild, das einerseits als Hauptwerk österreichischer Kunst für die Weltausstellung in St. Louis vorgesehen war und dann aber eine so empörte Kritik, wie die von Karl Kraus provozierte, »daß der Künstler, der zweimal schon des Gedankens Blässe mit den leuchtendsten Farben übertüncht hat, ... die Jurisprudenz malen (wollte) und das Strafrecht symbolisiert (hat).«572 In dem ursprünglichen Entwurf, den Klimt der Kunstkommission vorgelegt hatte, erscheint Justitia als eine Frauengestalt, die in Gestus, Gewand und Haartracht nicht in eine Ferne, wie die mythologischen Figuren der ›Philosophie‹ und Hygeia, gestellt waren, sondern dem Wiener Zeitgeschmack entsprungen zu sein schien und wofür Klimt bekanntermaßen zuständig war. Allein die vom Betrachter nach oben gerichtete Perspektive, die das Schwert der Justitia über den Niederungen des Lasters in den höheren Sphären des Lichts schweben läßt, erhöht sie zu der Kultgestalt, die in der liberalen Kultur Österreichs verehrt wird. War doch der Gründer ihrer Zeitschrift ›Ver sacrum‹ ein anerkannter Verwaltungsjurist gewesen! Die impressionistisch anmutende Malweise der langgezogenen Gewandstriche, ein flirrendes Licht, lassen im Vergleich mit 571 572 Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, a. a. O., S. 221. Karl Kraus, Die Fackel, Nr. 147, 21. November 1903, S. 10. 240 Recht als Kultur. anderen Werken nur den Schluß zu, daß hier ein idealisierendes Mittel der Darstellung gewählt wurde.573 Gustav Klimt, Gemalter Kompositionsentwurf der Jurisprudenz (Detail) (1897-1898), Öl auf Leinwand (Maße unbekannt). Quelle: Gottfried Friedl, Gustav Klimt 1862-1918, Die Welt in weiblicher Gestalt, Köln 1998, S. 87 Das neue Bild der Gerechtigkeit ist nach den Auseinandersetzungen um die übrigen Fakultätenbilder zu etwas völlig anderem geworden. Aus dem Wertehimmel der Rechtsund Wertideen, die von einer Justitia mit der Kraft einer anmutigen Frau verteidigt werden, hat sich die Hauptfigur in ein Objekt juristisch-autoritativer Zurechnung verwandelt. Diese nackte, erbarmungswürdige Figur steht im Zentrum des Bildinteresses, auch wenn die Aufteilung einer höheren und einer niederen Welt beibehalten wird. In dieser höheren Welt, in der allegorische Gestalten von ›Wahrheit‹, ›Gerechtigkeit‹ und ›Gesetz‹ im Dekor ihrer sie umgebenden Ornamentik 573 So überzeugend: Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, a. a. O., S. 231. 241 Werner Gephart verschwinden. Wie in mittelalterlichen Kreuzigungsdarstellungen befinden sich Richtersoldaten auf ein Büstenformat reduziert zu Füßen der zentralen Gestalt der Gerechtigkeit, die über eine, wie im Lettner trennende Zone hinweg, in die profane Welt der Rechtsanwendung, der Exekution und Praxis der Strafen überleitet. Gustav Klimt, Jurisprudenz, Endzustand (1907), Öl auf Leinwand (430 × 300). Quelle: Gottfried Friedl, Gustav Klimt 1862-1918, Die Welt in weiblicher Gestalt, a. a. O., S. 89 Je näher das Geschehen der Alltagsmythologie des Strafens dem Betrachter rückt, um so unklarer wird die Vorstellung vom 242 Recht als Kultur. Raum, der keine Tiefe hat, sondern sehr treffend als vakuumartig beschrieben wird.574 Vor diesem schwarzen Hintergrund hebt sich die Gestalt des männlichen Opfers heraus, die von einem ebenso dekorativen, wie ekelerregenden Polypen umschlungen ist, in einer mit dem Kopf nach unten geneigten Haltung, aus einer Seitenperspektive von einem niedriger gelegenen Standpunkt aus beobachtet,575 die das Geschlecht der nackten Gestalt verdeckt. Dies erlaubt dann triebtheoretisch motivierte Deutungen der aus den Göttinnen der Gerechtigkeit und des Gesetzes gleichsam herausgewachsenen Exekutionsorgane, die als weibliche Furien, untereinander in einem symbolisch aufgeladenen Haarstrudel verbunden, das männliche Opfer in gestrenger oder lasziver Pose umstellen. Es sind femmes fatales des Fin de siècle und antike Rachegöttinnen zugleich, die den Rechtsbrecher umlagern. Seine knochige Gestalt ist durch die ausgeprägten perspektivischen Verkürzungen, etwa des linken Schulterblattes und der betonten Schraffuren des Gesichterschattens in größter Plastizität aus der flächigen Anlage der bildparallel angelegte Schichten der ornamental eingemauerten Justitia herausgehoben, die das Geschehen aus ferner Distanz beobachtet und die Verwirklichung des Rechts den Furien der mittleren Bildebene überläßt. Nach Format (430 x 300), Linienführung und einem eigenen Pathos hatte Klimt – nach dem Beethovenfries – ein weiteres Monumentalwerk geschaffen, von dem zwar behauptet wurde, das sein Symbolgehalt unklar sei, dessen Botschaft aber doch nur schwer zu verfehlen ist. Dies war auch Karl Kraus durchaus bewußt, der auch nicht das Fehlen einer Botschaft bemängelt, sondern dessen Inhalt: »Kein Symbol kann dem Menschen, der am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts denkt, reichere Beziehungen offenbaren als jenes der Jurisprudenz; die 574 575 So die in allem hervorragende Analyse bei: ebd. S. 236. Diese ›komplizierte perspektivische Wiedergabe‹ ist bei Marian BisanPralken (Gustav Klimt, der Beethovenfries. Geschichte, Funktion und Bedeutung, Salzburg 1977, S. 46) betont. 243 Werner Gephart Allgegenwärtige in allen politischen, sozialen, wirtschaftlichen Kämpfen, die da schlichtet, zwischen jenen, welche die Macht festhalten, und jenen, welche die Macht erfassen wollen, zwischen Hohen und Niedrigen, Reichen und Armen, Mann und Weib, Kapital und Arbeit, Erzeugung und Verbrauch, – das alles ist uns die Jurisprudenz... Aber für Herrn Klimt erschöpft sich der Begriff der Jurisprudenz in Verbrechen und Strafe...«576 Damit benennt Karl Kraus ein grundsätzliches Problem der Visualisierbarkeit von Recht, Jurisprudenz und seiner Deutungen als Wissenschaft und jurisprudentieller Praxis: Wie nämlich soll die Allgegenwart des Rechts in seiner dogmatischen Differenziertheit und rechtstatsächlichen Omniund Multipräsenz in den unterschiedlichsten Lebensbereichen als die dominante Struktur des sozialen Lebens (Emile Durkheim), als Formgeber einer widersprüchlichen Moderne (Georg Simmel), in der Wohltat zum Übel wird, und als Paradigma des rationalistischen Geistes und seiner Widersprüche von formaler und materialer Rationalität (Max Weber), wie sollen diese Gehalte denn überhaupt in einem Bild visualisierbar sein? Ein ästhetischer Ausweg ist die Abstraktion, die uns aber Rechtsbilder weder bei Kelly, Serra, Rothko, Picasso, Miro und den übrigen Helden der abstrakten Moderne geliefert hat. Warum sollten wir die Überlieferung des Klimtschen Werkes nicht als ein in der Rechtsgemeinschaft durchaus dominantes Bild der Gerechtigkeit lesen, in dem die Strafe im Vordergrund steht, von der wir nicht wissen, auf welches Verbrechen es sich bezieht? Damit aber schafft es erst den offenen symbolischen Raum, in den religiöse Urschuld und imaginierte Verbrechen der Seele projizierbar sind und damit den Rechts- und Strafmechanismus auf eine von den konkreten Umständen der Gesellschaft losgelöste Ebene verlagern, die eine Kritik der schläfrigen Wahrheit, einer herrisch abweisenden Justitia und 576 Zit. nach Christian M. Nebehay, Gustav Klimt. Sein Leben nach zeitgenössischen Berichten und Quellen, München 1976, S. 71. 244 Recht als Kultur. des blindwütigen Gesetzes als einer den Menschen niederdrückenden Struktur des Überichs verbildlicht.577 Es stellt sich die abschließende Frage, ob die neuen Medien es erlauben, ein umfassenderes, ›gerechteres‹ Bild oder gar Abbild des Rechtssystems in seinen multimedialen Kommunikationszusammenhängen zu liefern, als es die zweidimensionale, in den Keilrahmen eingespannte, Leinwand vermag. IV. Recht und neue Medien: Werbung für Gerechtigkeit? »Mit den gängigen Medienpraktiken sind daher Risiken der Selektivität bis hin zur Verfälschung verbunden.« (Entscheidung des BverfG vom 24. 1. 2001) Auch das neue Format des ›Court-TV‹ befreit uns nicht aus dem ›Wald der Fiktionen‹.578 Mit Urteil vom 24. Januar 2001 hatte der erste Senat des BverfG die Verfassungsbeschwerde des Nachrichtensenders n-tv gegen das Verbot von Fernsehaufnahmen während der Gerichtsverhandlung zurückgewiesen. Interessant sind die medientheoretischen Argumente gegen eine Medialisierung des Gerichtsverfahrens. Zwar entfiele der Eindruck von Authentizität, wenn das Fernsehen aus dem Gerichtssaal während der Verhandlung verbannt werde. Dafür aber sei eben nicht gewährleistet, daß eine Fernsehberichterstattung zu einer »möglichst wirklichkeitsgetreuen Abbildung von Gerichtsverhandlungen« führen würde. Denn den Medien unterliege ja eine Gestaltungsfreiheit der Wiedergabe, in der Selektion von Ausschnitten, der Wahl der sujets, aus den Eigeninteressen einer Branche, die unter 577 578 Hier schaffte die Überlieferungslage des zerstörten Werkes, das wir nur über Photographien und Beschreibungen kennen, Grenzen der Auslegung. Vgl. Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, Münschen 1994. Die literaturwissenschaftliche Debatte um Fiktionalität nimmt leider den juridischen Ursprung der FiktionenDebatte nicht zur Kenntnis. 245 Werner Gephart Wettbewerbsbedingungen des Marktes begrenzter Aufmerksamkeiten, dem Sensationellen und Skandalösen Vorrang geben müsse. Daher gerät der Senat zu dem Schluß: »Mit den gängigen Medienpraktiken sind daher Risiken der Selektivität bis hin zur Verfälschung verbunden.« Das Gericht schließt im übrigen gerade aus den Eigenschaften, die überhaupt eine Medialisierung attraktiv erscheinen lassen, auf die Zulässigkeit des Fernsehverbots während der Verhandlung: Zeugen und Angeklagte befinden sich gerade während der Verhandlung in einer angespannten emotionalen Lage – was gerade die seit den Stummfilmtagen erkannte und genutzte dramatische Qualität der Gerichtsverhandlung, zumindest im anglo-amerikanischen Recht ausmacht. Werden nun extreme emotionale Erregungen während des Verfahrens von der Kamera festgehalten und TV-weit wiedergegeben, sind Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten zu erwarten und möglicherweise gar eine spätere Resozialisierung gefährdet. Es wird das Schreckbild mittelalterlichen Rechts, des Prangers bemüht, um solche negativen Sanktionierungen, vor dem Hintergrund im übrigen hochselektiver Darstellungspraktiken, abzuwehren. Erst nachrangig wird vom Sinn des Verfahrens her argumentiert, nämlich einer ungestörten Wahrheits- und Rechtsfindung. Es ist aus der forensischen Psychologie ja nicht unbekannt, daß Menschen ihr Verhalten vor laufender Kamera oder Tonband schlichtweg ändern. Und die Ausführungen des Gerichts zur Verneinung eines Aufnahmerechts während der Verhandlung erfaßt treffsicher den Grund für den problematischen Öffentlichkeitsreiz der Gerichtsverhandlung, nämlich die institutionelle Legitimität des in der Court-Sitcom erzeugten Herabsetzung von Peinlichkeitsschwellen: »Die Fairneß des Verfahrens ist insbesondere im Strafprozeß für Angeklagte oder Zeugen gefährdet, wenn diese sich infolge der Medienaufnahmen scheuen, intime, peinliche oder unehrenhafte 246 Recht als Kultur. Umstände vorzutragen, die zur Wahrheitsfindung wichtig sind.«579 Mit dieser Entscheidung, die § 169 S. 2 GVG für verfassungsmäßig erklärt, indem der Gesetzgeber sein Bestimmungsrecht zur Konkretisierung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Verhandlung auf verfassungsmäßige Weise ausübe, hat das Gericht Big Brother zwar – nach Auffassung der dissentierenden Richter580 zu pauschalisierend – aus dem Gerichtssaal verwiesen, nicht aber die Inszenierung prozessual aufgedeckter ›Intimität‹ in Court-TV-Sitcoms verhindern können. Motive und mediale Gewinne der Simulation von Gerichtsverhandlungen, Darstellung des Sensationellen, Makabren, Peinlichen und Intimen, sind vom höchsten deutschen Gericht treffsicher benannt. Bevor wir uns diesem neuen Terror der Intimität zuwenden, der offensichtlich in die Peinlichkeitslücke getreten ist, die Big Brother und daily soaps, bzw. Nachmittags-TV-Shows hinterlassen haben, ist ein Blick auf den amerikanischen Gerichtsfilm erforderlich, für den sich der Terminus ›courtroom drama‹581 eingebürgert hat. Er ist als Vorbild europäischer Adaptionen nicht nur deshalb interessant, weil er eine subkutane ›Rezeption‹ des amerikanischen Rechts befördert, sondern weil er die Fiktionalisierung einer Fiktion verdoppelt: Zwar liegt dem amerikanischen Strafverfahren ein dramatisierbares Prinzip der adversary jury zugrunde; aber selbst in der amerikanischen Rechtswirklichkeit werden nur wenige Fälle nach dem Drehbuch der Gerichtsfilme absolviert, wie Edward B. Williams bemerkt: »Very, very few actual cases are won with dramatic appeals to a jury, sudden disclosures of proof or sly little tricks.«582 Die Präsentation der »last minute 579 580 581 582 Aus der Pressemitteilung des BverfG vom 24.1. 2001. Von ihnen wird der gewandelten Bedeutung der Medienlandschaft, insbesondere der Verschiebung von den Print- zu den audiovisuellen Medien, auch verfassungsrechtliches Gewicht beigelegt. Vgl. Die informative Studie von Matthias Kuzina, Der amerikanische Gerichtsfilm. Jusitz, Ideologie, Dramatik, Göttingen 2000. Edward B. Williams, The High Cost of Television’s Courtroom, in: 247 Werner Gephart production of the real guilty party« ist auch deshalb wirklichkeitsfremd, weil eine Vielzahl von Fällen aufgrund der Bedeutung außerprozessualer Absprachen gar nicht im Gerichtssaal, sondern außerhalb entschieden werden. Die Logik der Inszenierung ist schlicht, wie Barret schon in der Frühgeschichte des Gerichtsfilms bemerkte: »Dramatic law demands that the man or woman being tried should almost invariably be an innocent victim of circumstances. The big thrill nearly always depends on a long duel between counsel for the prosecution and the defence to prove the innocence against really overwhelming evidence to the contrary and the last minute production of the real guilty party.«583 Stellt schon im tatsächlichen Verfahren die Herstellung der Wahrheit einen Konstruktionsakt dar, so wird dies im Medium der symbolischfilmischen Realisation verdoppelt. Insofern – ohne das Verfahren der Jury-Auswahl oder der Richterwahl mitzuthematisieren – wird eine mehrfach fiktionalisierte, aber in ihrem fiktionalen Charakter nichtdurchschaute Inszenierung schon des amerikanischen Verfahrens noch einmal verlängert, wenn es zum Modellfall z.B. deutscher Fernsehproduktionen gerät. Es wird ein Theater der Justiz aufgespielt, das keiner Wirklichkeit mehr entspricht: Wenn die Bank von ›Richter Holt‹ nicht nur aus edlem Teakholz, sondern auch noch mit seinem Namensschild in Messing versehen ist, dann entspricht dies weder einem amerikanischen Gerichtsaal, noch der trivial nüchternen Atmosphäre deutscher Gerichtssäle, selbst wenn in ihnen auch Anflüge religiöser Ritualisierungen anzutreffen sein sollten.584 Der geraffte, auf 20 Minuten im Werbetakt von Privaten Fernsehsendern produzierte, Verfahrensablauf läßt sich sehr wohl nach dem dramatischen Muster des amerikanischen Court Dramas beschreiben, dem selbst eine Dramatisierungsstrategie zugrunde liegt: »The opening Television quarterly 3, 1964, S. 11-16 (S.15). 583 584 E.E. Barrret, Cases in Camera, in: The Picturegoer (Nov. 1929), S. 2021 (S. 21) (zit. bei Matthias Kuzina, Der amerikanische Gerichtsfilm a. a. O., S.82). Siehe oben! 248 Recht als Kultur. statement is the exposition which, by not divulging all, creates suspense. The artful order on which witnesses are called sets up crisis and climax. Conflict, the gist of any lawsuit, is developed during cross-examination and impeachment. Timing is always important: to maintain jury interest the climax should not come too soon, although, deflating as it may be for the counsel’s ego, it rarely seems to occur during the closing argument. Attention is given to costuming….if all this snacks of manipulation, it is. Like a play, a trial must be produced.«585 Der Richter eröffnet mit einer Vernehmung zur Person und einer Rechtsbelehrung, die in tatsächlichen Verfahren schon zu der Bemerkung geführt haben soll, dies wisse man ja bereits von Richterin Salesch. Sobald der Tatvorwurf, möglichst eine Vergewaltigung oder als ärztlicher Eingriff nicht gerechtfertigte Brustimplantation, benannt und von einer resoluten Staatsanwältin mit dramatischer Musik unterlegt, vorgetragen ist, werden in der dramatisch geeigneten Reihenfolge Zeugen verhört, die den Tatvorgang in einer Weise schildern, wo im Gerichtsverfahren die Öffentlichkeit hätte ausgeschlossen werden müssen. Und tatsächlich tritt die ›Last minute real guilty (or proving) party‹ am Ende in den Gerichtssaal ein, um jegliche Zweifel am tatsächlichen Ablauf zu beseitigen. Daß ein Vater, wohnhaft in der Geilenkirchner Straße, Beihilfe zur Vergewaltigung seiner eigenen Tochter durch seinen Vorgesetzten geleistet hat, dem er einen Ausgleich für einen erotischen Nachteil auf einer Thailandsextour ›schuldig‹ war,586 wird als motivationsmäßig evidente Struktur eines Täterverhaltens präsentiert, dem der Richter in der Abschlußsequenz nur noch mahnende Worte zur Verarbeitung des Traumas bei dem Opfer der Vergewaltigung hinzufügen muß, um die gestörte kollektive Ordnung wiederherzustellen. In dem Fall einer durch einen nicht approbierten Arzt durchgeführten Brustimplantation wird jede Art von juristischer Argumentation, in diesem Fall das 585 586 Vgl. John E, E. Simonett, The Trial as One of the Performing Arts, S. 1145 (zit. bei Matthias Kuzina, Der amerikanische Gerichtsfilm a. a. O., S. 52). Sendung vom 2. Januar 2003 auf SAT1. 249 Werner Gephart Vortragen der Verteidigerin bezüglich der tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes über das Alter der einwilligungsunfähigen ›Patientin‹ als eine juristische Feinschmeckerei abgetan, die eben mit dem gesunden Rechtswillen der hier imaginierten Rechtsgemeinschaft nichts zu tun hat. So sind in einer einzigen Verhandlungsrunde sowohl die voyeuristisch tauglichen Themen von Vergewaltigung ausgeschöpft – in detaillierter Beschreibung, die moralistisch verbrämt wird – wie ein sexualistischer, un-verschämter Kamerablick auf die sekundären Geschlechtsmerkmale junger Frauen gerichtet, um all dies im Gewande moralischer Belehrungen zu überhöhen und aus der abgeschmackten Szenerie ein Lehrstück öffentlicher Moral und Förderung des Rechtsbewußtseins zu machen. Mediensoziologisch gäbe es manches zu ergänzen: die Analyse von Benutzerprofilen, die Statuarik einer Kameraführung, die im Vergleich zur rasenden Geschwindigkeit der Musik-VideoChannels Sicherheit und Ordnung simuliert, und das entstehende Gesamtbild eines Gerichtssystems im Zeitablauf, wie es inhaltsanalytische Beobachtungen hervorbringen würden. Wir wollen uns auch nicht mit der trivialen Feststellung einer Wirklichkeitsverzerrung zufrieden geben, die schon dem Rechtsbild von Klimt entgegengehalten wurde. Auch dürfte die bloße Einsicht in die Unstofflichkeit von Recht und Gerechtigkeit nicht die einzige Lehre sein, die aus diesem neuen Format, ja einer neuen Form der Präsentation der Formalität des Rechts, hervorgeht. Vielmehr läßt sich diese – von juristischen Profis in Rollenspiel und Textdramaturgie durchgestaltete – symbolische Präsentation als Ausdruck eines fundamentalen Bedürfnisses der Rechtsgemeinschaft deuten, diesem doch so unverständlichen und undurchsichtigen Juristenrecht ein Stück näher zu rücken und sei es um den Preis einer mehrfachen Trivialisierung und Fehlrezeption amerikanischen Rechts im deutschen Fernsehzimmer mit dem Anspruch globaler Rechtsgeltung. 250 Recht als Kultur. Die Mehrfachebenen der Fiktionalität sollte der beobachtende Soziologe gleichwohl auseinanderhalten, zumal er selbst an einer zentralen Stelle soziologischer Begriffsbildung, der Rollentheorie, mit der Schauspiel und Theatermetapher operiert:587 1. die in der Rechtsanwendung selbst gebrauchten juristischen Fiktionen, 2. die Distanz zum ›wirklichen Rechtsverfahren‹ in der symbolischen Repräsentation des Filmund Fernsehformats amerikanischer Produktionen und 3. die Fiktionalisierung dieses selektiven Rechtsbildes zur Geltungsgrundlage eines fremden Rechtskreises, das gleichwohl den Anspruch kontrajuridisch aufrecht erhält, geltendes Recht zu präsentieren. Der Jurist wird ›Im Wald der Fiktionen‹ nur Déjà-vueErlebnisse haben. Ob es aber eine Art 588 zwischen Konsumenten und Fiktionalitätseinverständnis Produzenten virtueller Rechtswelten gibt, hängt davon ab, wie weit sich der auf Unverständlichkeit des Juristenrechts spezialisierte Juristenstand gleichwohl für eine Kommunikation mit den Laienschauspielern des Rechtssystems nicht zu schade ist. Im Sinne eines Rechtsfriedens zwischen Juristen und all den Kritikern, die wie Simmel und andere im Recht nur die ewig sich fortschleppende Krankheit und Plage sehen, könnte dies von Belang sein. Hierfür steht die Kommunikation vermittels nichtsprachlicher Symbole. Sie ist riskant, weil sie ungenau ist. Aber sie setzt auch Emotionen frei für die positive Besetzung eines Handlungsfeldes, dem wir zentrale Ordnungsleistungen der Gesellschaft zuschreiben. 587 588 Vgl. Werner Gephart, Das Lachen des Beobachters. Tragödie oder Komödie der modernen Kultur, in: Ralf Simon (Hrsg.), Theorie der Komödie – Poetik der Komödie, Bielefeld 2001, S. 105-125. Was die literaturwissenchaftliche Theoriebildung zunehmend für sich entdeckt. 251