Skript - Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie

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Werner Gephart
Recht als Kultur
Vorlesung im Sommersemester 2004
Werner Gephart
Kapitel 9 und 10 sowie die Text-strukturierenden Fragen folgen in einer späteren Version des Skriptes
Titelbild:
Werner Gephart: Recht als Kultur, 1998
Collage, Pastell 57,5 × 40,5 cm
2
Recht als Kultur.
INHALT
Erste Vorlesung: Einführung – Was ist „Rechtssoziologie“ bzw. „Soziologie des
Rechts“ .......................................................................................................................
I. Theoretische Orientierungen
Zweite Vorlesung: Recht als Kultur? Max Webers Beitrag zu einer vergleichenden
Kultursoziologie des Rechts.......................................................................................
Dritte Vorlesung: Im Reich des Normativen. Emile Durkheims Vision der rechtlichen
Ordnungen..................................................................................................................
Vierte Vorlesung: Das Recht im Konflikt der modernen Kultur. Zur Theorie des Rechts
bei Georg Simmel ......................................................................................................
II. Anwendungsfelder
Fünfte Vorlesung: Die Normalität von Bettlern, Gauklern und Leprösen in der
symbolischen Ordnung mittelalterlicher Gesellschaften ...........................................
Sechste Vorlesung: Die symbolische Inszenierung des Unrechts im Nationalsozialismus
Siebte Vorlesung: Orte der Gerechtigkeit. Gerichtsarchitektur zwischen Sakral- und
Profanbau ...................................................................................................................
Achte Vorlesung: Alte und neue Bilder der Gerechtigkeit. Von den Symbolen des Rechts
zum Simulacrum der Gerechtigkeit ...........................................................................
3
Werner Gephart
ERSTE VORLESUNG
EINFÜHRUNG –WAS IST „RECHTSSOZIOLOGIE“ BZW.
„SOZIOLOGIE DES RECHTS“
Die Frage nach dem Gegenstand der Rechtssoziologie ist nicht
die leichteste dieser Teildisziplin der Soziologie oder gar einer
Soziologie des Rechts, die sich als Gesellschaftstheorie, als
Theorie der Gesellschaft versteht. Fließen in den Begriff des
Rechts doch all die Annahmen der verschiedenen Paradigmen
der Soziologie ein, die ihren soziologischen Gegenstand jeweils
ganz unterschiedlich bestimmen: als zu verstehendes und
dadurch in seinem Ablauf zu erklärendes Handeln (Max Weber),
als Analyse der „Formen des sozialen Lebens“, dessen was an
Gesellschaft nichts als Gesellschaft sei (Georg Simmel), als
Strukturen der Lebenswelt, wie sie von der phänomenologischen
Soziologie, insbes. von Alfred Schütz vertreten wird oder aber
auch als „faits sociaux“, soziologische Tatbestände, die es zu
beschreiben, zu analysieren und zu erklären gälte (Emile
Durkheim).
Ohne diese Arbeit am Fundament des soziologischen Wissens
hier nur annäherungsweise leisten zu können, möchte ich
gleichwohl eine Bestimmung des soziologischen Begriffs von
„Recht“ stellen, die für eine Wahrnehmung der besonderen
Leistungsfähigkeit des Durkheimschen Forschungsprogramms
fruchtbar erscheint.
Unter „Recht“ soll ein als
kontrafaktisch gefestigter
Erwartungszusammenhang verstanden werden, der durch die
Verwendung von Symbolen tradiert und codiert wird, in
normativen Strukturen stabilisiert wird, durch die Organisation
eines Sanktionsapparates Nachachtung einfordert und in
Ritualen, Verfahren also, die Normgenerierung und
Normanwendung bekräftigt, ja die Macht des Rechts begründet.
4
Recht als Kultur.
Dimensionen des Rechtsbegriffs
Damit also verfolgen wir hier – in einem gewissen Vorgriff auf
Ergebnisse der Interpretation des Durkheimschen Werkes –
einen viergliedrigen Rechtsbegriff, der folgende Dimensionen
unterscheidet:
- Recht als Symbol,
- Recht als Norm und normative Ordnung,
- Recht als Organisation und,
- Recht als Ritual.
Recht als Norm
Die normative Dimension des Rechts ist scheinbar unbestritten.
Sie bietet sich als Lösung des Ordnungsproblems an. Sie findet
in Durkheims Analyse des sozialen Lebens bis in die normative
Konstitution des Gegenstandsbereichs der Soziologie – wie wir
sehen werden – Rückhalt, um ein Reich des Normativen zu
eröffnen, das die soziale Welt bis zu einer Art Mikrophysik der
normativen Macht durchdringt. Dieses Reich des Normativen ist
nicht undifferenziert, die klassischen Unterteilungen des
Rechtsstoffs in der Tradition des römischen Rechts als
öffentliches und privates Recht werden von Durkheim zwar
soziologisch durchschnitten in der Differenz restitutiver und
repressiver
Normen,
an
dem
Bezugspunkt
dieser
Differenzierungen ändert sich jedoch nichts: nämlich der Norm.
Auch für Weber ist Recht als Norm bzw. als normative Ordnung
konzipiert. Die Lehre vom Rechtssatz, die Kelsens „Reiner
Rechtslehre“ zugrunde liegt, wird von Weber ins Soziologische
gewendet. So fragt Weber nach dem empirischen Geltungsgrund
bestehender
Normen
und
den
paradoxen
Entwicklungsbedingungen normativer Ordnungen, die durch
Gewohnheit auf Dauer gestellt sind. Methodisch haben wir
Weber das strikte Postulat einer Unterscheidung der empirischen
und normativ-juristischen Betrachtungsweise von rechtlichen
Ordnungen zu verdanken, die auch in den legitimen Versuchen,
5
Werner Gephart
die gegenläufigen Verwicklungen von „Faktizität und
Normativität“ (Habermas) nachzuzeichnen, noch die an der
Stammler-Kritik entwickelte Trennungsthese durchscheinen
lässt.
Webers Thema einer Betrachtung von Recht als normativer
Ordnung, das sich an der Rezension Rudolph Stammlers
entfaltet, ist vordergründig die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit
des „Regelbegriffs“, der die „stete Gefahr der hoffnungslosen
Konfusion des Empirischen mit dem Normativen auf das
Maximum“1 steigen lässt.
Eine die „Konfusion des Empirischen mit dem Normativen“
vermeidende Betrachtung stellt nach Weber nämlich zwei
Bedeutungen von „Regel“ fest. Einmal ist mit „Regel“ der
gelten sollende Sinn einer Norm gemeint, eine Aufgabe, die im
Skatspiel von der „Skatjurisprudenz“, im „Rechtsleben“ von der
Rechtswissenschaft zur Ermittlung der „juristischen Wahrheit“2
erfüllt wird, die als ein „rein ideelles, vom juristischen Forscher
destilliertes Objekt begrifflicher Analyse“3 behandelt wird. Das
„Gelten“ der Regel in diesem Sinne ist das Ergebnis – so Weber
– der gedanklichen Verbindung von „Begriffen“, ein „GeltenSollen“ für den juristischen Intellekt. Diesem „idealen“ Sinn der
„Regel“ aber kommt keinerlei Bedeutung für die „empirische“
Geltung der Regel zu. Wenn also dem Recht als „Idee“ die
Bedeutung abgesprochen wird, scheint sich eine Nähe zu
Durkheims Kritik des juridischen Idealismus einzustellen.4 Aber
Weber tendiert nun keineswegs zu einem schlichten
Normrealismus als „Form“ des sozialen Lebens, vielmehr gälte:
„Die Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine
‚Form’ des sozialen Seins, wie immer das letztere begrifflich
bestimmt werden möge, sondern eine sachliche Komponente der
1
2
3
4
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen
Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 343 (eigene Hervorh.).
So die Formulierung ebd., S. 347.
Ebd., S. 346.
So vor allem in der Kritik von Gaston Richard, Essai sur l’origine de
l’idee de droi, in Revue philosophique 35, 1893, S. 290-296
6
Recht als Kultur.
empirischen Wirklichkeit, eine Maxime, […]“.5 Und das heißt:
Nur soweit die am Recht beteiligten Personen, „Richter“,
„Anwälte“, „Gerichtsvollzieher“, „Polizisten“ und die
„Rechtsgenossen“ sich an der Vorstellung vom Gelten-Sollen
der „Regel“ orientieren, ist das soziale Sein durch ein rechtliches
Sollen bestimmt.
Im „normativen“ Sinne wird hierbei unter Recht die „ideelle
Normordnung“ gemeint, deren Struktur genau dem „Ideal“
entsprechen müsste, das in Webers Rechtssoziologie durch die
Postulate der gemeinrechtlichen Jurisprudenz als: „formalrationales“
System des
Rechts
ausgewiesen
wird.
Verwandtschaft und Differenz zu Kelsens Grundidee der reinen
Rechtslehre6 sind also weiterhin offenkundig, als dessen
soziologische Kehrseite Webers Analyse von „Die Wirtschaft
und die Ordnungen“ sowie die „Entwicklungsbedingungen des
Rechts“ zu verstehen sind.
Jedoch bleibt dieser Begriff der „empirischen“ Rechtsordnung
weitgehend farblos. Denn es kommt ja ausschließlich auf die
Vorstellung von der Geltung im jeweiligen Handeln an, so dass
Weber am Ende eine rein kognitivistische Vorstellung von der
empirischen Rechtsordnung zu entwickeln scheint. So heißt es
ausdrücklich: „Das ‚empirische Sein’ des Rechts als Maximebildenden ‚Wissens’ konkreter Menschen nannten wir hier: die
empirische ‚Rechtsordnung’.“7
Dass es Grenzen der Fiktionalisierung sozialer Strukturen und
Institutionen
gibt,
die
sich
nicht
vollständig
in
„Gemeinsamkeitsglauben“, „Legitimitätsglauben“ oder auch:
„Rechtsglauben“ auflösen lassen, weiß Weber selbst.
5
6
7
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen
Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 349.
Vgl. hierzu Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers,
Tübingen 1970. Siehe auch: Norberto Bobbio, Max Weber und Hans
Kelsen, in: Manfred Rehbinder und Klaus-Peter Tieck (Hrsg.), Max
Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 109-126.
Max Weber, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen
Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 350 (letzte Hervorh. W.G.).
7
Werner Gephart
So wird einerseits betont, dass nicht jedes Recht den Charakter
der Normordnung annimmt. Es fehle „ganz bei der urwüchsigen
Entscheidung durch magische Mittel der Rechtsoffenbarung“
und sei überhaupt „in aller noch nicht formaljuristisch
rationalisierten Rechtsfindung“8 problematisch. Zum anderen
zeigen sowohl seine Garantienlehre, wie seine Berücksichtigung
symbolischer Faktoren, dass aus dem reinen Rechtsglauben
noch kein Recht hervorgeht, Recht aber auch nicht exhaustiv
durch den Charakter einer Normordnung bestimmt ist und die
Abgrenzung
gegenüber
konkurrierenden
normativen
Ordnungen, wie Sitte, Moral und Religion, weiterer
Begriffsmerkmale bedarf.
Festzuhalten bleibt, dass ein Verständnis von Recht an seiner
normativen Verfasstheit nicht vorbeigehen kann, dessen
Leistung
gerade
in
der
wirklichkeitswidrigen
Geltungsbehauptung
von
Erwartungen
und
Erwartungserwartungen beruht, also Geltungseinverständnissen,
die weiterer Abstützungen bedarf.
Recht als Organisation
In Durkheims Rechtsanalysen gibt es – wie wir sehen werden –
keine systematische, oder gar vergleichende Analyse von Recht
als Organisation und Institution. Durkheim hat allerdings in
einer versteckten Notiz der „Année sociologique“ ein Konzept
von „Systèmes et pratiques juridiques“9 entwickelt, das auch
eine Organisationsebene des Rechts einschließt. Dass Durkheim
der „organisation sociale“ hierbei einen eigenen Stellenwert im
Rechtsbegriff zuweist, ist ganz offensichtlich. Freilich gibt es
keine expliziten Studien zu Gerichtsorganisation oder zur
Konstitution einer ausdifferenzierten Rechtsgemeinschaft.
8
9
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S.
(§ 3 RS)
Vgl. insbesondere Emile Durkheim, Organisation sociale, Note, in:
L’Année sociologique 6, 1903, S. 316.
8
Recht als Kultur.
Aus seiner allgemeinen Soziologie der elementaren Formen des
sozialen Lebens, die wir während der Vorlesung näher kennen
lernen werden, ergibt sich das Erfordernis, Recht auch als
soziale Organisation zu betrachten, ganz zwingend.
Durkheim hat nämlich verschiedentlich den Begriff der
„organisation sociale“ für den Bereich reserviert, der im
Übrigen mit sozialer Struktur bezeichnet wird. Wer Durkheim
von einer zweifellos in den frühen Schriften vorhandenen Nähe
zum Organizismus allerdings auf das Moment des Organischen
fixieren wollte,11 vereinseitigte die zweifellos vorhandenen
funktionalistischen Aspekte der Schriften Durkheims, in denen
„Organbildung“, strukturelle und funktionale „Differenzierung“
diejenigen Grundbegriffe bilden, deren ideologischer Ausdruck
in den „groupements professionels“ zu finden ist.
Nach Weber können mannigfache Motive zur Geltung einer
Ordnung beitragen; von „garantiertem“ Recht aber will Weber
nur dort sprechen, „wo die Chance besteht, es werde
gegebenenfalls ‚um ihrer selbst willen’ Zwang, ‚Rechtzwang’,
eintreten“.12 Diese Formulierung ist sehr genau zu lesen, denn
sie enthält nicht, wie Weber ja gemeinhin zugeschrieben wird,
eine schlichte Bestimmung von Recht durch Macht, indem
Recht an die Machtverhältnisse ausgeliefert sei. Vielmehr wird
die Garantie der Rechtsordnung zur unbedingten, durch
keinerlei
utilitaristische
Motive
irritierbaren,
von
Opportunitätsgründen unabhängige Rechtspflicht des Staates.
Damit ist das „Zwangsmoment im Recht“13 von vornherein
ethisch überhöht, ebenso wie die Befolgungsmotive ethische
Dignität aufweisen, wenn sie nicht in Furcht vor negativen
10
11
12
13
Vgl. insbesondere Emile Durkheim, Organisation sociale, Note, in:
L’Année sociologique 6, 1903, S. 316.
Vgl. hierzu die im ersten Diskussionsteil zitierten Autoren.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 182 (eigene
Hervorh.).
Zu Durkheims Sicht vgl. die Rezension von E. Neukamp, Das
Zwangsmoment im Recht in entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung
(Berlin 1898), in: L’Année sociologique 3, 1900, S. 324-325.
9
Werner Gephart
Folgen oder in Erwartung von Belohnungen bestehen. Hat man
Parsons’ Utilitarismuskritik vor Augen, so findet sich diese in
der Tat auch in Webers Konzeption des Rechts bestätigt, auf der
Seite der interessenunabhängigen Befolgungsmotive der
Rechtsgenossen, wie der Durchsetzungsmotive von Recht auf
Seiten des Zwangsapparates, die „um ihrer selbst willen“ befolgt
werden. Somit fließen normative Geltungsvorstellungen in den
empirischen Begriff des Rechts als Sanktionsapparat mit ein,
was in den „Soziologischen Grundbegriffen“ dann weiter
systematisiert wird.
Unter „Rechtsordnung“, im empirischen Sinne, wird also weder
die auf „Recht“ bezogene normative Ordnung noch die
Gesamtheit des Regelsystems verstanden, sondern: „Wir wollen
vielmehr überall da von ‚Rechtsordnung’ sprechen, wo die
Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer,
Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat,
d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche
sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintritts des betreffenden
Tatbestandes bereithalten, wo also eine spezifische Art der
Vergesellschaftung zum Zweck des ‚Rechtszwanges’
existiert.“14
Eine mögliche Richtung der „Epochen der Entwicklung ihres
heutigen
Zustandes“,
so
die
Formulierung
des
„Stoffverteilungsplanes“, bzw. die „Rationalisierung“ des
Rechts, könnte sich also aus der Entfaltung dieses
„Zwangsapparates“ ergeben, der sich von der ungeschiedenen
Gesamtheit
der
„Sippe“,
dem
„Umstand“,
der
„dinggenossenschaftlichen Justiz“ bis zur Ausdifferenzierung
eines „Rechts- und Erzwingungsstabes“ entwickelt, ein Prozess,
der sodann in engem Zusammenhang mit der Entfaltung des
„Staates“ stehen muss. So ist das „staatlich“ garantierte Recht
eine der letzten „Entwicklungsstufen“15 des Rechts: „Von
‚staatlichem’, das heißt: staatlich garantiertem, Recht wollen wir
14
15
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 185.
So an die ausdrückliche Formulierung Webers in: ebd., S. 183.
10
Recht als Kultur.
da und insoweit sprechen, als die Garantie dafür: der
Rechtszwang, durch die spezifischen, im Normalfall also: direkt
physischen Zwangsmittel der politischen Gemeinschaft ausgeübt
wird.“16 Das „Schicksal“ der Rechtsentwicklung ist von dort her
eng mit dem Prozess der Monopolisierung legitimer
Gewaltmittel im Staat verknüpft. Die organisationsförmige
Verfassung des Rechts weist in die politische Sphäre.
Aber ebenso wie die Analyse der Organisationskultur17 in
allgemeinen kulturellen Kontexten und Differenzen Rechnung
zu tragen sucht, ist auch die Organisation der Gerechtigkeit in
ihren Gerichtsbauten symbolisch umrankt und verstärkt, wie
sich in der Analyse der versteinerten Rechtskulturen sehen
lässt, welche die „force du droit“ (Pierre Bourdieu) mobilisiert.
Recht als Symbol
Gegen den Strich rechtssoziologischer Aufmerksamkeiten
versuchen wir, gerade in der Lektüre Emile Durkheims, die
symbolische Dimension des Rechts herauszupräparieren. Für die
romantische Rechtsschule der germanistischen Forschung war
sie einmal selbstverständlich, ist aber in der dürren Analyse von
Normstrukturen und Implementationsdefiziten des Rechts
verloren gegangen. Sie steht unter dem Verdikt einer
vermeintlichen De-Symbolisierung des Rechts als Merkmal der
Moderne.
Hierbei können wir freilich – wie weiter zu sehen ist – an einen
Symbolbegriff Durkheims anschließen, der zwischen einer
kognitiven, im expliziten Sinne komplexitätsreduzierenden
Funktion kollektiver Symbole und einer emotiven Funktion
unterscheidet. Wenn Gesellschaften – so Durkheim – nur dank
16
17
Ebd.
Vgl. etwa aus sozialpsychologischer
Organisationskultur, Stuttgart 2003.
Sicht
Walter
Neubauer,
11
Werner Gephart
eines umfassenden Symbolismus überhaupt möglich sind, dann
ist das Recht hiervon nicht ausgenommen.
In verschiedenen Interpretationen des Durkheimschen Werkes
wird in der vermeintlichen Kehre zu symbolischen Phänomenen
hin ein grundlegender Wandel in der theoretischen Orientierung
Durkheims diagnostiziert. Diese Deutung übersieht jedoch, dass
die Konzeption der „représentations collectives“ recht früh
entwickelt wurde18 und schließlich im Konzept der „conscience
collective“ einen festen Platz einnimmt. Die Analyse
symbolischer Formen ist daher fester Bestandteil des
Durkheimschen Paradigmas und für die Rechtsanalyse in
besonderer Weise fruchtbar.
Dies zeigte sich bei der für eine jede Rechtstheorie zentralen
Frage, nämlich wie Prozesse der Zurechnung zu deuten und zu
erklären sind. Durkheims Schüler Fauconnet hatte den
Symbolmechanismus als Transfer und Substitution kollektiver
Gefühle von dem durch einen Normbruch Verletzten auf
denjenigen interpretiert, der hierfür die Verantwortung tragen
soll.
Auch wenn nun in frühen Formen des Rechts die symbolische
Komponente stärker ausgeprägt ist, im römischen und
germanischen Recht die festuca (lat.: Grashalm, Stäbchen) als
Symbol verschiedene rechtsförmliche Handlungen begleitet, bei
den Germanen namentlich für Besitzübertragungen und dort bei
der Übertragung von Grundbesitz mit anderen handgreiflichen
Materialien, Messer, Torf, Zweig und Handschuh verknüpft ist,
so treten diese symbolischen Momente im Verlauf der
okzidentalen Rationalisierung des Rechts zurück, auch wenn es
hiervon immer wieder – evolutionstheoretisch gesprochen –
„Überlebsel“ gibt. Es wäre allerdings naiv, den vermeintlich so
hochabstrakten Schulfall des Zigarettenkaufs frei von
symbolischen Gesten und symbolischen Bedeutungen zu deuten.
Auch wenn er als komplexes synallagmatisches Rechtsgeschäft,
aus
kausalem
Verpflichtungsgeschäft
und
doppelter
18
Emile Durkheim, Représentations individuelles et représentations
collectives, a. a. O.
12
Recht als Kultur.
Übertragung von Geld und Gegenleistung konstruiert wird, so
ist er in der Rechtswirklichkeit durch symbolische Gesten des
Zeigens auf eine Zigarettenmarke zur Bestimmung der
gewünschten
Zigarettenmarke,
der
stillschweigenden,
einverständnisorientierten
Hingabe
von
Geld
und
Zigarettenschachtel in der lebensweltlichen Praxis des
Zigarettenkaufs gestaltet. Symbolisch drastische Warnungen vor
den Folgen des Rauchens, gewaltige mediale Inszenierungen
von der durch eine Zigarette erreichbaren weiten „Welt“ oder
der „Welt“ des Abenteuers ranken sich um die gesellschaftlich
sanktionierte Suchtform, deren symbolische Verführungskraft
in Schadensersatzprozessen auf einmal deliktrechtliche
Haftungsrelevanz gewinnt, ja Bestandteil der symbolischen
Zurechnung wird.
Diese keineswegs evolutionär geradlinige Entwicklung eines
tentativen Rückgangs der symbolischen Formen, zumindest als
Geltungsbedingung von Rechtsgeschäften, die wir gerade in
dem religionssoziologisch inspirierten Bild des Zivilrechts bei
Emile Durkheim, Paul Huvelin und Emmanuel Levy kennen
lernen werden, weist Brüche und irritierende Rückschläge auf,
die uns jegliche symbolischen Exzesse verdächtig erscheinen
lassen. Allein die symbolische Klassifikationsordnung
mittelalterlicher Gesellschaften, in denen ihre Außenseiter
akustisch und sinnlich symbolisch wahrnehmbar sind, so die
Bettler, Gaukler, Henker und Dirnen, birgt ein Potenzial der
symbolischen Exklusion in sich, das sich an Beispielen des
vielschichtigen Symbolterrors im Nationalsozialismus zeigen
lässt.
Schließlich beruhen diese symbolischen Verkürzungen auf dem
ubiquitären Problem der kognitiven Verdichtung komplexer
Sinngehalte
und
andererseits
auf
ihrer
emotiven
Mobilisierungskraft. Die anhaltende Diskussion über den
muslimischen Gebrauch des Schleiers mit charakteristischen
Differenzen der jeweiligen Symbolkulturen in Deutschland,
Frankreich und der Türkei etwa oder die Missdeutungen des
Flaggengebrauchs nach dem 11. September in den USA zeigen,
13
Werner Gephart
wie sensibel auf Gemeinsamkeit insinuierende, unterdrückende
oder exkludierende kollektive Symbole auch mit den Mitteln des
Rechts reagiert wird.
Schließlich kann man die symbolische Repräsentation von Recht
und nicht nur ihre sozusagen innerjuristische Funktionalität am
Beispiel der künstlerischen Darstellung des Rechts bei Daumier
und Klimt exemplarisch verfolgen und anhand des Gerichtsfilms
und insbesondere des neuen Formats der Court-TV-Shows
demonstrieren, wie im Medium der Bilder ein Simulacrum der
Gerechtigkeit erzeugt wird.
Recht als Handeln und Ritual
Weder Normen, noch juridische Organisationen und
Rechtssymbolik allein machen das Recht aus: es ist ein
Handlungszusammenhang, dem Weber im Kategorien-Aufsatz
derart Rechnung trägt, dass „Recht“ im soziologischen Sinne auf
„Handeln“ reduziert erscheint. So lautet die zentrale Passage:
„Die Soziologie hat es dagegen, soweit für sie das ‚Recht’ als
Objekt in Betracht kommt, nicht mit der Ermittlung des logisch
richtigen ‚objektiven’ Sinngehaltes von ‚Rechtssätzen’ zu tun,
sondern mit einem Handeln, als dessen Determinanten und
Resultanten natürlich unter anderem auch Vorstellungen von
Menschen über den ‚Sinn’ und das ‚Gelten’ bestimmter
Rechtssätze eine bedeutsame Rolle spielen.“19 Recht ist danach
also nichts weiter als eine bestimmte Art des Handelns. Dies
würde zu Holmes berühmter Definition von „Recht“ als
„principles of what the cours will do in fact“20 durchaus passen,
ebenso wie der einschränkende Nachsatz über die
Vorstellungen, die zur Geltung des Rechts gebildet werden, in
Emile Durkheim eine Stütze fände, der in einer vernichtenden
Rezension über den abtrünnigen Gaston Richard die
19
20
Max Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie,
a. a. O., S. 440.
Vgl. Oliver Holmes, The Path of the Law, in: Harvard Law Review 10,
1887, S. 457-478, hier S. 461.
14
Recht als Kultur.
idealistische Reduktion des Rechts als „Idée du droit“ attackiert
hatte.21 Insofern kommt in Webers handlungsbezogener
Umschreibung des Rechts der „Realismusanspruch“ zur
Geltung.
Mit Durkheim, der von Parsons wohl zu Unrecht als
Handlungstheoretiker reklamiert wurde, kehrt über das
religionssoziologische Paradigma das Ritual in die
Aufmerksamkeit des Rechtsbeobachters. Recht ist in seiner
Handlungsdimension durch derartige formale Interaktionen der
Rechtsbegründung,
Bekräftigung
oder
Sanktionierung
gekennzeichnet. Juridische „effervescence“, symbolisch
aufgeladene Interaktionen im Rechtsritual, würden jedenfalls
von der religionssoziologischen Analogie profitieren, die wir am
Beispiel des strafrechtlichen Verfahrens22 und seiner
symbolischen Reflexe kennen gelernt haben. Die Luhmann’sche
These der Legitimation durch Verfahren ließe sich mit
Durkheim eher verstärken und die von Habermas anvisierte
prozedurale Rationalität gewönne in Durkheims Paradigma der
Deutung von Ritualen eine massive Verstärkung, auch wenn
diese nicht nur auf Vernunft setzt.
So wird die vielgeschmähte Theorie Luhmanns, die eine zum
geflügelten Wort gewordene „Legitimation durch Verfahren“
entwarf, in „Faktizität und Geltung“ zu einem Schlussstein im
moralisch-juridischen Aufbau der Zivilgesellschaft: „Allein die
prozeduralistisch angelegten Moral- und Gerechtigkeitstheorien
versprechen ein unparteiliches Verfahren für die Begründung
und Abwägung von Prinzipien.“23 Je höher die
Verfahrensrationalität,
umso
höher
müsste
die
Richtigkeitsgewähr normativer Diskurse sein. Dies aber
privilegiert zwangsläufig den juristischen Diskurs. Auch wenn
21
22
23
Vgl. Emile Durkheim, Richard G., Essai sur l’origine de l’idée de droit,
in: Revue philosophique 35, 1893, S. 290-296.
Vgl. Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile
Durkheims, a. a. O., S. 148-152.
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie
des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main,
1992, S. 562 f.
15
Werner Gephart
juristische Diskurse für moralische Diskurse „durchlässig“ sein
sollen,24 verbleibt die Frage, warum „Moral“ als
verfahrensmäßig unterlegene Diskursform überhaupt noch eine
Korrektivfunktion gegenüber Recht wahrnehmen sollte. Das
kritische Verhältnis von Moral und Recht, wie es einer Theorie
außerrechtlicher
Vernunftgründe
des
Rechts
in
unterschiedlichen Schattierungen eigen ist, kehrt sich um in ein
Kompensationsverhältnis des formalen Rechts gegenüber den
Schwächen einer materialen, autonomen Moral.25 Damit wird
das Verfahren zum Garanten der gerechten Gesellschaft.
„Verfahrensrationalität“ ist nicht nur – so Habermas
ausdrücklich – die „juristische Grundnorm“, sondern formales
Organisationsprinzip und materialer Inhalt der Zivilgesellschaft:
„Einziger Inhalt des Projekts ist die schrittweise verbesserte
Institutionalisierung von Verfahren vernünftiger kollektiver
Willensbildung, welche die konkreten Ziele der Beteiligten nicht
präjudizieren können.“26 Damit ist das von Luhmann
angestimmte Lob des Verfahrens weit übertroffen: Nicht mehr
die „Verstrickung“ in formale Rollen als Partituren des
verfahrensgemäßen
Verhaltens,
aus
denen
Entscheidungsakzeptanz und Normlegitimität aus der Faktizität
des sozialen Beteiligungsmechanismus nach Luhmanns Deutung
hervorspringen soll,27 sondern die Sakralität des Verfahrens als
Idee und Form des Rechtsstaates erzeugt universale
Geltungsgründe des Rechts. Die gerechte Gesellschaft ist
diejenige, in der in ausreichender Weise Verfahren
institutionalisiert sind, die „Verfahrensgesellschaft“. Allerdings
können Verfahren auch ritualistisch, endlos und ziellos sein,
oder den Rechtssuchenden überhaupt erst gar nicht ins
Rechtsystem hineinlassen. Das Ritual ist keine Garantie der
Gerechtigkeit. Aber die von Weber so genannten „formalen
Qualitäten des modernen Rechts“ bergen in ihrer diskursiven
24
25
26
27
Vgl. ebd., S. 565.
Vgl. ebd., S. 567.
Ebd. S. 629.
Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, a. a. O.
16
Recht als Kultur.
Grundstruktur durchaus Rationalitätschancen, soweit überhaupt
ein Raum für die Eigengesetzlichkeit des Rechts als einer
Sphäre der Moderne besteht. Dies ist jedenfalls unser Fazit einer
kultursoziologischen Lektüre der sog. „Rechtssoziologie“ Max
Webers, in der sich die Idee von Bürgergesellschaft und formalrationalem Recht zunehmend berühren.
Hiernach sind die hier unterschiedenen Dimensionen des Rechts
als
normative
Ordnung,
juridische
Organisation,
Rechtssymbolik und Ritual keineswegs unabhängig voneinander
zu sehen, sondern untereinander eng vernetzt: Normative
Ordnungen, etwa Verfassungen, sind symbolisch gestützt, in
manchen Vorschriften und Funktionen selbst von primär
symbolischem Wert. Andererseits sind Rechts- und
Staatssymbole in hohem Maße normativ abgesichert, in sog.
Symbolschutzdelikten sanktioniert. Die Organisation des Rechts
hat unterschiedlichste Formen von „Gerichtsverfassungen“
hervorgebracht, die z.B. den korrekten Ritualgebrauch von
Verfahrenseröffnung, zulässigen Beweismitteln usf. regeln,
während die Normerzeugung in modernen Gesellschaften an
spezifische Erzeugungsrituale geknüpft ist, die als Gewohnheit
in traditionalen Rechtsordnungen den hierzu berufenen
Honoratioren, Fachjuristen und Rechtsgelehrten zu erkennen
vorbehalten sind.
Fänden wir also in dieser Dimensionierung des Rechts ein
taugliches Beschreibungsraster rechtlicher Ordnungen vor, so
bleibt die Frage zu beantworten, ob wir mit diesen Kategorien
auch fruchtbare Orientierungen für die historisch-komparative
Analyse von Rechtskulturen gewönnen.
Dimensionen der Rechtsentwicklung
Die zuvor entwickelten Ebenen der Rechtsanalyse lassen sich
nun auch als Entwicklungsdimensionen begreifen:
17
Werner Gephart
Für die symbolische Ebene haben wir bereits gegenläufige
Bewegungen von De-Symbolisierung und Re-Symbolisierung
symbolischer Abstraktion und Rückehr zu konkreter, sinnlicher
Symbolik beobachtet, die sich medientheoretisch als
Symbolinflation oder Deflation deuten lassen.
Auf der Ebene der sozialen Organisation stehen eine
Ausdifferenzierung
eines
Rechtsstabes
aus
der
Rechtsgemeinschaft,
zunehmende
Spezialisierung
und
Verzweigungen
der
Gerichtsorganisation
einer
Wiederentdeckung der Rechtsgemeinschaft, die von der
Freirechtslehre als Garant der Richtigkeit zitiert und vom
Nationalsozialismus pervertiert wurde, gegenüber, während
noch die romantische Rechtsschule in ihrer Bestimmung dessen,
wer denn Träger des „Volksgeistes“ sei, unbestimmt blieb, so
wie die Entgegensetzung von „Volksrecht“ und „Juristenrecht“
bis in die gegenwärtige Diskussion um das der Gesellschaft
adäquate Recht hineinragt.
Auch die normative Dimension eignet sich zur Beschreibung
rechtlicher Entwicklung, ja sie ist primärer Anknüpfungspunkt
einer evolutionären Betrachtung des Rechts: Durkheims Wandel
von repressivem zu restitutivem Recht und Webers Annahme
einer zunehmenden Rationalisierung des Rechts bemessen sich
an Eigenschaften der Rechtsnormen, insbes. der Entfaltung des
„Rechtssatzes“ und seiner Verbindungen zu einer
„Rechtsordnung“ als Normenordnung, die durch die Merkmale
des formal-rationalen Rechts ausgezeichnet sind.
Als
Struktureigenschaft normativer Systeme gilt hierbei ihre
Befreiung von partikularistischen Bindungen und die Öffnung
zu universalistischen Kategorien des Rechts. Freilich
konvergieren auch hier Durkheim und Weber insofern, als sie,
Parsons Behauptung einer unilinearen Universalisierung
rechtlicher Normen zuwider, gerade die Verschachtelung von
partikularen und universalistischen Normen, auch hochgradig
moderner Rechtssysteme, behaupten.
18
Recht als Kultur.
Auch auf der Ebene der Verfahren und Rituale lässt sich
dynamisch interpretieren: Rationalisierung durch Diskurs,
indem
die
Selbstbindung
der
Argumente
als
Konsistenzerfordernis des Entscheidens institutionalisiert wird,
ist Bestandteil moderner Rechtssysteme. Eugen Ehrlich fasst
diesen Sachverhalt geradezu als „Gesetz der Stetigkeit der
Entscheidungsnormen“, ein Gesetz, das aus Gründen der
psychologischen Konsistenz, Denkökonomie und Erwartungen
der
Berechenbarkeit
zu
einer
zeitlich-räumlichen
Generalisierung von Entscheidungsnormen führe.28 In der
Rechtssoziologie wirbt Weber geradezu für die Steigerung von
Rationalität durch diskursive Verfahren: „Ein gewisses Maß von
Stabilität und Stereotypierung zu Normen tritt immerhin ganz
unvermeidlich ein, sobald die Entscheidung Gegenstand irgend
einer Diskussion wird oder rationale Gründe dafür gesucht oder
vorausgesetzt werden, also mit jeder Abschwächung des
ursprünglichen rein irrationalen Orakelcharakters.“29
Freilich ist dieses hier nur anskizzierte, ja wohl bekannte
Argumentationsarsenal rechtlicher Entwicklung viel zu
grobschlächtig, um die Differenz von Rechtskulturen in ihrer
historischen Entwicklung zu erfassen, zu deuten und womöglich
gar nach dem Muster historischer oder evolutionärer
Hypothesen zu „erklären“.30
Allerdings lohnt sich der Versuch den Charakter des klassischen
und spätrömischen Rechts, des kanonischen Rechts der
mittelalterlichen Rechte in ihren Verzweigungen in
Deutschland, Frankreich und England bis hin zu puritanischen
Rechten und der gemeinrechtlichen Jurisprudenz in diesem
dimensionalen Beschreibungsfeld okzidentaler Rechtkulturen zu
erfassen und differenzierend zu betrachten. Aber auch
Besonderheiten des chinesischen alten Rechts, der Rechte auf
28
29
30
Eugen Ehrlich, Grundlegung, a.a.O., S. 106 f.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft a.a.O., S.
(RS, S.
)
Vgl. das faszinierende von Marie Theres Fögen initiierte Projekt einer
evolutionären Betrachtung von Recht aus systemtheoretischer Sicht in
der Zeitschrift für Rechtsgeschichte (ZR 1, 2002)
19
Werner Gephart
dem indischen Kontinent, der afrikanischen Jurisprudenz, der
islamisch geprägten Rechtskulturen und des altjüdischen Rechts
lassen sich, wie es unserer Rekonstruktion von Webers
„Rechtssoziologie“ als vergleichender Kultursoziologie des
Rechts zugrunde liegt, mit diesem Instrumentarium schärfer
erfassen. Freilich bleibt die Analyse auf die Binnenstruktur des
Rechts bezogen, die ihre autopoietische Struktur mehr
voraussetzt als auch empirisch unterlegt. Denn gerade hierin,
inwieweit die gesellschaftlichen Mächte und Ordnungen sich
über die Religion, die Politik, die gemeinschaftliche Verfassung
und die wirtschaftlichen Interessen Geltung verschaffen, oder
aber eine relative Unabhängigkeit des Rechtssystems
ermöglichen, unterscheiden sich die großen Rechtskulturen
dieser Welt.
Der Ort des Rechts im Gesellschaftssystem
In „Gesellschaftstheorie und Recht“ war die nur scheinbar
theorietechnische Frage topologischer Verortung des Rechts im
Theorieraum der Gesellschaft offen gelassen: Dass sich von
Mead und Simmel her Bezüge zur kulturell-symbolischen
Sphäre ergeben, drängt sich auf, dass eine jede
Rechtskonzeption, die den Akzent auf Macht setzt – sei es als
Sanktionsmacht oder Erzwingungsstab zur politischen Sphäre
tendiert –, liegt ebenso auf der Hand. Und dass die Entfaltung
des Rechtsproblems von der Frage der Berechenbarkeit des
Handelns her auf das Gewicht der Interessen und auf
ökonomische Erwartungszusammenhänge setzt, also den Bezug
der normativen Ordnungen zur Wirtschaft betont, ist ebenso
plausibel. Wer andererseits das Recht funktional mit der
Integrationsaufgabe verknüpft und Recht als Indikator und
Integrator von Gesellschaft begreift, Recht also in die
Solidaritätszusammenhänge
der
Gemeinschaftsbildung
einspeist, platziert Recht in der gemeinschaftlichen Sphäre.
20
Recht als Kultur.
Kultur
Wirtschaft
Gemeinschaft
Politik
Mir scheint es allerdings sinnvoll, eine solche Vorentscheidung
zu vermeiden. Einerseits spielt das jeweils in den Blick
genommene Rechtssystem eine Rolle: So ist es plausibel, ein
Recht, das sich „common law“ nennt, eher mit der Herstellung
von Commonness, also der Gemeinschaft, zu verknüpfen und
auch eine dinggenossenschaftliche Justiz, die noch vor der
Ausdifferenzierung eines eigenen Rechtsapparates steht und die
Umstehenden, den „Umstand“, als Rechtsgemeinschaft
behandelt über dieses Sphärenverhältnis verstehen zu wollen.
Wo hingegen die Staatsanstalt Produzent und Anwender des
Rechts ist, also Rechtssetzung und Rechtsanwendung
erfolgreich monopolisiert sind, da macht es Sinn, die Beziehung
21
Werner Gephart
zur politischen Sphäre in den Vordergrund zu stellen. Und wo
die Wirtschaft zum letzten Ort der Erzeugung von
Verbindlichkeiten wird, wie wir dies in der Rechtssemantik von
„Verbindlichkeit“ nachzuzeichnen versuchten, da ist es für eine
gesellschaftstheoretisch
orientierte
Rechtsanalyse
auch
notwendig, die Beziehung von Recht zur Wirtschaft der
Moderne in den Vordergrund zu stellen. Wenn freilich das
Recht sich aus den sinnstiftenden Institutionen einer
Gesellschaft speist, den Religionen und ihren in der Moderne
vielfach subkutanen Substituten, dann ist es eben sinnvoll, den
Zusammenhang mit der Kultur einer Gesellschaft
aufzuschließen, um das Recht in adäquater Weise zu begreifen.
Zur relativen empirischen Gewichtung dieser Anteile in
gesellschaftlichen Ordnungs- und Chaoszusammenhängen ist
aber eine Vorentscheidung über den Standort des Rechts gerade
nicht gerechtfertigt.
Für moderne Gesellschaften verbietet sich die Subsumtion unter
ein primäres Subsystem von Gesellschaft aus systematischen
Gründen: Wenn das Recht eine zentrale Rolle bei der
Ausdifferenzierung der Gesellschaft spielt, z.B. Religion von
Gemeinschaft abkoppelt, die Unpersönlichkeit des Marktes
durch universalistische Rechtsformen von brüderlichen
Gemeinschaftsbindungen ablöst, und die Politik und
Gemeinschaft funktional entzerrt durch die Verrechtlichung von
Wahlen, Bürgerschaftsrechten etc., dann macht es logisch und
empirisch keinen Sinn das Ausdifferenzierung befördernde
System
einem
der
auszudifferenzierenden
Systeme
zuzurechnen!31
Recht lässt sich aber auch nicht, wie an anderer Stelle
nachgewiesen,
als
ein
symbolisch
generalisiertes
Kommunikationsmedium konstruieren, da gerade die
Mediencodierung als Voraussetzung des Funktionierens von
Liebe, Geld und Macht selbst wiederum in rechtlichen
31
Zu diesem Argument schon: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und
Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt
am Main 1993, S. 246.
22
Recht als Kultur.
Kategorien zu deuten ist bzw. von normativen Elementen
durchdrungen ist.
Schließlich gehört es zu den empirischen Beobachtungen der
unterschiedlichsten Autoren, dem Recht eine merkwürdige
Eigenschaft zuzuschreiben, nämlich omnipräsent und ubiquitär
zu sein. Was Weber als Alltagspathologie des Juristen karikiert,
die Welt als potenziellen Rechtsfall zu betrachten, ist nur
Ausdruck der Tatsache, dass Recht in sämtliche Lebensbereiche
hineinreicht und die These der „Kolonialisierung“ in gewisser
Weise ja gerade dieses Phänomen benennt, dass keine
lebensweltlicher Raum besteht, der „letztlich“ nicht durch Recht
bestimmt sei.
Daher fragt sich, ob die mangelnde Lozierbarkeit des Rechts
nicht gerade sein Charakteristikum ist.
Hieraus lassen sich nunmehr aber auch theoretische
Schlussfolgerungen ziehen, wobei sich Recht theorietechnisch in
der folgenden Weise darstellen lässt, nämlich als eine bis an die
Peripherie der Gesellschaft reichende, die gesellschaftlichen
Sphären durchdringende Kernzone des sozialen Lebens.
Führen wir nunmehr die Bestimmung der Dimensionen von
Recht mit der zugewiesenen Rolle im Gesellschaftssystems
zusammen, so lässt sich dies in der folgenden Weise
veranschaulichen:
23
Werner Gephart
Recht als Kernzone der Gesellschaft
Kultur
Gemeinschaft
Rechtssymbole
Rechtsrituale
Normenordnung
Rechtsorganisation
Wirtschaft
Politik
Es wird unsere weitere Aufgabe sein, diese abstrakten
Bestimmungen zunehmend mit Inhalten des – wie es Eugen
Ehrlich nannte – „lebenden Rechts“ zu füllen, im Lichte des
Durkheimschen Deutungsansatzes, der hier im Vordergrund der
Betrachtung steht.
24
Recht als Kultur.
I. Fragen zum ersten Kapitel des ersten Teils:
1. Nennen Sie wichtige Dimensionen des soziologischen
Begriffs von Recht.
2. Was bedeutet die „normative“ Dimension des Rechts? –
Lässt sich soziologisch Recht ausschließlich als
Normenordnung begreifen?
3. Was ist mit der organisationsförmigen Dimension des Rechts
gemeint? Lässt sich Recht ausschließlich von den
Funktionsweisen des Sanktionsapparates her begreifen?
4. Inwiefern spielen Symbole und Zeichen im weiteren Sinne im
rechtlichen Geschehen eine Rolle? Sind sie für den
Rechtsbegriff notwendig oder ist dieser gar auf
„semiotische“ Prozesse zu reduzieren?
5. Lässt sich Recht auch als „Handeln“ und „Ritual“
interpretieren? Nennen Sie Beispiele, wo diese Deutung
auch für modernes Recht eine wichtige Rolle spielt.
6. Kann man diese Dimensionen des Rechts – zunächst rein
formal gesehen – auch auf die Entwicklung von Recht
übertragen? Wie müsste eine Entwicklungsgeschichte des
Rechts angelegt sein, die solche Dimensionen
berücksichtigt?
25
Werner Gephart
I. THEORETISCHE ORIENTIERUNGEN
ZWEITE VORLESUNG
RECHT ALS KULTUR? MAX WEBERS BEITRAG ZU EINER
VERGLEICHENDEN KULTURSOZIOLOGIE DES RECHTS
›Recht‹ als ein kulturelles Phänomen zu begreifen, ist
keineswegs selbstverständlich.
Auch die eindrucksvolle Wiederkehr des Rechts in der
Gesellschaftstheorie hat sich nicht unter kultursoziologischen
Vorzeichen
vollzogen,
sondern
als
Diskursund
Institutionentheorie des Rechts bei Habermas und Theorie
autopoietischer Beobachtungen des Rechts bei Luhmann. Dabei
wären die kulturellen Voraussetzungen dieser Theorien des
Rechts gar nicht so schwer freizulegen, nämlich in dem nach
wie vor ungetrübten Rationalitätsglauben sprachlicher Vernunft
bei Habermas und den alteuropäischen Wurzeln der
Autarkievorstellung von Luhmann. Aber auch wenn man zur
Geburtsstunde der Soziologie in Frankreich und Deutschland
zurückgeht, so ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, wie
Recht bei Durkheim und Weber gerade als kulturelles
Phänomen begriffen würde.
Weber nimmt dabei eine merkwürdige Mittelstellung zwischen
einer reinen ›rechtssoziologischen Betrachtung‹ ein, die er
ablehnt32, soweit in ihr soziologische und juristische
Betrachtung konfundiert sind, und einer Auflösung des Rechts
in Elemente der allgemeinen Kultur einer Gesellschaft, wie sie
32
So spricht Weber etwa von dem »heftigen Kampf der Rechtssoziologen
(Lambert, Ehrlich)« gegen den Begriff des Gewohnheitsrechts, dem
eine für den rechtssoziologischen Reduktionismus typische
»Vermischung juristischer und soziologischer Betrachtung« eigen sei
(vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 441).
26
Recht als Kultur.
in der deutschen Romantik etwa bei Jakob Grimm zu finden ist.
Bevor Webers eigene Position zu Recht als eines
Kulturtatbestandes erfaßt wird, ist daher ein Stück weit der
wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund aufzurollen, vor dem
sich Webers spezifische Position genauer abzeichnet. Wir
werden dabei sehen, wie im strittigen Verhältnis zu ›Kultur und
Gesellschaft‹ die Auffassungen von Savignys und Georg
Friedrich Puchtas, Rudolf von Iherings und Josefs Kohlers im
Verhältnis zu Webers Rechtslehre differieren (I). In Webers
eigener komparativer Analyse juristischer Rationalisierung läßt
sich eine Kultursoziologie des Rechts herausarbeiten (II), um
schließlich Anwendungsmöglichkeiten der Weberschen
Sichtweise für eine vergleichende Kultursoziologie von Recht in
Europa anzudeuten (III).
I.
Kulturelle Aspekte des Rechts in der deutschen
Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts
Ebenso wie der Nationalökonom Weber mit der historischen
Schule in Verbindung stand, so sind auch Webers juristische
Wurzeln in der historischen Rechtsschule zu suchen. Es lohnt
sich daher, sie zunächst am Beispiel der beherrschenden Figur v.
Savignys klar zu machen, wie der kulturelle Faktor in der
Analyse des Rechts Beachtung findet.
1.
Volksgeist, Rechtskultur und Juristenrecht: Friedrich
Karl von Savigny (1779-1861)
Es ist ein verbreitetes Mißverständnis, v. Savigny einen
holistischen Volksbegriff anzulasten, der auch noch biologisch
konnotiert sei. Recht erscheint v. Savigny zwar als Teil der
Gesamtkultur und darin ist er Schüler Herders. Aber ›Kultur‹ ist
für von Savigny geistiges Erbe und Tradition, die auf
literarische Überlieferung (›Litterärgeschichte‹) eingeengt wird.
Rechtsgeschichte heißt für ihn: Aktualisierung dieser kulturellen
Tradition. Diese findet sich gerade nicht im Leben des Volkes,
sondern in der Geschichte der juristischen Bildung und des
juristischen Unterrichts.
Wenn v. Savigny dem Kodifikationsplan Thibauts, das
organische Wachsen aus dem ›Volksgeist‹ entgegenstellt, so
27
Werner Gephart
meint er damit als soziales Substrat die Träger einer juristischen
Kultur, die im römischen Recht wurzelt und in einer künstlichen
Wiederschöpfung durch Rechtswissenschaft und Praxis
aktualisiert werden soll: »Bey steigender Cultur nämlich
sondern sich alle Thätigkeiten des Volkes immer mehr, und was
sonst gemeinschaftlich betrieben wurde, fällt jetzt einzelnen
Ständen anheim. Als ein solcher abgesonderter Stand erscheinen
nunmehr auch die Juristen.«33 Diese ›Sonderung‹ ist nichts
anderes als funktionale Differenzierung und Auflösung eines
Gemeinschaftssubjektes, so daß Franz Wieacker m. E. zu Recht
hervorgehoben hat, daß der Volksbegriff somit zu einem idealen
Kulturbegriff erhoben wird, der erst durch eine geistige und
kulturelle Elite repräsentiert wird.34 Der Juristenstand ist
privilegierter Hüter der Rechtskultur, auch wenn es eine
untergründige Verbindung zur allgemeinen Kultur gibt. Nicht
anders als die später so genannte juristische ›Profession‹, die bei
Weber als Träger rechtlicher Rationalisierung gefeiert wird.
Die Orientierung von Savignys am römischen Recht garantiert
zugleich einen universalistischen Zug, der über eine nationalpartikulare Rechtskultur hinausweist: Gerade die »organische
Aufnahme des römischen Rechts« schaffe eine die
Rechtspartikularitäten in Deutschland überschreitende lebendige
Rechtsgemeinschaft, deren »Cultur« – wie das römische Recht –
international geblieben sei.
Savigny geht insofern von einer gemeinsamen europäischen
Rechtskultur aus. Auch Weber spürt in seiner Analyse der
rationalen Rechtskulturen einer gemeinsamen okzidentalen
Wurzel nach, der gegenüber die rein nationalen Differenzen
zurücktreten.
Während
sich
bei
Savigny
die
Rezeptionsgeschichte des römischen Rechts in einem
juristischen Auslegungsakt verdichtet35, bleibt für Weber die
33
34
35
Friedrich Karl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung
und Rechtswissenschaft, Hildesheim 1967 [Reprografischer Nachdruck
der Ausgabe Heidelberg 31840], S. 12.
Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer
Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 21967.
Dieser wird über ›organische Rechtsverhältnisse‹ mit dem Hinweis auf
28
Recht als Kultur.
Rezeption der römischen Rechtskultur jedoch das Ergebnis von
Ideen, Interessen und deren je spezifischen Trägern.
2.
Vom idealisierten Volksgeist zum Juristenmonopol der
Begriffsjurisprudenz: Georg Friedrich Puchta (17981846)
Welche Autorität Puchta für Weber darstellt, wird aus einem
Brief des Rechtsstudenten an die Mutter ersichtlich, in dem
Weber das Kolleg des Ernst Immanuel Bekker (1817-1916) über
römische Rechtsgeschichte kritisiert, weil ihm (Weber) »Puchta
noch im Kopf sitzt«36 und daher eine ungeschichtliche
Darstellung des römischen Rechts mißfalle.
Dabei ist es gerade Puchta, der – seinerseits Savigny
beeinflussend – den Begriffsformalismus in pyramidischen
Ableitungen zur Hochblüte gebracht hat. Die Kulturgeschichte
des Rechts läßt einer ›Unschuldsperiode‹ eine Periode der
›Mannigfaltigkeit‹ nachfolgen, die schließlich in einer höheren
Einheit der Periode der ›Wissenschaftlichkeit‹ zusammenfließt.
Damit wird wiederum der Rechtswissenschaft das Monopol in
der Auslegung des Volkslebens zugesprochen. Dieses wird aber
nicht in irgend einem wirklichkeitswissenschaftlichen Sinne
untersucht, sondern: Allein durch die Deduktion von
Rechtssätzen aus allgemeinen Begriffen soll der verborgene
Gehalt der nationalen Rechtskultur extrapoliert werden, der
weder im realen ›Volksgeist‹ noch in den Gesetzen manifestiert
worden ist.37 Damit wird die Rechtswissenschaft als »Product
der wissenschaftlichen Deduction« zur privilegierten
Rechtsquelle der Pandektistik.
Unter rechtshistorischem Vorzeichen, von dem sich auch der
junge Weber täuschen läßt, wird die kulturelle Autonomie des
Rechts postuliert, dessen Begriff, Konstruktionen und Sätze der
›Institutionen‹ nicht näher an die Wirklichkeit herangeführt, sondern es
werden, von der Wirklichkeit abgezogene, Abstraktionen als solche
legitimiert.
36
37
Brief an die Mutter vom 2. Mai 1882, abgedr. in: Max Weber,
Jugendbriefe, Tübingen o. J. (1936).
Vgl. Georg Friedrich Puchta, Cursus der Institutionen, Bd. I, Leipzig
1841, S. 460-463 (§ 101).
29
Werner Gephart
Alltagskultur vollständig entrückt werden um ihnen eine
Eigengesetzlichkeit zuzuschreiben, von der auch Webers These
der formalen Rationalisierung des Rechts gezeichnet bleibt.38
3.
Von der Poesie im Recht: Ein kulturwissenschaftliches
Vermächtnis der Analyse des Rechts? Jacob Grimm
(1785-1863)
Während von Savigny ausgehend über Puchta der Bezug zur
Kultur eines Volkes zunehmend verdünnt wird und es
akrobatischer
Hilfskonstruktionen
bedarf,
um
diese
Konstruktionsjurisprudenz an das Kulturleben zurückzubinden,
geht es dem Adlatus und späteren Freund Savignys, Jacob
Grimm39, weniger um die Erkenntnis des richtigen Rechts als
um den Ort des Rechts in der Gesamtkultur.
So ist die sinnliche, anschauliche Seite des Rechts für Grimm
von besonderem Reiz. Ihn interessiert dabei nicht primär der
formale Aspekt der Rechtsbekräftigung, sondern die
zugrundeliegende geschichtliche Bedeutung, die in die
kulturellen Traditionen einer Rechtsgemeinschaft zurückweist.40
So ist in dem Bändchen ›Von der Poesie im Recht‹ die
Rechtsform
als
Quelle
einer
bedeutungsbezogenen
Kulturanalyse aufgetan.
So heißt es im dortigen §10 – soweit bleibt der aus juristischem
Hause stammende Germanist und Märchensammler durchaus in
der Form juristisch –: »Es ist eine unbefriedigende ansicht,
welche in solchen symbolen blosze leere erfindung zum behuf
der gerichtlichen form und feierlichkeit erblickt. im gegentheil
38
39
40
Wie lebendig die Diskussion um die Volksgeistlehre gerade zur Zeit der
Abfassung der Weberschen ›Rechtssoziologie‹ war, geht auch aus dem
Diskussionsbeitrag von Hermann U. Kantorowicz hervor, der auf die
Arbeiten von Meinecke, v. Moeller, Dittmanns und Loenings verweist.
(Hermann U. Kantorowicz, Volksgeist und historische Rechtsschule,
München 1912, S. 295- 325).
Über die Beziehung von Savigny und Grimm vgl. den auch
wissenschaftsgeschichtlich unvermuteten Artikel von Erich Rothacker,
Savigny, Grimm, Ranke. Ein Beitrag zur Frage nach dem
Zusammenhang der Historischen Schule, in: Historische Zeitschrift
128, 1923, S. 415-445 (insbes. S. 429 ff.).
Zu einer Würdigung von Jacob Grimm als Jurist vgl. den
gleichnamigen Artikel von Gerhard Dilcher, in: JUS 1985, S. 931-936.
30
Recht als Kultur.
hat jedes derselben gewisz seine dunkle, heilige und historische
bedeutung; mangelte diese, so würde der allgemeine glaube
daran und seine herkömmliche Verständlichkeit fehlen.«41
Max Weber hingegen ist für diese Art einer Bedeutungsanalyse
der juristischen Kulturinhalte und ihrer Formen als in der
Pandektenwissenschaft geschulter Jurist nicht weiter interessiert.
In der dem Verleger Siebeck in einem Postskriptum
angekündigten ›Soziologie der Culturinhalte‹ firmieren Kunst,
Literatur, Weltanschauung, aber nicht das Recht. Und so
konstatiert Weber in der Rechtssoziologie zwar einen Prozeß der
De-Symbolisierung des modernen Rechts, ohne sich hierbei aber
auf seine jeweiligen Symbolgehalte als ›Kulturinhalt‹
einzulassen.
Inwieweit
Weber
gleichwohl
eine
kultursoziologische Perspektive zum Recht – und zwar gerade
eine der vergleichenden Kultursoziologie – pflegt, werden wir
im weiteren freilich sehen.
Wenn Weber nicht nur in der Religionssoziologie, sondern auch
in der kultursoziologischen Betrachtung des Rechts das
Zusammenspiel von ›Ideen‹ und ›Interessen‹ thematisiert, muß
eine weitere zentrale Figur der juristischen Welt des 19.
Jahrhunderts, nämlich Rudolf von Ihering, eine besondere
Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
4.
Kultur und Interesse: Von der Konstruktions- zur
Interessenjurisprudenz: Rudolf von Ihering (18181892)42
Nicht nur aus ironischer Distanz – wie sie in ›Scherz und Ernst
in der Jurisprudenz‹ zutage tritt – hat Ihering das paradoxe
Verhältnis beschrieben, in dem sich ›Naturrecht‹ und
41
42
Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, in: Zeitschrift für
geschichtliche Rechtswissenschaft 2, 1816, S. 25-99; wieder abgedr.
Darmstadt 1963, S. 48. Wihelm Wundt versucht hingegen, das Symbol
als konstitutiven Bestandteil von Rechtshandlung und Rechtsverhältnis
zu erweisen (vgl. Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie, 9.13 d., Das
Recht, Leipzig 1918, S. 387 ff.).
Als zeigenössische Würdigung nach wie vor lesenswert ist der Nachruf
von Adolf Merkl in: Jherings Jahrbücher 32, 1893, S. 6-40, der ihn vor
allem als ›Gestalt des realistischen Denkers‹ zeichnet.
31
Werner Gephart
›rechtshistorische Schule‹ zur kulturellen Wirklichkeit
befanden. So war das historischer Kontingenz enthobene
›Naturrecht‹ nur eine Idealisierung der vorhandenen Zustände,
während die historische Schule in Gestalt des römischen Rechts
eine Universalität entdeckte, die – wie Ihering im ›Geist des
römischen Rechts‹ ausführt – etwas »Berauschendes für die
Juristen«43 hatte.
Den Weg zu einer eigentlichen Rechtsgeschichte, bzw.
›Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts‹ wird erst in
seiner posthum herausgegebenen Schrift – jenseits von
konsekutiver
Dogmengeschichte
und
idealistischer
44
Nachkonstruktion der Idee des römischen Rechts – in seiner
methodologischen Schwierigkeit sichtbar.
Ihering meint hierzu, die Prämissen der rechtshistorischen
Schule hinter sich lassen zu müssen, nämlich das ›dumpfe
Werden‹ der Volksgeistlehre v. Savignys. In der für Ihering
typischen Prägnanz ist zu lesen: »Das Recht ist kein Ausfluß des
naiv im dunklen Drang schaffenden Rechtsgefühls, jenes
mystischen Vorgangs, welcher dem Rechtshistoriker jede
weitere Untersuchung abschneiden und ersparen würde, sondern
es ist das Werk menschlicher Absicht und Berechnung, die auf
jeder Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung das
Angemessene zu treffen bestrebt war.«45
43
44
45
Rudolf von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen
Stufen seiner Entwicklung, Erster Theil, Leipzig 31873, S. 10.
Zum systematischen Anliegen Jherings vgl. Helmut Coing, Der
juristische Systembegriff bei Rudolf von Ihering, in: Jürgen Blühdorn
und Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum
Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1969,
S. 149-171.
Rudolf von Ihering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts.
Aus dem Nachlaß herausgegeben von Victor Ehrenberg, Leipzig 1894,
S. 28. Diese rationale Interpretation der Rechtsentwicklung kommt
auch in Durkheims Lektüre von Iherings deutlich zum Ausdruck (vgl.
Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne (zuerst
1887), in: Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale, Paris 1975, S.
267-343, S. 286 ff.; vgl. hierzu auch Werner Gephart,
Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs
der Moderne, a. a. O., S. 326 ff.).
32
Recht als Kultur.
Weder Volksgeist noch ›Kultur‹ ist das Movens der Geschichte,
nach der berühmten ›Kehre‹ Rudolf von Iherings. In der Schrift
›Geist des römischen Rechts‹ geht die Untersuchung noch von
der (Kultur-) »Bedeutung des römischen Rechts für die moderne
Welt« aus, und bleibt auf die Frage gerichtet, wie das römische
Recht ein ›Culturelement der modernen Welt‹ sei. Und
›Römischer Geist‹ sei es, der dort zur spezifischen ›Cultur des
Rechts‹ der römischen Welt prädestiniere und der auf vielfache
Weise auch mit der Religion verschlungen sei. Im ersten Brief
der anonym verfaßten ›Vertraulichen Briefe über die heutige
Jurisprudenz‹ – später in der Spottschrift ›Scherz und Ernst in
der Jurisprudenz‹ aufgenommen – werden die Studien über den
›Geist‹ der Rechte, einschließlich des selbst verfaßten ›Geist des
römischen Rechts‹ wie ein spiritualistischer Unfug karikiert, als
deren Ursprung Ihering interessanterweise Montesquieus ›sur
l’esprit des lois‹ ansieht.46
So geht Iherings Wandlung von der Konstruktions- zu der nach
ihm benannten Interessenjurisprudenz mit dem Wechsel von
einer kulturbezogenen Analyse des Rechts zu einer nur aus dem
Interesse hervorspringenden, soziologistischen Reduktion des
Rechts einher.
Iherings Blick auf das Recht bewegt sich also zwischen den
Polen einer kulturbezogenen und einer zweck- und
interessensorientierten Rechtsanalyse, ohne daß in seinem
System eine Vermittlung stattgefunden hätte. Bei Weber werden
wir sehen, wie Iherings Kulturbegriff des römischen Rechts in
der Dimension der Analytik wiederkehrt und wie Zweck und
Interesse bei Webers Frage nach den Trägern rechtlicher
Rationalisierung aufgenommen wird.
46
Rudolf von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Eine
Weihnachtsgabe für das juristische Publikum, Leipzig 101909, S. 3; dort
heißt es allerdings fälschlich: »Sur l’esprit des lois«.
33
Werner Gephart
5.
Kulturbedürfnis und Rechtsideal: Vom Recht der Wilden
zum modernen Recht in der Schule Josef Kohlers (18491919)
Während Weber der ethnologischen Jurisprudenz wie auch
ethnologischer
Religionswissenschaft
eher
skeptisch
gegenüberstand – was übrigens ein weiteres Mosaiksteinchen in
dem Weber-Durkheim Puzzle ausmacht – hat Josef Kohler ein
juristisches Universalbild der Welt erarbeiten wollen, das vom
ägyptischen Patentrecht über Shakespeares Rechtsbild, das
Recht der Bantuneger bis zum islamischen Recht reichen
sollte.47
Seine Studien erfolgen nicht im Namen der Soziologie und auch
nicht als Rechtsgeschichte, sondern sie werden in zahllosen
Artikeln der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft zu
Gehör gebracht. Universalhistorisch und interkulturell ist der
ungeheure Anspruch der Kohlerschen Unternehmung, die ihn
insoweit mit Weber verbindet.
In der Encyklopädie der Rechtwissenschaften hat Kohler in
einem
Artikel
über
›Rechtsphilosophie
und
Universalrechtsgeschichte‹ das »Recht als Kulturerscheinung«
in sehr allgemeiner Weise gewürdigt48. Nach der Zerstörung des
Naturrechts durch Savigny sieht Kohler es als die tiefe
Erkenntnis der vergleichenden Rechtswissenschaft an, den
jeweiligen kulturellen Wert auch der entlegensten Rechte
anerkannt zu haben, ebenso wie die vergleichende
Religionswissenschaft
sich
weigerte,
die
religiösen
Verrichtungen der ›Primitiven‹ nunmehr als bloße Verirrungen
abzutun.
Das Recht wird damit aber nicht einfach kontigent: »Wenn auch
das Recht ein ständig Wechselndes und sich Entwickelndes ist,
47
48
Vgl. als Sicht auf diesen umfassenden Anspruch Kohlers den Beitrag
von Wolfgang Gast, Historischer Optimismus. Die juristische Weltsicht
Josef Kohlers, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 85,
1986, S. 1-10.
Josef Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte, in:
Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung,
hrsg. von Josef Kohler, Band. 1, Leipzig; Berlin 61904, S. 1-69.
34
Recht als Kultur.
so ist es doch nichts Äußerliches und Zufälliges.«49 Es ruht »mit
seinem innigsten Gefaser in den Wurzeln der Volksseele und
entspricht dem kulturentwickelnden Drange, der das Volk
durchzieht, das Volk, seien es alle Mitglieder, seien es einige
hervorragende, weitschauende Geister.«50 Darin soll nunmehr
also die Rationalität der Rechtskultur bestehen, daß sie sich in
Entsprechung zur Entwicklung der Gesellschaft entfaltet. Von
dort her ergebe sich auch der Wertmaßstab, mit dem das Recht
zu messen sei. So heißt es: »... es (das Recht, W. G.) ist zu
schätzen nach der Art und Weise, wie es der Kultur und dem
Kulturbedürfnis des Volkes nachkommt; aus Kultur und
Kulturbedürfnis entnehmen wir das Ideal, dem das Recht einer
bestimmten Zeit möglichst genügen soll.«51
Die Kulturbedeutung des Rechts ist also mit Wertansprüchen
durchsetzt, die nicht nur die Selektion und Kombination des
Forschungsgegenstandes begründen, sondern die so konzipierte
vergleichende Rechtswissenschaft bleibt der Suche nach dem
richtigen Recht verpflichtet, das sich aus der Adäquanz von
Kulturentwicklung und Rechtsinhalt ergeben soll. Dieses
kulturrelativ ›richtige‹ Recht ruht auf den Grundlagen einer
Kultur und ist damit zugleich nach Kohler ein Element, das die
alte Kultur zerstört und eine künftige mithervorbringt.
Weder soziologische Reduktion noch kulturalistische
Verengung auf die Binnenkultur des Rechts, sondern die
Erfassung des Rechts im Kosmos der übrigen Kulturformen
scheint das Unterfangen Josef Kohlers aufs engste an eine
kultursoziologische Analyse des Rechts heranzuführen.
Gleichwohl bleibt das Ergebnis enttäuschend: Trotz einer
immensen Fülle an aufbereitetem rechtsethnologischen Material
gelangt Kohler über die Differenzierung von Natur-, Kultur- und
Halbkulturvölkern nicht hinaus. In einer Rezension von Kohlers
›Studien aus dem Strafrecht‹ aus der Feder Emile Durkheims,
49
50
51
Ebd. S. 6.
Ebd.
Ebd.
35
Werner Gephart
werden die Grenzen seiner rechtsethnologischen Versuche
sichtbar, auch wenn Durkheim dessen Wertlehre eher verwandt
war.
So kritisiert Durkheim den Mangel an soziologischer
Erklärungskraft,
wenn
Kohler
die
zunehmende
Strafverschärfung der italienischen Statuten auf den
zunehmenden Einfluß der römischen Rechtskultur zurückführt,
während tatsächlich die Verfassung der Gesellschaft und das
heißt: ihre staatliche Organisation für die Strafverschärfung
verantwortlich sei: »Pour que le droit pénal soit rigoureux, il
faut, semble-t-il, que la société ait atteint un certain degré de
concentration et d’organisation, que l’organe gouvernemental
soit constitué.«52 Morphologische Strukturanalyse des sozialen
Lebens gegen die Annahme der Eigengesetzlichkeiten von
Kultur, dies markiert die Differenz von Durkheim zu Kohler.
Aber
geht
Webers
›Rechtssoziologie‹
in
dem
universalgeschichtlich
konzipierten
Unternehmen
einer
komparativen Analyse der Rechtskulturen im Sinne der
ethnologisch inspirierten Rechtsvergleichung tatsächlich auf?
Wenn wir von den Befangenheiten des von Kohler für die
Deutsche Kolonialverwaltung entwickelten und mehrfach
zur
Analyse
primitiver
eingesetzten
Fragebogens53
54
Rechtskulturen einmal absehen, so leidet die Kohlersche
Betrachtung von Recht als Kulturerscheinung vor allem daran,
52
53
54
Emile Durkheim, Rez. zu Josef Kohler, Studien aus dem Strafrecht. Das
Strafrecht der italienischen Statuten vom 12.-16. Jahrhundert,
Mannheim 1895-1897, in: L’Année sociologique 1, 1898, S. 351-353,
hier S. 352-353.
Vgl. die Nachweise in der Josef Kohler-Biographie, bearbeitet von
Arthur Kohler, Berlin 1931, S. 14, Fn. 4.
Vgl. den von Josef Kohler entwickelten ›Fragebogen zur Erforschung
der Rechtsverhältnisse der sogenannten Naturvölker, namentlich in den
deutschen Kolonialländern‹ in: Zeitschrift für die vergleichende
Rechtswissenschaft 12, 1897, S. 426 ff. Die Frage nach der Haftung für
den Sklaven (Frage Nr. 28) ist offenkundig dem Römischen Recht
unmittelbar oder aber der germanischen Rechtsentwicklung
nachgeformt: »Wird die Blutrache durch Komposition (Wergeld)
abgelöst?« (Nr. 60).
36
Recht als Kultur.
daß Methodik, Sachgehalt und theoretische Konzeptualisierung
einer Kulturanalyse des Rechts völlig im Dunkeln verbleiben.55
6.
Ethnos und Recht: Zur ethnologischen Jurisprudenz von
Albert Hermann Post
Während Kohlers neuhegelianischer Idealismus sich einer
rechtskulturellen Fortschrittsidee verpflichtet sieht, die z. B. in
der juristischen Auslegungspraxis des von ihm systematisch
entwickelten Immaterialgüterrechts nachzulesen ist und
ausschließlich die objektive Auslegungsmethode für statthaft
hält, zeugt dies nach Post von der Unreife rechtsvergleichender
Ethnologie. Die Aufgabe der Rechtsethnologen sei ganz
nüchtern zu definieren: Hier ginge es nicht um ›Kultur‹ und ihre
Ideale56, sondern wer sich z. B. sittlich über primitive
Rechtsformen entrüstet, ›verwirrt‹ – wie Post in seiner
›Einleitung in die ethnologische Jurisprudenz‹ schreibt – »nur
den Kausalzusammenhang der ethnischen Erscheinungen, dem
der Ethnologe mit dem kalten Auge der Anatomen
nachzuspüren berufen ist.«57
Dieser positivistische Blick ist nun auf die elementaren Formen
des Rechtslebens gerichtet, auf solche, welche »nicht eine
Spezialität bestimmter Völker oder Volksgruppen ist«58, sondern
als ein »Gemeingut der Menschheit« angesehen werden kann.
Dies ist zugleich die Prämisse seiner komparativen Methode,
daß die verschiedenen Rechtskulturen nicht »Solitärprodukte
55
56
57
58
Auch wenn Kohler in der Kulturwissenschaft bis ins Goethe-Jahrbuch
vorgedrungen war mit seiner Analyse von ›Fausts Pakt mit
Mephistopheles in juristischer Betrachtung‹, in: Goethe-Jahrbuch 24,
1903, S. 119-131.
Gleichwohl lobt Kohler in seinem Nachruf auf Albert Hermann Post
»die Verbindung des Rechts mit dem gesamten Kulturstande einer
Nation, die wichtigen Parallelen, welche die gleichartigen
Kulturentwicklungen zweier Völker mit sich bringt, die Relativität der
Rechtsanschauungen, die sociale Natur des Ethos, die unbewusste
Gestaltung des Rechts in den socialen Menschheitskreisen – alles dies
waren Probleme, die Post in hervorragendem Masse beschäftigten«
(Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 17, 1897, S. 455).
Albert Hermann Post, Einleitung in das Studium der ethnologischen
Jurisprudenz, Oldenburg 1886, S. 53.
Ebd., S. 27.
37
Werner Gephart
bestimmter Volksgruppen«59sind, da die – neukantianisch
gesprochen – ›historischen Individuen‹ einer Kausalanalyse
unzugänglich seien. Eine individualistische Methode wird von
Post im übrigen radikal zurückgewiesen. Falls das
›Rechtsbewußtsein‹ aus den individuellen Strebungen und
Bewußtseinsformen hervorginge – argumentiert Post – dann
müßte doch das »Rechtsbewußtsein der auf gleicher
Bildungsstufe stehenden Franzosen, Deutschen, Russen,
Chinesen identisch sein.«60
Dies ist nach Post nur soweit der Fall, als die Rechtsform sich
mit der ihr zugrundeliegenden sozialen Organisation deckt.
Damit ist die Forschungsidee eines individuelle Kulturen
prägenden, idealistisch konzipierten ›Volksgeistes‹ bei Post
aufgegeben. Statt dessen ist die soziale Organisation wie ein
unergründlicher Ozean, aus dessen Tiefen – wie Post in
metaphorischer Rede anmerkt – allerhand Bilder hervorsteigen,
die immer bewußtes Leben nur selten erreichen und zugleich die
objektiven Formen des sozialen Lebens prägen. Diese aber
kämen im positiven Recht zutage61, so daß die
wissenschaftliche, ethnologische Jurisprudenz sich ohne
Umschweife an die komparative Analyse der positiven
Tatsachen des Rechts begeben könne, um diese dann mit ihrer
sozialen Organisation zu verknüpfen.
Die komparative Methode dient damit der kausalen Zurechnung
überall da, wo die Abfolge im Nacheinander, wie in den
vermeintlich vorhistorischen Gesellschaften, undurchführbar
sei.62
Die universelle Verbreitung der Leviratsehe liefert Post das
Beispiel für den Zusammenhang von sozialer Organisation und
Rechtsform, die nach Post in Grundformen der
Gesellschaftsverfassung zu finden sei.
59
60
61
62
Ebd., S. 26.
Ebd., S. 20.
Vgl. ebd., S. 22.
Ebd., S. 25.
38
Recht als Kultur.
Der bei Kohler theoretisch völlig unzureichend reflektierte
Zusammenhang von ›allgemeiner Kultur‹ und ›Rechtsleben‹ löst
sich nun – bei Albert Hermann Post – in eine kausal
interpretierte Beziehung von überkultureller Sozialstruktur und
Rechtsform auf. Die vergleichende Methode dient nicht dazu,
die rechtskulturelle Vielfalt herauszupräparieren, sondern ihre
Verfaßtheit in der gemeinsamen condition humaine zu erweisen.
Wenn Albert Hermann Post heute, trotz einer eindrucksvollen
Wirkungsgeschichte zu Ende des 19. Jahrhundert hierzulande
nahezu vergessen ist, so sind die Gründe hierfür offenkundig.
Emergenzargumentation, Kritik der deduktiven Methode auf
komparativ-kollektivistischer Basis, all dies erinnert mehr an
Durkheim und die Equipe der Année sociologique als an die
Tradition der historischen Schule in Deutschland. Und in der Tat
beschließt Emile Durkheim seinen intellektuellen Reisebericht
aus Deutschland, der ihm bekanntlich den Lehrstuhl nach
Bordeaux eingetragen hat, mit einer ausführlichen Darstellung
des Werks von Albert Hermann Post.63 Daß es sich hierbei um
eine ›gefährliche Wahlverwandtschaft‹ handelt, wird in
Durkheims Kritik an Post deutlich. Er klagt methodisch die
kausale Analyse gegenüber bloßer Deskription ein und postuliert
die Analyse der longue durée gegenüber der kurzatmigen
Deutung von bloßen Intervallen.64 Aber all dies ist ja – unserer
Auffassung nach – bei Post durchaus bemerkt, wie aus unserer
obigen Rekonstruktion hervorgeht. Im übrigen unterliegt
Durkheim dem gleichen Zirkel einer Verschlingung von Recht
und Sozialstruktur, indem das soziale Leben vermittels seiner
geronnenen Formen erfaßt wird und, zur Sozialstruktur
verdichtet, mit ihrem juristischen Ausdruck zusammenfallen
soll. Wenn Durkheim allerdings belehrend moniert: »Car pour
établir avec quelque rigueur un rapport de causalité, il faut
pouvoir observer dans des circonstances différentes les
63
64
Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in:
Revue philosophique 24, 1887, S. 33-58, 113-142, 275-284; abgedr. in:
Emile Durkheim, Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale,
a. a. O., S. 267-343 (S. 331 ff).
Vgl. ebd., S. 340 f.
39
Werner Gephart
phénomènes entre lesquels il est présumé; il faut pouvoir établir
des comparaisons méthodiques.«65 In dem Anspruch methodisch
kontrollierter Vergleichung ist Post freilich in der Aufnahme
relevanter Daten einen ganzen Schritt weitergegangen als
Durkheim, in dem er einen systematischen Fragebogen über die
Rechtsgewohnheiten der afrikanischen Naturvölker entwarf.
Daß Durkheim freilich die Nähe zu Post durchaus bewußt war,
läßt sich daran ersehen, daß das einzige Exemplar der ›Division
du travail social‹, das einem deutschen Sozialwissenschaftler
unseres Wissens dediziert wurde, dem bei uns vergessenen
Albert Hermann Post persönlich gewidmet ist: »avec les
compliments de l’auteur ...«
II.
Die
sog.
›Rechtssoziologie‹
Max
Webers
als
vergleichende Kultursoziologie des Rechts?
Kann man dafür Webers Rechtssoziologie als eine komparative
Analyse von Recht verstehen, die der Mischung aus
Hegelianismus und purer Sammelleidenschaft für die Vielfalt
der Rechtsphänomene eines Josef Kohler, der Gleichsetzung
von Kultur und Volksgeist der juristischen Romantik entgeht,
den soziologischen Reduktionismus eines Albert Herrmann Post
bzw. Durkheim unterläuft und gleichwohl ohne Verzicht auf die
Vielfalt der ideographisch zu ermittelnden empirischen
Rechtserscheinungen an systematischer Erkenntnis über das
Recht interessiert bleibt?
Liegt nicht einerseits in Webers Beitrag zum Grundriß der
Sozialökonomik eine strikte Auffassung von Soziologie vor, der
Weber gar eine ›lehrhafte‹ Form geben will um – wie er in
einem Brief vom 8. November 1919 aus Wien an den Verleger
Paul Siebeck schreibt – »endlich ›Soziologie‹ streng fachwissenschaftlich zu behandeln statt der Dilettanten-Leistung
geistreicher Philosophen.«66 Weber will Forschung mit der
Wissenschaftslehre Rickerts verbinden, nach der nicht die
65
66
Ebd.
Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 8. November 1919
(VA Mohr/Siebeck Deponat BSB München Ana 446).
40
Recht als Kultur.
Geistes
–
sondern
die
Kulturwissenschaften
das
epistemologische Gegenstück zu der von Kant bejahten
Möglichkeit naturwissenschaftlicher Forschung bildet.
Soziologie scheint daher auch bei Weber nur als:
Kulturwissenschaft denkbar zu sein. Eine in diesem Sinne
›kulturwissenschaftliche‹ Analyse des Rechts in Webers
›Rechtssoziologie‹ anzutreffen wäre also keine Überraschung,
sondern schlichtweg triviale Konsequenz seiner Denkprämissen.
Indes trifft diese formale Deduktion nicht den Kern der Sache
und ihrer Problematik. Denn was ist mit dem mittlerweile
abgegriffenen Etikett der ›Kulturwissenschaft‹ gewonnen, wenn
hiermit nichts weiter als die doch hinlänglich bekannte
Vorgehensweise Webers nur einen neuen Namen erhielte? Es ist
unumgänglich,
sich
über
Webers
Redeweise
von
›Kulturwissenschaft‹ weitere Klarheit zu verschaffen, wenn man
von Webers kulturwissenschaftlichem Analysepotential für ein
Verständnis von Recht profitieren will.
1.
Exkurs: Soziologie als »Kulturwissenschaft«
Dieser Versuch ist mit der Hypothek eines normativ überfrachteten
Kulturbegriffs belastet, der sich nach drei Dimensionen auffächert,
nämlich einen – wie ich es nennen möchte – ›materialen‹
Kulturbegriff als metaphysischer Prämisse kulturwissenschaftlicher
Forschung
(1),
sodann
einen
›formalen‹
Kulturbegriff
als
Gegenführung zum ›Naturbegriff‹ (2), um schließlich die Frage
aufzuwerfen, ob und ggf. wie ›Kultur‹ im Objektbereich der
Forschung das einigende Band der Disziplinen abgeben soll (3).
(1) In einer zentralen Formulierung des Objektivitätsaufsatzes heißt
es: »Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht
etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ›Kultur‹
wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der
Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und
ihr einen Sinn zu verleihen.«67 Was bedeutet dieses Postulat in Bezug
auf ›Recht‹?
67
Max
Weber,
Die
›Objektivität‹
sozialwissenschaftlicher
und
41
Werner Gephart
Kulturfähigkeit des Menschen heißt, der Sinnlosigkeit der Welt irgend
einen ›Sinn‹ abzuringen und sie zuallererst überhaupt aus dem
prinzipiell unendlichen kausalen Wirklichkeitszusammenhang als ein
für den Menschen bedeutungsvolles Phänomen herauszuschälen.
Daher kann Weber an anderer Stelle auch sagen, wie ›Kultur‹ vom
Menschen konstituiert wird: » ›Kultur‹ ist ein vom Standpunkt des
Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt
aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.«68 Dieser
konstitutionelle Vorgang ist das Ergebnis von sozialen Handlungen.
Sinnzuschreibung und Zuweisung von Bedeutung sind kognitive Akte,
die von den emphatisch evaluativen Akten des Stellungnehmens
ergänzt werden. Daher wird ›Kultur‹ handlungsförmig konstituiert.
Der materiale Kulturbegriff Webers schließt damit nicht an irgendeine
Art von Menschentum an, sondern an die Notwendigkeit und Freiheit,
sich die Welt jeweils im Wege aktiver Denk-, Sprech- und
Deutungsakte handelnd zu erschaffen.
Wenn also die Konstitution der ›Kultur‹ durch solche sinnstiftenden
Denk-,
Sprech-
und
Deutungsakte
erbracht
wird,
dann
ist
kulturbezogenes Handeln in auffälliger Weise mit der religiösen
Sphäre verknüpft. Denn Kultur als ein vom Standpunkt des Menschen
mit Sinn erfüllter Ausschnitt der Wirklichkeit wird gerade von den
Religionen gestiftet. In einer Formulierung aus der ›Einleitung‹ in die
Wirtschaftsethik der Weltreligionen wird diese innere Verwandtschaft
von Kulturbegriff und der Bestimmung des religiösen Grundproblems
deutlich: »Stets steckte dahinter eine Stellungnahme zu etwas, was an
der realen Welt als spezifisch ›sinnlos‹ empfunden wurde und also die
Forderung: daß das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie
sinnvoller ›Kosmos‹ sei oder: werden könne und solle.«69
Damit beruht also die Voraussetzung der Kulturwissenschaften, die
Fähigkeit des Menschen zur Sinnstiftung, in seiner Befähigung zur
Religion. In Webers Rede von Kulturwissenschaft ist daher eine
sozialpolitischer Erkenntnis, in:
Wissenschaftslehre, a. a. O., S.182.
68
69
Gesammelte
Aufsätze
zur
Ebd.
Max Weber, ›Einleitung‹ in: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen,
in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1, Tübingen
1972 (1920), S. 253.
42
Recht als Kultur.
Bedingung eingelagert, die nicht nur ganz allgemeine metaphysische
Deutungsbedürfnisse der Welt aufnimmt, sondern mit den Elementen
von ›Stellungnahme‹ und ›Sinnstiftung‹ genau die für ›Religion‹
konstitutiven Merkmale aufnimmt. Aber was bedeutet diese religiöse
Imprägnierung der Weberschen Denkvoraussetzungen für das
Verständnis der hier interessierenden rechtlichen Sphäre?
Daß die Konstruktion der Welt und ihre Aufladung mit ›Sinn‹ nicht
jedem Akteur immer wieder neu aufgegeben wird, sondern kulturelle
Traditionen eingreifen, leitet in den objektbezogenen Kulturbegriff
über. Zuvor aber wäre noch der von mir so genannte formale
›Kulturbegriff‹ zu analysieren. Was nämlich soll es für die
Rechtsanalyse heißen, daß die ›Kulturwissenschaften‹ prinzipiell den
›Naturwissenschaften‹ unversöhnlich gegenüberstünden?
(2) Auch wenn Weber gar nicht – wie an anderer Stelle ausgeführt70 –
den Anspruch erhebt, irgendeine systematische Untersuchung der
logischen Probleme der Kulturwissenschaften zu entwickeln, so läßt
sich
doch
ein
methodologischer
›Kulturwissenschaft‹
aus
seinen
Begriff
vom
von
›Kultur‹
Anlaß
her
und
als
Gelegenheitsschriften anzusehenden Arbeiten herauslesen. Anders als
Rickert, der die Möglichkeit kulturwissenschaftlicher Forschung von
dem Bezug auf einen objektiven und systematischen Begriff von
Kultur (d. h. für ihn einem System allgemeiner Werte) abhängig
macht, spricht Weber dort von ›Kulturwissenschaften‹, wo die
Vorgänge des Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung
betrachtet werden.
Diese ergibt sich aus dem Bezug zu Werten und Wertideen, unter
denen eine konkrete Erscheinung betrachtet wird. Diese von Rickert
entlehnte
Idee
der
Wertbeziehung
ist
gesetzesförmigen
Kausalbeziehungen gegenüber völlig heteronom. Anders als für
Rickert aber ist die Objektivität der kulturwissenschaftlichen
Aussagen nicht von der vermeintlichen ›Objektivität‹ der in Bezug
genommenen Werte abhängig, sondern dem Wertglauben an
70
Vgl. Werner Gephart, Handeln und Kultur. Vielfalt und Einheit der
Kulturwissenschaften im Werk Max Webers. Frankfurt am Main 1998.
43
Werner Gephart
erfahrungswissenschaftliche
Wahrheit
verpflichtet,
wie
Weber
ausdrücklich festhält.
›Kultur‹ ist ein ›Wertbegriff‹ – wie Weber vermerkt71 – der aus der
empirischen Wirklichkeit die wertrelevanten Phänomene herausfiltert
und damit als Forschungsgegenstand konstituiert. In welchem
Wertverhältnis zu ›Kulturen‹ verdichtete Wertbündel dann stehen,
liegt aber außerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschung. Dies ist
ja gerade die ›Kultur‹ der kulturwissenschaftlichen Forschungskultur,
diese Frage nicht erörtern zu wollen. So heißt es in der Vorbemerkung
zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie: »Welches
Wertverhältnis zwischen den hier vergleichend behandelten Kulturen
besteht, wird hier mit keinem Wort erörtert.«72
Dieses ironische Verhältnis zu Kulturwerten macht freilich nur vor
dem hier erläuterten Hintergrund Sinn, daß Kultur immer schon den
Zwang zur Stellungnahme und Sinnerfüllung fordert, weshalb es eben
kein Widerspruch ist, wenn Weber vom Wissenschaftler das
leidenschaftliche Eintreten für das Pathos der Distanz fordert.
Diesen methodologischen und eben ›kulturwissenschaftlichen‹ Sinn
von Kulturwissenschaft gilt es festzuhalten, wenn man Webers
Analyse von Recht als kulturellem Tatbestand eruieren möchte. Ein
Verdikt gegenüber der Jurisprudenz aufgrund ihrer vermeintlichen
Unwissenschaftlichkeit ist von Weber also nicht zu erwarten. Nur was
bedeutet Erforschung des Rechts vom kulturwissenschaftlichen
Standpunkt aus?
Neben dem vorwissenschaftlichen Begriff von Kultur, den wir
›material‹ genannt haben, und dem scheinbar rein ›formalen‹ der
Wertbeziehungslehre gilt es auch noch einen näher spezifizierbaren
Kulturbegriff im Objektbereich sozialwissenschaftlicher Erkenntnis zu
ermitteln, die sich als ›Kulturwissenschaft‹ versteht.
71
72
Vgl. Max Weber, Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und
sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 175.
Max Weber, ›Vorbemerkung‹ zu: Gesammelte
Religionssoziologie. Bd. 1, a. a. O., S. 14.
Aufsätze
zur
44
Recht als Kultur.
(3) Max Weber hat ›Kultur‹ nicht zu den definitionswürdigen oder zu
einer solchen fähigen Begriffen der verschiedenen Kategorienlehren
gerechnet. Weder in dem Logos-Aufsatz noch in der hieran
anschließenden
soziologischen
Kategorienlehre
von
Webers
Grundrißbeitrag noch in den Grundkategorien des Wirtschaftens oder
in den Aufsätzen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen wird
›Kultur‹ als soziologischer Begriff definiert.73
Der Kulturbegriff gehört auch nicht, wie der Handlungsbegriff selbst,
zu den juristischen Grundausdrücken74, denen nur noch ein
soziologischer
Begriff
›unterzuschieben‹
wäre.
Daher
ist
es
notwendig, sich die Weberschen Verwendungsweisen von ›Kultur‹ zu
vergegenwärtigen.
In dem Vortrag über die sozialen Hintergründe des Untergangs der
antiken Kultur fragt Weber in Abwandlung des Wagnerschen Bildes
der Götterdämmerung: »Woher jene Kulturdämmerung in der antiken
Welt?«75 Und Webers Antwort liegt
im Hinweis auf die
»Eigentümlichkeiten der sozialen Struktur der antiken Gesellschaft«,
wodurch »der Kreislauf der antiken Kulturentwicklung bestimmt
wurde«.76 In Webers Analyse sind es die Eigengesetzlichkeiten der
›Sklavenkultur‹, die zu dem Schauspiel der »Selbstauflösung einer
alten Kultur«77 geführt haben, deren Ergebnis einer verkehrslosen
Wirtschaft Weber im anschaulichen Bild der ›Kulturdämmerung‹
evoziert: »Versunken ist mit dem Verkehr die Marmorpracht der
antiken Städte und damit alles das, was von geistigen Gütern auf ihnen
73
74
75
76
77
Vgl. in diesem Sinne auch: Lawrence A. Scaff, Max Webers Begriff der
Kultur, in: Gerhard Wagner und Heinz Zipprian (Hrsg.), Max Webers
Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main 1994,
S. 678-699.
Auch wenn wiederum Radbruch in der Diskussion um den
Kulturbegriff eine wichtige Position einnahm; vgl. Über den Begriff der
Kultur, in: Logos 2, 1911/1912, S. 200-207.
Max Weber, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur,
in: Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,
Tübingen 1924, S. 289-311 (S. 290).
Ebd., S. 291.
Ebd.
45
Werner Gephart
ruhte: Kunst und Literatur, die Wissenschaft und die feinen Formen
des antiken Verkehrsrechts.«78
Mit der antiken ›Kultur‹ ist hier somit ein Syndrom an objektiven
Kulturerscheinungen gemeint, die von den ökonomischen und
sozialen Strukturen bis zu Kunst, Literatur, Wissenschaft und Recht
reichen. In diesem Verständnis von antiker Kultur hat die – wie man
im Anschluß an Simmel79 formulieren könnte – ›subjektive‹ Kultur
noch keinen hervorgehobenen Platz.
Dies aber tritt in der ›Protestantismusstudie‹ deutlich hervor. Ihr
Gegenstand ist die Deutung der ›kapitalistischen Kultur‹, bzw. der
›Geist‹ des Kapitalismus.
Dieser
ist
bekanntlich
zur
Kennzeichnung
des
›historischen
Individuums‹ eingesetzt, dessen spezifische Eigenart sich aus dem
Gang der Untersuchung ergeben soll, die den religiösen Einflüssen bei
der »qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ›Geistes‹
über die Welt hin mitbeteiligt gewesen sind und welche« – so heißt es
weiter – »konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden
Kultur auf sie zurückgehen.«80 Das Bindeglied zwischen religiösen
Ideen, oder wenn man will ›religiöser Kultur‹ und dem, was Weber
verschiedentlich ›materielle‹ Kultur nennt, liegt in der spezifischen
Art der vom Protestantismus geprägten ›Lebensführung‹. Die Art der
›Lebensführung‹ der kapitalistischen Kultur ist der formale Modus
systematischer, methodisch-rationaler Lebensgestaltung, mit dessen
Hilfe eine Zurechnung von religiösen Motiven und Ideen zu den – wie
Weber ausdrücklich formuliert – ›modernen Kulturinhalten‹81 möglich
wird. Kapitalismus, als kulturelles Phänomen betrachtet, wird in
objektiven
Kulturerscheinungen
sichtbar
und
von
einer
die
Lebensbereiche formenden und durchdringenden Art der formalen,
methodisch-rationalen
78
79
80
81
Lebensführung
geprägt,
zu
deren
Ebd., S. 309 f.
Vgl. insbes. den nur wenig bekannten Artikel Simmels: Persönliche und
sachliche Kultur, in: Neue deutsche Rundschau. Freie Bühne 11, 1902,
S. 700-712.
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus,
in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd.1, a. a. O., S. 83.
Ebd.
46
Recht als Kultur.
handlungsförmig erzeugten Kulturinhalten dann der ursprünglich
religiöse Kulturinhalt zuzurechnen ist.
Dies ist die kulturwissenschaftliche Logik der Protestantismusstudie,
die mit dem ›Geist‹ des Kapitalismus die sinnhaften Ideen und Werte
der ›kapitalistischen Kultur‹ bezeichnet, die von einer bestimmten Art
der Lebensführung reproduziert werden und hierbei objektive
Kulturerscheinungen hervorbringen, die Webers Auffassung nach
eben nur dieser Kultur eigen seien.
So lautet dann die erweiterte Fragestellung der vergleichenden Studien
zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen: »Welche Verkettung von
Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des
Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch
–
wie
wenigstens
wir
uns
gern
vorstellen
–
in
einer
Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit
lagen?«82
Das in den verschiedenen Kultursphären wiederkehrende Muster ist
eine spezifische Art des Rationalismus, d. h. einer spezifischen
eigengesetzlich
gestalteten
Struktur der jeweiligen objektiven
Kultursphäre und eines dieser Rationalität korrespondierenden
rationalen Lebensführungsethos.
Damit scheint auch der Kulturbegriff vom Verdacht einer auf den
Okzident zentrierten Weltsicht eingeholt zu sein, auch wenn Weber
anderen Zivilisationen die ›Kultur‹ nicht absprechen will. Ist Weber
also ein blinder Vertreter des Okzidentalismus? Und bleibt nicht im
Begriff der ›Kultur‹ auch in seiner allgemeinsten Formulierung nicht
ein
Stück
weit
das
Ergebnis
der
vergleichenden
religionssoziologischen Studien vorweggenommen, daß es eben eines
bestimmten aktivistischen Weltverhältnisses bedarf, um nicht nur
kontemplatives Erleben der Kultur, sondern ihre aktivistische
Gestaltung durch Stellungnahme und aktive Sinnerzeugung ihrer
Akteure zu postulieren?
Damit schließt sich der Kreis vom ›materialen‹ über den ›formalen‹,
zum objektbezogenen Begriff der modernen Kultur. Wenn in den
82
Max Weber, ›Vorbemerkung‹ zu: Gesammelte
Religionssoziologie, Bd. 1, a. a. O., S. 1.
Aufsätze
zur
47
Werner Gephart
Begriff der Kultur transzendentale Voraussetzungen eingebaut sind,
die eine Sinnverwandtschaft mit der religiösen Grundfrage aufweisen,
dann legen die kulturvergleichenden Studien Webers dar, daß dieser
materiale, vermeintlich vor jeder Erfahrung liegende Begriff von
›Kultur‹ mit dem spezifischen Ethos der okzidentalen Kultur
aufgefüllt ist, jedenfalls so, wie Weber sie uns vorgestellt hat. Und
auch der vermeintlich ›formale‹ Kulturbegriff einer als ›stumm‹
entgegengesetzten
Voraussetzungen
›Natur‹
nicht
kann
verleugnen,
seine
die
eigenen
nur
der
kulturellen
Poesie
ein
›Belauschen‹ und ›Verstehen‹ der Natur zubilligt.
Da
zu
diesen
von
Weber
besonders
hervorgehobenen
›Kulturerscheinungen‹ auch das rationale Recht zählt, läßt sich aus der
Sicht der religionssoziologischen Studien die Richtung einer Analyse
von Recht als kulturelle Erscheinung präzisieren: inwieweit nämlich
auch die spezifischen Kulturinhalte des Rechts einer spezifischen
religiösen Ethik zuzurechnen sei, die über eine Art der Lebenspraxis
habituell vermittelt sei. Die kulturwissenschaftliche Fragestellung zum
Recht hätte also das Recht als Sphäre der okzidentalen Kultur und
ihrer eigengesetzlichen Entwicklung zu ergründen.
***
2.
Recht als Kultur: Eine kultursoziologische Lektüre der
sog. Rechtssoziologie
Daß Max Weber seinen – wie immer zu bestimmenden und zu
bewertenden Grundrißbeitrag – nicht als einen Beitrag zur
Soziologie der Kulturinhalte verstanden hat, geht aus einem
Schreiben an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913 hervor, in
dem Weber auf drängende Fragen des Verlegers den Stand
seiner Arbeiten darlegt. Danach hat Weber zu diesem Zeitpunkt
eine »geschlossene soziologische Theorie und Darstellung
ausgearbeitet, welche alle großen Gemeinschaftsformen zur
Wirtschaft in Beziehung setzt: von der Familie und
Hausgemeinschaft zum ›Betrieb‹, zur Sippe, zur ethnischen
Gemeinschaft, zur Religion (alle großen Religionen der Erde
umfassend: Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen
Ethiken, – was Troeltsch gemacht hat, jetzt für alle Religionen,
48
Recht als Kultur.
nur wesentlich knapper) endlich eine umfassende soziologische
Staats- und Herrschafts-Lehre.«83
In dieser Aufführung ist wohlgemerkt von einer
›Rechtssoziologie‹ keine Rede, nachdem im ersten
›Stoffverteilungsplan‹ einmal ›Wirtschaft und Recht (1.
prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des
heutigen Zustands)‹ figuriert hatten. Freilich sind beide Titel für
die erste Kompositionsidee der uns überlieferten Manuskripte
auch sehr treffend formuliert.84 Mag Weber auch in dem
genannten Brief davon ausgegangen seien, daß diese
Manuskriptteile in der ›soziologischen Staats- und
Herrschaftslehre‹ aufgegangen seien – was nicht einmal so fern
liegt – so trifft Webers Abtrennung einer ›Soziologie der
Kulturinhalte‹ dieser Unternehmung gegenüber jedenfalls auch
auf die uns überkommene ›Rechtssoziologie‹ zu, wenn Weber in
einer Ergänzung hinzufügt: »Später hoffe ich Ihnen dann einmal
eine Soziologie der Cultur-Inhalte (Kunst, Literatur,
Weltanschauung) zu leisten, außerhalb dieses Werkes oder als
selbständigen Ergänzungsband.«85 Recht ist hierbei nicht
genannt. Im Umkehrschluß müßte ›Recht‹ dann ja nur als
›Cultur-Form‹ zugänglich sein und eine Lektüre der sog.
›Rechtssoziologie‹ scheint diese Deutung zu bestätigen.
3.
Recht als ›Cultur-Form‹
Freilich hatte Max Weber noch in dem Stammler-Aufsatz, der
nicht nur für die Entwicklung seiner methodologischen
Auffassung, sondern insbesondere für seinen Begriff des Rechts
grundlegend ist, ausgeführt, »daß es sinnlos ist, die Beziehung
der Rechtsregel zum ›sozialen Leben‹ derart zu fassen, daß das
83
84
85
Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913 (a. a. O.,
S. 449 f.).
Zum Wandel der Kompositionsidee und dem materiellen Niederschlag
in der Struktur des Manuskriptes vgl. ausführlicher – noch vor dem
erscheinen des Rechtsbandes (MWG I/22-3) – meinen Beitrag: Das
Collagenwerk, in: Rechtsgeschichte 3, 2003, Zeitschrift des MaxPlanck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, S. 111-127.
Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913 (a. a. O.,
S. 450).
49
Werner Gephart
Recht als die – oder eine – ›Form‹ des ›sozialen Lebens‹
aufgefaßt werden könnte.«86 Diese Formel Stammlers, übrigens
mit Durkheims Lehre vom Recht als strukturierender Struktur
des sozialen Lebens verwandt87, hält Weber für eine maßlose
Überschätzung der rechtlichen Geordnetheit des Handelns und
der kausalen Tragweite der empirischen Rechtsordnungen für
die – wie Weber im Stammler-Aufsatz ausführt:
›Kulturtatsachen‹. Nicht ohne Ironie kennzeichnet Weber ein
solches ›panjuristisches Weltbild‹: »Der Fachjurist freilich ist
begreiflicherweise geneigt, den Kulturmenschen im allgemeinen
als potentiellen Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn,
wie etwa der Schuster ihn als potentiellen Schuhkäufer und der
Skatspieler ihn als potentiellen ›dritten Mann‹ ansieht.«88
Was aber läßt sich in Webers ›Rechtssoziologie‹ gleichwohl
unter diesen ›schillernden‹ Begriff des ›Formalen‹ subsumieren?
Zunächst sind allein die Überschriften der acht Paragraphen der
Rechtssoziologie mit Formbegriffen gespickt. In §1 geht es um
die ›formale‹ Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht,
im zweiten Paragraphen um die ›Formen‹ der Begründung
subjektiver Rechte (also nicht ihre Rechtsinhalte), während der
ursprünglich ›Normcharakter des Rechts‹ betitelte dritte
Paragraph in der ›Formcharakter des objektiven Rechts‹
umgetauft wurde. Im fünften Paragraphen wird die formale
Rationalisierung des Rechts und schließlich im siebenten die
›formalen Qualitäten des revolutionär geschaffenen Rechts‹,
ursprünglich gar als ›Formale Struktur‹ tituliert, abgehandelt
und nicht etwa deren für das Gerechtigkeitsempfinden
revolutionäre ›Rechtsinhalte‹ und im letzten Paragraphen
86
87
88
Max Weber, R. Stammlers ›Überwindung‹ der materialistischen
Geschichtsauffassung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik 24, 1907, S. 94-151, abgedr. in: Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 291-359.
Stammler sind gerade die Durkheimschen ›Regeln der soziologischen
Methode‹ wohl vertraut, vgl. Wirtschaft und Recht nach der
materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische
Untersuchung, 2. Aufl., Leipzig 1906, S. 645, Fn. 64.
Ebd., S. 352.
50
Recht als Kultur.
werden schließlich nochmals die ›formalen Qualitäten der
modernen Rechts‹ resümiert.
Nun besteht die Pointe der Weberschen Analyse des Rechts
gerade darin, diese formalen Eigenschaften des okzidentalen
Rechts als den kulturspezifischen Inhalt der Rationalität des
modernen Rechts zu verstehen. Und diese eben formale
Rationalität des Rechts ist der Bezugspunkt einer komparativen
Entwicklungsgeschichte des Rechts, und zwar vorwiegend des –
wie Weber unter der Maßgabe des Projekts ›Wirtschaft und
Recht (1. prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung
des heutigen Zustands)‹ betont – ›ökonomisch relevanten
Rechts‹ des Anti-Stammler.
Entgegen einer universalen Kulturgeschichte des Rechts, wie
Kohler sie anvisiert, der eine jede Rechtskultur in ihrer Eigenart
analysieren möchte, um hieraus das allgemein Menschliche zu
destillieren, ist Webers Blick hochselektiv. So ist in der
›Vorbemerkung‹ zu den gesammelten Aufsätzen zur
Religionssoziologie zu lesen: »Die Aufsätze wollen also nicht
etwa als – sei es noch so gedrängte – umfassende
Kulturanalysen gelten.«89 Ganz ebenso ist die Rechtsanalyse
nicht als Aneignung und Darstellung der kulturellen
Rechtsvielfalt und ihrer eventuellen anthropologischen
Konstanten angelegt. Sondern es wird – über die Beziehung von
›Wirtschaft und Recht‹ in ihrer prinzipiellen Beziehung und den
›Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands‹ hinaus –
danach gefragt, wie es zur Ausbildung einer ganz spezifischen
und bestimmten Rechtskultur, nämlich einer spezifisch
rationalen Rechtskultur gekommen ist. Insofern ist die Logik
kulturvergleichender Analysen des Rechts mit den
religionssoziologischen Arbeiten durchaus verwandt.
Während der ›Geist des Kapitalismus‹ aus dem Verlauf der
materialen Studien der Protestantismusstudie hervorgehen soll,
zieht Weber ›Maß und Art der Rationalität des Rechts‹ den
materialen Untersuchungen, am Ende des ersten Paragraphen
89
Max Weber, ›Vorbemerkung‹ zu: Gesammelte
Religionssoziologie, Bd. 1, a. a. O., S. 3.
Aufsätze
zur
51
Werner Gephart
vorweg. Weber spannt danach einen Möglichkeitsraum der
denkbaren Richtung rechtlicher Rationalisierung auf, der sich im
Spannungsfeld
der
zwei
Grundoperationen
von
Rechtsschöpfung und Rechtsfindung ergibt, nämlich einmal die
Pole von Generalisierung vs. Konkretisierung sowie die
gegenläufigen Operationen von Systematisierung und Analytik.
Diese unterschiedlichen Richtungen der Rationalisierung des
Rechts aber, das – vereinfacht gesprochen – einmal das
Falldenken, zum anderen das Systemdenken prämiert (also
anschauliche Tatbestände gegen juristisch konstruktiven
Geist)90, sind Webers Auffassung nach in der gemeinrechtlichen
Jurisprudenz jeweils bis zum äußersten Rationalitätspol
vorangetrieben.
Dieses ist also der komparative Maßstab unter dem diverse
Rechtskulturen vor der Vergleichsfolie eines Idealtypus formalrationalen Rechts als Typen des Rechtsdenkens betrachtet
werden. Diese jeweils unterschiedlich akzentuierten rationalen
Formen des Rechtsdenkens stehen den von Weber als
›irrational‹ bezeichneten entgegen, die sich mit der dualen
Differenzierung formal und material überschneiden. Damit
entsteht
ein
komplexes
Klassifikationsschema
der
›Rechtskulturen‹.
90
Vgl.
die ausführliche Darlegung bei Werner Gephart,
Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs
der Moderne, a. a. O.
52
Recht als Kultur.
Schaubild: Klassifikationsschema der ›Rechtskulturen‹
irrational
formal
orakelhafte und religiöse
rational
Systematisierung
Generalisierung
prophetische Rechtsfindung
Konkretisierung
material
Analytik
einzelfallorientierte
überpositive Dignität material
Wertung
potentiell-ethische Maxime
Webers Fragestellung, die ihn in der späten Überarbeitung
seines
nachgelassenen
Manuskripts
über
die
Entwicklungsbedingungen des Rechts bewegt, läßt sich danach
deutlicher fassen. Sie wird am Ende des dritten Paragraphen in
der letzten Schicht der handschriftlich eingefügten
Überarbeitung dahin formuliert: »Uns gehen hier speziell die
Wege und Schicksale der Rationalisierung des Rechts, der
Entwicklung seiner heutigen spezifisch ›juristischen‹ Qualitäten
also, an.«91
Daß ein Recht dabei in verschiedenen ›Richtungen‹ rationalisiert
werden kann, trifft sich mit der kulturvergleichenden Formel,
die Weber für seine Betrachtung der rationalen Kultur des
Okzidents
einsetzt,
nämlich,
daß
es
für
den
kulturgeschichtlichen Unterschied der Kulturkreise entscheidend
ist »welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert
wurden.«92
Für die Entwicklung zur okzidentalen ›Rechtskultur‹ setzt
Weber dabei bekanntlich auf die endogenen Faktoren eine
Rechtskultur mehr als auf die exogenen Bedingungen: »Die
Richtung, in welcher diese formalen Qualitäten sich entwickeln,
ist aber bedingt direkt durch sozusagen ›innerjuristische‹
Verhältnisse: die Eigenart der Personenkreise, welche auf die
91
92
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 455.
Max Weber, ›Vorbemerkung‹ zu: Gesammelte
Religionssoziologie, Bd., a. a. O., S. 12.
Aufsätze
zur
53
Werner Gephart
Art der Rechtsgestaltung berufsmäßig Einfluß zu nehmen in der
Lage sind, und erst indirekt durch die allgemeinen
ökonomischen und sozialen Bedingungen.«93 Weber folgt also,
bzw. er unterstellt eine Eigendynamik und eben
Eigengesetzlichkeit der rechtskulturellen Entwicklung, die
weder auf ökonomische, noch auf politische oder soziale Gründe
zu reduzieren ist, sondern einer Eigensinnigkeit und
Eigenrationalität des Rechts als einer relativ autonomen
Kulturform entspricht.
Wie nunmehr z. B. Anwaltsschulung und Universitätslehre ganz
unterschiedlichen Affinitäten zu einem der genannten
Rationalitätspole aufweisen und Rechtshonoratioren wiederum
anderen Rationalitätsformen nahestehen, gehört in die historisch
komparative Detailargumentation.94 Hier bedient sich Weber
übrigens ganz selbstverständlich in der zeitgenössischen
Literatur. Immer aber bleibt der komparative Gesichtspunkt
gewahrt und originär verarbeitet, die hemmenden und
fördernden
Momente
der
okzidentalen
Rechtskultur
herauszustellen, die zumindest in die großen Lager der
Rechtskultur des Common Law und des in sich diversifizierten
und über die Rezeption des römischen Rechts miteinander
verknüpften kontinentalen Rechtskultur zerfällt.
Für die innerjuristischen Qualitäten des Rechts und ihre in
diesem Sinne rechtskulturelle Dignität sind also innerjuristische
Verhältnisse ausschlaggebend, welche die formalen Qualitäten
des modernen Rechts befördern. Aber inwiefern sind gerade die
›formalen‹ Qualitäten des modernen Rechts ausschlaggebend,
oder um die Logik kulturwissenschaftlicher Objektbestimmung
aufzugreifen:
Worin liegt die Kulturbedeutung des modernen, okzidentalen,
formal-rationalen Rechts?
93
94
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 456.
Vgl. einmal die Deutungen in: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie
und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O.,
sowie demnächst die Erläuterungen im Band ›Recht‹ (MWG I/22-3).
54
Recht als Kultur.
4.
Zur ›Kulturbedeutung‹ der modernen, okzidentalen
Rechtsinhalte
Hat man Webers vergleichende religionssoziologische Studien
vor Augen, so läge es nahe, neben den sog. innerjuristischen
Eigengesetzlichkeiten rechtlicher Rationalisierung vor allem
Webers Analysen über das Verhältnis von ›Religiöse Ethik und
Welt‹ auf die Analyse von Recht angewendet zu sehen.
Freilich ist dies in der sog. ›Rechtssoziologie‹ eben nicht
geschehen. Eine systematische Analyse über den in Webers
Logik naheliegenden Zusammenhang von ›Religiöser Ethik und
juristischem
Rationalismus‹
wird
man
in
Webers
nachgelassenem Manuskript vergeblich suchen. Zwar wird in
der Überarbeitung des Typoskripts das chinesische Recht, bzw.
Webers Bild dieser Rechtskultur sukzessive eingearbeitet. Dort
geht es jedoch um den politischen Konflikt zwischen
theokratischen und säkularen Gewalten, der in Indien, China,
dem Islam und dem Judentum jeweils anders gelagert ist,95 ohne
jedoch eine Freisetzung juristischer Rationalität zu befördern,
obwohl etwa – wie im Islam – durchaus juristische Spezialisten
als Rechtswahrer fungieren. Das römische Recht ist hingegen
trotz der gerade von Theodor Mommsen gezeigten Bedeutung
der rituellen Pflichten für das Alltagsleben dadurch für eine
rechtliche Rationalisierung offen, weil die priesterliche der
profanen Gewalt unterworfen wurde. Nicht also die
Verknüpfung von religiösem und rechtlichem Kulturinhalt
interessiert Weber hier, sondern die Kongruenz der sozialen
Konkurrenz zweier Lebensmächte für die Entwicklung des
Rechts.
Auch wenn Weber in den zitierten Eingangsbemerkungen zu
den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie bestreitet,
eine »sei es auch noch so gedrängte – umfassende
Kulturanalyse« zu liefern, so ist gerade der Anteil der
Bemerkungen zum Recht in den vergleichenden Studien zur
95
Vgl. auch die Deutung in: Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und
Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., S.
419-587.
55
Werner Gephart
Religionssoziologie
nicht
unbedeutend,
für
unsere
Überlegungen also ergänzend heranzuziehen und zum Teil auch
im Widerspruch zu den Ausführungen der sog.
›Rechtssoziologie‹ zu sehen.
So ist z. B. in der Chinastudie Webers die entscheidende Frage
auf die Eigenart des Rechts bezogen, nämlich: »Warum blieb
diese Verwaltung und Justiz so irrational?«96 – trotz ihres
bürokratischen Unterbaus, der einer Rationalisierung hätte
förderlich sein können.
Es zeigt sich also, daß die Frage nach dem Recht als einer
Kulturerscheinung nicht auf die ›rechtssoziologischen‹ Studien
im engeren Sinne beschränkt ist, sondern – etwa in der
Chinastudie – einen m. E. nach bislang unterschätzten zentralen
Platz einnimmt. Webers Antwort auf die Frage nach den
Gründen der Irrationalität des chinesischen Rechts sprengt die
Logik rein innerjuristischer Rationalisierungsvorgänge. Denn es
ist die religiöse Ethik des Konfuzianismus in Verbindung mit
Eigentümlichkeiten der chinesischen Sozialstruktur, die es
verhinderten, daß sich einerseits ein fachlich berufsmäßiger
Juristenstand als Träger der Rationalisierung anstelle der
herrschenden Literatenschicht hat herausbilden können; zum
anderen blieb die praktische Sozialethik dem Muster organischer
Pietätsbeziehungen verhaftet, wie sie in den fünf natürlichen
Pflichtenkreisen des Konfuzianismus festgelegt waren. Aus
diesen organischen Sozialbeziehungen aber konnte eine
unpersönliche Geschäfts- und Rechtsethik nicht hervorgehen,
wie eben jede »Verpflichtung gegenüber ›sachlichen‹
Gemeinschaften«97 undenkbar ist.
In der ursprünglichen, auf die Beziehung von ›Wirtschaft und
Recht‹ zielenden Anlage der ›Rechtssoziologie‹ fehlt der Bezug
auf das indische Recht gänzlich, während in der Überarbeitung –
mit der Fragestellung des okzidentalen Rationalismus – auch das
indische Recht Einzug hält! In der Indienstudie durchdringen
96
97
Max Weber, Konfuzianismus und Taoismus, in: Gesammelte Aufsätze
zur Religionssoziologie, Bd. 1, a. a. O., S. 394.
Ebd., S. 494.
56
Recht als Kultur.
sich verschiedene Ebenen von religiöser Ethik, praktischer
Lebensführung, spezifischer Trägerschichten und einer rigiden
Sozialstruktur, die eine Rationalisierung des Rechts im Sinne
der Entfaltung innerjuristischer Qualitäten blockiert haben. So
ist die rationalste Lösung des Theodizeeproblems in der
Karmanlehre durchaus mit einem – wie Durkheim es nennt –
Polymorphismus der ständisch regulierten Moralen vereinbar.
Weder für eine übergeordnete normative Ordnung noch für
irgendeine, die diversen Berufskreise durchbrechende,
universalistische Tendenz blieb Raum. Als Prototyp ›heiligen‹
Rechts fehlt eine Chance, die Macht der Tradition98 zu
durchbrechen oder eine innere und äußere Rechtseinheit
herzustellen, wenn nur mit der Geltung des heiligen Rechts
Ernst gemacht wurde99. Die Brahmanenintellektualität100 blieb
andererseits in der rituellen Reglementierung des Alltagslebens
gebunden, ohne in Verbindung mit der Existenz eines rationalen
Staates, der Rechtsgarantien hätte übernehmen können, eine
systematische Rechtsbildung unter Verwendung juristischer
Kategorien und Konstruktionen anzubieten. Denn wie Weber
plastisch formuliert: »Indische Rechtsbücher sind wesentlich
›systematischer‹ als etwa der Sachsenspiegel. Aber die
Systematik ist keine juristische, sondern eine solche nach
Ständen oder nach praktischen Lebensproblemen. Denn diese
Rechtsbücher sind, da ihnen das Recht im Dienst heiliger
Zwecke steht, Kompendien nicht nur des Rechts, sondern
zugleich auch des Rituals, der Ethik und unter Umständen der
gesellschaftlichen
Konvention
und
Höflichkeitslehre.
Kasuistische und deshalb unanschauliche und unkonkrete, dabei
aber doch weitgehend juristisch unformale und nur relativ
rational systematisierte Behandlung des Rechtsstoffs ist die
normale Folge.«101
98
99
100
101
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 459.
Vgl. ebd., S. 476.
Deren übermächtige Stellung wird auch in der Rechtssoziologie
hervorgehoben (vgl. ebd., S. 438).
Ebd., S. 461.
57
Werner Gephart
Demgegenüber hätte die religiöse Ethik des Islams als einer
Verbindung von Weltanpassung und Welteroberung einer
juristischen Rationalisierung förderlich sein können und auch
die
Existenz
eines
eigenen
Juristenstandes
mit
institutionalisierten Rechtsschulen hätte eine rechtliche
Rationalisierung positiv beeinflussen können, nur stehen hier die
religiös bedingten Kulturinhalte – nämlich die Beschränkung der
personalen Geltung – einer Universalisierung des Rechts
entgegen. Auch hier gelten die Schranken ›heiligen‹ Rechts:
»Der Islam kennt der Theorie nach so gut wie kein Gebiet des
Rechtslebens, auf welchem nicht Ansprüche heiliger Normen
der Entwicklung profanen Rechts den Weg versperrten. Der
Tatsache nach haben umfassende Rezeptionen hellenischen und
römischen Rechts stattgefunden.«102 Zudem läuft das radikale
Interpretationsverbot einer »systematischen Rechtsschöpfung
zum Zweck der inneren und äußeren Vereinheitlichung des
Rechts«103 zuwider. Damit ist sowohl die ›Veränderbarkeit‹ des
Rechts,
ihre
personale
Universalisierung
wie
die
Systematisierbarkeit in erheblicher Weise beschränkt. Auch in
der Analyse des Islams greifen also innerjuristische Momente
mit solchen der religiösen Ethik und der hiermit verwandten
Lebensführung ineinander.104
Betrachtet man Webers Studie zum antiken Judentum unter dem
Blickwinkel einer vergleichenden Kultursoziologie des Rechts,
so wird der Anteil der dem Recht gewidmeten Analysen
unübersehbar: Webers Studien zum antiken Judentum sind nicht
nur der religionsgeschichtlichen Frage gewidmet, warum aus der
jüdischen Religion der entscheidende Impuls zur Entstehung des
rationalistischen Geistes nicht hervorging, sondern sie sind
102
103
104
Ebd., S. 448. Dies wird sowohl bei Webers Gewährsmann für Fragen
des Islam, Ignaz Goldziher, (Vorlesungen über den Islam, Heidelberg
1910, S. 3, 48) als auch bei Josef Klohler (Recht der arabischen Völker,
S. 96 f., S. 111) betont.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 475.
Wie differenziert Webers Bild des islamischen Rechts aussieht, ist in
der Kommentierung des Rechtsbandes detailliert dargelegt (vgl.
demnächst: MWG I/22-3)
58
Recht als Kultur.
ebenso als rechtshistorische und kultursoziologische Studie105 zu
lesen, warum die Ansätze zu einer rationalen Entwicklung des
Rechts so schwach blieben, obwohl der einzigartige Charakter
der jüdischen Religion gerade darin besteht, daß die Betrachtung
der Gesetze nicht nur oberstes Rechtsgebot, sondern allererste
religiöse Pflicht ist.106
Der Beitrag des Christentums zur Rationalisierung des Rechts
wird hingegen außerordentlich hoch veranschlagt. In den
Traditionen der antiken Philosophen und des römischen Rechts
entstand ein eigenes, rational geschaffenes Kirchenrecht: »In
ungleich stärkerem Maße als irgendeine andere religiöse
Gemeinschaft hat ... die okzidentale Kirche den Weg der
Rechtsschöpfung durch rationale Satzung beschritten.«107
Hierfür war einmal der Anstaltscharakter der Kirche selbst
verantwortlich und ihre bürokratische Struktur, die eine
besondere Nähe zum rationalen Recht aufweist. Es kamen aber
Gründe der christlichen Ethik hinzu, die den zu wahrenden
Bestand an ethischen Normen auf ein Minimum begrenzte, was
Weber auf die im Unterschied zum Judentum bestehende
›eschatologische
Weltabgewandtheit‹
zurückführt.
Die
normative Unterbestimmtheit der Alltagsethik schafft somit, in
der christlichen Ethik, auch Entwicklungsräume für die
Entfaltung neuer Normen.
Aus diesen Sonderumständen wird für Weber das kanonische
Recht zum Führer zur Rationalität des profanen Rechts. Die
»Kirchen« sind die ersten ›Anstalten‹ im Rechtssinn. Im
Prozeßrecht schließlich wird die Verhandlungsmaxime vor dem
Hintergrund der religiösen Vorstellung objektiver Wahrheit
105
106
107
Vgl. nunmehr die hervorragende Arbeit von Eckart Otto, Max Webers
Studien des antiken Judentums. Historische Grundlegung einer Theorie
der Moderne, Tübingen 2002.
Vgl. über das Zusammenspiel der ›Rechtssoziologie‹ und der
religionsvergleichenden Studie ›Das antike Judentum‹, Werner
Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen
Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 555-563.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 480.
59
Werner Gephart
ersetzt.108 Nicht zuletzt stammt der für Webers eigene Theorie
der Herrschaft so zentrale Begriff des Charisma nicht aus dem
religiösen Sprachgebrauch, sondern aus der juristischen
Terminologie des Kirchenrechts.109
Webers Auskunft über die Bedeutung der protestantischen Ethik
für die Entwicklung rationalen Rechts bleibt in der
›Rechtssoziologie‹ eigentümlich blaß. Es ist nur der fiktive
Endpunkt einer Entwicklung des Rechts, der selbst nicht mehr
ausgezeichnet wird. Nur die Trägerschicht ist klar umrissen: »...
so pflegen die bürgerlichen Schichten im allgemeinen am
stärksten an rationaler Rechtspraxis, und dadurch auch an einem
systematisierten, eindeutigen, zweckrational geschaffenen
formalen
Recht
interessiert
zu
sein,
welches
Traditionsgebundenheit und Willkür gleichermaßen ausschließt
und also subjektives Recht nur aus objektiven Normen
hervorgehen läßt.«110 Wo aber finden sich Beispiele für dieses
im spezifischen Sinne ›bürgerliche‹ Recht: »Die englischen
Puritaner haben ein solches systematisch kodifiziertes Recht
ebenso wie die römischen Plebejer und das deutsche Bürgertum
des 19. Jahrhunderts verlangt.«111
Daß Weber diesen Gedanken über den möglichen
Zusammenhang von puritanischer Ethik und Rechtsentwicklung
nicht weiter ausführt, ist angesichts der offenkundig schwierigen
Beweisführung nicht weiter verwunderlich. Man könnte diesen
Tatbestand mit weitreichenden Folgen gegen die Gültigkeit der
Protestantismusthese selbst anführen, obwohl Weber selbst die
Reduzierung des sozialen Lebens auf ›eine Formel‹ lieber den
Dilettanten überlassen möchte. So schreibt Weber zum Ende der
Protestantismusthese: »Es wäre ein Leichtes gewesen, darüber
hinaus zu einer förmlichen ›Konstruktion‹, die alles an der
108
109
110
111
Vgl. ebd., S. 481.
Zur Rechtsvorstellung im Christentum vgl. im übrigen J. Duncan, M.
Derett, Recht und Religion im neuen Testament, in: Max Webers Sicht
des antiken Christentums, hrsg. von Wolfgang Schluchter, Frankfurt am
Main 1985, S. 317-362.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 472.
Ebd.
60
Recht als Kultur.
modernen Kultur ›Charakteristische‹ aus dem protestantischen
Rationalismus logisch deduzierte, fortzuschreiten.«112
Dies macht nochmals die Eigenart der Weberschen Analyse von
Recht als eines kulturellen Phänomens deutlich:
Weder aus religiösen Ideen alleine sind andere Kulturinhalte
ableitbar, die ihrerseits ja gerade wie die rechtlichen auf die Art
der Konstruktion der Gottesbeziehung etwa zurückwirken
können, noch die Macht der Interessen allein bestimmen die
Qualitäten des Rechts so, als würde ›Recht‹ einseitig durch
›Wirtschaft‹ bestimmt. Auch die kausalen Determinanten der
sozialen Ordnungen und ihrer institutionellen Gefüge geben die
Richtung der Entwicklungsbedingungen rationalen Rechts nicht
vor, sondern eine Verknüpfung der verschiedenen Sphären von
›Wirtschaft‹, ›Recht‹ und: ›Kultur‹.
Warum Weber aber in der okzidentalen Rechtskultur gerade
deren formale Eigenschaften so hoch einschätzt, dies läßt sich
ablesen an Tendenzen, die Weber in der zeitgenössischen
rechtspolitischen, rechtstheoretischen und rechtssoziologischen
Diskussion beobachtet und die für ihn eine höchste Gefährdung
der Errungenschaften rationaler Rechtskultur darstellen.
5.
Die Gefährdungen der rationalen Rechtskultur:
›Materiale Gerechtigkeit statt formaler Rationalität‹
Manfred Rehbinder hat den Kreis der Weber-Exegeten und z. T.
der wohl auch bedingungslosen Gefolgsleute und Sendboten
dadurch erschreckt, daß seiner ›Rechtssoziologie‹ ein
hoffnungsloses Zurückbleiben hinter der zeitgenössischen
Rechtstheorie und Rechtssoziologie vorgehalten wurde.
Nimmt man den Gewährsmann dieser Einschätzung Rehbinders
zu Hilfe, nämlich den auch von Weber als ›Rechtssoziologen‹
erwähnten Eugen Ehrlich, dann wird das Mißverstehen
nachvollziehbar. So resümiert Ehrlich seine Grundlegung der
Soziologie des Rechts dahin, »der Schwerpunkt der
112
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus,
in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, a. a. O.,
S. 206.
61
Werner Gephart
Rechtsentwicklung liege auch in unserer Zeit, wie zu allen
Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz
oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft
selbst.«113
Von
einem
solchen
rechtssoziologischen
Reduktionismus freilich, setzt sich Weber in doppelter Hinsicht
ab: Einmal werden sowohl ›Gesetzgebung‹, ›Jurisprudenz‹ und
›Rechtsprechung‹ eine eigene Bedeutung für die Entwicklung
einer Rechtskultur zugestanden, während andererseits
Gesellschaft weder auf Klassen- und Interessen reduziert wird,
sondern gerade die eigene Macht religiöser Kulturinhalte in
Konkurrenz zu den rechtlichen tritt und auch als Motor der
juristischen Kulturinhalte betrachtet werden kann.
Noch provozierender mußte einer sich rechtssoziologisch
aufgeklärt wähnenden Jurisprudenz Webers Festhalten am Ideal
einer Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz erscheinen, das
auch
noch
sozialistische
Aufweichungen
einer
Wertungsjurisprudenz schärfstens abwies. Freilich hat sich nicht
nur nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus, sondern
auch nach dem Scheitern des sozialistischen Weltexperiments,
der Sinn für das Formale im Recht und auch die Idee des
ethischen und rechtlichen Universalismus in spürbarer Weise
wiederbelebt. Damit gewinnt der abschließende Paragraph von
Webers Analyse der ›Entwicklungsbedingungen des Rechts‹ –
nach der Formel des Werkplans von 1914 – als vergleichende
Kultursoziologie des Rechts eine neue Aufmerksamkeit.
(1) Zunächst ist der Irrtum auszuräumen, Weber sähe das
moderne Recht – wie dies Parsons vor allem meint – durch
eindeutig universalistische Tendenzen gekennzeichnet. Zwar
liegt das Defizit außerokzidentaler Rechtsordnungen in
partikularistischen Hemmnissen der Rechtsentwicklung
begründet; aber auch innerhalb der okzidentalen Rechtskultur
sind partikularistische Strömungen zu verzeichnen. Webers sehr
viel komplexere Auffassung läßt sich am ehesten dadurch
113
Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, unveränderter
Neudruck d. ersten Aufl. 1913, München/Leipzig 1929, Vorrede.
62
Recht als Kultur.
charakterisieren, daß in Parallele zur Unterscheidung formaler
und materialer Rationalität bzw. Irrationalität Weber zwischen
formalem und materialem Universalismus bzw. formalem und
materialem Partikularismus unterscheidet.
Hiernach weisen etwa die Menschenrechte einen materialen
Anspruch universaler Geltung aus, während das Vertragsrecht –
wie Weber immer wieder betont – eben den nur formell
universal ›freien‹ Kontrakt garantiert. Andererseits gibt es im
modernen
Recht
Tendenzen
der
personalen
Geltungsbeschränkung in dem nur für Kaufleute geltenden
Handelsrecht, das sich als insoweit nur formal partikularistisch
charakterisieren läßt.
Materiale
Beschränkungen
universaler
Rechtsgeltung
im
Professionsrecht oder lokalen Partikularitäten sind im modernen
Staat zurückgetreten ebenso wie die Anknüpfung an den
sozialen Stand im Sinne eines ständisch gebundenen
Partikularismus. Was Weber aber im modernen Recht vor allem
irritiert, ist die antiformale Ausrichtung an klassenorientierter,
vermeintlicher ›materialer Gerechtigkeit‹ statt ›formaler
Rationalität‹, wie es im sozialistischen Rechtsverständnis
gefordert wird.114
(2) Den Kern moderner Rechtskultur sieht Weber von mehreren
Seiten her bedroht: Die an Berechenbarkeit des Rechts
ausgerichteten Interessen, nämlich die Gütermarktinteressenten,
tragen eine eigentümliche gesinnungsethische Komponente in
das
formal-rationale
Recht
hinein,
nämlich
sog.
Vertrauenstatbestände zu juridifizieren, die ihrer persönlichen
Natur nach weniger formal tatbestandlich zu fassen sind. Die
Zunahme der bona-fides-Regeln – man denke auch nur an §157
und §242 BGB – stellt nach Weber eine Aufweichung der
formalen Qualitäten rationalen Rechts dar.
114
Vgl. die ausführliche Diskussion bei Werner Gephart, From
Particularism to Universalism. Particularistic Features in the Normative
Orders of Modern Societies (unveröffentl. Vortrag Krakau 1992).
63
Werner Gephart
Noch prinzipieller aber sind innerjuristische Rationalität und die
Erwartungen der Rechtsinteressen letztlich unvereinbar. Die
vielbeklagte
Lebensfremdheit
der
Begriffsund
Konstruktionsjurisprudenz ist Weber zufolge nicht zufällig,
»sondern in weitem Umfang die unvermeidliche Folge der
Disparatheit logischer Eigengesetzlichkeiten jedes formalen
Rechtsdenkens überhaupt gegenüber den auf ökonomischen
Effekt abzweckenden und auf ökonomisch qualifizierte
Erwartungen abgestellte Vereinbarungen und rechtlich relevante
Handlungen der Interessenten.«115
Dies klingt nach uneingeschränktem Lob der Dogmatik, benennt
aber am Ende nur den tragischen Konflikt zwischen
›Juristenrecht‹ und populärem Rechtsempfinden, bzw.
›Volksrecht‹116. Weber nimmt dabei ja durchaus zur Kenntnis,
daß etwa das Postulat der Lückenhaftigkeit des Rechts als
bloßes Ideal entlarvt wird. Es gehört vielmehr zur
›Entzauberung‹ des Rechts in der Folge des allgemeineren
Prozesses der »sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen
Rationalisierung«117, daß auch das Postulat, der bloß
rechtsatzanwendenden Tätigkeit des Juristen durchschaut wird.
Nur hängt es wieder von der spezifischen innerjuristischen
Interessenslage einer sich rein rechtstheoretisch gerierenden
Kritik ab, in wessen Namen Lücken gefüllt oder wem die
Legitimation der Rechtsschöpfung zugeschrieben wird.
Je ›freier‹ die Rechtsschöpfung wird, um so größer wird der
Bedarf nach neuer Bindung, sei es in einem Rückfall in ein
überpositives Recht oder in der Illusion eines quasi ›natürlichen‹
Rechts des Interessenausgleichs. ›Rechtsprophetie‹ und
›Rechtserkenntnis‹ überpositiver Normen aber würde die
Rechtsentwicklung auf vormoderne Rechtsstufen zurückwerfen.
So verschlingen sich die Idee juristischen Fachmenschentums
mit der These der unauflösbaren Eigengesetzlichkeit rationalen
Rechts. Weber formuliert: »Jedenfalls aber wird die juristische
115
116
117
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 506.
Vgl. Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, Leipzig 1843.
Ebd., S. 509.
64
Recht als Kultur.
Präzision der Arbeit, wie sie sich in den Urteilsgründen
ausspricht, ziemlich stark herabgesetzt werden, wenn
soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements an
die Stelle juristischer Begriffe treten.«118
Analytik und Systembildung, fallbezogene Konkretisierung und
juristisch konstruktive Begriffsbildung bleiben also die
Fluchtpunkte rechtlicher Rationalisierung. Sie liefern von jeher
das Profil der Rechtskritik.119 Weber sieht dabei den Konflikt
zwischen formaler Legalität und materialer Gerechtigkeit als
unvermeidlich an, wenn er von den »Konsequenzen des
unaustragbaren Gegensatzes zwischen formalem und materialem
Prinzip der Rechtspflege«120 spricht. Eigentümlicherweise
versteht es Weber nicht, den Eigenwert formaler
Rechtsstaatlichkeit auf einen normativen Begriff zu bringen.
Und das Unrecht, das im Namen materialer ›Gerechtigkeit‹
gesprochen wird, sei es in der nationalsozialistischer
Mißachtung des Rechts als Limitierung charismatischer –
prinzipiell rechtsfeindlicher – Herrschaft oder aber der
›sozialistischen Gerechtigkeit‹ wird nur dem Risiko formaler
›Irrationalität‹ ausgesetzt, die aber zugleich eine ›materiale‹
darstellt.
Ein solcher Kern okzidentaler Rechtskultur in dem
gekennzeichneten Sinne formaler Rechtsrationalität steht im
Hintergrund von Webers vergleichender Kultursoziologie des
Rechts. Diese Errungenschaft heißt es gegen eine ›soziologische
Rechtswissenschaft‹121 im Sinne Eugen Ehrlichs und seiner
118
119
120
121
Ebd., S. 512.
Zu einem interessanten Versuch, den Begriff des Rechts von der
Stoßrichtung der Rechtskritik herzuleiten vgl. Kurt Seelmann,
Rechtsphilosophie, München 2001.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 512.
Die Rechtswissenschaft werde ihrer Aufgabe nur dann ganz gerecht,
»wenn sie eine Morphologie der menschlichen Gesellschaft gibt, und
die Kräfte, die in der Gesellschaft wirken auf ihr Wesen und ihr Maß
untersucht. So wird die Jurisprudenz zur Rechtswissenschaft, zur Lehre
vom Recht als gesellschaftlicher Erscheinung...« (Eugen Ehrlich,
Soziologie und Jurisprudenz, Czernowitz 1906, S. 19).
65
Werner Gephart
Nachfolger zu verteidigen, die das Problem juristischer
Wertbegründung verkennen, und gegen eine rechtstheoretische
Desillusionierung des Automatenmodells, die anstelle der Idee
der Rechtsanwendung die Illusion von schöpferisch freier
Rechtsfindung122 setzt oder zu traditionaler Rechtsprophetie –
aus durchsichtigen Standesinteressen heraus – zurückkehrt.
Weber ist seinerseits prophetisch in der Voraussage, daß die
zunehmende ›Verrechtlichung‹ – Weber spricht anschaulich von
dem ›an technischem Gehalt ständig anschwellenden‹ Recht –
nicht nur eine zunehmende Unkenntnis für Laien produziere,
sondern gleichzeitig die zunehmende Wertung der formalen
Qualitäten des modernen Rechts »als eines rationalen, daher
jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen
Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats« als sein
»unvermeidliches Schicksal«123 erzeuge.
Diese Prognose läßt sich im übrigen auf Habermas’ Theorie des
Rechts anwenden, die von einer Kolonisierungsthese in ein Lob
der formalen Prinzipien des Rechtsstaates im Gewande einer
prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit umgeschlagen ist. Aber
wie läßt sich das unstillbare Bedürfnis des Laien nach Verstehen
des Rechts befriedigen, das durch die von Weber eher
karikatural als ›Volksjustiz‹ bezeichnete Rechtspflege der
Geschworenen nur unzureichend zu befriedigen ist? Sollten wir
den ungeheuren Aufschwung von TV-Gerichtsserien nur als
Ausdruck von Medienkonkurrenz erklären und als ohnehin
gescheiterten Versuch juristischer Volksaufklärung belächeln
oder verbirgt sich hinter dieser ›anschwellenden‹ Bilderflut zum
Recht etwas viel Ernsteres: die Spannung von formaler und
materialer Rationalisierung als Medienillusion zu überwinden?
Wir werden hierauf zurückkommen.124
Daß Webers Kulturbegriff wertgeladen ist, hatten wir gesehen.
Es nimmt dann nicht wunder, daß dieses letztlich
122
123
124
Zu Webers Auseinandersetzung mit der Freirechtsschule vgl. im Detail
den Band ›Recht‹ (MWG I/22-3).
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 513.
Vgl. hierzu zweiter Teil, viertes Kapitel.
66
Recht als Kultur.
wertgebundene Konzept ›formaler‹ Rechtskultur des Okzidents
für den Export von Civil Society und die Transformation
vormals sozialistischer Gesellschaften an Attraktivität gewinnt.
67
Werner Gephart
DRITTE VORLESUNG
IM REICH DES NORMATIVEN. EMILE DURKHEIMS VISION
DER RECHTLICHEN ORDNUNGEN
»Les divers phénomènes juridiques ne sont pas isolés
les uns des autres; mais il y a entre eux toute sorte de
rapports et ils se composent les uns avec les autres de
manière à former, dans chaque société, un tout, un
ensemble qui a son unité et son individualité. «125
Emile Durkheim gehörte ebenso wie Max Weber zu den
Sozialwissenschaftlern, die der zeitgenössischen Kritik des
Rechts nicht kritiklos anheimfielen.
Henry Lévy-Bruhl hat diese Haltung Durkheims treffend
umschrieben: »...il ne ressentait pas pour les choses juridiques
cette sorte d’horreur sacrée qui saisissait à l’époque, beaucoup
de littéraires et de scientifiques aux abords d’un monde qui leur
paraissait plein de mystère.«126 Und Henry Lévy-Bruhl steigert
sich in seinem Enthusiasmus für die primordiale Bedeutung
rechtlicher Institutionen zu der Behauptung: »Les juristes sont
donc, qu’ils le veuillent ou non des sociologues.«127 Dies klingt
nach Webers Beschwörung des ›unvermeidlichen Schicksals‹
der Soziologie, sich juristischer Ausdrücke bedienen zu müssen,
um ihnen dann einen soziologischen Sinn unterzuschieben. Aber
wo Weber gerade den Unterschied der soziologischen und der
juristischen Betrachtungsweise festhält, erscheint dem Schüler
Durkheims die juristische Fiktionenlehre nichts weiter als eine
125
126
127
Emile Durkheim, Systèmes juridiques, Note, in: L’Année soiologique,
6, 1903, S. 365.
Rede HenryLévy-Bruhls, in: Annales de l’Université de Paris 30, 1960,
S. 40 ff. (S. 41 f.).
Ebd.
68
Recht als Kultur.
Verdrängung des Grundtatbestandes der Durkheimschen
Soziologie: der Annahme einer sozialen Realität sui generis!
Dem standen vor allem zwei Juristen nahe, die beide als
Vertreter des öffentlichen Rechts auf soziologischen Pfaden
wandelten: Maurice Hauriou und Léon Duguit.
(1) Noch bevor Durkheim überhaupt sichtbar in der
soziologischen Welt mit den ›Règles de la méthode
sociologique‹ der ›Division du travail social‹ und dem ›Suicide‹
in Erscheinung tritt, hat Léon Duguit 1889 das Verhältnis von
Verfassungsrecht und Soziologie systematisch behandelt.128
Hier findet man auch die bei Durkheim vermißte Analyse des
Staates129 im Gewande der verfassungsrechtlichen Analyse. Im
anti-metaphysischen Gestus des Positivisten, à la française, legt
Duguit die sciences sociales, das Recht und das
Verfassungsrecht auf gleicher Höhe einer positiven
Wissenschaft an, die Beobachtungswissenschaft ist.130 Für
Duguit ist Soziologie in aller Selbstverständlichkeit die
Wissenschaft von den ›faits sociaux‹.131 Freilich keineswegs als
eine Erfindung seines frisch nach Bordeaux berufenen Kollegen,
Emile Durkheim, sondern als Erbe von Platon, Aristoteles,
Thomas von Aquin, Macchiavelli, Bossuet und Vico, nicht
minder als in der Nachfolge von Comte und Spencer! Versteht
sich Soziologie als induktive, auf die Bestimmung
naturgesetzlicher,
deterministischer
Kausalverhältnisse
132
spezialisiert,
dann erscheint für Duguit Jurisprudenz als
Unterfall der Soziologie: »Quelle place en général, le droit
constitutionnel
128
129
130
131
132
en
particulier,
occupent-ils
dans
la
Léon Duguit, Le droit constitutionnel et la sociologie, in: Revue
internationale de l’enseignement, 1889, S. 484-505.
Vgl. aber, Bernard Lacroix, Durkheim et le politique, Paris 1981.
Vgl. Léon Duguit, Le droit constitutionnel et la sociologie, a.a.O., S.
487.
Vgl. ebd., S. 488.
Vgl. ebd., S. 497.
69
Werner Gephart
sociologie?«133
So
wie
die
Wirtschaft
und
die
Wirtschaftswissenschaften auf die Austauschbeziehungen des
sozialen Organismus mit seiner Umwelt spezialisiert sind, so ist
das Verfassungsrecht, der andere Teil der Sozialwissenschaft,
auf die zerebralen Funktionen des sozialen Organismus
bezogen: »Le droit constitutionnel est donc une partie de la
sociologie, dans laquelle on cherche à déterminer les lois qui
régissent les phénomènes relatifs
à la formation, au
développement et au fonctionnement de l’état, considéré comme
centre nerveux cérébro-spinal de l’organisation social.«134
Wirtschaft und Recht sind die Grundtatbestände des sozialen
Lebens und daher sei die Rechtswissenschaft im allgemeinen
und das Verfassungsrecht im besonderen notwendigerweise eine
Sozialwissenschaft, die gar nicht erst soziologisiert werden muß,
weil sie schon immer nichts anderes war als: Soziologie.
Im ersten Jahrgang der Revue Internationale de Sociologie,
dessen Sekretär René Worms überall nach heimlichen
Soziologen Ausschau hält135, berichtet Léon Duguit über ein
soziologisches Seminar, das er mit seinen Doktoranden
abgehalten hat mit dem nicht ganz unbescheidenen Ziel, in
fruchtbarer Zusammenarbeit von Meister und Schülerkreis, zu
einer ›präzisen Lösung der Grundprobleme der Allgemeinen
Soziologie‹ in exakt, man staune: 10 Seminarsitzungen zu
gelangen.136 Auf wunderbare Art und Weise gelangen die
Seminaristen hier zu genau den Anschauungen Duguits, die an
der Möglichkeit, Legitimität und Wissenschaftlichkeit von
Soziologie als Analyse der Beziehung von Recht und
Wissenschaft keinen Zweifel lassen. Neu ist die, im
Seminarbericht Duguits, als revolutionär hervorgehobene Frage
nach dem Selbstbewußtsein des sozialen Körpers, womit Duguit
133
134
135
136
Ebd., S. 498.
Ebd., S. 500.
Vgl. Werner Gephart, René Worms. Père fondateur de l’Institut
International de Sociologie, in: Annales de l’ISS, vol. IV (nouv. série),
1994, S. 263-274.
Léon Duguit, Un séminaire de sociologie, in: Revue International de
Sociologie 1, 1893, S. 201-208.
70
Recht als Kultur.
zu einer Formulierung gelangt, die nahe an Durkheims These
konkomitanter Individualisierung und Sozialisierung liegt: »Il a
conscience de son individualité et de la solidarité sociale, et ces
deux consciences croissent pour ainsi dire en raison directe l’une
de l’autre; c’est en ce sens qu’il y a une conscience sociale.«137
Im Umkehrung des Descarteschen ›Je pense donc je suis‹ steht
nun der Primat der Gesellschaft so sehr außer Frage, daß aus
dem selbstvergewissernden ›Je pense‹ nur auf die vorgängige
Sozialität zu schließen ist.138 Dann aber ist ein Einfluß der
›conscience sociale‹ auf Recht und Wirtschaft zu vermuten, der
sich gleichzeitig in zahlreichen Einzelbewußtseinsformen
ausbreitet und damit den sozialen Körper durchdringt.139
Läßt sich mit diesen Hintergrundannahmen das kollektive
Subjekt des Verfassungsrechts also besser begreifen? Duguit ist
dieser Frage in einer Studie zum Funktionswandel des modernen
Staates als einer ›Etude de sociologie juridique‹ nachgegangen.
Hiernach sei der Staat aus einer elementaren Differenzierung
hervorgegangen zwischen denjenigen, die Befehle erteilen und
denjenigen, die gehorchen. »Du jour ou cette différentiation
s’est produite, entre ceux qui donnent les ordres et ceux qui les
reçoivent, il y a eu dans l’association humaine un Etat…« Ein
solches Gebilde – bei Weber mangels der Monopolisierung
legitimer Gewaltsamkeit als ›Herrschaftsverband‹140 bezeichnet
– teilt mit seiner Bestimmung freilich das Verständnis von
Herrschaft als Befehls- und Gehorsamsverhältnis. Der moderne
›Staat‹ nähert sich dann freilich der Weberschen Vorstellung an:
»Voilà donc cet État moderne, organe extrêmement complexe
dans sa structure, extrêmement puissant par l’étendue du
territoire et le nombre des sujets, extrêmement actif par la
diversité des fonctions.«141 Die Strukturiertheit dieses
Herrschaftsorgans sowie seine territoriale und personale
137
138
139
140
141
Ebd., S. 207.
»Je pense la société, donc la société est.«, ebd.
Vgl. ebd., S. 208.
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft a. a. O., S. 29
Léon Duguit, Un séminaire de sociologie, a. a. O., S. 170.
71
Werner Gephart
Ausdehnung zeichnen den Staat der ›Moderne‹ aus. Der Staat ist
also aus juristischer Sicht als Beziehung von Befehlenden zu
Befehlsempfängern konstruiert, die zum Gehorsam verpflichtet
sind.142
Diese
juridische
Bestimmung
des
Herrschaftsverhältnisses
setzt
sich
in
einer
Gesellschaftsgeschichte des ›Staates‹ fort, mit der Erfindung der
juristischen Persönlichkeit im Römischen Recht, seiner Erosion
im Feudalismus, seiner Widergeburt im absolutistischen Staat
als Identität von Staat und Herrscher, um schließlich in der
Revolutionszeit als Idee der Rechtspersönlichkeit des Staates
wiederzukehren.143
Diese
nunmehr
zum
kollektiven
Gesamtsubjekt
aufgewertete
Staatsidee
wird
aus
kollektivistischem Geist gegen die Funktionen zerteilende
Theorie der Gewaltenteilungslehre gesetzt, um die auch in der
deutschen Staatsrechtslehre gesuchte ›Einheit‹ des Staates im
Zusammenwirken der Staatsorgane144 und nicht in ihrer
gegenläufigen Kompetenz- und Machtverteilung zu suchen.
Insofern aber werden bei Duguit aus einer organizistisch
gedeuteten Sozialwissenschaft normative Konsequenzen
gezogen, die sich als Tatsachenbehauptungen gerieren. Kein
überraschendes Resultat, wenn juristische und soziologische
Betrachtungsweise amalgamiert werden. Es belegt freilich, daß
die Soziologie im Umkreis Emile Durkheims, die einfach in der
Luft lag, auch in der Rechtswissenschaft angekommen war.
(2) Und dies trifft auf den Theoretiker – und wie Kritiker
meinen: Mystiker – der sozialen Institutionen, Maurice Hauriou,
nicht minder zu. Er teilt die »ivresse de la science«145 der
Positivisten gerade nicht. Ihm scheint die Soziologie vielmehr
als »socialement parlant, la plus dangereuse de toutes.«146
142
143
144
145
146
»[L’Etat, W.G.] est un rapport de commandement à commandé, le
rapport de celui qui donne un ordre a celui qui le reçoit et qui est obligé
d’y obéir.« ebd.
Vgl. Léon Duguit, Les fonctions de l’Etat moderne, S. 189.
Man denke auch an die Integrationslehre Rudolf Smends.
Maurice Hauriou, Réponse à un docteur en droit, Revue Internationale
de Sociologie 2, 1894, S. 391.
Ebd., S.393.
72
Recht als Kultur.
Solange sie jedenfalls als Wahrheiten vom Katheder verkündet,
was nichts weiter als zu prüfende Forschungshypothesen seien,
wie z.B. die merkwürdige Morallehre, nach der eine Ethik der
Brüderlichkeit nunmehr in eine Ethik der Differenz147
umzumünzen sei. Hauriou nimmt also die moralische Essenz der
Arbeitsteilungsstudie aufs Korn, um die Soziologie so lange
vom Katheder zu verbannen, als sie nicht sichere Erkenntnisse
hervorgebracht habe.
Zumindest aber dürfe sie des ›juridischen Sinnes‹148 nicht
entbehren, weil dieser sie von den allergrößten Irrtümern
abhalten würde, wie man am Beispiel von Gabriel Tarde, dem
schärfsten Durkheim-Konkurrenten, sehen könne: Dieser habe
nämlich in seinen ›Lois de l’imitation‹ das von Durkheim für die
Moderne verworfene Band der Brüderlichkeit rehabilitiert, wo
Liebe und Glaube das Bindemittel auch der Moderne sei.149
Durkheim selbst bleibt übrigens skeptisch, was die Bedeutung
der Soziologie für die Juristenausbildung in Frankreich angeht:
Die Rechtsgeschichte sei noch immer eher geeignet, den
pädagogischen Effekt zu erzielen, den heranwachsenden
Juristenstand über die Kontingenz des Rechts zu belehren:
»Malheureusement la sociologie n’est pas encore assez avancée
pour prendre une telle place dans l’enseignement.«150 Wenn
schon der angeblich unverantwortliche Wissenschaftsimperialist
Durkheim diese Zweifel hat, an welchem Gegenstand sollen die,
über das positive Recht hinausweisenden Einsichten in die
Kontingenz des Rechts den Studierenden denn vermittelt
werden? Man müsse eine Gesellschaft ausfindig machen, die
sowohl Rechtswandel wie Regelungskomplexität aufweise. Eine
147
148
149
150
Diese Pointe der ›solidarité par différence‹, im Unterschied zur
›solidarité par similitude‹ der Arbeitsteilungsstudie versteht man in
dieser verzerenden Wahrnehmung Haurious erst in seiner ganzen
Tragweite!
Hauriou spricht von ›sens juridique‹ (Maurice Hauriou, Réponse à un
docteur en droit, a. a. O., S. 394) wie Bourdieu vom ›sens pratique‹
redet.
Vgl. ebd.
Emile Durkheim, Extraits des libres entretiens, 3ième série, in: Emile
Durkheim, Textes, Bd. 1, S. 243-245 (S.244).
73
Werner Gephart
solche Gesellschaft und ein solches Recht gäbe es freilich,
nämlich im Römischen Recht! Daher empfiehlt Durkheim, der
angebliche Revolutionär und gnadenlose Soziologisierer, zur
Modernisierung des Rechtsunterrichts pikanterweise nichts
anderes als das Studium des Römischen Rechts.
(3) Duguit, Hauriou und auch Saleilles verbanden mit der
Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Kenntnisse durchaus
eine Veränderung des positiven Rechts. Denn auch in
Frankreich hat die Entzauberung des Richters als ›bouche de la
loi‹ die Frage aufgeworfen, wie denn die Lücke eines ›flexible
droit‹151 zu füllen sei: »La loi est une moule flexible qui donnera
l’empreinte du droit aux phénomènes nouveaux issus de la vie
sociale.«152 Wenn also der Geist des Textes sich erweitert trotz
fortgeltenden Wortlauts, dann müsse diese Entwicklung des
juristischen Sinngehalts der Norm nicht subjektiv
partikularistisch vom Richter fortentwickelt werden, sondern
dies müsse den positiven Wissenschaften überantwortet werden,
indem sich der Richter der soziologischen Faktoren der
Rechtsentwicklung bewußt werde. Es klingt wie eine implizite
Kritik der Freirechtsschule, wenn Saleilles das Gespenst der
juridischen Anarchie an die Wand malt. Daher müsse anstelle
subjektiver Wertungen die Einsicht in objektive ökonomische,
moralische und soziologische Gesetzmäßigkeiten gesetzt
werden. Damit aber gebühre – so Saleilles – der Soziologie nicht
nur das Verdienst, die soziologischen Ursprünge des Rechts
aufzuspüren, sondern auch der Auslegung des geltenden Rechts
die Richtung zu weisen.153
Ist Durkheims Soziologie des Rechts hierzu in der Lage und
welche soziologischen Strategien sind bei Durkheim und seinem
Kreis angelegt, um das Recht auf eine nicht juristische Weise so
zu behandeln, daß es der Jurisprudenz nützt, ohne deren
151
152
153
So heißt es später bei Jean Carbonnier!
Saleilles, La sociologie et les sciences sociales, in: Revue Internationale
de Sociologie 12, 1904, S. 229-234.
»La sociologie, après avoir servi d’explication scientifique aux origines
historiques du droit, deviendra le facteur principal de l’interprétation.«,
ebd., S. 234.
74
Recht als Kultur.
Eigengesetzlichkeiten außer Kraft zu setzen? Oder läuft der
imperiale Gestus des Durkheimschen Theorieprogramms
zwangsläufig auf eine soziologische Reduktion des Rechts und
seiner Kultur hinaus?
I.
Emile Durkheim und das Strafrecht
Max Weber hat – wie wir sahen – der okzidentalen Kultur ihr
Selbstbild der Rationalisierung und Entzauberung bekräftigt.
Emile Durkheim hat die non-rationalen Voraussetzungen
moderner Gesellschaften aufgespürt,154 die ihn bis zu den
Aruntas Australiens geführt haben, in deren sozialer
Organisation er noch die verborgenen, universalen Grundlagen
auch moderner Gesellschaften zu entdecken glaubte. Die
Geschichte des Zivilisationsprozesses ist von Norbert Elias als
Zivilisierung der Gefühle geschrieben und hat damit der
Rationalisierungsthese Max Webers ein emotives Fundament
geliefert.155 Es ist jedoch das noch kaum ausgeschöpfte
Verdienst
Emile
Durkheims,
die
Grenzen
dieser
Rationalisierung aufgewiesen zu haben. Was bei Weber nämlich
als traditionale Barriere auf dem Weg zur ›Moderne‹
erscheint,156 ist von Durkheim zur positiven Bedingung der
neuen Gesellschaftsordnung erhoben. Ebenso wie der Vertrag
einer non-kontraktuellen Grundlage bedarf,157 so hat
154
155
156
157
Diese These ist vor allem von Talcott Parsons immer wieder pointiert
worden. Grundlegend ist: Talcott Parsons, The Structure of Social
Action, Glencoe; Ill 1937.
Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische
und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1976
(1937). Wenn man im übrigen Welzels Arbeit über Naturalismus und
Wertphilosophie im Strafrecht (1935) hinzunimmt, ist ersichtlich, was
für ein produktives Klima für ›Handlungstheorie‹ zu dieser Zeit
bestand!
Mitunter ist dieses Problem auch als ›Paradoxie‹ gefaßt. Vgl. vor allem:
Wolfgang Schluchter, Die Paradoxie der Rationalisierung. Zum
Verhältnis von ›Ethik‹ und Welt bei Max Weber, in: ZfS 5, 1976, S.
256-284.
Vgl. Emile Durkheim, De la division du travail social, a. a. O., Livre
premier, Chapitre VII: Solidarité organique et solidarité contractuelle,
S. 177-209; die Denkfigur ist auf viele Bereiche mit heuristischem
Gewinn zu verwenden.
75
Werner Gephart
gewissermaßen
Grundlage.
die
Rationalisierung
ihre
non-rationale
Ihre Bedeutung tritt nirgends so deutlich hervor wie in der
Deutung von Strafe und Verbrechen. Ebenso wie jede Dogmatik
des Strafrechts an einer normativen Leitidee der Strafe orientiert
ist, 158 so scheint die Konzeption von Strafe für die ›Soziologie
im Aufbruch‹159 eine zentrale Rolle zu spielen. Noch in dem
zeitgenössischen Umfeld Emile Durkheims wird dies deutlich:
es gilt für Ferdinand Tönnies,160 Gabriel Tarde, René Worms161
und auch George Herbert Mead,162 der ja eng mit der
europäischen Soziologiekultur verbunden war. Nur Max Weber
scheint dem Problem der Strafe weit gleichgültiger gegenüber
zu stehen, und dies ist aus seiner zivilrechtlichen
Professionalisierung sogar äußerst plausibel.163
Während die Gründergeneration der Soziologie jedoch
gleichermaßen in den Strom der Rationalisierungsidee gestellt
war, hat nur Emile Durkheim die kühne These der
Verwurzelung der Strafe in atavistischen Gefühlen kollektiver
158
159
160
161
162
163
Ein guter Überblick über die Vielfalt der Straftheorien findet sich bei
Ulrich Neumann und Ulrich Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität
und Strafe, Darmstadt 1980.
Hiermit ist die kollektive Aufbruchstimmung gemeint, nach der
Soziologie zu Ende des 19. Jahrhunderts einfach ›in der Luft‹ lag. Vgl.
zu einem Ausschnitt der europäischen Soziologiekultur um die
Jahrhundertwende: Werner Gephart, Soziologie im Aufbruch. Zur
Wechselwirkung von Durkheim, Schäffle, Tönnies und Simmel, in:
KZfSS 34, 1982, S. 1-25.
Vgl. Ferdinand Tönnies z. B.: Jugendliche, Kriminalität und
Verwahrlosung in Großbritannien, in: ZStW 13, 1893, S. 894 ff.; Das
Verbrechen als soziale Erscheinung, in: Archiv für soziale
Gesetzgebung und Statistik 8, 1895, S. 329 ff.
Der organisierende Organizist Worms war als Jurist und Soziologe am
Phänomen der Strafe interessiert. Vgl. z. B. die Diskussion über die
Zukunft der strafenden Gerechtigkeit, in: Annales de l’Institut
International de Soziologie 4, 1898.
George Herbert Mead, The Psychology of Punitive Justice, in: AJS 23,
1918, S. 577 ff.
Allerdings ist Webers Kausalitätslehre an Gustav Radbruch und v.
Knies orientiert. Die Bedeutung der strafrechtlichen Handlungslehre für
die Soziologie ist offenkundig; der juristische Blick auf die
sozialwissenschaftlichen Handlungslehren muß daher zwangsläufig in
Déjà-vu-Erlebnissen enden.
76
Recht als Kultur.
Wut und Abscheu vertreten und das Verbrechen sogar zu den
›normalen‹ Erscheinungen des modernen Lebens zu rechnen
gewagt. In der evolutionären Deutung der Entwicklung des
Strafensystems hat Durkheim durchaus die Tendenzen einer
Milderung und Individualisierung der Strafe gesehen und die
›Geburt des Gefängnisses‹ mit der Geburt der modernen Strafe
in Verbindung gebracht. Die Zähmung der im Verbrechen
ausgelösten kollektiven Erregung ist noch von der
ursprünglichen emotiven Einfärbung geprägt: Es ist die
Verletzung kollektiver Gefühle, die im Verbrechen entfesselt
und in der Strafe kanalisiert wird.
1.
Die non-rationalen Voraussetzungen der strafrechtlichen
Rationalisierung
Emile Durkheim hat der Tiefenpsychologie fern gestanden. Eine
positive Auseinandersetzung mit Sigmund Freud ist nicht
nachzuweisen, obwohl über Charcot eine indirekte
Verbindungslinie zu ziehen wäre. Freilich geht es weniger um
die vergleichbare Betonung non-rationaler Momente, die bei
Freud auf die Persönlichkeitsebene und bei Durkheim auf
soziale Strukturen bezogen ist, als vielmehr um das Versprechen
einer Soziologie der kollektiven Gefühle,164 das von Durkheim
nur teilweise eingelöst wurde. Wie ›modern‹ der verstaubte
Klassiker damit ist, zeigt nicht zuletzt die Entwicklung der
generalpräventiven Theorie der Strafe,165 die gerade in
164
165
Ansätze lassen sich bei Norbert Elias, C. G. Jung, Talcott Parsons u. a.
finden. Neben Durkheim hat Georg Simmel das Thema der feinen
Gefühle besonders gepflegt; vgl. das Aufgreifen des Themas bei Jürgen
Gerhards, Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und
Perspektiven, Weinheim/München 1988; auch Heinz-Günter Vester,
Emotion, Gesellschaft und Kultur, Opladen 1991.
Aus der Diskussion innerhalb der deutschen Strafrechtslehre vgl.: HansLudwig Schreiber, Widersprüche und Brüche in heutigen
Strafkonzeptionen, in: ZStW, 1982, S. 279-298; Claus Roxin, Zur
jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im
Strafrecht, in: Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag von
Arthur Kaufmann u. a., München 1979, S. 279-309; Günther
Strathenwerth, Strafrecht und Sozialtherapie, ebd. S. 901-921; sowie
Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, Opladen 1982. Auf die
systemtheoretisch inspirierte Strafkonzeption in der Fortführung des
handlungstheoretischen Lehrbuchs von Hans Welzel durch Günther
Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil: Die Grundlagen und die
77
Werner Gephart
Durkheim eine spezifische Ausformulierung gefunden hat.
Emile Durkheim liegt dabei die Idee der ›negativen‹
Generalprävention durch Abschreckung völlig fern.166 Die
utilitaristischen Vorannahmen der Theorien des psychischen
Zwangs von Feuerbach bis in die jüngste Diskussion167 sind für
Durkheim
aus
grundsätzlichen
Erwägungen
heraus
unannehmbar. Es ist allerdings nicht nur der Zweifel an der
utilitaristischen Steuerbarkeit des Handelns, sondern die
funktionale Bestimmung von Strafe und Strafrecht, die – aus
den religionsgeschichtlichen Wurzeln der Strafe – in eine andere
Richtung verweist. So entsteht bei Durkheim die Idee eines
›modernen‹ Strafrechts, das die Strafbedürfnisse von
Gesellschaft aus ihrem kollektiv-religiösen Ursprung der
Gefährdung gemeinschaftlicher Ordnung begreift und dennoch
die Formen der Strafe in ›rationale‹ Bahnen lenken möchte.
Durkheims Theorie der Strafe und des Verbrechens ist nur in
Fragmenten überliefert. Das Manuskript der Vorlesung zur
Theorie der Sanktionen, die Durkheim in Bordeaux gehalten
hat,168 ist verloren gegangen, der Rest ist in Arbeiten, die ganz
anderen Deutungszwecken gewidmet sind, zahlreichen
Rezensionen und einem einzigen Aufsatz über die ›Zwei
Gesetze der Strafentwicklung‹ verstreut. ›Fragmentarisch‹ ist
Durkheims Beitrag auch insofern, als die Fortentwicklung und
Ausarbeitung in dem Durkheimschen Unternehmen der ›Année
Zurechnungslehre, Berlin/New York 21991, gehe ich hier nicht weiter
ein.
166
167
168
Seit der ›Structure of Social Action‹ gilt die Kritik der utilitaristischen
Argumentation als theoretischer Kern des Durkheimschen Paradigmas
der Soziologie. Diese Kritik des Utilitarismus ist bei Münch, Theorie
des Handelns, fortgeführt, ohne daß freilich zwischen der ethischen
Problematik des Utilitarismus und seiner soziologischen Anwendung
unterschieden wäre.
Zur Version einer (mikro-)ökonomischen Straftheorie vgl. Victor
Vanberg, Verbrechen, Strafe und Abschreckung, Tübingen 1982.
Nach Paul Fauconnet ist die betreffende Vorlesung 1894 in Bordeaux
gehalten worden. Das von Fauconnet erwähnte Manuskript (Einleitung
zu: La responsabilité. Etude de sociologie, Paris 1911) ist verschollen.
Vgl. auch die in allen werkbezogenen und biographischen Fragen noch
immer unübertroffene Studie von Steven Lukes, Emile Durkheim. His
Life and Work. A Historical and Critical Study, New York 1973, S.
617-619.
78
Recht als Kultur.
Sociologique‹ von Mitarbeitern Emile Durkheims betrieben
wurde. Im Zentrum dieses, von Philippe Besnard analysierten,
äußerst komplexen Netzwerks,169 stehen neben dem ›Père
Durkheim‹ sein Neffe Marcel Mauss und Paul Fauconnet, die
zugleich die wichtigsten Beiträge zur Theorie der Strafe
innerhalb des Durkheim-Kreises geliefert haben. Ebenso wie die
Strafe eine Schlüsselstellung innerhalb der Gesellschaftstheorie
von Durkheim einnimmt, so sind die an Strafe und Strafrecht
interessierten Figuren der ›Equipe‹ an zentraler Stelle der
sozialen Praxis eines Theorieprogramms plaziert. Die Thesen
zum Verbrechen sind in Auseinandersetzung und Abgrenzung
von konkurrierenden Strömungen innerhalb der französischen
Soziologie entstanden, in denen Gabriel Tarde170 als klassischer
Rivale und Gaston Richard171 als abtrünniger Mitstreiter die
wichtigsten Figuren sind.
Für eine Soziologie der Strafe und des Strafrechts ist jedoch ein
Mitarbeiter Durkheims am weitesten vorgedrungen, dessen
Arbeit Emile Durkheim nicht mehr zu Gesicht bekam, die aber
vom Geist des Durkheimschen Denkens durchdrungen ist: Paul
Fauconnet. Seine Studie über die ›Responsabilité‹ enthält – wie
wir im folgenden Kapitel sehen werden – eine Soziologie der
strafrechtlichen Dogmatik, deren Konsequenzen bis in die
heutige Diskussion hineinreichen.172
169
170
171
172
Vgl. Philippe Besnard, La formation de l’équipe de l’Année
sociologique, in: Revue française de sociologie 20, 1979, S. 7-31. Diese
Arbeit ist neben den Beiträgen von Terry N. Clark, Victor Karady und
Roger L. Geiger im zweiten Band der von Wolf Lepenies
herausgegebenen ›Geschichte der Soziologie‹, Frankfurt am Main 1981,
in deutsch zugänglich.
Zu Gabriel Tarde vgl. z. B. Pierre Favre, Gabriel Tarde et la mauvaise
fortune d’une baptème sociologique de la science politique, in: Revue
française de sociologie 24, 1983, S. 3-30.
Zu Gaston Richard vgl. William S. Pickering, Gaston Richard,
collaborateur et adversaire, in: Revue française de sociologie 20, 1981,
S. 163-182.
Eine Teilübersetzung findet sich verdienstvoller Weise in dem von
Klaus Lüderssen und Fritz Sack herausgegebenen Band, Seminar:
Abweichendes Verhalten II. Die gesellschaftliche Reaktion auf
Kriminalität, Bd. 1: Strafgesetzgebung und Strafrechtsdogmatik,
Frankfurt am Main 1975.
79
Werner Gephart
Die soziologische Perspektive Durkheims umfaßt damit sowohl
eine Theorie des Verbrechens, wie eine Theorie der Strafe, als
auch – in Fauconnets Weiterführung – eine Theorie der
strafrechtlichen Zurechnung. Ihr Leitmotiv ist die Verletzung
und Entfesselung kollektiver Gefühle im Verbrechen, ihre
Besänftigung und Bekräftigung in der Strafe und deren
symbolische Vermittlung durch das Strafrecht. Aus diesem
Zusammenhang läßt sich eine Theorie des strafrechtlichen
Verfahrens extrapolieren, die, von der Idee des archaischen
Rituals profitierend, die Funktion des Verfahrens in der
Kanalisierung der kollektiven Emotionen und der effervescenten
Bestärkung und Wiederbelebung zentraler Gemeinschaftswerte
sieht.173
Diese
Deutung
muß
dem
Selbstverständnis
der
Strafrechtsdogmatik zumindest als einseitige Funktionalisierung
des prekären Instrumentariums der Strafe erscheinen,174 für das
sie – in der begrifflichen Verstrickung mit Schuld und Sühne –
noch immer nach ›Rechtfertigung‹175 sucht. Die ›Entzauberung‹
der Dogmatik176 kehrt sich in ihr Gegenteil um, wenn nunmehr
die sozialen Funktionen von Verbrechen, Strafe, Verfahren und
ihrer dogmatischen Durchdringung zum Erhalt der emotiven
Basis moderner Gesellschaften mystifiziert werden. Dieser
›Verschlingung von Mythos und Aufklärung‹177 entzieht man
173
174
175
176
177
Aus der Diskussion in der deutschen Strafrechtslehre bietet sich ein
Vergleich mit den Thesen von Bernhard Haffke an. Vgl.
Tiefenpsychologie und Generalprävention. Eine strafrechtstheoretische
Untersuchung. Aarau/Frankfurt am Main 1976. (St. Galler Schriften zur
Strafreform, Bd. 7); ders., Strafrechtsdogmatik und Tiefenpsychologie,
in: Goltdammers Archiv für Strafrecht 1978, S. 33-57.
Siehe dazu: Hans-Ludwig Schreiber, Widersprüche und Brüche in
heutigen Strafkonzeptionen, a. a. O.
Der Sprachgebrauch ist bezeichnend für das prekäre, d. h. hier: religiöse
Selbstverständnis der Straftheorie.
Der missionarische Anspruch zur ›Aufklärung‹ über Dogmatik, an der
die Sozialwissenschaften nicht ganz unschuldig sind, ist von Niklas
Luhmann zu einem Lob der juristischen Dogmatik umgedeutet worden.
Vgl. Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart
1974.
Ich gebrauche die Formulierung von Jürgen Habermas, Die
Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Bemerkungen zur
Dialektik der Aufklärung – nach einer erneuten Lektüre, in: Mythos und
80
Recht als Kultur.
sich jedoch nicht einfach dadurch, daß die soziologische
Deutung einer Purifizierung der Dogmatik geopfert wird.
Welche Spannungen aus dieser Wechselwirkung von
soziologischer und juristischer Perspektive erwachsen können,
wird gerade am Exempel einer Straftheorie deutlich.
Die Einheit der fragmentarischen Beiträge zur Theorie des
Verbrechens, zur Theorie der Strafe und zur Soziologie der
strafrechtlichen Zurechnung liegt in der spezifischen ›Logik der
Gefühle‹178. Ihr moderner theoretischer Ausdruck ist die
sogenannte
Theorie
der
symbolisch
generalisierten
179
Kommunikationsmedien. In dem Versuch, Strafe als Medium
zu begreifen, das im Strafrecht ›codiert‹ wird, ist nicht nur ein
bloßes theoretisches Komplement zu ›Liebe als Passion‹180 zu
sehen, sondern ein Bemühen, die Widersprüche der Codierung
kollektiver Gefühle zu erfassen. Wenn man das theoretische
Konstrukt der Medientheorie an die Religionssoziologie Emile
Durkheims zurückbindet, ergibt sich die Chance, die codierten
Gefühle mit dem Schutz der ›heiligen‹ Dinge181 zu verflechten.
Sobald aber der ›Kult der Gemeinschaft‹ vom ›Kult des
Individuums‹ abgelöst wird, gerät nicht nur das ›Opfer‹, sondern
auch der ›Täter‹ in die Schutzzone der sakralisierten
Persönlichkeit. Eine Zentrierung des Strafthemas um die
Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, hrsg. v. Karl-Heinz
Bohrer, Frankfurt am Main 1983, S. 405-431.
178
179
180
181
Diesen Begriff entlehne ich der wichtigen, wenngleich vergessenen
Arbeit von Theodule Ribot, La logique des sentiments, Paris 1905.
Historisch ist sowohl die Kapitalanalyse von Marx wie Simmels
›Philosophie des Geldes‹ wichtig. Talcott Parsons gibt in ›Social
Structure and the Symbolic Media of Interchange‹ (in: Social Systems
and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 204-228.),
einen Rückblick auf die Entwicklung des Konzepts. In Deutschland hat
Niklas Luhmann die Medientheorie weiter entwickelt und
›popularisiert‹. Ambivalent ist die Position von Jürgen Habermas in der
›Theorie des kommunikativen Handelns‹, 2 Bde, a. a. O.
So der Titel des Buchs von Niklas Luhmann (Frankfurt am Main 1982),
das den bezeichnend ernüchternden Untertitel: ›Zur Codierung von
Intimität‹ trägt.
Inwieweit
aus
der
Durkheimschen
Perspektive
eine
religionssoziologische Deutung der Lehre vom Rechtsgut möglich und
gewinnbringend ist, bliebe zu prüfen.
81
Werner Gephart
Theorie der kollektiven Gefühle muß daher keineswegs in einen
blinden ›Kollektivismus‹ ausschlagen.
2.
Die
Eigengesetzlichkeit
Rationalisierung
der
strafrechtlichen
Von Emile Durkheim wird das Strafrecht nur in seiner für den
Strukturwandel der ›conscience collective‹ indikativen Funktion
behandelt. Die Binnenstruktur des Strafrechts kommt nicht in
den Blick, und der Wandel der Strafformen bezieht sich auf den
Charakter der Pönalisierung, aber nicht auf den Inhalt der
Strafnormen und ihrer eigengesetzlichen Anwendung im
Strafverfahren.
Andererseits aber zeichnet Durkheim durchaus das Bild einer
normativen Durchrationalisierung des sozialen Lebens, in dem
die Norm als generalisierte Anordnung182 die Ordnung des
sozialen Lebens garantiert. Normative Lücken schlagen in
Defizite sozialer Ordnung um. Der Aufbau normativer Systeme
wird bei Durkheim als Stufenordnung normativer
Generalisierung und Re-spezifikation gedacht, die den gesamten
›Sozialkörper‹ durchdringt. In diesem normativen Kosmos
nimmt das Strafrecht einen besonderen Stellenwert ein: Es
indiziert im methodologischen Sinne den Zustand der
›conscience collective‹ und wird, solange es den Anteil
›restitutiver
Normen‹
überschreitet,
einer
überlebten
Sozialordnung zugeschrieben.
Nun liegt gerade in dieser Zuordnung das Problem einer
Soziologie des Strafrechts begründet, die mit dem Anspruch von
›Gesellschaftstheorie‹ auftritt: wie nämlich ist der
Zusammenhang der sozialen Institution von Gesellschaft mit
dem System des jeweiligen Strafrechts zu deuten? In der Studie
Foucaults183 unterliegt das Strafrecht einer Reduktion auf die
182
183
Der Aspekt der Generalisierung ist in dem Kapitel über die nonkontraktuellen Momente des Vertrages der ›Division‹ enthalten; in
Anlehnung an Luhmann von ›Verhaltenserwartung‹ zu sprechen,
verbietet sich freilich, weil das Ordnungsproblem bei Durkheim nicht
aus der Sicht des verhaltensunsicheren Akteurs aufgebaut ist.
Vgl. Michel Foucault, Surveiller et punir, Paris 1975 (dt.: Überwachen
und Strafen, Frankfurt am Main 1978); vgl. hierzu auch meine Deutung
82
Recht als Kultur.
Makro und Mikrophysik der Macht, wonach der Wandel der
Strafformen ein Reflex der Straftechnologie ist und die
Prinzipien des Strafrechts Verkleidungen ganz handfester
Machtinteressen sind. Bei Durkheim besteht nunmehr die
Gefahr, das Strafrecht auf seinen sozialintegrativen Sinn zu
beschränken, was im übrigen keineswegs reibungslos
funktioniert: Gerade weil sich strafrechtliche Normen auf
elementare Gefühlswerte des sozialen Lebens beziehen,
entzündet sich im Streit um das richtige Strafrecht der
Widerspruch einer sozialen Ordnung, deren einheitliches
Weltbild zerbrochen und deren ›conscience collective‹ eher
fragmentiert als vereinheitlicht ist.184 Die Diskussion um die
Strafbarkeit der Abtreibung liefert ein markantes Beispiel aus
der jüngeren Strafrechtsgeschichte. Gleichzeitig aber indiziert
das Konfliktpotential185 bestimmter Strafrechtsnormen ihre
sozialstrukturelle ›Tiefenlage‹, die wir genauer beschreiben
könnten,
wenn
uns
die
Mechanismen
der
186
›Gemeinschaftsbildung‹
in
modernen
Gesellschaften
vertrauter wären. So läßt sich nur das Postulat einer
vergleichenden Strafrechtsanalyse aufstellen, die – unter
soziologischem Aspekt – Grundformen der ›sozietalen
in: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile
Durkheims, a. a. O., S. 164 ff.
184
185
186
Emile Durkheim hat diese Einsicht in der Division du travail social eher
versteckt gehalten: In einer Fußnote lesen wir: »Pour simplifier
l’exposition, nous supposons que l’individu n’appartient qu’à une
société. En fait, nous faisons partie de plusieurs groupes et il y a en
nous plusieurs consciences collectives;«, De la division du travail
social, a. a. O., S. 74, Fn. 1.
Nicht zuletzt die Kritik von Prozessen der ›Verrechtlichung‹ weist auf
die
Konflikterzeugung
durch
Recht
hin.
Einige
Verfassungsbestimmungen sind geradezu darauf angelegt. Freilich hat
der Gemeinsatz, daß Streiten ›verbindet‹, einen tiefen soziologischen
Kern, den Georg Simmel herauspräpariert und Lewis Coser in: The
Functions of Social Conflict (Glencoe; Ill. 1956), systematisiert hat.
Vor allem Richard Münch hat dieses Problem im Anschluß an Talcott
Parsons in zahlreichen Schriften thematisiert; vgl. auch mit Blick auf
das Problem der Gemeinschaftsbildung in Europa: Werner Gephart,
Zwischen ›Gemeinsamkeitsglaube‹ und ›solidarité sociale‹. Partikulare
Identitäten und die Grenzen der Gemeinschaftsbildung, in: Zeitschrift
für Rechtssoziologie 14, 1993, S. 190-203.
83
Werner Gephart
Gemeinschaft‹187 im interkulturellen Vergleich188 variieren
müßte. Die Diskussion um das Klassenstrafrecht wäre damit in
eine soziologische Perspektive überführt, in der die Spaltung in
soziale Klassen189 nur ein Aspekt der vertikalen Differenzierung
moderner Gesellschaften ist. Insofern bewegt man sich im
Denkkreis Emile Durkheims fort, der schließlich den
Zusammenhang von sozialer Differenzierung und Integration
durch das Strafrecht ins Spiel gebracht hat. In dieser, nur grob
skizzierten ›politischen‹ sowie ›gemeinschaftlichen‹ Reduktion
des Strafrechts bleibt die Eigendynamik oder – um dem
Sprachgebrauch
Max
Webers
zu
folgen
–
190
›Eigengesetzlichkeit‹
der Strafrechtsentwicklung freilich
ausgeklammert.
In der juristischen Dynamik und ihrer methodologischen
Reflexion ist dieses Problem unter dem Etikett der ›Natur der
Sache‹ thematisiert worden. Hierbei geht es um die Frage,
inwieweit das Strafrecht an ›sachlogische Strukturen‹ gebunden
ist, die es insoweit auch von den ›Fremdgesetzlichkeiten‹
›politischer‹,
›ökonomischer‹
und
›gemeinschaftlicher‹
Ordnungen freisetzt und die zugleich den Ausgangspunkt einer
eigengesetzlichen ›Rationalisierung‹ fixieren.
In Bezug auf den Prozeß der zivilrechtlichen Entwicklung hat
Max
Weber
von
verschiedenen
›Richtungen‹
der
Rationalisierung
gesprochen.
Auf
den
Prozeß
der
strafrechtlichen Rationalisierung gewendet, lassen sich nunmehr
187
188
189
190
Talcott Parsons bezeichnet mit diesem Begriff den I-Quadranten des
AGIL-Systems auf Gesellschaftsebene.
Für die Integrationsthese wäre es äußerst interessant, das Strafrecht der
sog. ›fragmentierten‹ Gesellschaften in Vergleich zu bringen. Es wäre
die Frage, ob das Rätsel der ›Verzuilung‹ in den Niederlanden oder der
›Lagerbildung‹ in Österreich, pluraler Differenzierung in Südafrika etc.
über eine Analyse der jeweiligen Strafrechtsordnung ›verständlicher‹
würde.
Aus dem Blickwinkel der ›modernen‹ Gemeinschaftstheorie löst sich
die Klassentheorie in eine Austauschbeziehung von ›Ökonomie‹ und
›Gemeinschaft‹ auf.
Die Bedeutung von ›Eigengesetzlichkeit‹ ist ein Schlüsselbegriff der
Rationalisierungsthese Max Webers. An dieser Stelle muß an ein
intuitives Vorverständnis appelliert werden.
84
Recht als Kultur.
in der jüngeren Dogmatikdiskussion ›Richtungen‹ ausmachen,
die von allerhöchstem soziologischem Interesse sind. Denn die
Bezugspunkte der strafrechtlichen Rationalisierung durch
Dogmatik sind in ihrer abstraktesten Form durch Begriffsfelder
markiert, die zu den Grundkategorien gerade soziologischen
Denkens gezählt werden: ›Handeln‹, ›Norm‹ und ›Interesse‹.
Noch von den Gegnern der finalen Handlungstheorie, wie sie
von Hans Welzel191 begründet wurde, ist die Relevanz des
Gesichtspunktes von Handeln zugestanden worden;192 im
Umkreis der diversen Rechtsgutlehren193 ist die Dominanz des
zu
schützenden
Interesses
als
Bezugspunkt
der
Strafrechtsdogmatik akzeptiert; die Idee der Strafrechtsnorm, als
Ausgang der Strafrechtsdogmatik aber kehrt nunmehr nach einer
langjährigen Diffamierung Karl Bindings als soziologische
Fundierung der Dogmatik in dem Lehrbuch von Günter
Jakobs194 zurück, nachdem der ›Positivismus‹ Bindings einmal
im Namen der ›soziologischen‹ Schule eines Franz Liszt
191
192
193
194
Vgl. das Schriftenverzeichnis in der Welzel-Festschrift: Festschrift für
Hans Welzel zum 70. Geburtstag am 25. März 1974, hrsg. v. Günther
Stratenwerth, Armin Kaufmann u. a., Berlin u. a. 1974.
Der Streit um die finale Handlungslehre erscheint heute als ein
spannendes Thema für eine wissenschaftssoziologische Analyse von
Strafrechtsdogmatik, in der die Wechselwirkung von Ideen (der
Handlungslehre) mit den Strategien ihrer Implementation und den
spezifischen sozialen Voraussetzungen von Schulenbildung und
interparadigmatischer Konkurrenz untersucht werden müßte.
Hier sei nur auf die Arbeit von Knut Amelung verwiesen:
Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum
Inhalt und zum Anwendungsbereich des Strafrechtsprinzips auf
dogmengeschichtliche Grundlage, Frankfurt am Main 1972.
Vgl. Günther Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil: Die Grundlagen und
die Zurechnungslehre, a. a. O. M. E. wird damit ein Teilstück von
Luhmanns Systemtheorie importiert, das nicht die gleiche Originalität
wie andere Theoriestücke besitzt; die diffizile Abschichtung von
normativen und kognitiven Verhaltenserwartungen, die ja keineswegs
intrinsische Eigenschaften der Erwartungen sind, macht die
soziologisch interessante Deutung des Rechtsbildungsprozesses zu
einem womöglich unsicheren Ausgangspunkt der strafrechtlichen
Systembildung. Wie distanziert die Beziehung von Jakobs zum
›strafrechtlichen Funktionalismus‹ bei aller Theoriesympathie für
Luhmann ist, kann man nachlesen bei Günther Jakobs, Das Strafrecht
zwischen Funktionalismus und ›alteuropäischem‹ Prinzipiendenken,
Oder: Verabschiedung des ›alteuropäischen‹ Strafrechts? in: ZStW 107,
1995, S. 843-876.
85
Werner Gephart
zurückgewiesen worden war. Was hat all dies mit Emile
Durkheim zu tun?
Der
Zusammenhang
ist
so
vermittelt,
wie
die
Wechselwirkungen von Strafrecht und Gesellschaftsstruktur
sowie der Strafrechtsdogmatik und soziologischem Denken
miteinander verwickelt sind. Der Binnenstruktur des Strafrechts
ist von Durkheim, der Philosoph und nicht Jurist war, keine
sonderliche Aufmerksamkeit gewidmet worden. In der
Strafrechtsanalyse seines Schülers Paul Fauconnet aber können
wir – im folgenden Kapitel – sehen, wie die soziologischen
Denkformen Durkheims aus der Strafrechtsanalyse heraus
unterlaufen werden und wie sich dies aus der Rezeption einer
Rechtslehre ergibt, die im Ursprungsland der Kodifikationsidee
einmal als überflüssig gelten mußte.195
Es ist wohlbekannt, daß die dogmatische Durchdringung des
Code Civil nicht von französischen, sondern deutschen Juristen
im 19. Jahrhundert geleistet wurde,196 also der juristischen
Arbeitsform, die im Sinne Max Webers den »Höchstgrad
methodisch-logischer Rationalität« erreicht hatte: die
»gemeinrechtliche Jurisprudenz«.197 In Fauconnets – über Jahre
gewachsener – Studie zur ›Responsabilité‹198 macht sich der
Einfluß des rechtsdogmatischen Denkens auch in der
Durchdringung der strafrechtlichen Materie bemerkbar. Bereits
195
196
197
198
So besitzt die notorische Naivität oder bestenfalls Arroganz gegenüber
hermeneutischen Problemen in der französischen Geisteswissenschaft
vielleicht auch einen rechtsgeschichtlichen Hintergrund. Die Arbeit von
Eugène Gény ist der Année Sociologique jedenfalls nur beiläufig
perzipiert worden.
Für das Verständnis dieser Rezeptionswirkung habe ich Freiherr von
Marschall zu Biberstein zu danken. Mit Jean Carbonnier hatte ich
Gelegenheit, das Problem für ein besseres Verständnis der Soziologie
des Zivilrechts im System Emile Durkheims zu diskutieren, ohne daß
die Resultate in dieser Arbeit zur Strafrechtslehre weiter Eingang
fänden.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 397.
Vgl. die Anmerkung bei Louis Gernet, La responsabilité d’après M.
Fauconnet, in: Revue philosophique 91, 1921, S. 272-286: »On
attendait le livre de M. Fauconnet sur la responsabilité.« Recht früh
hatte sich Fauconnet über die entbehrungsreiche Arbeit für Durkheim
beklagt: »Vous dites qu’il faut que Durkheim produise. Ce n’est pas
assez: nous aussi.«
86
Recht als Kultur.
Durkheim hatte ja sein Hauptargument für den Zusammenhang
von Strafrecht und ›conscience collective‹ unmittelbar aus
Bindings Normentheorie bezogen: Der ›begriffliche‹ Vorrang 199
einer dem Strafgesetz vorgelagerten ›Norm‹ wird bei Durkheim
aus der Selbstverständlichkeit der sozialen Geltung der im
Strafgesetz implizierten Pflichten soziologisch zu erklären
versucht.200
3.
Bezüge zur deutschen Strafrechtswissenschaft
Mit der Übernahme der Rezensionsarbeit zum Strafrecht durch
Paul Fauconnet verliert sich der Bezug Durkheims nicht nur zur
Tradition Rudolf von Iherings201 oder dem heute völlig
unbekannten Post, den wir im Weber-Kapitel bereits
kennenlernten, sondern auch zu Arbeiten der deutschen
Strafrechtswissenschaft, die mit den Studien des in unserer
Weberlektüre angesprochenen J. Kohler202 und L. Gunther203
einmal im Blickfeld Emile Durkheims gelegen hatten. In der
Rezensionspraxis Paul Fauconnets entfaltet sich nun ein
Spiegelbild der deutschen Strafrechtswissenschaft, das gerade
aus der Fremdrezeption den soziologischen Gehalt von
Strafrechtswissenschaft deutlich hervortreten läßt. In
systematischer Form sind die Rezensionen zu Arbeiten eines
199
200
201
202
203
Vgl. Karl Binding, Die Normen und ihre Übertretung. Eine
Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des
Delikts, 4 Bde., Bd. 1: Normen und Strafgesetze, Aalen 1965, (Neudr.
d. 4. Aufl. Leipzig 1922), S. 45: »Die Norm geht begrifflich dem
Strafgesetze voraus, denn dieses bedroht eine Normübertretung mit
seiner Straffolge oder erklärt sie für straffrei.«
Leider hat Durkheim diese normologische Erkenntnis in seiner
entwickelten Theorie normativer Ordnungen nicht mehr mitgeführt.
Wenngleich sowohl die Kritik des ›Finalismus‹, sowie der
Utilitarismusverdacht von Anfang an deutlich war: vgl. La science
positive de la morale en Allemagne, in: Revue philosophique 24, 1887,
S. 33-58, 113-142, 275-284, (S. 49-58), abgedr. in: Textes. Bd. 1.
Eléments d’une théorie sociale, a. a. O., S. 267-343 (S. 286-297).
Vgl. Emile Durkheim, J. Kohler, Studien aus dem Strafrecht. Das
Strafrecht der italienischen Statuten vom 12-16 Jahrhundert, in:
L’Année Sociologique 1, 1898, S. 351-353.
Vgl. Emile Durkheim, L. Gunther. – Die Idee der Wiedervergeltung in
der Geschichte und Philosophie des Strafrechts. Ein Beitrag zur
Universal Historischen Entwicklung desselben, IIIe Abth., 1e Haelfte,
in: L’Année Sociologique 1, 1898, S. 347-351.
87
Werner Gephart
Franz von Liszt,204 Gustaf Dalman,205 Friese,206 A. Philippoff,207
Theodor Mommsen,208 Moritz Liepmann,209 E. Mayer,210 E.
Kulischer,211 R. Loening,212 J. Makarewicz213 schließlich in die
Studie zur ›Responsibilité‹ eingegangen, ohne daß wir dies im
Einzelnen nachweisen werden. Dabei ist bereits der
Grundbegriff dieser Studie ein französisches Kunstwort, das nur
unzulänglich die Bedeutung von ›Zurechnungsfähigkeit‹
wiedergäbe: »Cette capacité n’a pas de dénomination technique
en notre langue: l’allemand Zurechnungsfähigkeit la désigne
assez exactement.«214 Indem Fauconnet nunmehr die
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
Zum Lehrbuch von Liszt heißt es kurz und bündig: »Il suffira ici de
constater le succès de ce livre, désormais célèbre, et de rappeler qu’il
n’est pas de meilleur guide pour l’étude théorique du droit penal.« Paul
Fauconnet, Von Liszt – Lehrbuch des deutschen Strafrechts, in:
L’Année Sociologique 3, 1900, S. 413.
Vgl. Paul Fauconnet, Dalman (Gustaf) – Die richterliche Gerechtigkeit
im Alten Testament, in: L’Année Sociologique 2, 1899, S. 366.
Vgl. Paul Fauconnet, Friese – Das Strafrecht des Sachsenspiegels, in:
L’Année Sociologique 3, 1900, S. 404-407.
Vgl. Paul Fauconnet, A. Philippoff – Die Strafzwecke in der
Gesetzgebung Peter’s des Grossen, in: L’Année Sociologique 3, 1900,
S. 419-420.
Vgl. Paul Fauconnet, Mommsen (Theodor) – Roemisches Strafrecht, in:
L’Année Sociologique 4, 1901, S. 377-387.
Vgl. Paul Fauconnet, Liepmann (Moritz) – Einleitung in das Strafrecht.
Eine Kritik der kriminalistischen Grundbegriffe, in: L’Année
Sociologique 4, 1901, S. 411-413.
Vgl. Paul Fauconnet, E. Mayer – Die schuldhafte Handlung und ihre
Arten im Strafrecht. Drei Begriffsbestimmungen, in: L’Année
Sociologique 5, 1902, S. 415-416. Dort wird die Funktion solcher
Arbeiten für die ›sociologie juridique‹ so bestimmt: »Des ouvrages de
cette nature ont un intérêt pour la sociologie juridique en tant qu’ils
fournissent des éléments pour l’analyse des notions de crimes, de faute,
de responsabilité telles qu’elles apparaissent actuellement à la
conscience des jurisconsultes.« (Ebd., S. 416).
Vgl. Paul Fauconnet, E. Kulischer – Untersuchungen über das primitive
Strafrecht, in: L’Année Sociologique 8, 1905, S. 460-463.
Vgl. Paul Fauconnet, Richard Loening – Geschichte der strafrechtlichen
Zurechnungslehre. I. Bd. Die Zurechnungslehre des Aristoteles, in:
L’Année Sociologique 8, 1905, S. 477-479.
Vgl. Paul Fauconnet, J. Makarewicz – Einführung in die Philosophie
des Strafrechts auf entwicklungsgeschichtlicher Grundlage, in: L’Année
Sociologique 10, 1907, S. 469-475.
Paul Fauconnet, La Responsabilité. Étude de Sociologie, Paris 1928, S.
26 f.
88
Recht als Kultur.
›Institution‹ der Responsabilité zum Gegenstand einer
soziologischen Analyse wählt, ist seine Studie als ein erster
Versuch einer Soziologie der strafrechtlichen Zurechnung zu
lesen, die das Problem symbolischer Ordnung in den
Vordergrund stellt.
II.
Das Problem der Zurechnung im Reich des Normativen:
Traditionen der Wertphilosophie
»... il y a entre l’acte et sa conséquence une
hétérogénité complète ...« (Emile Durkheim)
Durkheim war daran gelegen, eine Definition des Verbrechens
ganz unabhängig von der Verletzung bestimmter Normen zu
entwickeln, um eine direkte Opposition von ›conscience
collective‹ und Handeln als Charakteristikum des Verbrechens
zu postulieren.215 Diese Konstruktion wirft die Frage auf,
welchen Sinn es überhaupt noch macht, Strafgesetze zu
formulieren und andererseits ist noch keineswegs ausgemacht,
ob das Konstrukt der ›conscience collective‹ tatsächlich die
normlogische Beziehung von Handeln und Norm überspielen
kann. Man kann das Problem als eine rein begriffliche Frage
formulieren, nämlich als Problem der definitorischen Beziehung
von conscience collective und Normwelt. Man kann es aber
auch als ein immanentes Spannungsverhältnis begreifen, das für
den spezifischen Blickwinkel Durkheims konstitutiv ist. Wenn
wir nämlich weiter in das ›Reich des Normativen‹ vordringen,
um auch die Logik der normativen Zurechnung aus der
Soziologie Durkheims zu entwickeln, stoßen die beiden
Blickwinkel aufeinander: Paul Fauconnet entwickelt nämlich
auf der Basis der emotiven Elemente der ›conscience collective‹
ein Modell der strafrechtlichen Zurechnung, in dem die
freigesetzten emotiven Kräfte nach der ›Logik‹ symbolischer
Ersetzung auf den Täter konzentriert werden; normlogisch
betrachtet freilich setzt die Zurechnung einer Handlung zu
215
Vgl. die Herleitung in: Werner Gephart, Strafe und Verbrechen,
a. a. O., S. 34ff.
89
Werner Gephart
einem Akteur als ein Unrecht den Bezug auf eine Normordnung
voraus.
Um den Spielraum auszumessen, in dem sich die
Zurechnungslehre Paul Fauconnets bewegen konnte, ist also die
Entwicklung von Durkheims Konzeption der normativen Sphäre
unumgänglich. Sie stellt den Interpreten vor eine Fülle
schwierigster Deutungsfragen, die es zu kennen gilt, um die
Vorläufigkeit der folgenden Deutung verständlich zu machen.
Einmal geht es um die Klärung der Wertlehre Emile Durkheims,
die man vor dem Hintergrund einer subtilen Kenntnis, die
Durkheim von der deutschen Diskussionslage in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts gewonnen hatte, zu lesen hat und die
es zugleich verbietet, Durkheim eine werttheoretische Naivität
unterstellen zu dürfen, wie man aus manchen Formulierungen
Durkheims entnehmen könnte.
Neben der Rezeption und Abgrenzung von der deutschen Wertund Normdiskussion ist die Aufnahme der eigenen,
rationalistischen und positivistischen Tradition zu beachten.
Insofern ist Durkheims Wertlehre nur aus dem Zusammenhang
seiner Wissenschaftslehre verständlich. Diese unterliegt jedoch
eindeutigen
Akzentverschiebungen
im
Laufe
der
Werkentwicklung, in denen sich die allmähliche Lösung aus
dem Wissenschaftsideal des französischen Positivismus mit der
zunehmenden
Beschränkung
auf
methodische
und
methodologische Fragestellungen verbindet, um in den
Spätschriften zur Erkenntnislehre vorzudringen, die nunmehr
religionssoziologisch überformt ist und eine theoretische
Abgrenzung vom zeitgenössischen Pragmatismus herausfordert.
Der soziologische Gehalt der Normlehre ist in den ›Regeln‹ z.
B. gleichzeitig methodologischer Natur, während seine
Negation, als Anomie216 den Kern der von Durkheim
diagnostizierten normativen Krise des modernen Lebens
ausmacht. Das empirische Normbild ist gleichzeitig – wie wir
bereits gesehen haben – von einem Bild des Menschen geprägt,
216
Grundlegend: Philippe Besnard, L’anomie, ses usages et ses fonctions
dans la discipline sociologique depuis Durkheim, Paris 1987.
90
Recht als Kultur.
das von der anthropologischen Annahme des zügellosen,
grenzbedürftigen Menschen bis zur religiösen Natur des
Menschen im Kult der Persönlichkeit reicht.217
Und schließlich kann man die Wert- und Normfrage auch unter
dem Gesichtspunkt betrachten, wie der Aufbau komplexer
normativer Ordnungen unter den strukturellen Bedingungen der
Moderne möglich ist. Hiernach empfiehlt es sich also, im
Vorblick auf die vorgezogenen Zusammenhänge von
sollensbezogener
Normlehre
und
seinsbezogener
Strukturanalyse normativer Systeme, die nachfolgenden
Problemfelder voneinander abzuschichten: Die Genese des
Wert- und Normproblems aus der französischen und deutschen
Tradition der Wertphilosophie (1); die Entfaltung einer
Soziologie normativer Systeme (2) und schließlich die
Verzweigung in die Religionssoziologie, aus der sich das
Problem der Zurechnung von der normlogischen auf eine
normethnologische Basis stellen läßt (3). Am Ende hoffen wir,
nicht nur das Verhältnis von Normwelt und conscience
collective präzisieren zu können, sondern zugleich eine Antwort
auf die zwischen deutscher und französischer Soziologie
diskriminierende Frage der Stellung des Handlungsproblems in
der Soziologie geben zu können. Auf dieser Grundlage läßt sich
dann der durch Fauconnet ergänzte Ertrag für die
Strafrechtsdogmatik einholen.
Aus der wertphilosophischen Perspektive diesseits des Rheins
betrachtet, zielt die zentrale Frage an Durkheims Wertlehre auf
das Problem des Naturalismus in der Wertphilosophie.
1.
Das Problem des Naturalismus
In dem intellektuellen Reisebericht, den Emile Durkheim über
die Situation der Philosophie in den deutschen Universitäten
(1887) verfaßt hat, hebt er den außerordentlichen Einfluß von
Kant hervor: »Cependant, malgré les nuances qui les
différencient, la plupart de ces doctrines présentent un caractère
217
Vgl. hierzu Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile
Durkheims, a. a. O., S. 88 f.
91
Werner Gephart
commun; c’est une empreinte plus ou moins forte de
kantisme.«218 Als Beleg dient Durkheim der außerordentliche
Rang, der selbst bei einem unabhängigen Philosophen wie
Wilhelm Wundt der Logik in der Erkenntnislehre zugewiesen
sei: Der ganze Fortschritt gegenüber Kant bestehe nur darin, den
enormen Apparat apriorischer Kategorien geglättet und – so
schreibt Durkheim – die idealistische Tendenz der Kritik der
reinen Vernunft vernachlässigt zu haben. Dennoch bleibt eine
gemeinsame Basis: »Mais tout le monde s’entend avec Kant
pour attribuer à la pensée une ou plusieurs fonctions sui generis,
irréductibles à l’expérience.«219
Für diese Rückkehr zu Kant gibt Emile Durkheim im übrigen
eine nicht uninteressante Erklärung: Sie sei Ausdruck der
Langeweile, die allein von den metaphysischen Träumereien des
deutschen Geistes übriggeblieben sei. Im übrigen werde Kant
wieder als Heilmittel gegen dogmatische Erstarrungen
verwendet, ohne gleichzeitig die Erfordernisse der
Wissenschaftlichkeit zu beschneiden: »En fait de toutes les
philosophies qu’a produites l’Allemagne, le kantisme est celle
qui, sagement interprétée, peut encore le mieux se concilier avec
les exigences de la science.«220 Hiervon aber grenzt Durkheim
eine schwärmerische Richtung des Neukantianismus ab: »Aussi
parle-t-on de Kant avec un enthousiasme de néophytes.«221 Als
Gipfel der Verirrung aber erscheint Durkheim die Einschätzung
eines gewissen Herrn Windelband: »Un professeur à Strasbourg,
qui n’est pas sans réputation en Allemagne, M. Windelband,
déclarait récemment que la Critique de la raison pure est le livre
fondamental (Grundbuch) de la philosophie.«222 Und im
gleichen Zusammenhang weist Durkheim amüsiert auf die
218
219
220
221
222
Emile Durkheim, La philosophie dans les universités allemandes, in:
Revue internationale de l’enseignement 13, 1887, S. 313-338 u. S. 423440, abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 3: Fonctions sociales et
institutions, Paris 1975, S. 437-486 (S. 455, Hervorh. v. W. G.).
Ebd., S. 455.
Ebd., S. 456.
Ebd.
Ebd.
92
Recht als Kultur.
Studie Cohens ›Von Kants Einfluß auf die deutsche Kultur‹223
hin.
Ist die Erkenntnislehre in Deutschland vom Geist des
Kantianismus geprägt, so ist nach Durkheims Einschätzung die
wissenschaftliche Ethik ein ganz besonderes Feld in
Deutschland. In den Lehrplänen der Philosophie taucht sie nur
am Rande auf, und so ist es eher die von Juristen gelehrte
Rechtsphilosophie, in der sich eine lebhafte Auseinandersetzung
mit der Ethik finden lasse. Als reine ›Moralphilosophie‹ habe sie
keinen Platz in der Universitätslehre, die sie eher als spekulative
Wissenschaft – einen Luxus – betrachte, der unseren
Erkenntnissen nichts Neues hinzufüge. Und dennoch habe
gerade dieser besondere Status – so Durkheim – die
Wissenschaft von der Moral vorangetrieben: »Et pourtant il s’est
trouvé que ce divorce de la morale scientifique et de la morale
pratique a singulièrement servi aux progrès de la science.«224
Diese Trennung einer theoretischen Ethik und praktischen
Moralphilosophie freilich sei für Frankreich undenkbar: »En
France, nous n’avons jamais pu séparer les deux points de vue.
La pratique et la théorie ne sont pas, pour nous, deux choses
distinctes: la première n’est, à nos yeux, que la seconde en
puissance, et, pour ainsi dire, en train de se réaliser.«225
Durkheim versucht nun keineswegs, diese andre Konzeption des
Theorie-Praxis-Verhältnisses, wie sie dem französischen
Positivismus eigen ist, gegen das Modell einer relativen
Trennung auszuspielen. Es findet sich im Gegenteil eine Kritik
der engen Verbindung von Theorie und Praxis in den
Moralwissenschaften: »C’est pourquoi nous avons toujours
exigé du philosophe moraliste qu’il exerçât une action sur les
mœurs et les caractères. Or, quand même la science des mœurs
serait d’accord dans ses conclusions avec la morale populaire,
223
224
225
Hermann Cohens, Von Kants Einfluß auf die deutsche Kultur, Berlin
1883.
Emile Durkheim, La philosophie dans les universités allemandes,
a. a. O., S. 461.
Ebd.
93
Werner Gephart
elle ne peut pourtant pas parler de morale comme fait le sens
commun.«226 Die Eigenart der deutschen Moralwissenschaft
beruhe nunmehr gerade auf ihrer Unabhängigkeit von einem
Publikum und ihrer sozialen Verantwortungslosigkeit:
»Dégagée, dès l’origine, de toute préoccupation utilitaire et de
toute responsabilité sociale, la morale allemande a pu se
développer très tôt avec une entière indépendance.«227
Dieser Zug der Autonomisierung der Moralwissenschaft ist
jedoch durch die professionelle Herkunft ihrer Vertreter
gleichsam davor bewahrt, in metaphysische Konstruktionen und
Utopien zu verfallen, nämlich die fachliche Repräsentation der
Rechtsphilosophie durch professionelle Juristen. Denn man
erschöpfe sich nicht – wie in Frankreich – im Räsonieren über
das Gute und das Nützliche: »En France, on passe son temps à
raisonner sur le bien et l’utile, à discuter sur les bases de
l’éthique, et les moralistes s’occupent, les uns après les autres, à
jeter les fondements d’un édifice qu’ils ne construisent
jamais.«228 Die deutsche Rechts- und Moralphilosophie zeichne
sich demgegenüber durch Konstruktion und Konkretisierung der
moralischen Grundlagen aus. In Verbindung mit der neuen
Ökonomie habe die deutsche Moralwissenschaft schließlich das
klassische Naturrecht überwunden. Es sei gerade die Leistung
der ›neuen‹ Moralisten und ›neuen‹ Ökonomen, die Prämisse
eines unwandelbaren Naturrechts zu Fall gebracht zu haben:
»Les nouveaux moralistes, comme les nouveaux économistes,
font remarquer que cet homme général, toujours et partout
identique à lui-même, est une pure abstraction et n’a jamais
existé en réalité.«229 Damit aber erscheint die Moral nicht mehr
als etwas Abstraktes, sondern als etwas sehr ›Lebendiges‹: »La
morale n’apparaît plus comme quelque chose d’abstrait, d’inerte
226
227
228
229
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Ebd., S. 464.
94
Recht als Kultur.
et de mort que contemple l’impersonnelle raison; c’est un
facteur de la vie collective.«230
Damit läßt sich der erste Rekonstruktionsschritt beschließen.
Aus einer subtilen Kenntnis der zeitgenössischen Wert- und
Moralphilosophie im Deutschland der 80er Jahre folgt
Durkheim nicht der vom Kantianismus vorgezeichneten
Wertlehre der Philosophischen Schulen, sondern setzt auf die,
soziologisch aus Argumenten der Werturteilsfreiheit
hergeleitete, relative Autonomie der neuen Moralwissenschaft in
Deutschland, die in der neuen Ökonomie und Rechtsphilosophie
als empirische, am ›sozialen Leben‹ orientierte Kritik des
traditionellen Naturrechts auftritt.
2.
Auf dem Wege zur neuen Moralwissenschaft
Wie aber stellt sich die ›neue Moralwissenschaft‹ für Emile
Durkheim dar? Wir finden seine Sicht der moralischen Dinge in
Deutschland in dem Bericht über die ›Science positive de la
morale en Allemagne‹, die eine inhaltliche Ergänzung zur
institutionellen Studie über ›La philosophie dans les universités
allemandes‹ darstellt.
Für die neue moralwissenschaftliche Bewegung in Deutschland
macht Emile Durkheim drei Trägergruppen »verantwortlich«:
Ökonomen und Soziologen, Juristen und schließlich die ›reinen‹
Moralwissenschaftler.
Das Charakteristikum des vielgeschmähten Kathedersozialismus
sieht Durkheim in der produktiven Verknüpfung von
ökonomischer Lehre und Moralwissenschaft, aus der beide
erneuert hervorgingen: »En fait ce qui caractérise la nouvelle
école économique, c’est un rapprochement intime de l’économie
politique et de la morale qui a renouvelé ces deux sciences à la
fois.«231 In der Beziehung von Ökonomie und Moral sei damit
230
231
Ebd.
Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in:
Revue philosophique 24, 1887, S. 33-58, S. 113-142, S. 275-284,
abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie
sociale, a. a. O., S. 267-343 (S. 268).
95
Werner Gephart
sowohl die Konzeption totaler wechselseitiger Indifferenz232,
wie die Absorption der Moral durch die Ökonomie im
angelsächsischen Utilitarismus, aber auch die bloße
Moralisierung der Ökonomie – wie sie von Gustav von
Schönberg233 propagiert werde – überwunden. Insofern schließt
sich Durkheim der Kritik Mengers durchaus an: »La nouvelle
école économique, dit Menger, ne remplace pas l’ancienne, mais
se contente de porter des jugements moraux sur les vérités
établies par cette dernière.«234 Die methodologische Aufgabe
bestünde vielmehr darin, die Gemeinsamkeit der beiden
Sphären, von Ökonomie und Moral, zu erweisen: »Mais il
faudrait prouver que ces deux ordres de faits, tout en étant
distincts, sont pourtant de même nature.«235 Diesen Nachweis
geführt zu haben, sei das Verdienst von Wagner und Schmoller.
Aus der Rekonstruktion dieser Autoren müßten wir also
erfahren, in welchem Sinne der Gegenstand der
Moralwissenschaft auf dem Wege einer Annäherung an die
ökonomischen Wissenschaften neu zu bestimmen ist. Welcher
Gewinn ist also für die Bestimmung der moralischen Tatsache
aus dem – bei Durkheim wohl mit Absicht entpolitisierten –
›Kathedersozialismus‹ herzuleiten?
Der entscheidende Umschwung leitet sich für Durkheim aus
einer Revision des implizierten Gesellschaftsbegriffs her: »Pour
232
233
234
235
Schumpeter bewertet die klare Grenzziehung zwischen Ökonomie und
Soziologie als Voraussetzung der Institutionalisierung: »Die
französische Ökonomie hat mehr an ihren Grenzen festgehalten als die
deutsche und darauf verzichtet, ihr Arbeitsgebiet mit dem der
Soziologie zusammenfallen zu lassen, so daß sich viel schneller als in
Deutschland eine selbständige Soziologie entwickelt hat.« (Joseph
Schumpeter, Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte, in:
Grundriß der Sozialökonomik, I. Abteilung, 1. Teil, Tübingen 21924, S.
19-125 (S. 104).
Gustav von Schönberg ist im übrigen der Begründer des ›Handbuchs‹,
das Max Weber als ›Grundriß der Nationalökonomie‹ weiterführen
wird.
Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in:
Revue philosophique 24, 1887, S. 33-58, S. 113-142, S. 275-284,
abgedr. in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie
sociale, a. a.O., S. 267-343 (S. 271).
Ebd.
96
Recht als Kultur.
eux [Wagner et Schmoller, W. G.], au contraire, la société est un
être véritable, qui sans doute n’est rien en dehors des individus
qui le composent, mais qui n’en a pas moins sa nature propre et
sa personnalité.«236 In dieser eigenständigen Realität von
›Gesellschaft‹ entsteht aus der bloßen In-Beziehung-Setzung
ihrer ›Teile‹ ein neues ›Ganzes‹, das die Summe seiner
Elemente übersteigt: »Il est faux de dire qu’un tout soit égal à la
somme de ses parties. Mais par cela seul que ces parties ont
entre elles des rapports définis, sont assemblées d’une certaine
manière, il résulte de cet assemblage quelque chose de nouveau,
un être composé assurément, mais qui a des propriétés spéciales
et qui peut même, sous de certaines conditions, prendre
conscience de soi.«237 Emile Durkheim bezieht also aus der
Volkswirtschaftslehre die Argumentation zur Emergenz des
Sozialen,
das
–
unter
durchaus
problematischen
bewußtseinstheoretischen
Voraussetzungen
–
ein
›Eigenbewußtsein‹ von Gesellschaft einschließe. Über diesen
Gesellschaftsbegriff ist auch die Ökonomie als eine reale
›Volkswirtschaft‹ von den ›Einzelwirtschaften‹ abzuheben.
Damit sind, nach Durkheim, auch Moral und Ökonomie
miteinander versöhnt; weder durch eine Ökonomisierung der
Moral, wie im Utilitarismus, noch als bloße Moralisierung der
Ökonomie, wie im moralistischen Sozialismus, sondern durch
den gemeinsamen Bezug auf Gesellschaft sind beide aus ihrer
individualistischen Verengung befreit. Ökonomie und Moral
sind somit durch einen gemeinsamen Zweck, der Erhaltung der
Lebens- und Entwicklungsbedingungen (›comment les societés
peuvent vivre et se développer‹) verbunden, ihr Unterschied
liegt darin, daß die Moral gewissermaßen die ›Form‹ des
ökonomischen Lebens darstellt, die sich als Verpflichtung an
bestimmte Handlungsweisen heftet: »Ce qui appartient en
propre à la morale, c’est cette forme de l’obligation qui vient
236
237
Ebd., S. 272.
Ebd.
97
Werner Gephart
s’attacher à certaines manières d’agir et les marquer de son
empreinte.«238
Wie sich diese Transformation des faktischen Verhaltens in die
Form einer Verpflichtung vollzieht, findet Durkheim auf
glückliche
Weise
bei
Schmoller
beantwortet:
als
Habitualisierung des rein zufälligen Handelns, das sich zu einer
Verpflichtung verdichtet, nicht nur aus der Autorität des
Gewohnten, der ›traditionalen‹ Legitimitätsform im Sinne
Webers, sondern zugleich durch den Glauben an den
öffentlichen Nutzen. So läßt sich eine Stufenordnung von
Brauch, Moral und Recht entwickeln, in der sich eine
zunehmende ›Kristallisierung‹ kollektiver Gewohnheiten
vollziehe: »Ainsi se forment les mœurs, germe premier d’où
sont nés successivement le droit et la morale; car la morale et le
droit ne sont que des habitudes collectives, des manières
constantes d’agir qui se trouvent être communes à toute une
société. En d’autres termes c’est comme une cristallisation de la
conduite humaine.«239 Für die Beziehung von Moral und
Ökonomie folgt aus dieser Analyse, daß sich die Moral als Form
dem ökonomischen Leben als Material nicht einfach überstülpt,
sondern aus den Lebensprozessen heraus ›erwächst‹, in denen
neben ökonomischen ganz andere soziale Lebensformen Einfluß
gewinnen. Entscheidend ist dabei für Durkheim die empirische
Orientierung: »On ne peut pas construire la morale de toutes
pièces pour l’imposer ensuite aux choses, mais il faut observer
les choses pour induire en la morale.«240
Wie sich aus der bloßen Beobachtung die normativ ›gültige‹,
Moral erzeugende Induktion ergeben soll, bleibt sicher unklar.
Was Durkheim so bemerkenswert erscheint, ist die Idee, Moral
in der Wechselwirkung mit anderen Phänomenen zu studieren
und nicht aus abstrakten Konzepten herzuleiten. Die ZweiWelten-Lehre der Kantianer (›deux mondes‹) ist überwunden,
und das Studium der Moral als einer fundamentalen Ordnung
238
239
240
Ebd., S. 275.
Ebd.
Ebd., S. 278.
98
Recht als Kultur.
ermöglicht eine neue Sicht, die nicht mehr im Naturrecht
mündet, sondern – mit dem Geschichtsbuch in der Hand –
(»l’histoire en main«241) relativiert ist. Der universelle Mensch
der Naturrechtslehre ist – wie Durkheim betont – historisch und
soziologisch relativiert. Durkheims Kritik an der ›historischen
Nationalökonomie‹ in der Form von Wagner und Schmoller
richtet sich nun keineswegs gegen deren Grundannahmen,
sondern gegen einen Systemwiderspruch: Wenn Ökonomie und
Moral aus den gemeinsamen Quellen des sozialen Lebens
erwachsen, ist gar nicht einsichtig, warum der Staat nunmehr
eine dirigierende Rolle im sozialen Leben einnehmen soll. Was
Durkheim der nationalökonomischen Schule vorhält, ist ein
Rückfall in den naturrechtlichen Rationalismus und die
Preisgabe eines ethischen Naturalismus: »Les lois morales, le
règne social ne se distinguent des autres règnes de la nature que
par des nuances et des différences de degrés. Sans doute les
changements y sont plus faciles, parce que la matière en est plus
élastique, mais ils ne se produisent pas magiquement sur l’ordre
du législateur et ne peuvent résulter que d’une combinaison des
lois naturelles.«242 Das soziale Gesetz ist also nur in den
Grenzen der natürlichen Gesetze manipulierbar; es ist
Bestandteil der nach dem Gesichtspunkt der Komplexität
gestuften Ordnung der Natur.
Unsere Ausgangsfrage nach dem Naturalismus in der Wertlehre
Emile Durkheims können wir also nach der Diskussion von
Durkheims Lektüre der nationalökonomischen Schule in
Deutschland insoweit beantworten: Durkheim feiert geradezu
die Überwindung des kantischen Dualismus wie des
utilitaristischen Individualismus, indem Ökonomie und Moral
als Bestandteile einer gemeinsamen natürlichen Ordnung des
sozialen Lebens begriffen würden, in der die Staatsintervention
des Kathedersozialismus einen Fremdkörper darstellte, der die
Gestaltbarkeit der sozialen Gesetze überschätzte und den
241
242
Ebd., S. 279.
Ebd., S. 281.
99
Werner Gephart
vorrationalen Kräften des sozialen Lebens die evolutionäre
Spitze genommen habe.
Unter den Juristen, die den Weg für eine positive Wissenschaft
von der Moral bereitet haben, setzt sich Emile Durkheim
insbesondere243 mit Rudolf von Ihering auseinander. Für die
Entwicklung der eigenständigen Position Emile Durkheims ist
die Lektüre Rudolf von Iherings Bestätigung eines
wissenschaftlichen Zugangs zur Ethik und gleichzeitig eine
Gelegenheit, die Beziehung von Norm und Interesse zu
analysieren.
Bezeichnenderweise setzt Durkheim mit der eher verdeckten
Passage aus dem zweiten Bande vom ›Zweck im Recht‹ ein, in
der von Ihering die Ethik zu einem Teilgebiet der
Sozialwissenschaft erklärt, sie gleichzeitig aber für die
Jurisprudenz, Statistik und die politische Ökonomie öffnet.244
Und Durkheim läßt auch keineswegs die Weite des von Ihering
gepflegten Blickwinkels, der in die Sprachwissenschaft, die
Mythologie und Etymologie hineinführt, unerwähnt, denn aus
der Synthese dieser Disziplinen soll die Philosophie der neuen
Moral hervorgehen. Es setzt voraus, daß sich diese
Wissenschaften der Moral mit ebensoviel Unparteilichkeit
annehmen lassen, wie es die Naturwissenschaftler gegenüber
Der
den
natürlichen
Phänomenen
praktizieren.245
methodologische Zugriff auf die Wirklichkeit der Moralen ist
über das Konzept des Zwecks vermittelt.
Entgegen einer hehren
Wirklichkeit
aus
der
243
244
245
philosophischen Tradition, die
Kombination
von
Begriffen
Durkheim erwähnt ebenfalls die Studie von Georg Jellinek, ›Die
socialethische Bedeutung von Recht, Staat und Strafe‹, Wien 1878, aus
der die bekannte Formel stammt: »... das Recht ist das ethische
Minimum«, Ebd., S. 42. In der ›Geschichte des deutschen Strafrechts
und der deutschen Strafrechtstheorien‹ von L. v. Bar (Berlin 1882 )
wird in einer für die Zeit bezeichnenden Weise aus der
›socialethischen‹ Bedeutung die ›sozialistische‹(!), während Jellineks
Einleitung von der ›Socialwissenschaft‹ handelt!
Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne,
a. a. O., S. 287.
Ebd., S. 288.
100
Recht als Kultur.
hervorzubringen, gelte es, das Leben selbst zu ergreifen, das
sich nicht in der Reflexion, sondern im Handeln manifestiere.
Da jedes Handeln durch die Vorstellung eines Zwecks bestimmt
sei, ist auch das Recht, als Bestandteil der Lebenswirklichkeit,
aus seinem Zweck zu erklären. Eine Regel des Rechts zu
begreifen, heißt nicht, ihren Wahrheitsgehalt zu beweisen,
sondern ihre »Richtigkeit« (juste appropriation) in bezug auf
den zu erreichenden Zweck zu erweisen. Diese Art der bei
Weber so genannten »Richtigkeitsrationalität« ist bei Emile
Durkheim einer grundlegenden Kritik unterworfen, aus der sich
– bereits in dieser frühen Studie (1887) – ergibt, daß eine
Interessentheorie des sozialen Lebens und eine Zwecklehre des
Handelns für den Aufbau einer positiven Moralwissenschaft
nicht in Betracht kommen: »On peut assurément reprocher à M.
Ihering de n’avoir guère approfondi ce concept de la fin.«246
Wenn mit dem Zweckbegriff die bewußte Vorstellung eines
Handlungszieles gemeint sei, würden eine Reihe von
Handlungen aus dem Zweckmodell herausfallen: »Que de fois
nous agissons sans connaître le but où nous tendons!«247
Durkheim verweist sowohl auf die Alltagserfahrung, wie die
Ergebnisse der Hypnoseforschung. Ihering hätte – so Durkheim
– die hellen Zonen des Bewußtseins verlassen und die dunkleren
Zonen der Gewohnheiten, Instinkte, Gefühle und Triebe
aufsuchen müssen. Zum anderen aber gebe es genügend
Ereignisse, die zwar Ursachen besitzen, aber keinerlei Zwecke
verfolgen, so daß die teleologische Denkweise als universale
Methode unbrauchbar sei.
In der Lektüre von Ihering setzt sich also die Kritiklinie fort, die
der nationalökonomischen Schule als traditionalistisches
Überlebsel vorgehalten wurde, nämlich die non-rationalen
Triebkräfte des sozialen Lebens in den Vordergrund zu stellen:
»Quoiqu’il ne soit pas utilitariste, il fait jouer au calcul et aux
sentiments intéressés un rôle démesuré dans la formation des
idées morales et il semble ignorer que, dès l’origine de
246
247
Ebd., S. 289.
Ebd.
101
Werner Gephart
l’évolution humaine, il y avait chez l’homme d’autres mobiles,
aussi puissants.«248
Damit ist neben einer ökonomischen und juristischen
Zugangsweise zur Moralwissenschaft eigentlich die Psychologie
angesprochen, die Emile Durkheim in der beherrschenden Figur
Wilhelm Wundts für seine Entwicklung einer eigenständigen
›science de la morale‹ auswertet. In der Déploige-Affaire hatte
Durkheim nicht nur den Einfluß von Schmoller und Wagner
bestritten, sondern auch einen vermeintlichen Einfluß Wundts
auf die Abgrenzung von Soziologie und Psychologie scharf
zurückgewiesen.249 Doch sehen wir selbst, in welcher Weise die
Lektüre der ›Ethik‹ von Wilhelm Wundt die spätere Soziologie
der Moral Emile Durkheims vorbereitet!
Das Vorwort zur ersten Auflage der Ethik setzt mit einer
Orientierung ein, die Durkheims Zustimmung finden mußte:
»Das folgende Werk unternimmt es, die Probleme der Ethik in
unmittelbarer Anlehnung an die Betrachtung der Tatsachen des
sittlichen Lebens zu untersuchen.«250 Was Durkheim in seiner
Wiedergabe der Ethik hervorhebt, ist also die empirische
Vorgehensweise: »Sa méthode est nettement empirique.«251
Gleichzeitig sei sie aber in einem durchaus positiven Sinne
›spekulativ‹, indem sie aus der Beobachtung zu allgemeinen
Schlußfolgerungen gelangen müsse: »Ainsi définie, la méthode
spéculative n’est pas une discipline exclusivement
philosophique, mais il n’est pas une science positive qui puisse
s’en passer.«252 Durkheims Verständnis des ›Positivismus‹ –
und dies gilt es gegenüber Rezeptionsverzerrungen in
Deutschland
248
249
250
251
252
festzuhalten
–
schließt
also
keineswegs
Ebd., S. 297.
Vgl. Emile Durkheim, Textes. Bd. 1. Eléments d’une théorie sociale,
a. a. O., S. 403.
Wilhelm Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze
des sittlichen Lebens, Stuttgart 41912 (zuerst 1886), S. III.
Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne,
a. a. O., S. 298.
Ebd., S. 300.
102
Recht als Kultur.
Generalisierungen aus, sondern Durkheim favorisiert in diesem
Sinne einen ›spekulativen Positivismus‹.
Wie aber soll eine empirische, von den ›Tatsachen des sittlichen
Lebens‹ ausgehende Moralwissenschaft vorgehen? – Wo findet
sie das Material, aus dem die ›Gesetze‹ der Normen herzuleiten
sind? Was Wilhelm Wundt am ›älteren‹ Empirismus, also dem
angelsächsischen Utilitarismus kritisiert, ist nicht nur die
beschränkte Einsicht in die Gesetze der Psychologie, sondern
der verfehlte Ausgangspunkt einer Individualpsychologie,
während die ›Ethik‹ doch im Sozialen wurzelt. In der deutschen
Tradition, die von der Sprach- und Mythenforschung der
Romantik bis in die Völkerpsychologie in anderen Traditionen
gegründet ist, sucht Wundt eben dort die Ursprünge der Ethik
auf: in der ›Vorhalle der Ethik‹: »C’est dans l’histoire des
langues, des religions, des mœurs, de la civilisation en général,
que nous pourrons retrouver les traces d’un développement dont
les consciences particulières ne contiennent et ne connaissent
que les ressorts initiaux.«253 Es sind vier Faktoren, die nach
Wundt die Entwicklung der Moral bestimmt haben: die
Religionen, die Sitten, die physischen Bedingungen und die
allgemeine Kultur.
Im Anfang sind Recht, Moral und Religion untrennbar
miteinander verschlungen: »A l’origine, droit, morale et religion
sont confondus dans une sorte de synthèse dont il est impossible
de dissocier les éléments. Aucun de ces phénomènes n’est
antérieur à l’autre; mais ils se sont successivement dégagés de
cette espèce de mélange indistinct où ils préexistaient à l’état de
germe.«254 Damit ist das für Durkheim zentrale Thema der
ursprünglichen Einheit und sukzessiven Abschichtung von
Moral, Recht und Religion benannt. Insofern liest sich die
Geschichte der Moral als Differenzierungsgeschichte. Nur wenn
Recht, Moral und Religion ursprünglich miteinander konfundiert
sind, lassen sich die Merkmale erst aus den ausdifferenzierten
253
254
Ebd., S. 301.
Ebd.
103
Werner Gephart
Systemen, nicht aber aus der ursprünglichen ›Einheit‹ herleiten.
Der Religionsbegriff wird aus dieser methodologischen
Erwägung heraus auch nicht anhand der ›einfachen‹, sondern
der entwickelten Religionen entfaltet: Es ist das Bedürfnis nach
einer Idealisierung der sozialen Welt, die sich in den ›Göttern‹
personifiziert und damit zugleich die Verbindung zu einer an
personifizierten Idealen ausgerichteten Ethik herstellt. Durkheim
referiert den religionsgeschichtlichen Bruch zwischen dem
Ahnenkult und den Göttern der Naturreligionen, die schließlich
nach Wundt die Trennung von der Moral255 einleiten: »... les
dieux des religions naturelles (Naturreligionen) symbolisent le
plus souvent des forces toutes physiques et qui n’ont guère de
rapports avec la morale ni avec l’ordre social.«256 Mit der
Ablösung des Kultus der Naturkräfte durch die personifizierten
Kräfte der besonders begabten Heroen wird die ›Natur‹
wiederum humanisiert und schließlich in den monotheistischen
Religionen fortgesetzt. Damit befreit sich die Religion
zunehmend aus einem umweltbestimmten Naturverhältnis und
wird ebenso – wie die Moral – aus den naturalistischen
Zwängen befreit: »C’est ainsi que l’idéal religieux se dégage
peu à peu du milieu physique dont il portait si fortement
l’empreinte pour se concentrer dans une grande personnalité
humaine et devenir vraiment moral.«257
Der Übergang von der ›Religion‹ zur ›Moral‹ wird über die
›Sitten‹ vermittelt, deren bindende Kraft nicht aus der bloßen
Gewohnheit, sondern aus ihrem religiösen Ursprung folge. Die
Moral aber weist gegenüber der Religion durchaus
eigenständige Merkmale auf: Es ist die natürliche Neigung für
den Anderen, der zugleich der Ähnliche ist: »Tout homme en
effet a un penchant naturel pour son semblable qui se manifesta
dès que plusieurs hommes se mirent à vivre ensemble, c’est-à255
256
257
Diese Vorstellung ist deshalb bemerkenswert, weil mit der Ersetzung
der Naturreligionen durch die Naturwissenschaften eine vergleichbare
›Entmoralisierung‹ einhergeht.
Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne,
a. a. O., S. 303.
Ebd.
104
Recht als Kultur.
dire dès les premiers jours de l’humanité. Ce qui les rapprochait
alors les uns des autres, ce n’était pas, comme on l’a dit
quelquefois, la communauté du sang, mais la ressemblance de la
langue, des habitudes et des manières.«258 Hier ist also die
›solidarité par similitude‹ der ›Division du travail social‹
deutlich vorgezeichnet. Die überkommene These der sozialen
Natur des Menschen, seiner Soziabilität, ist mit der Hypothese
ganz spezifischer Mechanismen der romantisch anmutenden
Vergemeinschaftung durch Sprache, Gewohnheiten und
Handlungsweisen verbunden. So wie der moralische Urtrieb der
Bindung an den Ähnlichen sich zunächst auf eine diffuse, nicht
familiale Gemeinschaft stützte, wandelt sich die Moral mit dem
Strukturwandel der Gemeinschaften: Aus der dumpfen und
unbestimmten Moral der undifferenzierten Gemeinschaft
entsteht mit der Genese der Familie eine neue Familienmoral
(moral domestique) und mit der Entwicklung des Staates eine
neue öffentliche Moral: »Puis les Etats naissent, les classes et les
castes s’organisent, les inégalités se multiplient et les sentiments
collectifs ainsi que la morale se diversifient avec les conditions
sociales.«259 Somit wird hier bereits das Thema einer
Korrespondenz von struktureller Differenzierung und
normativer Differenzierung formuliert, das den Kern von
Durkheims später explizierter Soziologie normativer Systeme
ausmacht.
In der Wiedergabe der ›Ethik‹ Wilhelm Wundts ist aber auch die
Gegenbewegung zur Differenzierung und Dispersion der
moralischen Kräfte vorgezeichnet; eine Bewegung der
moralischen Konzentration: »Mais cette dispersion des idées
morales n’est pas le dernier mot du progrès et depuis longtemps
déjà a commencé un mouvement de concentration qui se
poursuit sous nos yeux.«260
Und diese Gegenbewegung wird durch morphologische
Veränderungen ausgelöst: Die Zunahme des Sozialvolumens
258
259
260
Ebd., S. 307.
Ebd., S. 309.
Ebd.
105
Werner Gephart
verändert den Charakter der sozialen Bande. Es findet ein
grundlegender
Strukturwandel
von
persönlichen
zu
unpersönlichen Beziehungen statt: »A mesure que les sociétés
ont augmenté en volume, le lien qui a rattaché les hommes les
uns aux autres a cessé d’être personnel. Ce qui a remplacé cette
sympathie concrète, c’est un attachement plus abstrait, mais non
moins puissant pour la communauté même dont on fait partie,
...«261 Die Solidaritätsbande ist von der persönlichen,
partikularistischen Basis auf eine universalistische Grundlage
gestellt. Der Bezugspunkt der Moral ist nicht der verengte
soziale Kreis, sondern: »Dès lors, les membres d’une même
société se sont aimés et assistés, non parce qu’ils ne
connaissaient et dans la mesure où ils se connaissaient, mais
parce qu’ils étaient tous les substrats de la conscience
collective.«262 Mit diesem Bezug auf das gemeinschaftsbildende
gemeinsame Substrat der ›conscience collective‹ verlieren sich
die moralischen Spannungen innerhalb der modernen
Gesellschaften, ohne daß – so Wundt – der motivierende Effekt
der sozialen Ungleichheit dabei verloren ginge.
Wir finden damit in Durkheims Lektüre der ›Ethik‹ Wilhelm
Wundts die zentralen Themen und Lösungen der
Moralsoziologie Emile Durkheims vorgezeichnet. Gleichzeitig
aber sehen wir, daß Durkheim in der Auseinandersetzung mit
Simon Déploige den Einfluß Wundts auf die Entwicklung der
Religionssoziologie
keineswegs
verborgen
hat:
Der
Religionsbegriff ist bei Wundt aus den fortgeschrittenen
Religionen hergeleitet, während Durkheim den Gottesbegriff
nicht für konstitutiv hält; dafür aber drängen sich tief
verwurzelte Parallelen zwischen Durkheims entwickelter
Moralsoziologie und der ›Ethik‹ Wilhelm Wundts auf. Und dies
gilt in gleichem Maße für moraltheoretische Schlußfolgerungen,
die Wundt aus seiner Genealogie der Moral herleitet, die
formalen und materialen Elemente der Ethik263, sowie für die
261
262
263
Ebd.
Ebd. (Hervorh. v. W. G.).
Ebd., S. 311.
106
Recht als Kultur.
Aufteilung der Normwelt in individuelle, soziale und
menschliche Normen, die in der Differenzierung ›subjektiver‹
und ›objektiver‹ Formen diejenige Sprachgestalt besitzen, von
der Durkheims moralsoziologische Untersuchung der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung ausgeht: »Mets-toi en état de
remplir utilement une fonction déterminée.«264
Damit schließt sich der erste Argumentationskreis. Wir sehen in
der Rezeption der deutschen Moralwissenschaft eine wichtige
methodische und materiale Voraussetzung für Durkheims
Soziologie normativer Systeme. Durkheim wendet sich
ausdrücklich gegen den aufblühenden Neukantianismus in
Deutschland und bevorzugt die nationalökonomische Schule, in
der eine wechselseitige Durchdringung von Ökonomie und
Moral methodisch vorbereitet ist, die sich mit der
Interessentheorie des Rechts zu einer Kritik des Naturrechts
verbindet, aus der die Geschichte der Moral weniger als eine
Abfolge von Irrtümern hervorgeht, sondern als sozialstrukturell
bedingte Variation eines durchgängigen Themas – der
menschlichen Solidarität – erscheint. Während gerade bei
Wundt durchaus die metaethische Problematik der Beziehung
von Sein und Sollen im Spiel ist, wirft Durkheim der Ethik
Wilhelm Wundts gerade einen verfehlten Kantianismus vor:
»Cette masse imposante de faits est animée d’un souffle
d’idéalisme que l’auteur déclare tenir de Kant, quoiqu’il semble
n’avoir rien de bien particulièrement kantien.«265 Kausalität und
Vergeltung
sind
scheinbar
ungeschieden;
der
erkenntnistheoretische Positivismus verbindet sich mit einer
264
265
So der ethische Gehalt der Arbeitsteilung bei Durkheim, De la division
du travail social, a. a. O., S. 6.
Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne,
a. a. O., S. 324. Es fehlt in der Rezeption durch Durkheim die
differenzierte Auseinandersetzung mit dem Gesetzesbegriff der Naturund der Moralwissenschaften, wie er bei Wundt zu finden ist; in der
umgekehrten Rezeptionsrichtung läßt sich – auch in der vierten Auflage
der ›Ethik‹ (Wilhelm Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen
und Gesetze des sittlichen Lebens, Stuttgart 41912.) – nicht ausmachen,
daß Wundt die französische Schule der Moralsoziologie, über Comte
hinaus, zur Kenntnis genommen hätte. Dies mag für die
Durkheimrezeption in Deutschland nicht folgenlos gewesen sein.
107
Werner Gephart
naturalistischen Auffassung des Normativen, die in der Struktur
des sozialen Lebens ihre Erklärung findet. In dieser Konzeption
ist daher weder für eine Prinzipienethik Platz, noch der Raum
für die Ausgrenzung einer eigenständigen normativen Sphäre,
die bei Wilhelm Wundt durchaus vom Reich der Natur
geschieden ist.266
3.
Auf dem Wege zur Soziologie normativer Systeme
Noch vor die Entwicklung einer eigenständigen Soziologie
normativer Systeme ist bei Durkheim die Auseinandersetzung
mit den theoretischen Morallehren von Kant, dem Utilitarismus
und dem französischen Rationalismus geschaltet; denn die
Studie zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist eine Arbeit, in
der die zuvor skizzierte Linie einer ›science positive de la
morale‹ an einem politisch wie moralisch zentralen Punkt der
Moderne, der Arbeitsteilung, fortgeführt wird. In der zweiten
Auflage von 1902 ist freilich die entsprechende Passage267
eliminiert mit der Begründung, daß es manche Diskussionen
einfach nicht verdienen würden, ins Unbestimmte verlängert zu
werden. Für unsere Zwecke allerdings ist die Frage ganz
entscheidend, ob Durkheim einen Ausweg aus dem Dilemma
des soziologischen Relativismus der Moralen gefunden hatte,
nämlich entweder die moralische Wahrheitsfrage auf ihre
Richtigkeitsrationalität zu reduzieren (so die Interpretation zu
Rudolf von Ihering) oder in einer nicht begründeten materialen
Wertethik Zuflucht zu suchen.
Denn für die Frage, ob der Arbeitsteilung ein moralischer Wert
zukomme, ist es erforderlich, ein Kriterium der Moralität
anzugeben.
Die Kantische Ethik wird in diesem Werkstück dabei auf
doppeltem Wege zurückgewiesen. Durkheim verwirft zunächst
die Herleitung des kategorischen Imperativs, wie er in der
Metaphysik der Sitten aus dem Satz des ausgeschlossenen
266
267
Wundt unterscheidet dementsprechend ›explikative‹ und ›normative‹
Wissenschaften.
Wiederabgedruckt als: Définition du fait moral in: Emile Durkheim,
Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, Paris 1975, S. 257-288.
108
Recht als Kultur.
Widerspruchs entwickelt wird. Die Argumentation von Kant
reduziere sich – so Durkheim – auf ein bloßes Spiel mit
Begriffen. Durkheim faßt das Kantische Argument in der
folgenden Weise zusammen: »Nous n’agissons moralement que
quand la maxime de notre action peut être universalisée. Par
conséquent, pour qu’il fût moral de refuser notre assistance à
nos semblables quand ils en ont besoin, il faudrait que nous
pussions faire de la maxime égoïste une loi s’appliquant à tous
les cas sans exception. Or, nous ne pouvons la généraliser à ce
point sans nous contredire; car, en fait, toutes les fois que,
personnellement, nous somme dans la détresse, nous désirons
être assistés.«268 Durkheim zieht nun keineswegs die
vorausgesetzte Geltung der Logik in Zweifel, sondern er
bestreitet die Prämisse der Bedürftigkeit des Menschen. Er
könne sich nämlich durchaus eine konsequente egoistische
Moral vorstellen bei Menschen, die in hohem Maße autonom
leben und handeln. Das Argument einer nur unsicheren
Geltungsgrundlage von Gesellschaft, wenn sie auf reinem
Egoismus beruhen würde, weist Durkheim zu Recht als
außerhalb der Kantischen Argumentation liegend zurück: »Dirat-on que dans ces conditions la société humaine devient
impossible? Ce serait faire intervenir des considérations
étrangères à l’impératif kantien.«269
Durkheim
begegnet
gleichfalls
einem
zweiten
Deduktionsversuch, wie er in der ›Grundlegung der Metaphysik
der Sitten‹ entwickelt ist. Aus dem Konzept der menschlichen
Person, sie nicht als Mittel, sondern als Zweck in sich zu
betrachten, sei gerade eine altruistische Moral nicht herzuleiten.
Denn sobald der andere nicht nur im negativen Sinne respektiert
wird, sondern als Mensch im positiven Sinne Mitleid erfährt,
werde zwar der andere als Zweck, der Handelnde selbst aber als
bloßes Mittel zur Erreichung dieses Zweckes behandelt.
Während die universalistische Argumentation des kategorischen
Imperativs also keineswegs – wie Kant voraussetzt – zu einem
268
269
Ebd., S. 258.
Ebd., S. 259.
109
Werner Gephart
Widerspruch führen muß, hat die Herleitung aus der
menschlichen Persönlichkeit den zu vermeidenden Widerspruch
– nach Durkheims Interpretation – gerade zur notwendigen
Voraussetzung. Um so lamentabler erscheint Durkheim der
Versuch von Kant, die Normen der Ehe vom Geruch einer zum
Mittel
der
physischen
Befriedigung
degenerierten
Wechselbeziehung der Ehegatten zu befreien. Denn wie solle
aus Unrecht durch das bloße Faktum der Reziprozität ›Moral‹
entstehen?270
Während die individualistische Interessentheorie ein ›logisches
Wunder‹ voraussetze: ›Rien ne vient de rien‹, gelinge es der
Theorie sozialer Interessen nicht, den logischen Sprung vom
Nutzen zur Moralität in irgendeiner Weise zu begründen. Im
Gegenteil sind eine Reihe sozialer Praktiken im herkömmlichen
Sinne ›moralisch‹, wie z. B. die obligatorische Bestattung der
Toten und viele mehr, deren sozialer Nutzen zweifelhaft ist und
unter Umständen eher Schaden anrichtet. So fügt Durkheim
Beispiele hinzu, die unmittelbar auf ein Problem der ›Delikte
gegen die Umwelt‹ hinlenken: »A tous ces exemples bien
d’autres pourraient être ajoutés, tels que la règle qui nous
commande le respect de l’âge, celle qui nous défend de faire
souffrir les animaux, et ces innombrables pratiques religieuses
qui s’imposent à la conscience du croyant avec une autorité
proprement morale, sans que pourtant elles présentent la
moindre utilité sociale.«271
Der ›Sozial-Utilitarismus‹ versagt also angesichts des Schutzes
von Tieren oder dem Respekt vor den älteren Menschen in einer
Gesellschaft.272 Auch die Genese moralischer Vorstellungen und
Institutionen ist nicht utilitaristisch erklärbar. Aus der Kritik des
Finalismus von Ihering wissen wir bereits, daß die Kontingenz
270
271
272
Wenn man diese Kant-Kritik vor Augen hat, fällt es nicht leicht, der
verbreiteten Deutung einer ›Kantianisierung‹ bei Durkheim zu folgen.
Emile Durkheim, Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, a. a. O., S.
265.
In der Arbeit von Amelung zur Rechtsgutlehre fällt bezeichnenderweise
der Tierschutz aus dem Denkmodell heraus. Vgl. Knut Amelung,
Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, a. a. O.
110
Recht als Kultur.
der Ziele durch reine Zweckerwägungen nur unvollständig
reduziert werden kann. Nun führt Durkheim ein grundlegendes
modelltheoretisches Argument gegen die utilitaristische
Steuerung des Handelns ein: »Or, ces calculs utilitaires, fussentils exacts, sont de trop savantes combinaisons d’idées pour agir
beaucoup sur la volonté; les éléments en sont trop nombreux et
les rapports qui les unissent trop enchevêtrés.«273 Es ist also die
Komplexitätsüberlastung,
die
eine
utilitaristische
Entscheidungsfindung
–
unter
den
Modellprämissen
274
vollständiger Information
– zwar nicht unmöglich werden
läßt, aber als Antrieb des Handelns eher untauglich erscheinen
lassen muß: »Pour les [les éléments, W. G.] tenir tous réunis
sous le regard de la conscience et dans l’ordre voulu, toute
l’énergie dont nous disposons est nécessaire et il ne nous en
reste plus pour agir.«275
In Wirklichkeit aber – so darf man Durkheim wohl lesen – sind
die Modellbedingungen vollständiger Information ja nicht
einmal erfüllt. Die Entscheidung unter den Bedingungen der
Unsicherheit bzw. unvollständiger Information führe jedoch zu
einem willkürlichen Abbruch des Entscheidens: »Il faut tenir
compte de tant de circonstances et de conditions diverses, il faut
avoir des choses une notion si parfaitement adéquate, qu’en
pareille matière la certitude est impossible. Quelque parti qu’on
prenne, on sent bien que la résolution à laquelle on s’arrête
garde quelque chose de conjectural, qu’une large place reste
ouverte aux risques.«276 Wenn aber schon eine individualistische
Verhaltensorientierung auf der Basis rein utilitaristischer
Erwägungen äußerst unwahrscheinlich ist, dann gelte dies um so
mehr für einen Sozial-Utilitarismus: »Car il ne suffit plus
273
274
275
276
Emile Durkheim, Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, a. a. O., S.
265.
Vgl. hierzu die Auseinandersetzung mit der ökonomischen Analyse des
Rechts in der obigen Einleitung.
Emile Durkheim, Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, a. a. O.,
S. 265.
Ebd., S. 265 f. Die Formulierung reicht nicht, hieraus eine
Durkheimsche Risikotheorie zu deduzieren.
111
Werner Gephart
d’apercevoir les conséquences relativement proches que peut
produire une action dans notre petit milieu personnel, mais il
faut mesurer les contrecoups qui peuvent en résulter dans toutes
les directions de l’organisme social.«277 Es ist also die
Unberechenbarkeit der Handlungsfolgen, die den SozialUtilitarismus als regulatives Prinzip der gesellschaftlichen
Ordnung unmöglich macht.
Damit stellt Durkheim eine außerordentlich differenzierte Kritik
des individualistischen und des kollektivistischen Utilitarismus
vor, die sich in der berühmten Analyse der non-kontraktuellen
Momente des Vertrages nur fortsetzt. Wenn wir die
soziologische Begründung für die Notwendigkeit sozialer
Normen entwickelt haben, können wir diese, aus der
Utilitarismus-Kritik entstandene, Argumentationsfolge an das
Konzept der ›conscience collective‹ zurückbinden, um zu sehen,
wie die Grundelemente der von Kant aus der Logik des Denkens
hergeleiteten Moral nur der Ausdruck des moralischen
Bewußtseins sind. Das ›Reich des Normativen‹ entfaltet sich
demnach in dem Spannungsfeld einer auf das empirische
Studium der sittlichen Tatsachen gerichteten, historischpositiven Morallehre, einer an Kant orientierten Kritik der
universalistischen Ethik und einer Kritik des Utilitarismus, die
in einer positiven, modelltheoretischen Argumentation zur
Notwendigkeit sozialer Normen münden. Erst auf der Grundlage
dieses soziologischen Normverständnisses lassen sich die
strukturellen Probleme der Genese, Formation und
Implementation sozialer Normen unter der Bedingung hoher
struktureller Differenzierung entwickeln.
Für den Juristen liest sich die berühmte Passage über die nonkontraktuellen Voraussetzungen des Vertrages wie eine
Selbstverständlichkeit, die jedoch aus der theoretischen Kritik
des Individual- und Sozialutilitarismus einen eigenen
soziologischen Sinn erhält.
277
Ebd., S. 266.
112
Recht als Kultur.
Jede Sozialtheorie, die – wie es Spencer unternimmt – im
Vertrag ihr Paradigma erblickt, unterliegt einem fundamentalen
Irrtum, denn der Vertrag hat sog. nicht-vertragliche
Voraussetzungen. Nur weil die Gesellschaft dem einzelnen das
Recht einräumt, Willenserklärungen mit bindender Kraft
abzugeben, besitzen die ›Willensgeschäfte‹ auch normative
Geltung: »Si, en principe, la société lui prête une force
obligatoire, c’est qu’en général l’accord des volontés
particulières suffit à assurer, sous les réserves précédentes, le
concours harmonieux des fonctions sociales diffuses.«278 Diese
dem Individuum gesellschaftlich verliehene Bindungskraft
reflektiert die Idee der Privatautonomie: »Les seuls engagements
qui méritent ce nom [de contrat, W. G.] sont ceux qui ont été
voulus par les individus et qui n’ont pas d’autre origine que cette
libre volonté.«279 Dieser freie Wille ist jedoch in mehrfacher
Hinsicht einer Reglementation unterworfen. Einerseits sind die
positiven Bedingungen für die Geltung von Willenserklärungen
(Geschäftsfähigkeit usf.) sowie andererseits die jeweiligen
Grenzen des jus dispositivum zu beachten, die Emile Durkheim
im einzelnen anhand des französischen Zivilrechts erläutert: der
Ausschluß der Rechtsmängelhaftung (Art. 1628 CC) bzw. der
Ausschluß für verborgene Mängel (Art. 1641 und 1643 CC),
hinzu kommen die Gestaltungsrechte des Richters, wie sie in
den Artikeln 1184, 1244, 1655 und 1900 des Code Civile fixiert
sind. Als besonders starkes Argument nennt Durkheim die
Ermittlung des Willensinhaltes, die sich eben nicht auf den
Willensausdruck beschränkt, sondern – wie Durkheim Art. 1135
CC zitiert – : »obligent non seulement à ce qui y est exprimé,
mais encore à toutes les suites que l’équité, l’usage ou la loi
donnent à l’obligation d’après sa nature.«280
Neben dieser rein positivrechtlichen Argumentation führt
Durkheim allerdings soziologische Gründe für die
Notwendigkeit des Vertragsrechts an. Einmal gilt es, die
278
279
280
Emile Durkheim, De la division du travail social, a. a. O., S. 194.
Ebd., S. 189.
Ebd., S. 190.
113
Werner Gephart
Bedingungen der Willensübereinstimmung im Vertrag auf
Dauer zu stellen: »Il faut encore que les conditions de cette
coopération soient fixées pour toute la durée de leurs
relations.«281 Sie müssen aber nicht nur zeitlich generalisiert
werden, sondern auch von den situativen Bedingungen des
Vertragsschlusses gelöst werden: »Il faut que les devoirs et les
droits de chacun soient définis, non seulement en vue de la
situation telle qu’elle se présente au moment où se noue la
contrat, mais en prévision des circonstances qui peuvent se
produire et la modifier.«282 In der vorweggenommenen
Konfliktbewältigung liegt die Leistungsfähigkeit des dispositiv
eingreifenden Vertragsrechts, gerade weil die Komplexität der
jeweiligen Vertragsmaterie die Regelungskompetenz des
einzelnen bei weitem überschreitet. Insofern profitiert der
Kontrahent von der sachlichen Generalisierung des
Vertragsrechts: »Ce n’est pas au moment où les difficultés
surgissent qu’il faut les résoudre, et cependant nous ne pouvons
ni prévoir la variété des circonstances possibles à travers
lesquelles se déroulera notre contrat, ni fixer par avance, à l’aide
d’un simple calcul mental, quels seront, dans chaque cas, les
droits et les devoirs de chacun, sauf dans les matières dont nous
avons une pratique toute particulière.«283 Die Normen des
Vertragsrechts stellen also gerade die Entlastungen von der
Komplexität
der
Interessenbestimmung
und
des
Interessenausgleichs bereit, soweit sie zeitlich, sachlich und
sozial – wie Luhmann den elementaren Rechtsbildungsprozeß
umschreibt284 – generalisiert sind. Freilich ist die
Generalisierung keine normative Geltungsbedingung, wie sie
etwa im Kantischen Imperativ als Universalisierbarkeit fungiert,
sondern an bestimmte soziale Bedingungen geknüpft. Nur wenn
diese Bedingungen erfüllt sind, ist die Genese sozialer Normen,
ihre Formation und Implementation als Regulation des im
281
282
283
284
Ebd., S. 190 f.
Ebd., S. 191.
Ebd.
Vgl. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2 Bde., a. a. O.
114
Recht als Kultur.
übrigen von Einzelinteressen und Gewohnheiten beherrschten
sozialen Lebens wirksam. Aus den Strukturbedingungen der
Normgenerierung läßt sich nach Durkheim zugleich ableiten,
warum moderne Gesellschaften unter einer chronischen
normativen Krise leiden.
In der ›Division du travail social‹ wird das Problem der
›Anomie‹ in die abnormalen Erscheinungen des ökonomischen
Lebens abgeschoben. Dabei ist das gesamte Funktionsmodell
der ›Division du travail social‹ auf einem normativen
Fundament errichtet. Was als bloßer Indikator des
Strukturwandels der Solidarität methodische Verwendung
findet, ist in Wirklichkeit der heimliche Integrator des sozialen
Lebens. Nur wird unter den morphologischen Bedingungen
moderner Gesellschaften, wie es Durkheim bei Wilhelm Wundt
lesen konnte, die Generierung der Normen erschwert: Von
persönlichen Beziehungen werden die sozialen Strukturen auf
Unpersönlichkeit umgestellt, es verlängern sich die
Handlungsketten und – mangels einer Steuerung der sozialen
Beziehungen durch Interessen – wächst der Normierungsbedarf
moderner Gesellschaften. Regelungsdefizite treten in den
Konfliktzonen, z. B. dem ökonomischen Leben auf, auch wenn
Durkheim vom Kathedersozialismus den Glauben an die
Vereinbarkeit von Moral und Ökonomie geerbt hat. Aus dem
ethnologischen Relativismus der Durkheimschen Morallehre
führt kein Weg zu einer unwandelbaren materialen
Gerechtigkeit, die den Maßstab der Normgenerierung abgeben
könnte. Aber Durkheim ist von dem Glauben an die
Sachadäquanz sozialer Normierungsprozesse beseelt. Hierzu
bedarf es nur der entsprechenden Beteiligung der betroffenen
Gruppierungen, so daß sich – für das ökonomische Leben – das
Modell der groupements professionnels geradezu anbietet. Es
läßt sich am Beispiel der Entstehung des Umweltstrafrechts
etwa sehen, wie weit das Durkheimsche Modell der Normgenese
durch soziale Organisation und Interaktionsbildung trügt.
Freilich tut sich von vornherein ein Gegensatz zwischen der
Erstellung strafrechtlicher und restitutiver Normen auf. Während
die repressiven Normen als dumpfer Ausdruck der ›conscience
115
Werner Gephart
collective‹
erscheinen,
unterliegen
die
übrigen
Normbildungsprozesse ja dem Modell der rationalen
Normprojektion und Normselektion. Wie also läßt sich die
Beziehung zwischen ›conscience collective‹ und den ›Normen‹
und Gesetzen des Strafrechts präzisieren, nachdem wir über die
religionssoziologische Werkentwicklung hinaus auch die
moralsoziologische Entwicklung ein Stück weit verfolgt haben?
Die ›conscience collective‹ läßt sich nicht etwa prozedural
(durch Verfahren) erzeugen, sie erwächst auch nicht aus dem
permanenten Interaktionsfluß, sondern sie repräsentiert die
kollektiven Erfahrungen einer Gemeinschaft, wie sie in Sprache,
Sitte und dem Strafrecht manifestiert sind. Sie läßt sich nicht auf
Interessen reduzieren, denn in der ›conscience collective‹
werden Handlungsmuster als obligatorisch bewahrt, die unter
keinem Utilitarismusgesichtspunkt für die Gesellschaft – z. B.
das von Durkheim erwähnte Verbot der Tierquälerei –
notwendig wären. Die ›conscience collective‹ ist also durch eine
diffuse Gemengelage von in hohem Maße affektiv besetzten
Traditionen und Wertmustern gekennzeichnet. Bildlich
gesprochen ist sie der Hort der kollektiven Moral und des
kollektiven Gewissens einer jeden Gesellschaft, aber auch – wie
Durkheim in seiner pädagogischen Soziologie postuliert – der
einfacheren sozialen Gebilde, so daß moderne Gesellschaften
gerade durch eine Erosion der gemeinsamen Norm- und
Wertvorstellungen gekennzeichnet sind, die im Streit um das
›richtige‹ Strafrecht einen besonders markanten Ausdruck
finden. Der Zusammenhang zwischen conscience collective,
Strafrecht und dem dogmatischen Problem der Zurechnung läßt
sich nunmehr anhand des normlogischen Verständnisses von
Durkheim entwickeln, in dem von den sozialen Bedingungen
der Normgenese und den Voraussetzungen wirksamer
Implementation abstrahiert wird, im Sinne der, wenn man es so
nennen möchte: reinen Normlehre Emile Durkheims.
4.
Die ›reine‹ Normlehre Emile Durkheims
Dabei ist der Zugang zum Normativen, wie Durkheim in einem
vor der französischen Gesellschaft für Philosophie gehaltenen
116
Recht als Kultur.
Vortrag bemerkt, durch eine nahezu heilige Scheu verstellt, was
Durkheim natürlich als Beleg für den religiösen Charakter der
Moral gilt. »Ce qui le prouve, c’est la répugnance qu’on a
encore aujourd’hui à appliquer à la morale la méthode
scientifique ordinaire; il semble qu’on profane la morale, en
osant la penser et l’étudier avec les procédés des sciences
profanes.«285
In diesem Vortrag resümiert Durkheim sein – wie er sagt –
20jähriges Bemühen um das Verständnis der moralischen
Tatsachen.
Der Ausgangspunkt ist nunmehr weder die empirische Analyse
moralischer Systeme, wie sie in den frühen Schriften Durkheims
programmatisch postuliert war, noch die Deduktion der Moral
aus einer spezifischen Morallehre, sondern man könnte es einen
moraltheoretischen Formalismus nennen, aus dem sich die
normative Welt sukzessive aufbaut. Während in den zuvor
genannten analytischen Schriften die Beziehung von Natur und
Gesellschaft, moralisch/juristischen Gesetzen und den Gesetzen
der Natur noch verschwommen war, sind Gesellschaft und
Natur nunmehr sorgfältig geschieden. Gleichzeitig verwandelt
sich
die
ursprünglich
erkenntnistheoretische
und
moraltheoretische Kritik von Kant in eine Rettung der
Pflichtenethik mit soziologischen Mitteln. Für den einzelnen,
der insofern an der Natur teilhat, als er von Trieben und
Bedürfnissen bestimmt ist, wird die Freiheit von der Natur nur
durch die Gesellschaft vermittelt: »Abandonné à lui-même,
l’individu tomberait sous la dépendance des forces physiques;
...«286
Diese Verschiebung in der Relation von Natur und Gesellschaft
spiegelt sich in einem gewandelten Verständnis der sozialen
›Regeln‹ wieder. Durkheim unterscheidet nunmehr zwei Typen
285
286
Emile Durkheim, Détermination du fait moral. Thèses soumises à la
Société française de Philosophie et discutées à la séance du 11 février et
du 22 mars 1906. Bulletin de la Société française de Philosophie VI, S.
169-212. Wiederabgedruckt in: Emile Durkheim, Sociologie et
philosophie, Paris 1924, S. 49-90 (S. 70).
Ebd., S. 79.
117
Werner Gephart
von Regeln, aus deren Grundstruktur der normative Kosmos
hergeleitet ist. Die Differenzierung zwischen ›moralischen‹ und
›technischen‹ Regeln ergibt sich nach Durkheim aus der
unterschiedlichen Art der Sanktion, die aus einer Verletzung der
jeweiligen Regel resultiert. Hierbei ist mit einer ›Regel‹, wie
Durkheim an anderer Stelle ausführt, jede Sanktionierung
menschlichen Handelns gemeint.
Die Differenz zwischen ›technischen‹ und ›moralischen‹ Regeln
liegt nunmehr in der unterschiedlichen Beziehung zwischen
Handeln und der Sanktions-›Folge‹: »1°. – Les unes résultent
mécaniquement de l’acte de violation. Si je viole la règle
d’hygiène qui m’ordonne de me préserver des contacts suspects,
les suites de cet acte se produisent automatiquement, à savoir la
maladie. L’acte accompli engendre de lui-même la conséquence
qui en résulte et, en analysant l’acte, on peut par avance savoir
la conséquence qui y est analytiquement impliquée.«287 Hier
besteht die Verbindung zwischen einer Handlung und der als
negativ bewerteten Handlungsfolge also in einer kausalen
Verbindung.
Im Gegensatz zu der von Durkheim sogenannten technischen
›Regel‹ ist die Beziehung zwischen Handlung und Erfolg bei
den moralischen Regeln sehr viel komplexer beschaffen: »2°. –
Mais quand je viole la règle qui m’ordonne de ne pas tuer, j’ai
beau analyser mon acte, je n’y trouverai jamais le blâme ou le
châtiment; il y a entre l’acte et sa conséquence une hétérogénéité
complète; il est impossible de dégager analytiquement de la
notion du meurtre ou d’homicide, la moindre notion de blâme,
de flétrissure. Le lien qui réunit l’acte et sa conséquence est, ici,
un lien synthétique.«288 Die Zurechnung einer Handlung zu einer
Sanktion setzt also ein synthetisches Urteil voraus, in dem die
fragliche Handlung einer Norm subsumiert wird, aus der sich
die Sanktionswürdigkeit des Verhaltens herleitet. Dem äußeren
Geschehen ist eben die Eigenschaft, eine Strafe nach sich zu
287
288
Ebd., S. 60 f.
Ebd., S. 61.
118
Recht als Kultur.
ziehen, keineswegs inhärent: »Ce n’est pas la nature intrinsèque
de mon acte qui entraîne la sanction.«289 Nur vermittels einer
Norm, die das fragliche Handeln verbietet, ist die Sanktion eine
›Folge‹ der Handlung. Technische Regeln und moralische
Regeln sind also danach unterschieden, daß im ersten Fall die
negative Handlungskonsequenz eine von der Handlung kausal
determinierte Folge ist, während im zweiten Fall die
Verknüpfung zwischen Handlung und Sanktion auf einem
Prozeß normativer Zurechnung basiert.
Nun unternimmt Durkheim den Versuch, aus der logischen
Priorität einer Handlungsnorm, die ein bestimmtes Verhalten
untersagt, die universale Eigenschaft des obligatorischen
Charakters moralischer Regeln herzuleiten: »Ainsi, il y a des
règles présentant ce caractère particulier: nous sommes tenus de
ne pas accomplir les actes qu’elles nous interdisent tout
simplement parce qu’elles nous les interdisent. C’est ce qu’on
appelle le caractère obligatoire de la règle morale.«290 Was
Durkheim also behauptet, ist die Herleitbarkeit der Kantischen
Kategorie der Pflicht aus der logischen Struktur der Beziehung
von Handlung, Norm und Sanktion: Da die Pönalisierung einer
Handlung den Bezug auf eine die jeweilige Handlungsweise
verbietende ›Regel‹ voraussetzt, die den Normadressaten
Regelkonformität gebietet, ist der Begriff der Pflicht
notwendiger Bestandteil eines Normensystems. An der
utilitaristischen Ethik kritisiert Durkheim gerade das völlige
Verkennen des Pflichtmomentes in der Ethik: »Dans la morale
de Spencer par exemple, il y a une ignorance complète de ce qui
constitue l’obligation. Pour lui, la peine n’est autre chose que la
conséquence mécanique de l’acte ...«291
Während sich Durkheim insoweit mit der Moraltheorie Kants in
Einklang weiß – auch wenn Durkheim zu Unrecht eine
›empirische‹ Herleitung der ›Pflicht‹ bei Kant behauptet –
vermeint Durkheim nunmehr über Kant hinauszugehen, indem
289
290
291
Ebd.
Ebd., S. 62.
Ebd., S. 63.
119
Werner Gephart
er nach den empirischen Gründen der Normbefolgung fragt:
»Nous ne pouvons, en effet, accomplir un acte qui ne nous dit
rien et uniquement parce qu’il est commandé. Poursuivre une fin
qui nous laisse froids, qui ne nous semble pas bonne, qui ne
touche pas notre sensibilité, est chose psychologiquement
impossible. Il faut donc qu’à côté de son caractère obligatoire, la
fin morale soit désirée et désirable; cette désirabilité est un
second caractère de tout acte moral.«292 Es liegt auf der Hand,
daß Durkheim mit diesem Merkmal der Wünschbarkeit eine
Synthese zwischen der reinen Pflichtenethik Kants und einer
utilitaristischen Regelbefolgung anstrebt.293 Freilich ist dieses
Kriterium der Wünschbarkeit äußerst vieldeutig: Es mag die
bloße psychologische Tatsache benennen, daß die
Befolgungschance einer Norm in dem Maße wächst, als sie
nicht nur auf Zwang, sondern Legitimität gestützt ist, d. h. die
Normbefolgung als positiver Anreiz fungiert. Im Merkmal der
Wünschbarkeit (désirabilité) könnte aber zugleich ein
normatives Kriterium der Legitimität enthalten sein: Nur wenn
eine Norm bei dem Adressatenkreis eine Chance der
Wünschbarkeit besitzt, ist sie als legitim zu betrachten. Damit
kehren wir zu der Frage zurück, die in der Lektüre Rudolf von
Iherings aufgeworfen war, ob es ein normatives Kriterium der
Richtigkeit in der Vorstellung Emile Durkheims gibt, das über
die bloße Faktizität von Regelungseffekten hinausgeht.
Während Durkheim zunächst eine sinnhafte Verbindung
zwischen ›Sanktion‹ als Merkmal der Norm und ›Pflicht‹ als
Eigenschaft von Moral einerseits, sowie zwischen ›Handeln‹
und dem ›Wünschenswerten‹ herstellt, schließt sich im weiteren
eine von Durkheim so bezeichnete ›Erklärung‹ der
Strukturmerkmale von Moral an, in der das ›Gute‹ bzw.
›Wünschenswerte‹ mit den Eigenschaften des Individuums
verknüpft wird, während die Pflicht mit den Funktionen der
Gesellschaft assoziiert wird. Nachdem Durkheim in der Kritik
an von Ihering und auch an Wilhelm Wundts ›Ethik‹ den
292
293
Ebd., S. 64.
Vgl. ebd., S. 64 f.
120
Recht als Kultur.
Zweckgedanken verworfen hatte, wird nunmehr, aus den
alternativen Zielen eines jeden Handelns, der formale Spielraum
moralischer Normen zu bestimmen gesucht:
»Un acte ne peut avoir que deux sortes de fins
1° L’individu que je suis.
2° D’autres êtres que moi.«294
Durkheim gelangt aus dieser Prämisse zu einer
transzendentalphilosophischen Herleitung von ›Gesellschaft‹ als
Ziel der Moral: »Nous arrivons donc à cette conclusion: c’est
que, s’il existe une morale, un système de devoirs et
d’obligations, il faut que la société soit une personne morale
qualitativement distincte des personnes individuelles qu’elles
comprend et de la synthèse desquelles elle résulte.«295 Die
Parallele mit Kants Herleitung der Gottesvorstellung ist dabei
durchaus beabsichtigt. Sie gilt Durkheim nur als Bestätigung
dafür, daß es halt tiefe Verwandtschaften zwischen dem
Religiösen und dem moralisch-gesellschaftlichen Leben gibt.
Für den Begriff der Moral folgt hieraus nach Durkheim, daß die
Bindung an die Gruppe – als Gegenpol zum solitären
Individuum – konstitutiver Bestandteil von Moral ist und
Gesellschaft zugleich als moralische Person hervorbringt.
Aus dieser Deduktionsfolge, deren sachliche Berechtigung wir
hier nicht weiter diskutieren wollen, ergibt sich, daß in dieser
Konzeption des sozialen Lebens die Struktur der Normen Drehund Angelpunkt der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ist. Die
naturalistischen Anklänge, die sich in Durkheims frühen
Schriften als Voraussetzung der Behandlung normativer
Tatsachen durch die Wissenschaften ergeben, haben einem
Modell Platz gemacht, in dem Handlung und Sanktion die
konstitutiven Merkmale eines allgemeinen Normbegriffs sind,
der
die
Frage
der
Kausalität
technischer
Handlungsregelhaftigkeit eindeutig von der Frage der
Verbindung von Handlung und Sanktion über eine
294
295
Ebd., S. 71.
Ebd., S. 74.
121
Werner Gephart
Zurechnungsregel unterscheidet. Und dabei ist sich Durkheim
der Kluft zwischen Sanktion und Handlung durchaus bewußt:
»Il y a entre l’acte et sa conséquence une hétérogénité complète
...«
Diese Lücke zwischen Handlung und Sanktion transparent zu
machen, ist die Aufgabe der Zurechnungslehre. Das Problem ist
bei Durkheim mit aller Deutlichkeit gestellt, wenn man die
Entwicklung des Normgedankens aus der Rezeption der
deutschen
Moralwissenschaften
der
Nationalökonomie,
Jurisprudenz
und
Völkerpsychologie
über
eine
moraltheoretische Kritik des Kantianismus und des Utilitarismus
bis zur soziologischen Herleitung der komplexitätsentlastenden
Funktion der Normbildung und schließlich einer normlogisch
fundierten Konstruktion des sozialen Lebens verfolgt hat. Die
Frage der Zurechnung schließt damit eine theoretische Lücke
der moralischen, juridischen und religiösen Konzeption des
sozialen Lebens.
Es ist wohl kein Zufall, daß in der normlogischen Konstruktion
der ›Reinen Rechtslehre‹ der Begriff der Zurechnung so zentral
ist, aber auch in der soziologischen Hauptstudie Hans Kelsens296
als ›Vergeltung und Kausalität‹ den Schlüsselbegriff einer
nunmehr ›Reinen Soziallehre‹ liefert. Wir wollen bei der
Lektüre von Fauconnets Studie über die ›Responsabilité‹ diesen
sachlichen Zusammenhang im Auge behalten, der wohl auch
Kelsen vertraut war; schließlich ist der Kern seiner
ethnologischen Argumentation aus der französischen Schule der
Soziologie entnommen, die an die Lehren Emile Durkheims
anknüpft.
296
Hans Kelsen, Vergeltung und Kausalität, Den Haag; Chicago 1941.
122
Recht als Kultur.
VIERTES KAPITEL
DAS RECHT IM KONFLIKT DER MODERNEN KULTUR. ZUR
THEORIE DES RECHTS BEI GEORG SIMMEL
»...von gewissen Grundtatsachen aus logisch
entwickelt, in einem Kodex fester Gesetze niedergelegt,
von einem besonderen Stande getragen, gewinnt es den
anderweitigen, von den Personen empfundenen
Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber
jene Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine
ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn,
Wohltat zur Plage wird.«297
Zum festen Kanon der Klassiker rechtssoziologischen Denkens
gehört Simmel nicht. Es ist dem Simmelschen Werk eher eine
antiformale Haltung eigen, auch wenn Simmel die ›Formen des
sozialen Lebens‹ zum Kernbereich der Soziologie in seinem
Sinne zählt. ›Recht‹ taucht in diesen Bestimmungen und
Beispielen nur randständig auf. Wenn für Durkheim das Recht
Indikator der sozialen Integration, wenn nicht der eigentliche
Motor sozialer Verbindungen ist und Weber das Problem
sozialer Ordnung an die Stabilisierung von Erwartungen durch
Recht zu lösen sucht, hat sich Simmel von dieser juridischen
Sicht des sozialen Lebens befreit. Liegt dies an dem Mangel an
juristischer Sozialisation298 oder gibt es hierfür systematische
297
298
Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O., S. 525.
So weisen ihn die Ausführungen zum Recht in der ›Einleitung in die
Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe‹ GSG Bd.
3, hrsg. von Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1989,
(1892/93) nicht gerade als einen Kenner des geltenden Rechts aus (vgl.
etwa S. 378 f. über die Proportionalität von Strafe und Verbrechen,
nicht aber ›Vergehen‹ im strafrechtstechnischen Sinne). Hierzu gehören
auch abwegige Vorstellungen über den Unterschied von strafrechtlicher
und zivilrechtlicher Betrachtungsweise, ebd. S. 380, wobei der letzteren
eine ›absolute Gerechtigkeit‹ wenigstens möglich sei, »weil es sich für
sie im Wesentlichen nur um Wahrheit oder Falschheit von
Behauptungen handelt.« ebd.
123
Werner Gephart
Gründe, die in der rechtsfreien Konstitution von
Vergesellschaftung begründet sind (1)? Wenn Simmel in den
›mikroskopisch-molekularen‹ Vorgängen des sozialen Lebens
seine ›Vitalität‹ begründet sieht (2), dann fragt sich, wie ein
Autor, der die Moderne durch seine Zeitlichkeit bestimmt sieht,
den Tatbestand der Positivität des Rechts, also seine
Veränderbarkeit reflektiert, das sich wie die Mode als ewig
geltend gebärdet (3).
I.
Das ›Recht‹ als soziologisches Apriori?
Kommt in Simmels Beantwortung der kantisch formulierten
Frage ›Wie ist Gesellschaft möglich?‹ das ›Recht‹ überhaupt
vor?
Im Unterschied zu der nur im Bewußtsein als Einheit vermittels
der Kategorien konstituierten ›Natur‹ ist die Gesellschaft dem
individuellen Bewußtsein inhärent: »In ganz andrem Sinne als
die äußre Welt ist die Gesellschaft ›meine Vorstellung‹, d.h. auf
die Aktivität des Bewußtseins gestellt. Denn die andre Seele hat
für mich eben dieselbe Realität wie ich selbst, eine Realität, die
sich von der eines materiellen Dinges sehr unterscheidet.«299
Wir begegnen also in der sozialen Welt einem Wesen, das
ebenso wie wir selbst konstruiert zu sein scheint, indem wir eine
Unterscheidung von ›Natur‹ und Gesellschaft schon in unserer
›natürlichen Einstellung‹ wie die Phänomenologen sagen
würden, praktisch vornehmen, eine ganz spezifische
Wirklichkeitsregion der sozialen Welt erlebend.
(1) Die soziologische Erzählung über die Möglichkeit sozialer
Ordnung stellt uns diesen Tatbestand, ebenso konstruierten
Wesen wie uns selbst zu begegnen, als Problem der
Ordnungsfrage vor.300 Für Simmel folgt aus der damit
verbundenen auf den anderen projizierten Unberechenbarkeit
299
300
Georg Simmel, Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft
möglich? in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der
Vergesellschaftung, Berlin 61983 (1908), S. 21-30 (S. 22 f.).
Vgl.
auch
meine
Ausführungen
in:
Werner
Gephart,
Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs
der Moderne, a. a. O., S. 17-31.
124
Recht als Kultur.
und der Kontingenz des Handelns nicht die Vermehrung der
Unsicherheiten über Handlungsmotive, den Einsatz von
Handlungsmitteln usf., sondern die Tatsache des wie das Ich
strukturierten
Du
schafft
gerade
eine
erhöhte
Erkenntnissicherheit: »Aber eben diese Sicherheit hat für uns,
begründbar oder nicht, auch die Tatsache des Du; und als
Ursache oder als Wirkung dieser Sicherheit fühlen wir das Du
als etwas von unserer Vorstellung seiner Unabhängiges, etwas,
das, genauso für sich ist, wie unsere eigne Existenz.«301 Dieser
Tatbestand der Gleichartigkeit und Differenz des Anderen führt
in eine Paradoxie: »Daß dieses Für-Sich des Andren uns nun
dennoch nicht verhindert, ihn zu unserer Vorstellung zu machen,
daß etwas, das durchaus nicht in unser Vorstellen aufzulösen ist,
dennoch zum Inhalt, also zum Produkt dieses Vorstellens wird –
das ist das tiefste, psychologisch – erkenntnistheoretische
Schema und Problem der Vergesellschaftung.«302 Nur wie soll
aus dem Wissen um das ›Fürsichsein‹ des Anderen eine diesen
Selbstbezug überschreitende Einheit entstehen?
Simmels Antwort liegt darin, daß hier nicht ein einzelnes
Subjekt, dem naturerkennenden Akteur vergleichbar vermittels
der Kategorien, die synthetische Einheit konstruiert, sondern
Gesellschaft selbst die Gesellschaft – als Wechselwirkung ihrer
Teile hervorbringt. Und so stellt Simmel die Frage: »Welche
Elemente sind in ihnen enthalten, die es ermöglichen, daß ihre
Leistung, abstrakt gesprochen, die Herstellung einer
gesellschaftlichen Einheit aus den Individuen ist.«303
Eine wesentliche Bedingung hierfür ist bereits angesprochen:
das Bewußtsein von der Existenz eines anderen Bewußtseins.
Dieses Bewußtsein ist uns freilich nicht unmittelbar gegeben, in
seinen Inhalten nur begrenzt zugänglich, letztlich fremd: »Es
scheint – so formuliert Simmel – als hätte jeder Mensch einen
tiefsten Individualitätspunkt in sich, der von keinem andren, bei
301
302
303
Georg Simmel, Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft
möglich? a. a. O., S. 23.
Ebd.
Ebd.
125
Werner Gephart
dem dieser Punkt qualitativ abweichend ist, innerlich
nachgeformt werden kann.«304 Dieses Hemmnis, die
Fremdindividualität voll zu kennen, bedeutet, daß – nach
Simmel – von den wechselnden Maßen dieses Mangels alle
Verhältnisse des Menschen untereinander bestimmt sind.
(2) Die folgenreiche Lösung dieses fundamentalen Problems der
Überbrückung qualitativer Differenzen zum Anderen liegt in
einem Mechanismus der Verallgemeinerung und Typisierung,
der wechselseitig praktiziert werden muß. Welches nun auch
immer
die
Ursache
des
Mangels
vollständiger
Individualitätserfassung sein mag: »Seine Folge ist jedenfalls
eine Verallgemeinerung des seelischen Bildes vom andern, ein
Verschwimmen der Umrisse, daß der Einzigkeit dieses Bildes
eine Beziehung zu andern fügt.«305 Wir nehmen den anderen
also in bildhaften Vorstellungen wahr, wir subsumieren ihn
unter Vorstellungsbilder, die wir aneinander reihen, ihn also in
eine Kategorie, Gattung, einen Typus einordnen.
Die aufregendste Entdeckung Simmels besteht darin, daß sich
unter diesen Vorstellungsbildern auch das der einzigartigen
Individualität befindet: »Gerade aus der völligen Einzigkeit
einer Persönlichkeit formen wir ein Bild ihrer, das mit ihrer
Wirklichkeit nicht identisch ist, aber dennoch nicht ein
allgemeiner Typus ist, vielmehr das Bild, das er zeigen würde,
wenn er sozusagen ganz er selbst wäre, wenn er nach der guten
oder schlechten Seite hin die ideelle Möglichkeit, die in jedem
Menschen ist, realisierte.«306 Wir nehmen also teleologische
Ergänzungen vor, auch im Hinblick auf die uneinholbare
Einzigartigkeit des anderen, den wir erst im Blick auf ein Eidos
seiner Möglichkeiten konstruieren. Nur in Wechselwirkung
entsteht hieraus Vergesellschaftung als Ergänzung der
Fragmente die wir sind, »nicht nur des allgemeinen Menschen,
sondern auch unserer selbst.«307 Diesen fragmentarischen
304
305
306
307
Ebd. S. 24.
Ebd.
Ebd., S. 24f.
Ebd., S. 25.
126
Recht als Kultur.
Charakter der Selbstrealisiertheit des Anderen, finden wir
ergänzend in den Ergänzungen und Vervollständigungen
anderer wieder. Also eine Art Restaurationsmodell der
fragmentarischen Identitäten oder eine Reparaturleistung am
Projekt der individuellen Vollendung, an der wir nach Simmel
in Permanenz mitwirken sollen.
Nur wie vollziehen sich diese Kategorisierungen und
Typisierungen des anderen, nach welchen Kriterien und
Gesichtspunkten oder ›topoi‹ verläuft diese Generalisierung?
Simmel stellt letztlich auf die Einheit einer ›Lebenswelt‹ ab,
wenn zu lesen ist: »In den Kreisen der Offiziere, der kirchlichen
Gläubigen, der Beamten, der Gelehrten, der Familienmitglieder
sieht jeder den anderen unter der selbstverständlichen
Voraussetzung: dieser ist ein Mitglied meines Kreises.« Diese
nicht diskutierten Voraussetzungen, die suspendierten Zweifel,
wie die Phänomenologie sich ausdrücken wird, gründen in der
gemeinsam geteilten ›Lebenswelt‹: »Es gehen von der
gemeinsamen Lebensbasis gewisse Suppositionen aus, durch die
man sich gegenseitig wie durch einen Schleier erblickt.«308 Hebt
diese letzte, auf den ›Schleier‹ der Wahrnehmung abzielende,
Formulierung auch eher den verzerrenden Charakter der
Wahrnehmung hervor, so bleibt für Simmel dennoch klar, daß
hinter diesen kategorisierten Typen noch Individualität
hervorscheint.
Erst aus der Kombination aus uneinholbarer faktischer
Einzigartigkeit, idealischer Individualitätserwartung und dem
Schnittpunkt der aus bloßer Mitgliedschaft folgenden
generalisierten Rollenerwartungen geht
vergesellschaftetes Individuum hervor.
der
Mensch
als
Somit erhalten wir auch eine Antwort auf die Frage, wie trotz
der prinzipiellen Unzugänglichkeit des Fremdpsychischen
Vergesellschaftung möglich ist: Indem wir den anderen – wie
Simmel so anschaulich formuliert – als ›Mitbewohner derselben
besonderen Welt‹ typisieren, unter Verzicht auf die Erfassung
308
Ebd.
127
Werner Gephart
der vollen individuellen Bestimmtheit, schaffen wir die eine
Seite der Voraussetzungen, unter der Gesellschaft möglich wird,
nämlich die gegenläufig radikalisierende Unterstellung der noch
nicht realisierten Einzigartigkeit. Diese ist also kein Störfaktor
der sozialen Ordnung, nichts der Gesellschaft gegenüber
fremdes, kein ›außerhalb‹ der Gesellschaft, »sondern, daß der
Einzelne mit gewissen Seiten nicht Element der Gesellschaft ist,
bildet die positive Bedingung dafür, daß er es mit anderen Seiten
seines Wesens ist: die Art seines Vergesellschaftet-Seins ist
bestimmt oder mitbestimmt durch die Art seines NichtVergesellschaftetseins.«309
(3) Das aufgelöste Rätsel der Vergesellschaftung braucht daher
kein Recht. Zwar sind wir auf ›Verallgemeinerungen‹ des Bildes
vom
Anderen
angewiesen,
diese
Generalisierungen,
Typisierungen und Kategorisierungen werden von der
jeweiligen Lebenswelt mitgeliefert, es sind ›Suppositionen‹,
kognitive Schemata, nicht aber die Garantien normativer
Erwartungen, aus denen die Möglichkeit von Gesellschaft
hervorgeht! Insofern also ist die Wahrnehmung von Recht eher
der phänomenologischen Schule verwandt als der normativen
Konstruktion sozialer Wirklichkeit.310 Es sind vielmehr die
kaum faßbaren, nicht verfestigten Phänomene, die Simmels
soziologischen Blick provozieren.
Daß von fünf Verhandlungsthemen allein drei, nämlich über
›Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane
Naturrecht‹ von Troeltsch, ›Wirtschaft und Recht‹ von A. Voigt
und schließlich der Vortrag von Hermann Kantorowicz über
›Rechtswissenschaft und Soziologie‹ der Bedeutung des Rechts
für die neu zu gründende Disziplin gewidmet waren, zeigt, wie
stark das juridische Element in der Genese der Soziologie in
Deutschland von den Gründervätern der Deutschen Gesellschaft
für Soziologie eingeschätzt wurde, auch wenn Georg Simmel –
309
310
Ebd., S. 26.
Vgl. in Bezug auf Schütz und Mead: Werner Gephart,
Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs
der Moderne, a. a. O., S. 35-76.
128
Recht als Kultur.
wie Weber berichtet – nicht wünschte, daß »die Frage der
Stellung des ›Rechts‹ u. seiner Wissenschaft allzu stark
präponderierend erscheine...«311, während Weber, Bedenken
gegenüber zuviel ›Juristerei‹ erwartend, darauf besteht: »Ich bin
dafür, es jetzt zu thun.«312
II.
Die rechtsfernen ›Zwischenformen‹ des sozialen Lebens
Die Soziologie hatte sich nämlich nach Simmel auf die
»gesellschaftlichen Erscheinungen beschränkt, bei denen die
wechselwirkenden Kräfte schon aus ihrem unmittelbaren Träger
auskristallisiert sind, mindestens zu ideellen Einheiten.«313 Aber
nicht nur diese auskristallisierten Formen, zu denen auch das
Recht gehört, bestimmen das Erscheinungsbild der sozialen
Wirklichkeit auf die Durkheim aus methodologischen und
sachlichen Erwägungen die Morphologie des Sozialen
beschränken wollte, sondern: »Es bestehen außer jenen weithin
sichtbaren, ihrem Umfang und ihrer äußeren Wichtigkeit
allenthalben aufdrängenden Erscheinungen eine unermeßliche
Zahl von kleineren, in den einzelnen Fällen geringfügig
erscheinenden Beziehungsformen und Wechselwirkungsarten
zwischen den Menschen, die aber von diesen einzelnen Fällen in
gar nicht abzuschätzender Masse dargeboten werden, und,
indem sie sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen
sozialen Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie
wir sie kennen, zustandebringen.«314 Es ist also nicht das
›Recht‹, das die Welt im Innersten zusammenhält, sondern erst
die ›mikroskopisch-molekularen‹ Vorgänge sind das »wirkliche
Geschehen [...], das sich zu jenen makroskopischen, festen
Einheiten und Systemen erst zusammenkettet oder
hypostasiert.«315 Dieses ›Pulsieren‹ und ›Fließen‹, das die
311
312
313
314
315
Brief Max Webers an Hermann Kantorowicz vom 18. September 1910
(Max Weber, Briefe 1909-1910, hrsg. von M. Rainer Lepsius und
Wolfgang J. Momsen, MWG II/6, Tübingen 1994, S. 613).
Ebd., S. 614.
Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 14.
Ebd., S. 14 f.
Ebd., S. 15.
129
Werner Gephart
Individuen miteinander verbindet, enthält das triviale Geheimnis
des sozialen Lebens: »Daß die Menschen sich gegenseitig
anblicken, und daß sie aufeinander eifersüchtig sind; daß sie
sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen; daß sie
sich, ganz jenseits aller greifbaren Interessen, sympathisch oder
antipatisch berühren; daß die Dankbarkeit der altruistischen
Leistung eine unzerreißbare bindende Weiterwirkung bietet; daß
einer den anderen nach dem Wege fragt und daß sie sich
füreinander anziehen und schmücken – all die tausend, von
Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden,
bewußten
oder
unbewußten,
vorüberfliegenden
oder
folgenreichen Beziehungen, aus denen diese Beispiele ganz
zufällig gewählt sind, knüpfen uns unaufhörlich zusammen. In
jedem Augenblicke spinnen sich solche Fäden, werden fallen
gelassen, wieder aufgenommen, durch andere ersetzt, mit
anderen verwebt.«316
Simmels Entdeckung der informalen Prozesse317 des sozialen
Lebens bedeutet nun keineswegs, daß er die Augen vor dem
›Formcharakter des modernen Rechts‹ – wie Weber es nennt –
verschlösse. Anstelle eines Lobes der Form oder juristischen
Dogmatik – wie wir es von Luhmann kennen – findet sich bei
Simmel allerdings eine vernichtende Kritik des Rechts als
perennierender Form des sozialen Lebens.
III.
Kritik des Rechts als erstarrter Form des Lebens und die
Suche nach dem mystischen Grund des Rechts
In der ›Philosophie des Geldes‹, diesem Grundbuch der
Moderne, findet sich die Fundamentalkritik des Rechts an eher
versteckter Stelle, wo Simmel von der Überlebtheit gewisser
Ehevorstellungen spricht: »Nicht anders das Recht: von
gewissen Grundtatsachen aus logisch entwickelt, in einem
Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen
316
317
Ebd.
Vgl. insbes. Birgitta Nedelmann, Georg Simmel als Klassiker
soziologischer Prozessanalysen, in: Heinz-Jürgen Dahme und Otthein
Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel und die Moderne, Frankfurt am
Main 1984, S. 91-115.
130
Recht als Kultur.
Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den
Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des
Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schließlich
wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn,
Wohltat zur Plage wird.«318 Zwar gilt ähnliches für die religiöse
Dogmatik, wie Simmel sofort anschließt und zum
grundsätzlichen Konflikt der modernen Kultur zwischen Form
und Leben generalisiert, das Recht besitzt für Simmel jedoch
den besonderen Makel, den lebendigen Prozessen prinzipiell
entgegenzustehen, was in Eugen Ehrlichs Konzept des
›lebendigen Rechts‹319 gerade bestritten und rechtspolitisch
eingefordert wird.
1.
Exkurs: Georg Simmel als Ahnherr der Lehre von der
Grundnorm?
Simmels Analyse ist nüchtern und gleichzeitig überraschend nahe am
rechtstheoretischen
Habitus
von
Kelsen,
indem
Simmel
die
Notwendigkeit einer Art Grundnorm postuliert, die er eine ›juristische
causa sui‹ nennt: »Für die menschlichen Vergesellschaftungen mag es
Normen der Praxis geben, die, von einem übermenschlichen Geiste
erkannt, das absolute und ewige Recht heißen dürften. Dieses müßte
eine juristische causa sui sein, d. h. seine Legitimation in sich selbst
tragen, denn sowie es sie von einer höheren Normierung entlehnte, so
würde eben diese, und nicht jenes, die absolute, unter allen
Umständen
gültige
Selbstlegitimation
des
Rechtsbestimmung
Rechts,
das
320
bedeuten.«
seine
eigene
Diese
Änderung,
Ausbreitung und Aufhebung antizipiert, steht in einem unendlichen
Ableitungszusammenhang: »Und diese Gültigkeit bezieht er, falls
seine Setzung selbst schon eine legitime und keine willkürliche ist,
aus einer schon vorher bestehenden Rechtsnorm, aus der die
Beseitigung des alten Rechtsinhaltes mit derselben Legalität fließt,
wie sein bisheriges Bestehen. Jede Rechtsverfassung enthält also in
sich die Kräfte – und zwar nicht nur die äußerlichen, sondern auch die
318
319
320
Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O., S. 525.
Vgl. Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, München,
Leipzig 1913.
Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O., S. 66.
131
Werner Gephart
idealrechtlichen – zu ihrer eigenen Änderung, Ausbreitung oder
Aufhebung, so daß z. B. dasjenige Gesetz, das einem Parlamente die
Gesetzgebung überträgt, nicht nur die Legitimität eines Gesetzes A
bewirkt, das ein von demselben Parlament gegebenes Gesetz B
aufhebt, sondern es sogar zu einem rechtlichen Akte macht, wenn das
Parlament auf seine Legislation zugunsten einer anderen Instanz
321
verzichtet.«
Das heißt: legal-rationale Geltung ergibt sich nur aus
dem Bezug auf ein anderes Recht, oder: »Jedes Gesetz besitzt seine
Würde als solches nur durch sein Verhältnis zu einem anderen Gesetz,
322
keines hat sie durch sich selbst.«
Das unabänderliche Naturrecht ist
also eine Illusion, das ›in sich selbst ruhende Recht‹ bleibt auf die
Ableitungsbeziehung auf anderes Recht angewiesen.
323
In einem Brief an Jodl
hatte Simmel bereits ähnliche Überlegungen
formuliert: Gerade dieser notwendige Geltungsverweis auf anderes,
höherrangiges Recht, könne – ohne als Rechtsinhalt verewigt zu
werden – zu einer Bedingung der Möglichkeit von Recht, also einem
juristischen Apriori erhoben werden: »Wenn man nämlich auch alle
Metaphysik des Rechts verwirft, so kann dabei doch noch ein Apriori
des Rechts bestehen bleiben, grade wie man mit Kant zwar keine
Metaphysik der Natur, wohl aber ein über der Erfahrung stehendes
Apriori anerkennen kann, das die Erfahrung erst möglich macht.« In
dieser Richtung ließe sich das ›Naturrecht‹ deuten: »Nur ist freilich
die Frage, ob das Apriori des Rechts selbst schon als Recht bezeichnet
werden darf. Es war, nach meiner Auffassung von Kant, einer seiner
hauptsächlichen u. durch seine rationalistische Tendenz veranlaßten
Irrthümer, daß ihm das Apriori der Erkenntniß selbst schon als
unmittelbare Erkenntniß, das Apriori der Begriffe als Begriff galt.
Diesen Fehler begeht das Naturrecht, wenn es die überrechtlichen
Bedingungen der Rechtsvorstellungen zu einem Recht selbst machen
324
will.«
321
322
323
324
Ebd.
Ebd.
Christian Köhnke hat mir als Herausgeber der Simmelbriefe
freundlicherweise den Brief vom 3. Juli 1893 an Friedrich Jodl nebst
Kommentierung zur Verfügung gestellt.
Ebd.
132
Recht als Kultur.
Während Kelsen nun aus logischen Gründen dem infiniten Regreß
325
eine nicht mehr abgeleitete ›Grundnorm‹
entgegenstellt, legt
Simmel den Ursprung des Rechts außerhalb des Rechts in ein
Gewaltverhältnis. So gibt es »absolut und relativ vorrechtliche
Zustände, in denen ein empirisches Recht aus Gewalt- oder anderen
Gründen gesetzt wird. Allein das wird eben nicht rechtlich gesetzt; es
gilt wohl als Recht, sobald es da ist, aber daß es da ist, ist keine
rechtliche Tatsache; es fehlt ihm die Dignität alles dessen, was sich
326
auf ein Gesetz stützt...«
Mit dieser Würdelosigkeit der Faktizität
gibt sich Herrschaft jedoch nicht ab: »...und es ist tatsächlich das
Bestreben jeder Macht, die ein solches rechtloses Recht setzt,
irgendeine Legitimierung desselben aufzufinden oder zu fingieren,
d. h. es aus einem bereits bestehenden Rechte herzuleiten – gleichsam
eine Huldigung an jenes absolute Recht, das jenseits alles relativen
steht und von diesem niemals ergriffen werden kann, sondern für uns
nur in der Form einer kontinuierlichen Ableitung jeder aktuellen
Rechtsbestimmung
327
findet.«
von
einer
davorliegenden
sein
Symbol
In der Denkfigur des ›rechtlosen Rechts‹ ist also durchaus
die Idee einer Dignität des Rechts aufbewahrt, die freilich ihre
normative Legitimation soweit aus dem Bezug auf höherrangiges
Recht schöpft als nicht im Ursprungsakt der Rechtsetzung aus
empirischen Gründen auf rechtloses Recht der Gewalt rekurriert wird,
das keine Rechtfertigung in sich trägt als die Faktizität der
empirischen gewaltförmigen Geltung.
***
325
326
327
Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die
rechtswissenschaftliche Problematik, 1. Aufl. Leipzig und Wien 1934,
insbes. S. 66 ff.; zur Aktualität Kelsens verweise ich nur auf den
jüngsten Sammelband Normativity and Norms. Critical Perspectives on
Kelsenian Themes, hrsg. Von Stanley Paulson u. Bonnie LitschewskiPaulson, Oxford 1998. Darin zur Grundnorm insbes.: Joseph Raz,
Kelsen’s Theory of the Basic Norm, S. 48-67.
Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O. , S. 67.
Ebd.
133
Werner Gephart
Recht
weist
also
auf
einen
nicht
einlösbaren
Legitimitätsanspruch hin, der den Ursprung der Gewalt
kaschiert und sodann eine Starrheit erreicht »durch die es sich
schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum
Unsinn, Wohltat zur Plage wird.«328 Nur worin sollte überhaupt
seine ›Vernunft‹, seine ›Wohltat‹ bestehen?
Simmel sieht die Wohltat des Rechts in seinem
›Werkzeugcharakter‹: Durchaus im Sinne überkommener
Staatslehren führt Simmel in der Philosophie des Geldes aus:
»Ganz abgesehen von dem Allerallgemeinsten: daß das
Teilhaben am Staat durch den äußeren Schutz, den er gewährt,
überhaupt die Bedingung für die Mehrzahl individueller
Zweckhandlungen ist – so verschaffen etwa die besonderen
Einrichtungen des Zivilrechts dem Wollen des Einzelnen
Realisierungsmöglichkeiten, die ihm sonst völlig versagt
blieben.«329 Simmel hegt also keineswegs die Illusion einer
rechtsfreien Sozialität. Staat und Recht erweitern das
›Zweckhandeln‹ des Menschen.330 Die zivilrechtlichen Institute
erweitern den Handlungsraum des einzelnen, indem sich
zwischen das Handlungsziel und den zu erreichenden Zweck,
ein Mittel, ein ›Werkzeug‹ schiebt: »Indem sein Wille den
Umweg über die Rechtsform des Vertrags, des Testaments, der
Adoption usw. einschlägt, benutzt er ein von der Allgemeinheit
hergestelltes Werkzeug, das seine eigene Kraft vervielfältigt,
ihre Wirkungslinien verlängert, ihre Resultate sichert.«331
Insofern gehört das Recht wie das Geld in die ›Zweckreihen‹
des Menschen. Letzteres drückt dem Recht der
geldwirtschaftlichen Gesellschaft seinen eigenen Stempel auf:
Das Recht reflektiert den ›absoluten Bewegungscharakter des
Geldes‹, wie Simmel an der zivilrechtlichen Sonderstellung des
328
329
330
331
Ebd., S. 525.
Ebd., S. 204.
Die Nähe zum Weberschen Idealtypus zweckrationalen Handelns ist
verblüffend. Vgl. insbesondere das dritte Kapitel der Philosophie des
Geldes, a. a. O., S. 197 ff.
Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O., S. 204.
134
Recht als Kultur.
Geldes zeigt: Auch das gestohlene Geld unterliegt nicht einer
Rückgabepflicht an den Eigentümer der Geldstücke oder der
Geldscheine, sobald es in den Rechtsverkehr gelangt ist. Mit der
Ausdehnung dieser römischrechtlichen Tradition auf
handelsrechtliche Geschäfte teile sich das Umlauftempo des
Geldes an die Warenzirkulation mit: »Das bedeutet also: die
Zirkulationsbeschleunigung im Warenverkehr nähert jede Ware
dem Charakter des bloßen Geldes an, läßt sie nur als Geldwert
funktionieren und unterwirft sie deshalb nur den Bestimmungen,
welche das Geld zum Zweck der Leichtigkeit seines Verkehrs
fordern muß!«332
Simmels Bild des Rechts ist also ambivalent: Erweiterung der
Zweckreihen und zugleich Verselbstständigung seiner
Zweckinhalte, Erstarrung zu bloßen Formen bei gleichzeitiger
Veränderbarkeit des Rechts einer Moderne, das durch sein
Tempo gekennzeichnet ist. Ein über dem positiven Recht
schwebendes, ewiges, überzeitliches Recht ist eine bloße
Legitimitätsvorstellung,
die
den
Tatbestand
der
legitimatorischen Relationalität des Rechts in der Idee eines in
sich selbst ruhenden Rechts ausdrückt, das die juristische causa
sui enthalten müsse.
Nur wie diese erstarrten durch Legitimitätsdefizite
gekennzeichneten Institutionen in den von Simmel so
anschaulich beschriebenen Verflechtungszusammenhang des
sozialen Lebens – die »unermeßliche Zahl von kleineren, in den
einzelnen Fällen geringfügig erscheinenden Beziehungsformen
und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen«333
eingebunden ist, dieses bedürfte doch auch eines aufmerksamen
soziologischen Blicks. Weil diese Fragestellung mit
grundlegenden Wandlungsprozessen der Moderne, der sozialen
Differenzierung und der quantitativen Ausweitung der Gruppe
zu tun hat, ist dieses auch der theoretische Ort, an dem Simmel
332
333
Ebd., S. 581.
Georg Simme, Soziologie, a. a. O., S. 14f.
135
Werner Gephart
diese Fragen aufnimmt. Das Recht gehört nämlich zu den
Einrichtungen, die als Kompensation der persönlich und
unmittelbar strukturierten Gebilde auftritt, die kleinen Kreisen
eigen ist. Mit der Ausweitung der sozialen Kreise tritt also ein
Bedarf an ›Trägern gesellschaftlicher Einheit‹ hervor, der die
personalen Bande überschreitet: »Zu diesem Zwecke erwachsen
Ämter und Vertreter, Gesetze und Symbole des Gruppenlebens,
Organisationen und soziale Allgemeinbegriffe.«334 Das Recht
gehört also in diese Reihe der unpersönlichen Strukturen, die
auch in Webers Vision der Moderne als bürokratische
Herrschaft oder verallgemeinert als ›Herrschaft der
Unpersönlichkeit‹ insbesondere in der ›Zwischenbetrachtung‹
den persönlichen Handlungssphären gegenübergestellt wird.
Sehr genau benennt Simmel diese Kosten der quantitativen
Zunahme der Gruppe, die ihre Einheit »nur um den Preis einer
weiten Distanz all dieser Gebilde von dem Einzelnen, seinen
Anschauungen und Bedürfnissen, die in dem sozialen Leben
eines kleinen Kreises unmittelbare Wirksamkeit und
Berücksichtigung finden«335, erringen kann. Wo Durkheim noch
eine prinzipielle Vereinbarkeit von Bedingungen der
Normgenerierung
in
der
Überschaubarkeit
sozialer
Lebenszusammenhänge
und
der
Ausweitung
der
Normprojektionen
auf
eine
universalistische
Rechtsgemeinschaft für möglich hielt, ist die Distanz das
Schicksal der sich ausweitenden Gesellschaft. Und diese
quantitativen
Bestimmungen
machen
den
in
der
›Zwischenbetrachtung‹ von Weber konstatierten Widerspruch
zur tragischen Voraussetzungen der Vergesellschaftung: »Die
Beziehungen von Person zu Person, die das Lebensprinzip
kleiner Kreise bilden, vertragen sich nicht mit der Ferne und
Kühle der objektiv-abstrakten Normen, ohne die der große nicht
bestehen kann.«336 Aus dem ›Pathos der Distanz‹ ist ein Leiden
an der ›Ferne‹ und ›Kühle‹ der ›objektiv-abstrakten Normen‹,
334
335
336
Ebd., S. 39.
Ebd.
Ebd.
136
Recht als Kultur.
des Rechts also geworden. Auch wenn das Recht – wie wir oben
sahen – nicht zu den Aprioris eines jeden sozialen Kreises
gehört, die in dem berühmten Exkurs ja gerade auf die soziale
Nahbeziehung gemünzt sind, so tritt es zwangsläufig mit der
Ausweitung der sozialen Kreise als notwendiges Schicksal einer
kalten Gesellschaft der Ferne auf!337
Simmel ist jedoch von der Illusion einer normfreien Sozialität,
wie sie bei Marx zu finden war338, weit entfernt. Auch der
überschaubare Kreis, bis hin zur Dyade, ist nicht nur in seiner
Tatsächlichkeit, sondern auch als Ort der Genese von Normen,
unter der Kategorie des Sollens, behandelt. Nur in Andeutungen
setzt sich Simmel von einer in Ethnologie und Soziologie
verbreiteten Auffassung ab, nach der in der Sitte der Ursprung
von Recht und Moral liegen solle, einer ungeschiedenen Einheit,
aus der sich weitere Normarten herauskristallisiert hätten.
Vielmehr liege der Ursprung des Sollens in dem Bezug zum
Anderen. Dieser Andere aber liege in uns selbst: »Nur daß das
zweite Subjekt, mit dessen Gegenüberstehen sich in dem
Einzelnen die Verhaltungsform der Moral entwickelt, in diesem
selbst gelegen ist; mit derselben Spaltung, durch die das Ich zu
sich sagt: ich bin – indem es sich selbst, als ein wissendes
Subjekt, sich selbst als einem gewußten Objekt gegenüberstellt –
sagt es auch zu sich: ich soll.«339 Diese fundamentale
Vorstellung des Anderen, der hier nicht nur als Mitglied eines
sozialen Kreises typisierend und individuierend erfaßt wird,
sondern als Quelle normativen Sollens, dieser Andere ist
geschuldet der »fundamentalen Fähigkeit unseres Geistes, sich
selbst gegenüberzutreten und sich selbst wie einen andern
337
338
339
Simmel behandelt auch den Fall, in dem der Übergang zur Rechtsform
erst die Ausweitung des Kreises bedingt, also die Vereinigung
verschiedener Kreise zum Zwecke der Extension gemeinsamen Rechts
(Vgl. Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 44). Sowohl der
Einigungsprozeß als auch die europäische Rechtsangleichung dürften in
diesem Licht gesehen werden.
Vgl. Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im
soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O.
Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 41.
137
Werner Gephart
anzuschauen und zu behandeln, innerhalb der individuellen
Seele selbst.«340
Die Auffächerung der Normarten richtet sich nicht nach der
jeweiligen Qualität des Anderen, sondern nach dem Charakter
der Sanktionsmittel. Das Recht weist äußere Organe zur
Normkonkretisierung und Erzwingung äußeren Verhaltens und
der Konkretisierung von Normen auf, die sich auf die ganz
unabänderlichen Voraussetzungen des Gruppenlebens zu
beschränken habe. Die innere Sittlichkeit hingegen sei nicht
heteronom, sonder autonom bestimmt und nur der Exekutive des
Gewissens unterworfen. Hieraus ergibt sich dann auch die
Funktionsbestimmung der Sitte, durch die sich ein sozialer Kreis
das erwünschte Verhalten sichert, wo der Rechtszwang
unzulässig oder undurchführbar ist und auf die innere soziale
Kontrolle des Gewissens kein Verlaß ist. Somit also stellt die
Sitte das Bindeglied, die Zwischenform zwischen dem
personalen Band überschaubarer sozialer Kreise und der Ferne
der Rechtsgesellschaft dar.
Unsere Vermutung hat sich also bestätigt, daß Simmels
antiformalistische Rechtskritik nicht gleich den Tatbestand des
Sollens als regulierender Instanz des sozialen Lebens
verschwinden läßt und ihn andererseits auch nicht in die
Untiefen der individuellen Sittlichkeit verlegt, gerade unter den
sozialitätsgefährdenden Bedingungen eines ›individuellen
Gesetzes‹341, das Simmel zu vermitteln sucht: »Fast alle Sitte ist
Standes- oder Klassensitte; ihre Äußerungsweisen, als äußeres
Benehmen, Mode, Ehre, beherrschen immer nur je eine
Unterabteilung des größten Kreises, dem das Recht gemeinsam
ist, und haben in dem benachbarten schon wieder einen andern
Inhalt.«342
Während die Rechtsform der Gesellschaft auf der quantitativen
Ausweitung der sozialen Kreise beruht, ist die Ehre ein Element
340
341
342
Ebd., S. 41.
Vgl. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse,
hrsg. von Michael Landmann, Frankfurt a.M. 1968.
Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 43.
138
Recht als Kultur.
der Selbsterhaltung der sozialen Gruppe. In der
Auseinandersetzung um Simmels Beitrag in der Année
sociologique ›Comment les formes sociales se maintiennent‹
war gerade die Passage über die Ehre zwischen Durkheim und
Simmel strittig gewesen.343 Wenn man darüber rätselt, warum
gerade diese Passage das Mißfallen Durkheims hervorgerufen
hat, dann läßt sich sehen, daß Simmel an die ›Ehre‹ diejenigen
Funktionen abtritt, die Durkheim in den Zeiten eines
Polymorphismus der Moralen für die Integrationskräfte der
Moral reserviert hatte: »Indem die Gesellschaft die Gebote der
Ehre aufstellt und sie mit teils innerlich subjektiven, teils
sozialen und äußerlich fühlbaren Konsequenzen gegen
Verletzung sichert, schafft sie sich eine eigenartige
Garantieform für das richtige Verhalten ihrer Mitglieder auf
denjenigen praktischen Gebieten, die das Recht nicht ergreifen
kann und für die die nur gewissensmäßigen Garantien der Moral
zu unzuverlässig sind.«344 Dies ist für den Moralisten nicht
akzeptabel, zumal in die Deutung der Ehre ein Moment der
Grenzverwischung hineingerät, ein innergesellschaftlicher
Relativismus, der die Ehren des Kaufmanns und des Offiziers
auseinanderfallen läßt und sogar in Widerspruch zueinander
bringt. Für Simmel ist dies nicht irritierend; denn für ihn zählt
nicht die widerspruchsfreie Reinheit im Reich des Normativen,
sondern die Funktion: »Untersucht man nämlich die
Vorschriften der Ehre auf ihre Inhalte hin, so zeigen sie sich
durchgehends als Mittel für die Erhaltung eines sozialen Kreises
343
344
Vgl. hierzu Werner Gephart, Soziologie im Aufbruch. Zur
Wechselwirkung von Durkheim, Schäffle, Tönnies und Simmel, a. a. O.
Über die Auslassung des Abschnitts über die einheitsstiftende Rolle der
sozialen ›Ehre‹ ist zwischen Durkheim und Simmel am Ende wohl
Einverständnis erzielt worden: Vgl. einerseits den Brief vom 16. Okt.
1897, abgedr. in: Revue française de sociologie, Jg. 16, 1976, S. 168
und andererseits den Brief vom 25. Okt. 1897, abgedr. in: Textes, Bd. 2,
a. a. O., S. 412 f. Nur in einem engherzigen Verständnis fallen diese
Überlegungen aus Durkheims Programm heraus: die quasiutilitaristische Verbindung von Individual- und Sozialinteresse. Wenn
überhaupt, dann hat eher ein anderes Moment zu Irritationen Anlaß
gegeben: die Möglichkeit des Konflikts unterschiedlicher ›Ehren‹ der
ausdifferenzierten sozialen Kreise, der ›Polymorphismus der Ehren‹.
Georg Simmel, Soziologie, a. a. O., S. 403.
139
Werner Gephart
in seinem Zusammenhalt, seinem Ansehen, der Regelmäßigkeit
und Fördersamkeit seiner Lebensprozesse.«345 Sie sind
integrationsstiftend, reputationsförderlich und für die
Sonderinteressen der jeweiligen Gruppe vitalisierend. Als Folge
der Kreuzung sozialer Kreise kann der einzelne dann durchaus
an unterschiedlichen ›Ehren‹ teilhaben. Soweit freilich seine
Funktionsweise darauf beruht, daß dem Inhaber der ›Ehre‹ seine
Bewahrung als ›innerlichstes, tiefstes, allerpersönlichstes
Eigeninteresse‹ insinuiert wird, liegen hierin auch Grenzen der
Kompatibilität widerstreitender Ehrbegriffe. Dies ist freilich das
soziologische Wunder der Ehre, die Bewahrung einer reinen
sozialen Zweckmäßigkeit zur Selbsterhaltung der Gruppe zum
inneren Bedürfnis des Individuums zu machen: »Es gibt
vielleicht keinen Punkt, an dem sich das Sozial- und das
Individualinteresse derartig verschlingt, wo ein Inhalt, der allein
aus dem ersteren verständlich ist, eine imperativische Form
angenommen hat, die allein aus dem letzteren zu quellen
scheint.«346 Und nur deshalb ist der scheinbar personale
Mechanismus der Verteidigung einer ›Ehre‹, die rein präsumtiv
auch dem Verleumder oder Ehebrecher zugesprochen wird,
zugleich systemerhaltend, solange ›Ehrenhändel‹ und
›Zweikampf‹
ihre
gesellschaftlichen
Voraussetzungen
aufweisen, nämlich diejenigen einer über Standesehren
segmentierten Gesellschaft, deren schärfstes Exklusionsprinzip
die Behauptung mangelnder Satisfaktionsfähigkeit ist!
In der Gesellschaft der Simmelschen Individuen weiten sich die
normativen Kreise über die individuelle Sittlichkeit hinaus, die
Sitte, einschließlich der soziale Kreise integrierenden Ehre
umfassend, auf die Interdependenzketten der Gesellschaft hin
aus, die personale Grenzen der unmittelbaren Wechselwirkung
überschreiten. Ist auch hier ein ungetrübtes Reich des
Normativen, wie es Durkheim in seinem Modell der
Vermaschung partikularer und universalistischer Moralen
anvisiert?
345
346
Ebd., S. 403 f.
Ebd., S. 405.
140
Recht als Kultur.
Das Recht ist eine Sphäre der Moderne, wie Simmel sie
versteht: In der Dialektik von Individualinteresse und
Gruppenbindung, dem normativen Schein der Ewigkeit und der
Faktizität des permanenten Wandels ähnelt es der Mode, die
sich dem einzelnen aufzwängt. Freilich übersteigt die
Verselbständigung der Form gegenüber dem Leben im Recht all
die Beispiele, die Simmel für den Konflikt der modernen Kultur
verantwortlich macht. Wenn es eine ›Gesamtnot der Kultur‹
gibt, »in der das Leben die Form als solche wie etwas ihm
Aufgedrungenes empfindet[...]«347, dann erfüllt das Recht diese
negativen Voraussetzungen. So findet sich nicht zufällig in den
›Lebensanschauungen‹ der Topos der Pathologie der Moderne
wieder, der schon in der ›Philosophie des Geldes‹ den
schlechten Stil des Lebens gekennzeichnet hatte.348 Zu den
lebensfeindlichen Formen gehören danach in den vier
metaphysischen Kapiteln der Moderne »›Gesetz und Recht‹, die
sich wie eine ewige Krankheit forterben, weil sie für das Leben,
dem sie ursprünglich Vernunft und Wohltat waren, bei seiner
Fortentwicklung zu Unsinn und Plage werden...«349
Im Konflikt der modernen Kultur ist das Recht Paradigma der
Herrschaft der Form über die Kräfte des sozialen Lebens, so
sehr die quantitative Ausweitung der Gruppe auch die
unpersönliche Form des Rechts erforderlich macht und die
Ableitungsketten seiner normativen Gültigkeit verlängert bis zu
347
348
349
Georg Simmel, Der Konflikt der Kultur. Ein Vortrag, München und
Leipzig 1918.
Vgl. die eingangs zitierte Formulierung aus der ›Philosophie des
Geldes‹ (S. 525).
Georg Simmel, Lebensanschauung, Vier metaphysischen Kapitel,
Münschen 1918, S. 161.
141
Werner Gephart
dem Punkt, in dem das Recht als illusorische causa sui auf
Außerrechtliches verweist, den gewaltförmigen Grund des
Rechts. Diese Grundfrage werden wir im Schlußkapitel
aufnehmen als Frage nach dem ›Grund‹ des Rechts.
142
Recht als Kultur.
II. ANWENDUNGSFELDER
FÜNTE VORLESUNG
DIE NORMALITÄT VON BETTLERN, GAUKLERN UND
LEPRÖSEN IN DER SYMBOLISCHEN ORDNUNG
MITTELALTERLICHER GESELLSCHAFTEN
Auf den ersten Blick ist man mit Emile Durkheims Theorie von
Strafe und Verbrechen an der völlig falschen Adresse, wenn
man
die
rechtshistorische
Devianzforschung350
zu
mittelalterlichen Gesellschaften soziologisch anvisieren möchte.
So scheint Durkheim dem historischen Denken eher abhold,351
allenfalls evolutionistisch gesinnt und weit entfernt von den
Differenzierungsmöglichkeiten
einer
352
›Gesellschaftsgeschichte‹.
Vielleicht wäre es klüger, die
Verwendungsmöglichkeit soziologischer Arbeit erst gar nicht
mitdiskutieren zu wollen, um sich auf die – vermeintliche,
Sicherheit des Faches der Soziologie zurückzuziehen.
Wenn man nicht so verfahren kann, so liegt das natürlich an
dem nach wie vor imperialen Anspruch von Soziologie, auch die
Folgen der Anwendung soziologischen Wissens kontrollieren zu
wollen. Es gibt aber auch ein starkes soziologisches Motiv, die
historische Devianzforschung aus genuinem Interesse zu
verfolgen. Es ist in der trivialen Einsicht begründet, daß uns die
Definition des Verbrechens und die Reaktion der Normalen
350
351
352
Vgl. Dirk Blasius, Kriminalität und Geschichtswissenschaft.
Perspektiven der neueren Forschung, in: Historische Zeitschrift 233,
1981, S. 615-626.
Robert N. Bellah hat dem schon früh widersprochen, vgl. Robert N.
Bellah, Durkheim and History, in: American Sociological Review 24,
1959, S. 447-461; schließlich ist das soziologische Erbe Durkheims in
Frankreich vor allem in der Annales-Schule sichtbar.
Vgl. den Beitrag von Hans-Ulrich Wehler, Gesellschaftsgeschichte und
Rechtsgeschichte, in: Rechtshistorisches Journal 8, 1989, S. 181-194.
143
Werner Gephart
elementare Auskünfte über die jeweilige Gesellschaft zuspielt.
Wer also soziologisch an der Struktur mittelalterlicher
Gesellschaften interessiert ist, muß den gesellschaftlichen
Formen kollektiver Devianz eine besondere Aufmerksamkeit
entgegenbringen. Warum aber gerade Durkheim und nicht
Tönnies, Simmel, Weber oder Tarde, wenn man schon auf den
Schultern der Riesen bauen will? Inwiefern also soll gerade
Durkheims Perspektive zu Strafe und Verbrechen für die
mediävistische Devianzforschung fruchtbar sein?
Der angeblich ahistorische Durkheim ist allerdings gerade für
sein vermeintlich ›romantisches‹ Verhältnis zum Mittelalter arg
kritisiert
worden.
Sein
Modell
der
›groupements
353
professionels‹
bedient sich nämlich in der Geschichte der
Zünfte und Gilden, was ihm einen nachhaltigen
Konversativismusvorwurf
eingebracht
hat.
Und
das
Hauptargument seiner berühmten Normalitätsthese ist am
Beispiel des mittelalterlichen Klosters entwickelt, wie wir sehen
werden. Also doch ein – vielleicht zentraler – Bezug Durkheims
zum Mittelalter?
Wenn wir alles schön der Reihe nach behandeln wollen, wie es
von der Ordnung des Diskurses verlangt wird, dann ergibt sich
folgender Argumentationsablauf: Zunächst sind Grundzüge von
Durkheims Theorie von Strafe und Verbrechen für die Zwecke
dieser Fragestellung darzulegen (I), um diese Perspektive
anschließend auf einige Beispiele für die mediävistische
Devianzforschung anzuwenden (II). Am Ende wird angedeutet,
welchen Problemen sich die Soziologie zu stellen hätte, wenn
sie das Mittelalter als ihr eigenes Forschungsfeld entdecken
würde.
I.
Grundzüge der Durkheimschen Theorie von Strafe und
Verbrechen
Die soziologische Devianzforschung lebt von einer
wissenschaftsgeschichtlichen Legende. Im Bemühen, Ordnung
353
Vgl. die Zweite Einleitung zur ›De la division du travail social‹ , Paris
1902 (1893).
144
Recht als Kultur.
in das Chaos der Verbrechenstheorien zu bringen, nimmt man
eine duale Klassifikation von sog. ätiologischen und
prozessualen Theorien vor.354 Durkheim gilt danach als
Begründer der Anomietheorie, die als zentraler Ansatz des
ätiologischen Ansatzes gehandelt wird. Diese Deutung ist in
mehrfacher Hinsicht falsch. Zunächst ist Durkheim nur schwer
ein allgemeiner Begriff von ›Devianz‹ zu entlocken; sein Bezug
ist das ›Verbrechen‹. Dieses aber wird durch die strafende
Reaktion der Gesellschaft erst konstituiert, Durkheim wäre
danach also ein Etikettierungstheoretiker und nicht Begründer
einer ätiologisch verfahrenden ›Anomietheorie‹, die im übrigen
explizit auf die Erklärung von Selbstmordraten, aber nicht jede
Art von Devianz zugeschnitten ist.355
Es ist also zunächst von den lehrbuchartigen Darstellungen einer
Durkheimschen Devianztheorie Abschied zu nehmen, um den
Kern seiner Straf- und Verbrechenslehre herauszupräparieren.
1.
Das Verbrechen wird durch die ›Reaktion der Normalen‹
konstituiert.
Diese These wird in der ›Division du travail social‹ aus einer
gesellschaftsgeschichtlichen Motivation heraus formuliert.
Durkheim möchte den Wandel gesellschaftlicher Solidarität
über die Entwicklung vom repressiven zum restitutiven Recht
indizieren. Dafür benötigt er einen Verbrechensbegriff, der die
historisch kontingenten Varietäten überschreitet, weil sich aus
der unendlichen Aufzählung der inkriminierten Handlungen
kein gemeinsamer Begriff herausschälen läßt: »Ces variations
du droit répressif prouvent en même temps que ce caractère
constant ne saurait se trouver parmi les propriétés intrinsèques
des actes imposés ou prohibés par les règles pénales, puisqu’ils
présentent une telle diversité, mais dans les rapports qu’ils
354
355
Einen guten Überblick grundlegender Ansätze liefert nach wie vor der
Sammelband von Fritz Sack und René König (Hrsg.),
Kriminalsoziologie, Frankfurt am Main 1968.
Inwieweit dennoch Übertragungen möglich sind, habe ich in ›Strafe
und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims‹, a. a. O., Erster Teil,
drittes Kap. dargelegt.
145
Werner Gephart
soutiennent avec quelque condition qui leur est extérieure.«356
Durkheim versucht im einzelnen darzulegen, daß weder die
›objektive‹ Sozialschädlichkeit noch ihre kollektive Definition
ein taugliches Kriterium liefert, sondern allein die ›von außen‹
kommende gesellschaftliche Reaktion. So heißt es: »En effet, le
seul caractère commun à tous les crimes, c’est qu’ils consistent
– sauf quelques exceptions apparantes ... en des actes
universellement réprouvés par les membres de chaque
société.«357 Damit scheint Durkheim gar der extremen von
Sack358 vertretenen Etikettierungstheorie zuzuneigen, die
ausschließlich im Akt der mißbilligenden Etikettierung das
Verbrechen begründet sieht, also die Strafe erst das Verbrechen
konstituiert und nicht die Strafe als eine Reaktion auf das
Verbrechen deutet.
Nun lenkt Durkheim in einem für unseren Kontext wichtigen
Schwenk von der strafenden Reaktion auf die vorgängige
Verletzung von ›Gefühlen‹ zurück, die sich im Akt der
Bestrafung Ausdruck verschaffen. Aber auch hier scheint sich
dann das Problem der Enumerierung von inkriminierten
Handlungen nur zu wiederholen, indem nunmehr eine Liste der
verletzten Gefühle aufgestellt werden müßte: »On ne saurait
donc dresser une liste des sentiments dont la violation constitue
l’acte criminel; ils ne se distinguent des autres que par ce trait,
c’est qu’ils sont communs à une même société.«359 Welcher
Grad von Allgemeinheit aber wird für die Verletzung kollektiver
Gefühle verlangt?
Es muß sich um – wie Durkheim sagt – zentrale Zonen der
›conscience collective‹ handeln.
356
357
358
359
Emile Durkheim, De la division du travail social, Paris 1973 (1893), S.
36.
Ebd., S. 39.
Vgl. Fritz Sack, Definition von Kriminalität als politisches Handeln:
Der ›labeling approach‹, in: Kriminologisches Journal 4, 1972, S. 3-31.
Das heißt, es fallen primäre und sekundäre Abweichung (Edwin M.
Lemert) zusammen.
Emile Durkheim, De la division du travail social, a. a. O., S. 40.
146
Recht als Kultur.
»Nous pouvons donc, résumant l’analyse qui précède, dire d’un
acte est criminel quand il offense les états forts et définis de la
conscience collective.«360 Das Verbrechen besteht also in der
Verletzung zentraler Bereiche der ›conscience collective‹, die
durch entsprechende Reaktionen ihrer Agenten manifestiert
wird. Die Sachwalter der conscience collective definieren also –
im Namen des geteilten Wert- und Normbewußtseins – all
diejenigen, die sich ihrer Definitionsmacht zu entziehen suchen.
Die Verletzung kollektiver Gefühle zieht emotiv geprägte
Sanktionen expressiver Art auf sich, die einen tiefen Graben
zwischen den Vertretern der ›conscience collective‹ und ihren
Gegnern aufwerfen. So scheint über den Begriff des
Verbrechens, der durch die Verletzung der normalen, eben
allgemein geteilten kollektiven Gefühle und entsprechender
Sanktionen der Allgemeinheit konstituiert wird, eine Aufteilung
der sozialen Welt in das Reich der ›Normalen‹ und die Sphäre
der ›Anormalen‹ unausweichlich.
Durkheims These von der ›Normalität‹ des Verbrechens kehrt
diesen dualen Schematismus überraschenderweise wieder um.
2.
Das Verbrechen ist nämlich ein ›normales‹ Phänomen
des sozialen Lebens.
Die Reaktion der ›Normalen‹ konstituiert demnach nicht das
schlechthin Andere, sondern das Vorkommen dieser Differenz
wird selbst als ein ›normaler‹ und nicht etwa ›pathologischer‹
Zustand des sozialen Lebens begriffen. Diese berühmte These
der ›Normalität‹ des Verbrechens wird nur ein Jahr nach der
Publikation der ›Division du travail social‹ in den ›Règles de la
méthode sociologique‹361 vorgestellt.
Dieser Kontext ist nicht unwichtig, denn die These von der
Normalität des Verbrechens wird nicht als ein bloßes
Gedankenspiel, ein moralischer Grenzgang oder gar als eine
360
361
Ebd.
Vgl. Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, in: Revue
philosophique 37, 1894, S. 465-498, S. 577-607, S. 14-39, S. 168-186;
erschien mit einem Vorwort in der bibliothèque de philosophie
contemporaine, Paris 1895.
147
Werner Gephart
Verherrlichung des Verbrechens vorgestellt, sondern als
zwangsläufiges Produkt methodisch geleiteter Operationen.
Gerade entgegen dem Alltagsverstand, gerade weil der
›gesunde‹ Menschenverstand oder schlicht: die ›conscience
collective‹ einer solchen Annahme widerspricht, erweist sich an
diesem Beispiel die Autonomie der von Durkheim postulierten
Soziologie als Wissenschaft.
Die These der ›Normalität‹ des Verbrechens wird in folgenden
Schritten begründet:
(1) Zunächst behauptet Durkheim, daß Verbrechen universell
auftreten. Keine Gesellschaft – auch nicht die ›sozialistische‹
müssen wir hinzufügen – könne das Verbrechen eliminieren.
Historisch zeige gerade der Wechsel der Formen, wie universell
das Phänomen sei. Die inkriminierten Handlungen sind unter
historisch und kulturell vergleichendem Blickwinkel im Wandel.
Aber: »Partout et toujours, il y a eu des hommes qui se
conduisaient de manière à attirer sur eux la répression
pénale.«362 Aufgrund der oben gezeigten Verquickung von
ätiologischem und prozessualem Verbrechensbegriff impliziert
die Unterthese der Universalität des Verbrechens also zweierlei:
einmal die universelle Verbreitung von Handlungen, die sich im
Widerspruch zum allgemeinen Wert- und Normbewußtsein
befinden, sowie die Universalität repressiver Sanktionen.
Allein dieser Tatbestand würde es nach Durkheim verbieten, das
Verbrechen unter die pathologischen Phänomene des sozialen
Lebens zu rechnen. Sonst müßte man auch die ›Krankheit‹ als
natürliches, mit der
Erscheinung rechnen.
Existenz
des
Lebens
verbundene
Nur wie hat man sich zu erklären, daß Verbrechen, die von der
›conscience collective‹ verdammt werden, dennoch zu den
›normalen‹ Bedingungen des sozialen Lebens zählen? Ist dies
eine säkularisierte Form des biblischen Sündenfalls, der ja
schließlich seine theologische Funktion besitzt? Ist auch das
362
Ebd., S. 82.
148
Recht als Kultur.
soziale Leben durch den Makel des Verbrechens befleckt?
Durkheim hat diese Frage einer Soziodizee nicht explizit
gestellt. Seine Überlegungen sind jedoch in diesem religiösen
Denkmuster formulierbar.
Durkheim stellt zwei Argumentationsketten vor, die das Leiden
der Gesellschaft am Verbrechen ›erklären‹ sollen: einmal die
Unmöglichkeit (2) einer Gesellschaft ohne Verbrechen sowie die
soziale Nützlichkeit (3) des Verbrechens.
(2) Die Unmöglichkeit einer Gesellschaft ohne Verbrechen ist
eine Konsequenz seiner Verbrechensdefinition: Das Verbrechen
ist ja nicht durch eine Normverletzung geprägt, sondern durch
die Verletzung kollektiver Gefühle. ›Normen‹ könnte man ja
vielleicht abschaffen – man denke an das Programm des
Abolitionismus, nicht aber die kollektiven Gefühle. Nur wenn
sie in jedes Einzelbewußtsein vollständig eingepflanzt wären,
würde die Differenz von Individual- und Kollektivbewußtsein
entfallen. Diese Kongruenz von Individuum und Gesellschaft
läßt sich aber auch in noch so totalitären Systemen nicht
herstellen, weil die Logik kollektiver Gefühle eine
Verschmelzung von Individual- und Kollektivbewußtsein
ausschließt. Jedes ›Defizit‹ mangelnder Anpassung des
Individuums ließe sich nur durch eine Verstärkung des
moralischen Bewußtseins ausgleichen, womit gleichzeitig – in
Durkheims Vorstellung – auch die schwächeren Schichten des
emotiven Lebens mitverstärkt würden. Jede Verstärkung
spezifischer ›kollektiver Gefühle‹ hat die Aufwertung
verwandter Gefühle zur Folge, deren Verletzung nunmehr in den
Sog der verdammenden ›conscience collective‹ gezogen wird
und damit neue Rechtsbrüche konstituiert: »Mais on ne fait pas
attention que ces états forts de la conscience commune ne
peuvent être ainsi renforcés sans que les états plus faibles dont la
violation ne donnait précedemment naissance qu’à des fautes
purement morales, ne soient renforcés en même coup ...«363
363
Ebd., S. 84.
149
Werner Gephart
Damit erhöht sich das gesamte Sensibilitätsniveau der Ordnung,
periphere Wertschichten rücken ins Zentrum, ohne daß diese
neue Wertebene schon bei allen Gesellschaftsmitgliedern emotiv
verankert wäre. Das heißt: Jede Maßnahme zur Stärkung des
kollektiven Wertbewußtseins im Individuum erzeugt
automatisch neue, die conscience collective konstituierende
Wertregionen, die insoweit den Anlaß zu neuen ›Verbrechen‹
ergeben, als die entsprechenden Vorstellungen noch nicht jedes
Mitglied der Gesellschaft durchdringen.
Das karmische Rad von Verstärkung der allgemeinen
Rechtstreue, Erhöhung des Rechtsbewußtseins und hierdurch
erzeugter neuartiger Rechtsbrüche, ist das zwangsläufige
Schicksal einer jeden Gesellschaft.
Der Sündenfall – so möchte ich Durkheim fortspinnen – ist aber
nicht theologisch erklärbar, sondern er ist nur der Ausdruck der
›condition humaine‹, und zwar in ihren ›conditions sociales‹.
Denn es sei nicht einmal eine Gesellschaft von ›Heiligen‹
denkbar, in der die vollständige Konformität erreichbar wäre. So
führt Durkheim aus: »Imaginez une société de saints, un cloître
exemplaire et parfait. Les crimes proprement dits y seront
inconnus; mais les fautes qui paraissent vénielles au vulgaire y
soulèveront le même scandale qui fait le délit ordinaire auprès
des consciences ordinaires.«364
Läßt sich Durkheims Normalitätsthese also – nochmals gefragt –
als eine säkularisierte und soziologisierte Lehre von der
Erbsünde begreifen oder verstärkt sie nur die moralische
Abgehobenheit eines überweltlichen und übersozialen
Schöpfergottes, wie er im Judentum gezeichnet wird? Und
erzeugen nicht gerade die zahlreichen Regeln des korrekten
jüdischen Lebens die Fülle an Verstößen auch des orthodoxen
Gläubigen?
Der Rabbinersohn Durkheim hätte sich im antisemitischen
Klima der Dritten Republik gehütet, Beispiele aus dem
jüdischen religiösen Leben zur Illustration einer soziologischen
364
Ebd., S. 85.
150
Recht als Kultur.
These zu verwenden. Aber sehen wir weiter, ob die
Interpretationsfolie
des
religiösen
Hintergrunds
der
Normalitätsthese überhaupt weiter trägt.
Der tiefere Grund der aufgezeigten unaufhebbaren Kluft von
normativem Anspruchsniveau und realer Erfüllung liegt in
einem Grundtatbestand des sozialen Lebens: der notwendigen
Differenz von Individuum und Gesellschaft. So heißt es,
verschiedene Ebenen der condition humaine differenzierend: »...
car le milieu physique immédiat dans lequel chacun de nous est
placé, les antécédents héréditaires, les influences sociales dont
nous dépendons varient d’un indiviu à l’autre et, par suite,
diversifient les consciences.«365 Das Individuum steht also im
Schnittpunkt der Einflüsse einer jeweils differenten natürlichen
Umwelt, einer jeweils eigenen sozialen Lebenswelt mit
tradierten Denk- und Deutungsmustern und einem je
individuellen biologischen Organismus, der interessanter Weise
zur individualitätsbegründenden Umwelt des Menschen
gerechnet wird.366 Die biologisch, sozial und vielleicht auch
schöpfungsbedingte Einzigartigkeit des Menschen markiert die
Grenze einer vollkommenen Konformität.
Das Verbrechen ist also ein unumgängliches Übel, das mit der
Erfindung des Individuums auf die Welt gebracht wurde.
Durkheims Soziodizee des Verbrechens steigert sich nun über
diese soziologischen Erklärungen hinaus zum Postulat der
sozialen Nützlichkeit von Verbrechen.
(3) Denn wenn wir uns eine Gesellschaft vorstellen könnten, in
der Individuum und Gesellschaft miteinander verschmolzen
wären, bliebe jede Art sozialen Wandels ausgeschlossen. Es
würden nicht nur die ›Verbrechen‹ verschwinden, sondern jede
Abweichung von kollektiven Gefühlen, die eine neue
Wertorientierung voranbrächten, würde abgeschnitten.
365
366
Ebd., S. 86.
Diese Differenzierung ist also nicht erst bei Parsons zu finden.
151
Werner Gephart
Die von Durkheim für notwendig erachtete flexible Gestaltung
normativer Strukturen ist eben nur dann möglich, wenn Recht
und Moral veränderbar sind, das heißt aber: nicht allzu tief in
das Individuum eingegraben sind. Hier argumentiert Durkheim
ganz strukturalistisch: Jede Verfestigung ist ein Hindernis für
neue moralische Formen: »Tout arrangement, en effet, est un
obstacle au réarrangement, et cela d’autant plus que
l’arrangement primitif est plus solide. Plus une structure est
fortement accusée, plus elle oppose de résistance à toute
modification ...«367
Somit wird die destrukturierende Wirkung des Verbrechens als
Voraussetzung für die Flexibilität normativer Strukturen
betrachtet. Aber nicht nur die abstrakte ›Kontingenz‹ der
normativen Ordnung, die erst durch ein ›flüssiges‹
Aggregationsniveau möglich ist, sondern auch die Richtung des
Wandels kann exemplarisch durch den ›Verbrecher‹
vorgezeichnet werden: »Socrate était un criminel et sa
condamnation n’avait rien que de juste. Cependant son crime, à
savoir l’indépendance de sa pensée, était utile, non seulement à
l’humanité, mais à sa patrie.«368 Das Verbrechen ist ›nützlich‹,
weil es den Wandel seiner elementaren Strukturen erst
ermöglicht.
Damit ist nach Durkheim die These der ›Normalität‹ des
Verbrechens erwiesen: Das Verbrechen ist als soziales
Phänomen nicht nur universell, sondern notwendig mit den
Existenzbedingungen des sozialen Lebens verknüpft und auch
noch: ›nützlich‹.
Aus der zu Recht anrüchigen Unterscheidung des Normalen und
Pathologischen ist bei Durkheim ein gegenteiliger Effekt
eingetreten: »S’il est un fait dont le caractère pathologique paraît
incontestable, c’est le crime.«369 So führt Durkheim selbst das
paradoxe Ergebnis der Normalität des von der Norm
367
368
369
Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, a. a. O., S. 87.
Ebd., S. 88.
Ebd., S. 81.
152
Recht als Kultur.
abweichenden Verhaltens ein. Durkheim ist nicht nur selbst von
diesem Ergebnis der ›Normalisierung‹ des Pathologischen
überrascht, sondern die zeitgenössische Kritik hat – bis heute –
versucht, Durkheims These in vermeintliche Widersprüche zu
verwickeln.
Wie kann der Moralist die Unmoral soziologisch legitimieren
und dies noch als unausweichlich hinstellen? Sollte nicht der
Verbrecher belohnt werden, wenn er schon so nützlich ist, als
auch noch Strafe auf sich zu ziehen?370 So ironisiert der
schärfste Kritiker und Konkurrent, Gabriel Tarde,371 die
Normalitätsthese, während Durkheim repliziert, daß diese Art
der leichtfertigen Argumentation am Ernst der Wissenschaften
vorbeigehe, der eben mehr als ›amusement intelectuel‹ sei.
Tarde hingegen zentriert seine Kritik in dem archaischen Bild
der Schlange, die Durkheim zu seiner halsbrecherischen These
veranlaßt habe: »Le crime glorieux, qui marche la tête dressée,
comme le serpent biblique, audacieux séducteur et corrupteur de
l’humanité et aussi de ses historiens.«372 Aber Durkheim
versteht sich natürlich weder als Verführer noch als Verführter,
sondern seinem positivistischen Glaubensbekenntnis folgend zur
Besserung der Gesellschaft aufgerufen, die zu einer
»règlementation positive de la conduite«373 führen müsse. Dabei
ist Durkheim aus positivistischem Geist das Kunststück
gelungen, aus der Absicht einer Wertbegründung über die
kausalwissenschaftliche Ersetzung des Werturteils im
370
371
372
373
Diese ›Paradoxien‹ lösen sich durch eine Differenzierung der Ebenen
von personalem und sozialem System auf. So kann der Verbrecher
durchaus ›anormal‹ sein, während die Verbrechensrate ›normal‹ ist. Nur
müßte der Soziologe das Verbrechen z. B. dann befördern – im Sinne
der ›Gesundheit‹ des Sozialsystems – wenn die Verbrechensrate
atypisch niedrig ist.
Zu Gabriel Tarde vgl. z. B. Pierre Favre, Gabriel Tarde et la mauvaise
fortune d’une baptème sociologique de la science politique, in: Revue
française de sociologie 24, 1983, S. 3-30.
Gabriel Tarde, Crime et santé, in: Revue philosophique 39, 1895, S.
151.
Emile Durkheim in seiner Replik als: Crime santé sociale, in: Revue
philosophique 39, 1895, S. 518-523; abgedr. in: Emile Durkheim,
Textes. Bd. 2. Religion, morale, anomie, a. a. O., S. 173-180.
153
Werner Gephart
Normalitätskalkül zu einer systematischen Wertenthaltung zu
gelangen, wie ich an anderer Stelle dargelegt habe.374
Durkheims Normalitätsthese enthält nämlich eine Anleitung zur
Verfremdung unserer Alltagswahrnehmung über das
Verbrechen; es ist eine Technik der ethischen Neutralisierung,
die weder in den Kult des Bösen lenkt noch aber die jeweils
herrschende Moral propagiert.
Was aber bedeutet Durkheims unkonventionelle Sicht über die
›Normalität‹ des Verbrechens für die Erforschung
mittelalterlicher Devianz?
II.
Die ›Normalität‹ der Bettler, Dirnen, Henker, Gaukler
und Leprösen für die Konstitution mittelalterlicher
Gesellschaften
Vielleicht ist das fruchtbarste Ergebnis der Durkheimschen
Verbrechenslehre die systematische Anweisung, das Verbrechen
auf seine denkbare positive Funktionalität hin zu untersuchen.
Im Verbrechen vollzieht sich ein Widerspruch zur ›conscience
collective‹, die eine Irritation der kollektiven Ordnung zur Folge
hat, die in der strafenden Reaktion wieder hergestellt wird.
Hierdurch werden die zentralen Werte der sozialen
Gemeinschaft im Sinne der positiven Generalprävention
gestärkt. Das Verbrechen ist also nicht nur im Sinne einer
Stabilitäts- und Wandlungshypothese375 funktional, sondern
auch mittelbar über den Effekt der Bekräftigung der zentralen
Gefühlswerte.
374
375
Vgl. die ausführliche Entwicklung der Durkheimschen Argumentation
aus dem Kontext seiner Methodologie in: Werner Gephart, Strafe und
Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., erster Teil, erstes
Kap.
Diese Grundthesen habe ich an anderer Stelle (Strafe und Verbrechen.
Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., S. 30) so formuliert:
(1) Für alle sozialen Systeme gilt: Nur wenn nicht-konforme
Handlungen auftreten, wird den Mitgliedern des Sozialsystems die
Bedeutung der vom Kollektivbewußtsein geforderten Handlungen
bewußt (Stabilitätshypothese).
(2) Für alle sozialen Systeme gilt: Nur wenn Individual- und
Sozialbewußtsein auseinanderfallen, ist der Wandel sozialer Systeme
möglich (Wandlungshypothese).
154
Recht als Kultur.
Aus dieser Sicht lassen sich marginale Gruppen mittelalterlicher
Gesellschaften beleuchten.376
1.
Aussätzige
Sie verkörpern negative Eigenschaften im mittelalterlichen
Wertsystem: Häßlichkeit und Wollust, Ekel und Schande. Sie
bilden eine eigene Gesellschaft, die strikt vom sozialen Kontakt
ausgeschlossen sind, sie sind auch räumlich ausgegrenzt, in
Siechenhäusern untergebracht, die nicht einmal durch
Institutionen sozialer Kontrolle abgeschirmt werden müssen. Sie
sind gehalten, ihr Annähern durch Klappern akustisch
kundzutun; ihr physiologisches Stigma wird durch soziale
Abzeichen indiziert,377 während die medizinische Bezeichnung
›Aussatz‹ sich etymologisch von den sozialen Folgen des
›Aussetzens‹ herleitet.378
In ihrer Gemeinschaft leben zu müssen, ist eine Strafe in sich,
die im literarischen Epos von Tristan und Isolde, gar den
Scheiterhaufen übersteigt. In der historischen Fassung von Berol
wird die Welt der Leprösen mit der Welt des Hofes in Iweins
Worten so kontrastiert, Iwein wendet sich an den König: »...
überlaß uns Isolde, sie soll uns gemeinsam gehören. Ein
schlimmeres Ende nahm noch nie eine Dame. Herr, in uns
brennt so große Hitze, daß es unter dem Himmel keine Dame
gibt, die den Umgang mit uns auch nur einen Tag ertragen
könnte; die Tücher kleben uns am Leib. Bei dir pflegte sie in
Ehren zu leben, in buntem und grauem Pelzwerk und in
376
377
378
Vgl. auch aus der neueren Literatur: Bernd-Ulrich Hergemöller (hrsg.),
Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, Warendorf 2001;
ders.: ›Randgruppen‹ im späten Mittelalter, KonstruktionDekonstruktion-Rekonstruktion, in: Die Aktualität des Mittelalters,
hrsg. von Hans-Werner Goetz, Bochum 2000; Bernd Roeck,
Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten, Fremde im Deutschland der
frühen Neuzeit, Göttingen 1993 und Bob Scribner, Wie wird man
Außenseiter? Ein- und Ausgrenzung im frühneuzeitlichen Deutschland,
in: Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für HansJürgen Goertz zum 60. Geburtstag, hrsg. von Norbert Fischer und
Marion Kobelt-Groch, Leiden; New York; Köln; Brill 1997.
Vgl. z. B. die Hinweise bei Frantisek Graus, Organisationsformen der
Randständigen. Das sogenannte Königreich der Bettler, in:
Rechtshistorisches Journal 8, 1989, S. 235-255 (S. 239 f.).
Vgl. z. B. den Duden, Bd. 7, Ethymologie, Mannheim 1963, S. 41 f.
155
Werner Gephart
Freuden. Gute Weine hatte sie da kennengelernt, in großen
Sälen aus dunklem Marmor ...«379
Diese im Epos geschilderte Gegenwelt hat aber nicht nur eine
literarische Funktion. Sie kondensiert das Böse, naturhaft
Abstoßende, kanalisiert den sozialen Ekel auf eine klar
definierte und sozial abgegrenzte Gruppe. Die physiologische
Pathologie der Leprösen und ihre soziale Ausgrenzung erscheint
für den Typus einer um Hof und Ehre zentrierten Gesellschaft
durchaus ›normal‹.
Für eine an sinnlicher Anschauung orientierten Gesellschaft ist
die sichtbare Verderbtheit der Aussätzigen der funktionale
Spiegel, aus dem die Gesellschaft der Reinen, Schönen und
Ehrenhaften um so deutlicher hervorgeht.
Während die literarische Schilderung der Leprosengemeinschaft
ein anarchisches Bild von Ekel, Ausschweifung und Laster
zeichnet, war der Prozeß der sozialen Ausgrenzung durchaus
reglementiert durch das Verfahren der Lepraschau, dem sich ein
kirchliches Ritual mit Begängnis und Commendation anschloß,
so wie ein Verstorbener aus der Gemeinde ausgesegnet wird.380
Nunmehr ist er einer streng regulierenden Leprosenordnung
unterworfen, die den Kontakt zur Außenwelt abschneidet und
die innere ›Ordnung‹, insbesondere auch die sexuelle Abstinenz
auch unter Ehegatten fordert. So ist nachgewiesen, daß Jost von
Coln und Anna von Coln »irer unzuchts halber« eines
Leprosiums verwiesen wurden.381
Die magische Vorstellung einer ›contagion‹ mit dem Unreinen
mag bei den Aussätzigen einen medizinischen Grund gehabt
haben. Als Personifikation des Unreinen und Destruktiven im
379
380
381
Zit. nach Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt am Main
1979, S. 577.
So in einem Trierer Ritual, vgl. Dieter Staerk, Gutleuthäuser und Kotten
im südwestdeutschen Raum, in: Die Stadt in der europäischen
Geschichte. Festschrift Edith Emen, hrsg. von Werner Besch u. a.,
Bonn 1973, S. 529-553 (S. 541).
Vgl. Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen
und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt, München
1989.
156
Recht als Kultur.
Menschen verhilft ihre soziale Isolation dazu, sowohl das
Unreine zu externalisieren, um die Fiktion vom Reinen aufrecht
zu erhalten als gleichzeitig auch die Strafe zu symbolisieren, die
auf die Verletzung gesitteter Lebensformen folgt.382
2.
Bettler und Arme
Ebenso wie sich Durkheims Normalitätsthese zur Erklärung der
Arbeitslosenquote
marktwirtschaftlich-kapitalistischer
Wirtschaftsformen anwenden läßt, so gehört die Armut und das
Bettlertum
zu
den
›Normalitäten‹
mittelalterlicher
Gesellschaften. Inwieweit die Bettler hierbei als ›Randgruppe‹
der mittelalterlichen Gesellschaften zu betrachten sind – so
Frantisek Graus in seinem spannenden Essay383 – ist nicht
unumstritten. So meinen Franz Irsigler und Arnold Lassotta mit
Blick auf den ›Armen‹: »... er stand im frühen und hohen
Mittelalter durchaus nicht außerhalb oder auch nur am Rande
der Gesellschaft, sondern war vielmehr integratives Mitglied
...«384
Bevor wir den Versuch weiterführen wollen, Durkheims
soziologische Perspektive auf die historische Devianzforschung
zum Mittelalter anzuwenden, lohnt ein erneuter Blick Georg
Simmel, der nicht nur in seinem klassischen ›Exkurs über den
Fremden‹385 die integrative Funktion des Anderen
herauspräpariert hat, sondern auch dem Armen eine kaum
gewürdigte soziologische Aufmerksamkeit gewidmet hat.
3.
Exkurs:
Über
den
Armen
als
Vergesellschaftung bei Georg Simmel
In Simmels Soziologie des Armen
386
Form
der
liegt der soziologische Zugang
zur Armut in der Unterscheidung begründet, ob die Leistung vom
382
383
384
385
386
Vgl. auch Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, a. a. O., S. 588.
Vgl. Frantisek Graus, Organisationsformen der Randständigen. Das
sogenannte Königreich der Bettler, a. a. O.
Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und
Henker, a. a. O., S. 20.
Vgl. Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: Soziologie. a. a. O.,
S. 509-512.
Georg Simmel, Der Arme, in: Soziologie, a. a. O., S. 345-374.
157
Werner Gephart
Armen als subjektives Recht einforderbar ist oder primär als Pflicht
des Gebenden angelegt ist. So bildet das christliche Vorbild
unbedingten Gebens in der Pflicht zum Geben und nicht im Recht des
Empfangenden den soziologischen Ausgangspunkt. »Im extremen
Fall« so Georg Simmel »verschwindet der Arme als berechtigtes
Subjekt und Interessenzielpunkt vollständig, das Motiv der Gabe liegt
ausschließlich in der Bedeutung des Gebens für den Gebenden. Als
Jesus dem reichen Jüngling sagte: schenke deinen Besitz den Armen,
– kam es ihm ersichtlich auf die Armen gar nicht an, sondern nur auf
die Seele des Jünglings, zu deren Heil jener Verzicht das bloße Mittel
oder
Symbol
387
ist.«
Dieses
Motiv
sieht
Simmel
in
der
mittelalterlichen Praxis fortleben. So fährt Simmel fort: »Das spätere
christliche Almosen ist desselben Wesens: es ist nichts als eine Form
der Askese, oder ein ›gutes Werk‹, das das jenseitige Schicksal des
388
Gebers verbessert.«
Hieran schließt sich nun die weitere
Schlußfolgerung an: »Das Überhandnehmen des Bettelns im
Mittelalter, die Sinnlosigkeit in der Verwendung der Gaben, die
Demoralisation des Proletariats durch die wahllosen, aller Kulturarbeit
entgegenwirkenden Spenden – dies ist gleichsam die Rache des
Almosens für das rein subjektivistische, nur den Geber, aber nicht den
389
Empfänger berücksichtigende Motiv seiner Gewährung.«
Dieses Motiv sieht Simmel auch in der staatlichen Armenpflege
fortwirken, wenn staatliche Maßnahmen nicht um der Armen willen
geschehen, sondern ihr – wie Simmel wörtlich sagt – »die Struktur der
390
Gesellschaft, wie sie nun einmal besteht«
, zugrunde liegt.
Insofern gehört er ›als Armer zu der historischen Wirklichkeit der
Gesellschaft‹. Er ist also durchaus Bestandteil dieser Gesellschaft.
Hieraus ergibt sich die außerordentliche Nähe zur Figur des
›Fremden‹:
Er
verhält
sich
nämlich
»ungefähr
wie
der
Gruppenfremde, der zwar auch sozusagen materiell außerhalb der
Gruppe steht, in der er sich aufhält; aber eben damit entsteht ein
Gesamtgebilde, das die autochthonen Teile der Gruppe und den
387
388
389
390
Ebd., S. 348.
Ebd.
Ebd.
Ebd., S. 349.
158
Recht als Kultur.
Fremden zusammen umfaßt, die eigentümlichen Wechselwirkungen
dieses mit jenem schaffen die Gruppe in weiterem Sinne,
charakterisieren den wirklich vorliegenden Kreis. So ist der Arme
zwar gewissermaßen außerhalb der Gruppe gestellt, aber dieses
Außerhalb ist nur eine besondere Art der Wechselwirkung mit ihr, die
ihn in eine Einheit mit dem Ganzen in dessen weitesten Sinne
391
verwebt.«
Diese
Wechselwirkung
geht
so
weit,
daß
der
›Arme‹
im
soziologischen Sinne nicht durch seine individuelle Notlage definiert
wird, »sondern dadurch, daß Andre: Individuen, Vereinigungen,
Ganzheiten – eben diese Verfassung zu korrigieren suchen, so daß
nicht der persönliche Mangel den Armen macht, sondern der um des
Mangels willen Unterstützte erst dem soziologischen Begriffe nach
392
der Arme ist.«
***
Von Emile Durkheim, der Simmels »finesse suggestive qu’on
lui connaît« zu loben pflegte, um ihn damit aus der Wissenschaft
auszugrenzen,393 ist keine umfassende Studie über den ›Armen
und den Bettler‹ bekannt. Die Anomietheorie freilich, wie sie im
›Suicide‹ entwickelt ist, zeigt, wie ›Armut‹ nicht etwa eine
Selbstmordursache sein muß, sondern im Vergleich mit der
unbegrenzten Steigerung des Anspruchsniveaus, wie es durch
akzelerierende Prosperität ausgelöst wird, die Armut vor
Selbstmordtendenzen eher schützt.394
391
392
393
394
Ebd., S. 352 f. (Hervorh. des letztes Satzes von W. G.).
Ebd., S. 374.
So Emile Durkheim in seinem Bericht über den ersten deutschen
Soziologentag, vgl. Le premier Congrès allemand de sociologie, in:
L’Année sociologique 12, 1913, S. 23-26; zur Beziehung SimmelDurkheim vgl. im weiteren: Werner Gephart, Soziologie im Aufbruch.
Zur Wechselwirkung von Durkheim, Schäffle, Tönnies und Simmel,
a. a. O., S. 1-25.
Emile Durkheim, Le suicide. Etude de sociologie, Paris 1973 (1897), S.
280 f.
159
Werner Gephart
Freilich ist eine Rezension aus dem 3. Bande der Année
sociologique,
die
übrigens
im
umfangreichsten
Werkverzeichnis, das von Victor Karady besorgt wurde, nicht
einmal aufgeführt ist, mit der ›mendicitité en Russie‹ befaßt.395
Es handelt sich um die Rezension einer Arbeit von Tarnowski.
Obwohl diese Besprechung gerade 1 1/2 Seiten umfaßt, ist sie
für unser Thema außerordentlich aufschlußreich: Durkheim
weist zunächst daraufhin, daß das scheinbar geringe
Vorkommen der Bettelei in Rußland neben strafrechtlichen
Besonderheiten der Inkriminierung vor allem in der sozialen
Akzeptanz des Bettelns beruht. So heißt es: »... au village, la
mendicité est rarement l’objet d’une répression, parce qu’elle y
est considérée comme une pratique normale.«396 Durkheim
zeichnet im weiteren das Bild der solidarischen
Dorfgemeinschaft, die das Betteln nicht als erniedrigendes,
sondern als sozial toleriertes Verhalten einschließt.
Welche Faktoren beeinflussen gleichwohl die jahreszeitlichen
und lokalen Differenzen der Sanktionspraxis? Für Durkheim,
der ja letztlich in der ›Religion‹ das soziale Bindemittel
propagiert, ist es wohl irritierend zu sehen, wie die ›Religion‹
einen positiven Effekt auf die Straffälligkeit wegen Bettelei
ausübt. Dies zeigt sich in der örtlichen Konzentration dieser
Devianzform um die orthodoxen Pilgerstätten, zum anderen in
dem paradoxen Effekt einer Steigerung der Betteleirate bei
gleichzeitiger Senkung der Delinquenz in den heiligen Zeiten
der orthodoxen Religionspraxis. »Il se produit à ce moment« so
Durkheim mit Bezug auf die Zeit vor Ostern »une surexcitation
du sentiment religieux qui abaisse la criminalité générale, mais
stimule la mendicité par les primes exceptionelles qui lui sont
alors offertes.«397 Durkheims emotive Theorie der Explikation
von Verbrechensraten, die sich aus seiner Konzeption der
395
396
397
Emile Durkheim, E. Tarnowski, La mendecità in Russia, in: L’Année
sociologique 4, 1901, S. 460-461.
Ebd., S. 460.
Ebd., S. 461.
160
Recht als Kultur.
Definitionsmacht einer ›conscience collective‹ ergibt,398 läßt
sich also auf diesen besonderen Fall des Bettelns im traditionalorthodoxen Rußland in plausibler Weise anwenden.
Trägt dies auch zum soziologischen Verständnis des Bettelns in
mittelalterlichen Gesellschaften bei?
Sicher erklärt die religiöse Pflicht zum Almosen und die damit
verbundene Legitimität des Bettelns den spezifischen Standort
dieser Gruppe in mittelalterlichen Gesellschaften: Material
religiöser Bewährung und gleichzeitige Randständigkeit
derjenigen, deren Tun offensichtlich nicht gottgefällig ist.
Um so stärker ist der Zwang, zwischen den ›wahren‹ und den
›falschen Bettlern‹ zu unterscheiden.399 Damit wird auch die
religiöse Hilfepflicht in Maßnahmen weltlicher Kontrolle
profaniert. So macht in Nürnberg die Bettelordnung von 1370
die Erlaubnis zum Betteln für Einheimische von dem Tragen
eines Bettelzeichens abhängig.400 Damit wird die doppelte
Funktion von Identifikation der Gruppe und sozialer
Ausgrenzung mit den Mitteln symbolischer Etikettierung
erreicht. Denn auch die Bettler repräsentieren das Gegenbild
eines rechtschaffenen tätigen Lebens, wie all die Versuche
zeigen, das legitime Betteln auf die wirkliche Bedürftigkeit zu
beschränken und nicht auch noch Müßiggang und Laster zu
befördern. Daß Versuche scheiterten, ein allgemeines
Bettelverbot durchzusetzen, mag aber nicht nur an der – freilich
ambivalenten – religiösen Rechtfertigung liegen, sondern in
ihrer sozialen Funktion begründet: Denn wer durch die Maschen
des familiären und grundherrschaftlichen Netzes sozialer
Sicherheit
hindurchgefallen
war,
behielt
so
eine
Überlebenschance, die ihn gleichwohl von der übrigen
Gesellschaft abgrenzte. Das Betteln erscheint also fest in den
398
399
400
Diese Theorie ist systematisch rekonstruiert bei Werner Gephart, Strafe
und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., S. 63-101.
Vgl. im übrigen den ersten Teil, drittes Kap.
Vgl. Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen
und Henker, a. a. O., S. 28.
Ebd., S. 25.
161
Werner Gephart
Grundbedingungen mittelalterlichen Lebens verhaftet; es ist
insofern eine ›normale‹ Erscheinung dieser Gesellschaften, in
der die ambivalente Bewertung des Bettelns durch symbolische
Ausgrenzung und gleichzeitige Mitgliedschaft manifestiert wird.
4.
Dirnen
Durkheims Normalitätsthese läßt sich am Beispiel der
Prostitution wohl besonders eindrucksvoll demonstrieren.
Schließlich tritt die Prostitution nicht nur historisch universell
auf, sondern ist in den unterschiedlichsten Kulturen verbreitet.
Zur Universalität und Ubiquität tritt die freilich kontrovers
beurteilte Funktionalität der Prostitution. So ist für den
ambivalenten Mitstreiter und später abtrünnigen Gaston
Richard401 in der Rezension einer Arbeit von Fischer die
Verknüpfung mit den Grundbedingungen des sozialen Lebens
unstreitig. So schreibt Richard: »Si l’historie de la prostitution
montre qu’elle est un phénomène inséparable de la vie sociale, il
est avéré que la nervosité moderne en multiplie les formes
pathologiques, sadisme, masochisme, flagellantisme ...«402
Nur in welchem Sinne ist die ›Prostitution‹ mit den
›Grundbedingungen des sozialen Lebens‹ verbunden und was
bedeutet dies für die Dirnen als Randständige mittelalterlicher
Gesellschaften?
Hans-Peter
Duerr
meint
den
›Mythos
vom
403
gerade am Beispiel mittelalterlicher
Zivilisationsprozeß‹
Prostitution entlarven zu können. Wenn der kritisierte Norbert
Elias meine, daß die »öffentlichen Huren im öffentlichen Leben
ihren ganz bestimmten Platz hatten«, so sei diese
Integrationsthese völlig falsch.
401
402
403
Vgl. William S. Pickering, Gaston Richard: collaborateur et adversaire,
in: Revue française de sociologie 20, 1981, S. 163-182.
Gaston Richard, W. Fischer – Die Prostitution, ihre Geschichte und ihre
Beziehungen zum Verbrechen, in: L’Année sociologique 8, 1905, S.
502-503.
Vgl. Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham. Der Mythos vom
Zivilisationsprozeß, Frankfurt am Main 1988.
162
Recht als Kultur.
Das Gegenteil sei nach Duerr richtig:404 So wurden in Toulouse
die Bürger dazu ermächtigt, die öffentlichen Huren aus ihrer
Nachbarschaft zu vertreiben, ihnen in demütigender Absicht die
Kleider vom Leibe zu reißen usf. Duerr weist weiter darauf hin,
daß im 14. Jahrhundert zwei Huren verurteilt wurden, weil sie es
gewagt hatten, sich in der Kirche neben ehrbare Frauen zu
setzen und schließlich weist er auf die lokale Zentrierung in
bestimmten Vierteln hin. Duerrs Schlußfolgerung lautet: »Wenn
man also davon spricht, daß die öffentlichen Huren ›ihren ganz
bestimmten Platz‹ hatten, dann kann das – entgegen der
Behauptung von Elias – nur heißen, daß dieser Platz außerhalb
der Ehrbarkeit und damit außerhalb der Gesellschaft lag.«405
Freilich hatte Norbert Elias niemals behauptet, daß Dirnen zum
ehrbaren Teil der mittelalterlichen Gesellschaft gehörten. In
seinem Modell zivilisatorischer Affektmodulation spielt nur die
Tatsache eine erhebliche Rolle, daß der Humanist Erasmus in
einem Lehrtraktat so unbefangen einem Schüler gegenüber von
den Dirnen sprechen kann, ohne diese Lebenssphäre zu
tabuisieren. Er resümiert seine Darlegungen zur Prostitution
gerade in unmißverständlicher Weise: »Ihre soziale Stellung war
mit einem Wort ähnlich wie des Henkers, niedrig und verachtet,
aber durchaus öffentlich und nicht mit Heimlichkeit
umgeben.«406 Wenn wir Duerrs Kritik nicht als mutwillige
Fälschung deuten wollen, dann kann nur die Bedeutung von
›Integration‹ im Streit sein. So schreibt Duerr auch, daß nur
insofern von ›Integration‹ die Rede sein könne (ein Begriff, den
Elias gar nicht verwendet), als die städtische Prostitution in
stärkerem Maße institutionalisiert und damit kontrollierbar
wird.407
404
405
406
407
Vgl. ebd., S. 300 ff.
Ebd., S. 301.
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und
psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1977 (1937), S.
242.
Vgl. Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham, a. a. O., S. 301.
163
Werner Gephart
Ein Streit um Worte, oder gibt es dennoch Differenzen in der
Deutung der Art von Öffentlichkeit und Akzeptanz der ›schönen
Frauen‹ und ›Hübscherinnen‹? Elias deutet die Überlieferung,
daß man hohen Gästen die Huren zur Begrüßung
entgegenschickte, Bürgermeister und Rat im Frauenhaus tafelten
oder sie an Wettspielen teilnahmen, im Sinne einer sexuellen
Freizügigkeit und geringeren Affektkontrolle.408 Duerr hingegen
weist auf magisch religiöse Hintergründe dieser vermeintlichen
Integrationsindizien hin. So gebe es in vielen Teilen Europas
den Volksglauben, daß die Begegnung mit einer Hure Glück
bringe, was sich auch in der Einladung zu religiösen
Zeremonien und Festen niederschlage. Dahinter stehe die
Vorstellung, so Duerr, »daß eine Prostituierte als Verkörperung
der uneingeschränkten Sexualität die Fruchtbarkeit der Felder
fördere ...«409
Aber zeigt nicht gerade diese Interpretation, wie sehr das
Dirnenwesen ›integrativer‹ Bestandteil der Gesellschaft ist,
wenn ihre Funktion nicht nur in der Kanalisierung sexueller
Triebe besteht, sondern auch noch in die religiöse
Vorstellungswelt und Praxis vormoderner Gesellschaften
einbezogen ist?
Dieser religiöse Ursprung der Prostitution würde im übrigen
Durkheims Postulat entsprechen: »A l’origine tout est
religieux«. Nicht aus Durkheims Feder, aber in einer Rezension
der Arbeit von Dupouy über die Prostitution in der Antike wird
von Gaston Richard die Transformation der ›heiligen‹ in die
›profane‹ Prostitution thematisiert,410 während in einer weiteren
Rezension zu P. Hirschs Untersuchung über ›Verbrechen und
Prostitution als soziale Krankheitserscheinungen‹ der
ökonomische Determinismus in der Erklärung der Prostitution
408
409
410
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, a. a. O., S. 242.
Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham, a. a. O., S. 302.
Gaston Richard, E. Dupouy – La prostitution dans l’antiquité, in:
L’Année sociologique 2, 1899, S. 421-422.
164
Recht als Kultur.
kritisiert wird. Nicht erst der Kapitalismus und seine Krisen
habe die Prostitution hervorgebracht.411
Wie läßt sich am Ende Durkheims soziologische Perspektive auf
die Kategorie der Dirnen anwenden? Aus Durkheims späten
Schriften wissen wir um die Bedeutung der symbolischen
Ausgrenzung. Roter Schleier, Hüte oder auch das Postulat des
Berthold von Regensburg, die Huren in Gelb zu kleiden.
Dahinter mögen polizeiliche Kontrollmotive stehen, aber in
signifikanter Weise auch das Bedürfnis nach Differenz, nicht
allein um die Huren auszugrenzen, sondern um die Anständigen
überhaupt erkennen zu können. So solle keine anständige Frau
den Schleier tragen, »die sie gelb färben wie die Jüdinnen, jene
die auf dem Graben gehen, und die Pfäffinnen«.412
Von einer Integration kann also keine Rede sein, aber durchaus
einer sozialen Akzeptanz, solange sie sich den gesellschaftlichen
Spielregeln fügen. Diese rücken sie freilich durch die
Erkennungszeichen, ihre lokale Konzentration und die
Vernetzung mit anderen Randständigen – so oblag den
Scharfrichtern in Köln die Aufsicht über das Dirnenwesen413 –
an die Peripherie der mittelalterlichen Gesellschaft, an der sie
selbst ein eigenes, durchaus statusmäßig differenziertes Milieu
von Straßendirnen, Dirnen im Frauenhaus und den freien,
heimlichen Prostituierten bildeten. Daß sich hierin auch die
soziale Differenzierung der Klientel wiederfindet, zeigt einmal
mehr, wie sehr die inkriminierten Gruppen ein Spiegel der guten
Gesellschaft sind.
Die
Prostitution
erfüllt
das
naturalistische
Bedürfnis
gesellschaftlich unerfüllter Triebbefriedigung, die nach
Durkheims Anthropologie des menschlichen Unglücks auch
411
412
413
Gaston Richard, P. Hirsch, Verbrechen und Prostitution als soziale
Krankheitserscheinungen, in: L’Année sociologique 2, 1899, S. 413414.
Berthold von Regensburg in der 8. Predigt, in: Franz Pfeiffer (Hrsg.),
Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten.
Wien 1862-1880 (Berlin 1965), Bd. I, S. 114 f.
Vgl. Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen
und Henker, a. a. O., S. 206 f.
165
Werner Gephart
niemals zu erreichen ist. Don Juan ist im ›Suicide‹ der Prototyp
des Anomikers414 und nur die soziale Institution der Prostitution
bewahrt uns davor – so läßt sich Durkheim fortspinnen –, daß
unsere Frauen und Töchter den Versuchungen erliegen, da eine
Gesellschaft ohne Prostitution ja nur den Donjuanismus
befördern könnte. Daher ist die Prostitution eine aus Durkheims
Sicht zweifellos in ähnlicher Weise nützliche Erscheinung, wie
die Ehe das Sexualleben reglementiert, von dem – wie
Durkheim im Suicide darlegt – vor allem der Mann profitiert:
seine Suicidneigung steigt nach Scheidung und Tod der Gattin
überproportional.
5.
Henker
In seiner Theorie der Strafe415 hat Durkheim dem ›Personal‹ der
Strafausübung keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Man wird daher vergeblich nach Anmerkungen über den Henker
suchen. Gleichwohl lassen sich Eigentümlichkeiten dieser
Berufsgruppe aus Durkheims Straflehre, insbesondere deren
religionssoziologischen Elementen deuten.
Wir hatten gesehen, wie das Verbrechen durch die Reaktion der
Normalen auf einen Widerspruch zur ›conscience collective‹
konstituiert wird. Die pönalisierten Verhaltensweisen sind
danach Indikatoren der zentralen Gefühlswerte einer
Gesellschaft. Sie bezeichnen im Reich des Normativen den Ort,
an dem die Irritation der kollektiven Ordnung als besonders
bedrohlich empfunden wird. Aufgrund der Normalitätsthese
kann die Funktion der Strafe nicht darin bestehen, Verbrechen
im Sinne der Spezial- oder negativen Generalprävention
auszumerzen. Die Strafe dient zwar der kognitiven Bekräftigung
der im Verbrechen verletzten kollektiven Gefühle; aus der
Eigendynamik kollektiver Reaktionen wird gleichzeitig eine
Verstärkung dieser Gefühlswerte erreicht, die sich auf ein neues
414
415
Emile Durkheim, Le suicide, a. a. O., S. 304, Fn. 2, S. 305; zu
Durkheims Frauenbild vgl. Philippe Besnard, Durkheim et les femmes
où le suicide inachevé, in: Revue française de sociologie 14, 1973, S.
27-61.
Ob hiervon in der Vorlesung, die Durkheim in Bordeaux zur Theorie
der Sanktionen gehalten hat, die Rede war, scheint mir sehr fraglich.
166
Recht als Kultur.
Geltungsniveau hochschrauben. Der Straftheorie von Durkheim
liegt also ein Balance-Modell kollektiver Gefühle zugrunde,
nach dem eine jede Verletzung gemeinschaftlich akzeptierter
und gelebter Gefühle eine hierauf bezogene Reaktion emotiven
Charakters hervorruft, die zu einer Austarierung des gestörten
Gleichgewichts im ›emotiven Haushalt‹ einer Gemeinschaft
führt. Die Straffunktion läßt sich also resümieren: »Sa vrai
fonction est de maintenir en faite la cohésion sociale en
maintenant toute sa vitalité à la conscience commune.«416
Mit welchen Mitteln diese ›Vitalität‹ in der theatralischen
Inszenierung des Schreckens erreicht wurde, ist von Michel
Foucault,417 der übrigens als einzigen Klassiker Emile Durkheim
der Zitation für wert befindet,418 in eindrucksvoller Weise
dargelegt. Die Strafrituale der Kölner Schöffengerichtsordnung
von 1435 sind eine normative Quelle für den würdevollen und
feierlichen Gang des Hinrichtens,419 und Foucaults These von
der Entwicklung der Strafe als Geschichte der Machttechnik420
läßt sich gleichfalls aus den Kölner Turmbüchern belegen. So
wurden vor allem Hinrichtungen nach erfolgreichen oder
mißglückten Revolten als aufwendige Schauspiele inszeniert.
Franz Irsigler und Arnold Lassotta geben die Quelle wieder:
»Nach dem Aufstand gegen den Rat von 1481/82, an dem auch
Mitglieder der alten Geschlechter beteiligt waren, wurden sechs
Rädelsführer am 19. Februar 1482 auf dem Heumarkt enthauptet
– nicht durch den berufsmäßigen Henker, sondern durch ›der
stat swertdreger, der dat swert mit dem overgulden knouf zo
dragen plecht‹.«421
416
417
418
419
420
421
Emile Durkheim, De la division du travail social, a. a. O., S. 72.
Vgl. Michel Foucault, Surveiller et punir, a. a. O.
Vgl. ebd., S. 28.
Siehe die Darstellung bei Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler
und Gaukler, Dirnen und Henker, a. a. O., S. 232.
Zur Parallele bei Durkheim vgl. im einzelnen Werner Gephart, Strafe
und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, a. a. O., zweiter Teil,
drittes Kap.
Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und
Henker, a. a. O., S. 241; dort die Koelhoffsche Chronik (Chroniken der
deutschen Städte, Köln 3, S. 856 f.) zitierend.
167
Werner Gephart
Eine Reihe von Eigenheiten in der Lebensform und sozialen
Stellung der Henker ist aber weniger durch ihre Verflechtung in
den Machtapparat erklärbar, in dem sie ein eigenes Subsystem
von Dirnen, ›Goldgräbern‹ und Schindern dirigieren, sondern
aus der magisch-religiösen Wurzel der Strafe zu erhellen.
Emile Durkheim hatte schon in der ›Division du travail social‹
den heiligen Ursprung der Strafe anvisiert: »Quand nous
réclamons la répression au crime, ce n’est pas nous que nous
voulons personellement venger, mais quelque chose de sacré
que nous sentons plus ou moins confusément en dehors et audessus de nous.«422 Es war der Neffe Marcel Mauss, der den
religiösen Charakter der Strafe und des Strafrechts weiter
entwickelt hat, indem er als Urbild der ›Norm‹ das Tabu und
seine contagieuse Aura ins Spiel gebracht hat.423
Am Beispiel der Blutrache zeigt Mauss, wie das vergossene Blut
Symbol der Gruppeneinheit ist, die nur durch einen
kompensatorischen Blutakt wiederherzustellen ist. Religiöse
Tabus ziehen drakonische Strafen nach sich; der rituelle Schutz
der heiligen Orte und sakralen Feste, der Schutz der
Männerbünde, das Inzesttabu. Und all diesen Tabunormen
liegen kollektive Gefühle religiösen Ursprungs zugrunde, die
eine eigenartig ansteckende Wirkung zeitigen. Sie erstrecken
sich auf Gegenstände und Personen, die mit der Tabuverletzung
in Berührung stehen.
Zugleich aber ist der Kontakt mit dem Verbotenen ambivalent:
es läßt den Schuldigen an den Folgen seiner Tat umkommen
oder läßt ihn an magischen Kräften gewinnen. So schreibt
Mauss: »Le caractère ambigu des conséquences du tabou répond
422
423
Emile Durkheim, De la division du travial social, a. a. O., S. 68.
(Hervorh. v. W. G.).
Durkheim merkt in einer Rezension lobend an: »M. Mauss a su démêler
dans le tabou l’institution religieuse d’où dérive cette religiosité du
droit pénal et nous croyons l’idée féconde.« (Emile Durkheim, Rez. zu
Marcel Mauss, La Religion et les Origines du droit pénal, in: L’Année
sociologique 1, 1898, S. 353-358, hier S. 357).
168
Recht als Kultur.
à sa nature même: il consilie le sacré et l’impur, il fait les dieux
comme les criminels.«424
So läßt sich erklären, daß der Henker einerseits zu den
›unreinen‹ Berufen gezählt wird, ihm andererseits aber auch
magische Kräfte zugeschrieben werden. Die ansteckende
Wirkung des Tabus geht soweit, daß ein Faßbinder, der in eine
mißratene Hinrichtung eingreift, indem er ein in die Menge
gefallenes Haupt dem Henker zuwirft, umgehend aus der Zunft
ausgestoßen wird.425 Ein Eingreifen in die tabuierte Tätigkeit
des Henkers macht ihn ›unehrlich‹.
Diese Wirkung erstreckt sich auch auf die vom Henker
verwendeten Gegenstände. So wird einem Scharfrichter der
Prozeß gemacht, weil er vom Richtplatz etliche Pfosten mit
Rädern, auf denen noch Gebeine von Hingerichteten gelegen
haben, für den Bau eines Stalles verwendet.426 Also nicht die
Eigentumsverletzung war das Delikt, die Gerätschaften hatte der
Scharfrichter auch selbst zu stellen, sondern die Profanierung
des tabuierten, in seiner Wirkung ambivalenten Unreinen wird
pönalisiert. Die Ansteckungsgefahr ging so weit, daß
entgegengenommenes Geld durch bestimmte Rituale gereinigt
werden mußte,427 von einem Handwerksmeister aus Basel wird
berichtet, er habe Selbstmord begangen, weil er in betrunkenem
Zustand mit dem Scharfrichter gemeinsam gezecht habe.428
Da sich die Gemeinschaft von der unehrenhaften Tätigkeit des
Henkers abgrenzen will, ist sie auf Selbstrekrutierung
424
425
426
427
428
Marcel Mauss, La relgion et les origines du droit pénal d’après un livre
récent, in: Revue de l’histoire des religions 34, 1896, S. 269-295; 35,
1897, S. 31-60; abgedr. in: Marcel Mauss, Oevres, Bd. 3, Paris 1968,
hrsg. von Victor Karady, S. 696.
Vgl. die Darstellung bei Franz Irsigler und Arnold Lassotta, Bettler, und
Gaukler, Dirnen und Henker, a. a. O., S. 243 f.
Auch dieses Beispiel findet sich bei ebd., S. 276.
Vgl. Karl Bruno Leder, Todesstrafe. Ursprung, Geschichte, Opfer,
Wien/München 1980, S. 265; Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit.
Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung,
München 21985, S. 176 ff.
Vgl. Albrecht Keller, Der Scharfrichter
Kulturgeschichte, Hildesheim 1968.
in
der
deutschen
169
Werner Gephart
angewiesen: Söhne müssen das Handwerk des Vaters ausüben;
Töchter dürfen nur Henker heiraten. Da gleichzeitig aber eine
lokale Verfestigung unerwünscht ist, und ein aus der Fremde
Stammender weniger Makel auf der Gemeinschaft zurückläßt,
ergibt sich eine hohe Mobilität auch dieser Gruppe der
Randständigen in mittelalterlichen, insbes. spätmittelalterlichen
Gesellschaften.
Inwieweit die hier ›idealtypisch‹ betrachteten Gruppen der
Aussätzigen, Bettler, Dirnen und Henker eine eigene Form der
Vergesellschaftung oder eine Art Subkultur mit eigenen
Lebensformen429 und miteinander vernetzten Lebenswelten430
bilden,
läßt
sich
nur
für
konkrete,
historische
Lebenszusammenhänge in mittelalterlichen Gesellschaften
beurteilen. Es drängt sich freilich der Eindruck einer Gegenwelt
auf, die unterschiedliche Funktionen in dieser gesellschaftlichen
Formation zeitigen.
Sie
genügen
den
Bedürfnissen
eines
dualen
431
Klassifikationsschemas, in dem die Reinen von den Unreinen
separiert werden. Diese Differenzierung vollzieht sich auf einer
symbolischen Ebene durch die normative Kennzeichnungspflicht
und Praxis bei Aussätzigen, Bettlern, Dirnen und Henkern; auf
einer räumlichen Ebene scheint in den Städten eine
topographische Konzentration in ›unreine‹ Gebiete und Viertel
stattzufinden; im sozialen Sinne sind sie in wechselseitiger
Abhängigkeit,
Notgemeinschaft
und
erzwungener
sozialintegrativer Distanz zur übrigen sozialen Welt.
Sie lassen sich in einem System der Ächtung verorten, in dem
das ›Unehrenhafte‹ die Basis der Gemeinsamkeit darstellt.
429
430
431
Der soziologische Streit um ›Lebensform‹ oder ›Mentalität‹ ist noch
nicht geführt.
Auch Bernhard Waldenfels wendet das Lebensweltkonzept auf die
›Moderne‹ an. Gerade für das Mittelalter wäre ein phänomenologischer
Zugang aus soziologischer Sicht spannend.
Vgl. Emile Durkheim und Marcel Mauss, De quelques formes
primitives de classification, in: L’Année sociologique 6, 1903, S. 1-72.
170
Recht als Kultur.
Wir haben an verschiedenen Stellen zu zeigen versucht, in
welchem Sinne die betrachteten ›Außenseiter‹ funktionaler
Bestandteil der mittelalterlichen Gesellschaften sind. Durkheims
Theorie legt einen besonderen Akzent auf die emotive
Dimension des sozialen Lebens. Diese scheint gerade für das
Verständnis mittelalterlicher Gesellschaften nicht unwichtig.432
So ließe sich in Fortführung von Durkheim z. B. ›Ehre‹433 als
ein ›symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium‹
entfalten, an dessen Teilhabe sich die mittelalterliche
Gesellschaft scheidet. Wie freilich im soziologischen Sinne das
Mittelalter kategorial und theoriebezogen in seiner
Wirklichkeitsstruktur begriffen werden kann, läßt sich an dieser
Stelle nicht weiter diskutieren. Mir scheint allerdings, daß eine
Verknüpfung sozialstruktureller Ansätze, wie sie von Duby, Le
Goff u. a. vertreten werden, mit einer dynamischen Konzeption
von ›Interaktion‹434 und ›Kommunikation‹ in mittelalterlichen
Gesellschaften vielversprechend ist.
432
433
434
Vgl. Irmgard Gephart, Geben und Nehmen im ›Nibelungenlied‹ und in
Wolfram von Eschenbachs ›Parzival‹, Diss. Bonn 1994 und Peter
Dinzelbacher, Gefühl und Gesellschaft im Mittelalter. Vorschläge zu
einer emotionsgeschichtlichen Darstellung des hochmittelalterlichen
Umbruchs, in: Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Höfische
Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200,
Düsseldorf 1986, S. 213 ff.
Hierzu findet sich z. B. Material bei Hubertus Fischer, Ehre, Hof und
Abenteuer in Hartmanns ›Iwein‹, München 1983.
Vgl. die glänzende Arbeit von Harald Haferland, Höfische Interaktion.
Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München
1989.
171
Werner Gephart
Die Randgruppen könnten ein solches dynamisches Element
darstellen, gerade wenn man ihre positive Funktionalität für die
normative Flexibilität des sozialen Lebens in Rechnung stellt,
wie sie Emile Durkheim in seiner nach wie vor revolutionären
These der Normalität des Verbrechens entwickelt hat.
172
Recht als Kultur.
SECHSTE VORLESUNG
DIE SYMBOLISCHE INSZENIERUNG DES UNRECHTS IM
NATIONALSOZIALISMUS
Der ›Historikerstreit‹ ist längst aus der öffentlichen Diskussion
verschwunden. Daß es ein ›historischer‹ Streit um Fragen
deutscher Identität war, hat sich inzwischen erwiesen. Und so
wird es eine wichtige Frage für die längerfristige Identität
Deutschlands sein, ob man sich dieser Geschichte als einer
gemeinsamen Verantwortung wird erinnern wollen. Unter
diesen Voraussetzungen gewinnt die Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus einen neuen Akzent.
Die Soziologen haben sich bei dieser Auseinandersetzung
eigenartig bedeckt gehalten. Lange Zeit im Ruf, durch den
Nationalsozialismus nicht belastet zu sein, waren die
Forschungsanstrengungen,
das
Phänomen
des
Nationalsozialismus zu beschreiben oder gar zu erklären,
außerordentlich gering.435 Das soziologische Desinteresse am
gegenwärtigen Prozeß einer soziologisch einmaligen Art der
Gesellschaftsbildung scheint auf dem gleichen Mißverständnis
über die Arbeitsteilung von ›Geschichtswissenschaft‹ und
›Soziologie‹ zu beruhen: die ›Geschichte‹ und auch noch die
›Gegenwart‹ den Historikern zu überlassen, um sich auf nichts
als ›Gesellschaft‹ zu beschränken.
Ob sich die Soziologie diese Art von Abstinenz in der
Konkurrenz der Disziplinen leisten kann, wage ich zu
bezweifeln. Sie ist aber nicht nur gefährlich, weil das Fach
damit leichtfertig sein Ideal auch: kultursoziologischer
Aufklärung verspielt, sondern ein Eingreifen ist angesichts der
latenten
Soziologisierung
der
Geisteswissenschaften
unumgänglich. Wenn sich das Fach nämlich von dem
soziologischen Jargon, den es selbst in die Welt gesetzt hat
(›Sozialisation‹, ›Identität‹ etc.), indigniert wieder abwendet,
435
Vgl. hierzu den Beitrag von Thomas Herz, Nur ein Historikerstreit? Die
Soziologen und der Nationalsozialismus, in: Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie 39, 1987, S. 560-570.
173
Werner Gephart
darf es sich über Trivialisierungen und Banalisierungen
soziologischen Wissens nicht wundern.
I.
Mythen, Klischees und differenzierte Wirklichkeiten der
Gesellschaft im Nationalsozialismus
Das
Zauberwort
des
›Historikerstreits‹
war
die
436
Identitätsformel. Ist dies nur ein Zufall oder gleichsam die
Spitze einer Begriffspyramide, auf der die historische Forschung
zum Nationalsozialismus aufruht? Was ist von ›soziologischer‹
Bedeutung in neueren Arbeiten zum Nationalsozialismus und
welche weiteren Fragen hätte sich die soziologische Forschung
zu stellen, wenn sie die Gesellschaft im Nationalsozialismus als
ein legitimes Thema akzeptieren würde? Unter diesem
Blickwinkel wird die – wie immer – kontingente Auswahl
neuerer Schriften gelesen.
1.
Nationalsozialismus als Herrschaftssystem
Für
die
Analyse
der
Herrschaftsstrukturen
im
Nationalsozialismus liefert der von Hans Mommsen
herausgegebene Band über den ›Herrschaftsalltag im Dritten
Reich‹ (1988) vielfältiges Material und komplexe
Deutungsangebote.
Im Streit um Führerzentrismus vs. Polykratismus tendieren die
Beiträge zu einer vermittelnden Position: Ian Kershaw
demonstriert, wie sehr Hitler zum Mythos wurde, von dem die
Realität der ›außerordentlichen Eigenschaften‹ des Führers weit
entfernt war. Dem Hitler-Mythos ist ja auch die Forschung lange
Zeit aufgesessen und so besteht nun eher die Gefahr, die
heuristischen Qualitäten der mehr oder minder explizit
verwendeten Kategorie ›charismatischer Herrschaft‹ wieder zu
verspielen. Ob das ›Charisma‹ – wie Kershaw meint – nach
Weber »primär ein gesellschaftliches Produkt« sei,437 mag
dahinstehen. Jedenfalls belegen die von Kershaw beigebrachten
436
437
Vgl. meine Besprechung in: Soziologische Revue 12, 1989, S. 314-318.
Ian Kershaw, Hitlers Popularität. Mythos und Realität im Dritten Reich,
in: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans
Mommsen und Susanne Willems, Düsseldorf 1988, S. 24-52 (S. 25).
174
Recht als Kultur.
Dokumente die außerordentliche inhaltliche Nähe zum
›charismatischen Legitimitätsglauben‹438 im Sinne Webers.
Aber auch die strukturelle Problematik charismatischer
Herrschaft, nämlich die Veralltäglichung des Außeralltäglichen
in eine dauerhafte Organisation der Herrschaft, ist als
Interpretationsfolie verwertbar. ›Anerkennung‹ des Führers als
Pflicht, ›Bewährung‹ durch Erfolge (durch die kaum
vorstellbaren Blitzkrieg-Siege 1939 bis 1941) und schließlich
auch die Erosion des Charisma im Scheitern des Diktators. Es
sind weitere Elemente der Selbststilisierung Hitlers und der
gezielten Verbreitung des Mythos, die zu dem Idealtypus
charismatischer Herrschaft passen: Das ›Zölibat‹ betont die
Lösung von allen privaten Bindungen, und der demonstrative
Verzicht auf das Reichskanzlergehalt stellte Hitler auch
ökonomisch außerhalb der Banalitäten des Alltags.439
Sendboten
und
Satrapen
sowie
eine
emotionale
Vergemeinschaftung der ›Gemeinde‹ kennzeichnen das Umfeld
des charismatischen ›Führers‹. Der ›Führerkult‹ ist daher das
quasi-religiöse Instrument zur Erzeugung kollektiver
Begeisterung.440
Hans Mommsen lenkt in der instruktiven Einleitung unser
Augenmerk
auf
die
Grenzen
dieser
›emotionalen
Vergemeinschaftung‹. Ebenso wie der ›Führer‹ vielfach ein
›Geführter‹ war, so ist auch der Mobilisierungseffekt der
Gemeinschaftskulte in den Augen von Mommsen schlichtweg
überschätzt. Vielmehr zeigten sich zunehmend ritualistische
Züge in der nationalsozialistischen Repräsentation der
Herrschaft,441 die mit dem Typus ›charismatischer Herrschaft‹
438
439
440
441
Vgl. Dokumente zu Hitlers Popularität im Dritten Reich, in:
Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans
Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 54-96.
Vgl. Ian Kershaw, Hitlers Popularität. Mythos und Realität im Dritten
Reich, a. a. O., S. 45.
Zu den religiösen Zügen im Hitler-Bild, vgl. ebd., S. 32 ff.
Vgl. Hans Mommsen, Einleitung zu: Herrschaftsalltag im Dritten
Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne
Willems, a. a. O., S. 9-23 (S. 19 ff.)
175
Werner Gephart
eben nur unvollständig zu fassen sind. Neben Funktionsdefiziten
der NSDAP hebt Mommsen einen grundlegenden Zielkonflikt
des Herrschaftssystems hervor, der eine auffällige Parallele zum
Scheitern sozialistischer Gesellschaften aufweist, dem Konflikt
zwischen ›sozialer Betreuung und sozialer Kontrolle‹.442
Eine im übrigen nicht-fachliche Rekrutierung des HerrschaftsPersonals443 führt nicht nur zu Kompetenzmängeln, sondern
öffnet den verschiedensten Spielarten mäzenatischer
Versorgung, operettenhaftem Luxus und den schwarzen
Limousinen Tür und Tor. Insofern also sind nicht die
Auswüchse bürokratischer Herrschaft, sondern der Mangel einer
spezifischen Ethik der Unpersönlichkeit für diese z. T. grotesken
Erscheinungen nationalsozialistischer Herrschaft verantwortlich,
die uns wiederum in sozialistischen Gesellschaften
wiederbegegnet. Mir scheint Mommsens Fazit auch für den
Soziologen außerordentlich bedenkenswert. Das praktische
Versagen der Nationalsozialisten wird auf die Defizite ihres
Politikverständnisses zurückgeführt: »Es ging von der
Erwartung
aus,«
so
Mommsen
»die
geforderte
Gefolgschaftstreue
durch
ständige
propagandistische
Beeinflussung herbeizwingen zu können, und leugnete die
Existenz divergierender gesellschaftlicher Interessen, die durch
die Beschwörung der ›Volksgemeinschaft‹ nicht einfach
verschwanden.«444
Die übrigen Beiträge des instruktiven Sammelbandes können im
Lichte dieser These gelesen werden. Es geht um den
›Herrschaftsalltag‹ im Dritten Reich, der auf einer ›mittleren
Ebene zwischen dem politischen System als ganzem und der
Erfahrungswirklichkeit des Einzelnen‹445 anvisiert wird.
442
443
444
445
Ebd., S. 18.
Vgl. ebd., S. 19 ff.
Ebd., S. 21.
Vgl. das Vorwort zu: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und
Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 6-8
(S. 6).
176
Recht als Kultur.
Da Herrschaft im Alltag aber schlicht ›Verwaltung‹ heißt, geht
es
um
verschiedene
verwaltungsmäßig
gesteuerte
Lebensbereiche. Delia und Gerd Nixdorf räumen in ihrem
Beitrag über ›Politisierung und Neutralisierung der Schule in der
NS-Zeit‹446 mit einem verbreiteten Klischee über die totale
Indoktrination auf, ohne aus der Schule einen Ort des
Widerstands zu machen. Die Wirklichkeit ist eben komplizierter
und dies je mehr man sich auch als Forscher vom
Propagandabild des ›Führerstaats‹ befreit.447 Diese Studie läßt
sich gerade als Enttrivialisierung platter ›Sozialisationstheorien‹
soziologischer Herkunft deuten. Delia und Gerd Nixdorf bringen
zahlreiche Belege für ihre differenzierende Grundhypothese ein:
»Die Schule erwies sich offenbar als nicht so brauchbar, Kinder
und Jugendliche in den nationalsozialistischen Staat zu
integrieren, sie für das Dritte Reich zu sozialisieren. Sie blieb
aufgrund von Kontinuitäten und Traditionen, durch die die
Lehrer gebunden waren, immer ein denkbarer potentieller
Unsicherheitsfaktor – und das, obwohl eine tatsächliche Gefahr
für das Regime nie von ihr ausging.«448
Zu dieser differenzierten Hypothese gelangen die Autoren
aufgrund einer auch für die Soziologie gewinnbringenden
Methodenvielfalt:
Interviews,
Aktenauswertung
von
Schularchiven, Schulaufsätze, Abiturthemen sowie den
ergiebigen Gestapo-Akten aus dem Hauptstaatsarchiv
Düsseldorf, die z. T. im Dokumentationsanhang abgedruckt
sind.
Die Polykratismusthese bestätigt sich in der folgenreichen
Konkurrenz von Schule und HJ um den Bildungsauftrag, der
ganz im Sinne charismatischer Herrschaftsansprüche als
›erzieherische Sendung‹ bezeichnet wird. Die Orte der
Erziehung sind in diesem Sinne, mit Hitlerbild und
446
447
448
Delia und Gerd Nixdorf, Politisierung und Neutralisierung der Schule
in der NS-Zeit, in: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und
Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 225303.
Vgl. ebd., S. 233.
Ebd., S. 225.
177
Werner Gephart
Hakenkreuzfahnen, symbolisch ausstaffiert,449 ohne daß diese
Optik mit der tatsächlichen nationalsozialistischen Prägung des
Schulsystems zu verwechseln wäre.
Wurde hier bereits der Antisemitismus in der Schulpolitik
differenziert gewichtet,450 so bietet die Studie von Hans
Mommsen und Dieter Obst vielleicht die größten
Überraschungen: ›Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf
die Verfolgung der Juden 1933-1945‹451 zeichnet ein
vielschichtiges Bild. Zunächst werden die Erkenntnisse
bestätigt, wonach der Antisemitismus in der Öffentlichkeit eine
regional stark unterschiedliche Intensität besaß und zumindest
bis 1938 von einer geschlossenen antisemitischen Bewegung
keine Rede sein kann.452 So wird auch die Reaktion auf die sog.
›Reichskristallnacht‹ schichtendifferenzierend behandelt. Es war
ganz offensichtlich, daß das »brutale und hemmungslose
Vorgehen von SA und NSDAP« im Widerspruch zu »tradierten
gesellschaftlichen Normen« stand und auch als eine »ernsthafte
Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«
empfunden wurde.453 Hier freilich wurde wiederum der HitlerMythos wirksam, wonach der Diktator solche ›Übergriffe‹
mißbilligen würde. Es ist die sukzessive Verstrickung von
Entrechtlichung, Deportation, gewaltsamer Aussiedelung unter
stillschweigender Zustimmung der Kirchen, die bis zur
Vernichtung führte. Dieser kumulative Prozeß hatte die wichtige
sozialpsychologische Voraussetzung – die m. E. zumindest in
die Zeit des ersten Weltkrieges mit Gaskrieg u. ä. zurückreicht –
449
450
451
452
453
Vgl. ebd., das Bildmaterial, S. 261-264.
Vgl. ebd., S. 255 ff.; vgl. auch Dokumente zur Politisierung und
Neutralisierung der Schule in der NS-Zeit, in: Herrschaftsalltag im
Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans Mommsen und Susanne
Willems, a. a. O., S. 265-303.
Hans Mommsen und Dieter Obst, Die Reaktion der deutschen
Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933-1943, in
Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, hrsg. v. Hans
Mommsen und Susanne Willems, a. a. O., S. 374-426.
Vgl. ebd., S. 387.
Ebd., S. 379.
178
Recht als Kultur.
, daß wichtige ›moralanaloge Hemmungsmechanismen‹454
weggefallen waren. Die hieraus entstehende doppelte Moral, die
sich im kinderlieben KZ-Schergen symbolisiert, war mit einer
selektiven Wirklichkeitswahrnehmung in der Bevölkerung
gekoppelt,455 die noch dadurch begünstigt wurde, daß auch die
Opposition erst spät Kenntnisse über die Strategie der
›Endlösung‹ erhielt. Aber dies beruhte – wie Mommsen und
Obst darlegen – nicht auf intendierter Geheimhaltung, sondern
es ist durch »das für das Regime bezeichnende System fehlender
Kommunikation der Spitzenbehörden untereinander« zu
erklären.456 Also auch in der Behandlung der Juden führt der
von Mommsen verfolgte Deutungsansatz zu einer
Entdämonisierung des Diktators, sowie einer Entideologisierung
eines vereinfachten Bildes vom häßlichen und blutrünstigen
Deutschen. Es ist vielmehr – so das Fazit – eine Verknüpfung
von Verdrängungswille und Verdrängungsbereitschaft auf der
einen Seite und die innere Dynamik eines Systems, in der die
Verfolgung eskaliert, nachdem die ›Gemeinschaftsbildung‹
nicht nur symbolisch, sondern negativ durch soziale
Ausgrenzung vollzogen wird, ohne daß relevante Gegenkräfte
verblieben wären.457
Zu diesen Gegenkräften hätte die Justiz als Wahrer von Recht
und Gerechtigkeit gehören können. So hat es zwar die
Unterbindung antijüdischer ›wilder‹ Aktionen gegeben,458 aber
nur vor dem Hintergrund der juristischen Forderung einer
Paradoxie, nämlich die Entrechtlichung der Juden ›rechtlich‹ zu
sichern. Hiervon versprach man sich gar eine ›Normalisierung‹
der Judenfrage. Hier liegt vielleicht eine besonders
scharfsichtige Deutung der objektiven Systemfunktion der
Judenverfolgung: »Die Judenfrage wurde gleichsam zum Ventil,
durch das sich die schrittweise Aushöhlung des Rechtsstaates
454
455
456
457
458
Vgl. ebd., S. 409.
Vgl. ebd., S. 411.
Vgl. ebd., S. 414.
Vgl. insbesondere ebd., S. 418.
Vgl. ebd., S. 383.
179
Werner Gephart
und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung mit gesteigerter Kraft
vollzog, um schließlich auf das gesamte System
zurückzuschlagen.«459 Somit gewinnt die Deutung des
Rechtssystems einen wichtigen Stellenwert für die Analyse der
Herrschaftsstrukturen im Nationalsozialismus.
2.
Nationalsozialismus als Unrechtssystem
Den Gründen der Justizkatastrophe in der NS-Zeit gehen die
Autoren eines von Ralf Dreier und Wolfgang Sellert
herausgegebenen Sammelbandes über ›Recht und Justiz im
›Dritten Reich‹ weiter nach, der aus einer Göttinger
Vorlesungsreihe hervorgegangen ist.
Manfred Walther setzt sich umfassend mit der These Gustav
Radbruchs auseinander, nach der aus dem Geist des
Rechtspositivismus
das
›gesetzliche
Unrecht‹
des
460
Nationalsozialismus hervorgegangen sei. Walther zeichnet die
›idealistischen‹ Züge dieser Deutung nach, die ja auch den
Charakter einer Selbstanklage hatte. Freilich ist weniger
Radbruchs Theorie der Rechtsgeltung zu bemühen, als eine
›positivistische‹ Mentalität, in der sich Recht vollständig in
Politik auflöst. Das Schwanken zwischen (Schein-) Legalismus
und der Erosion des Ideals der Gesetzesbindung, das sich in der
Abschaffung des Analogieverbots im Strafrecht besonders
deutlich zeigt,461 dieses Wechselbad hatte seine Funktion: »Es
ging letztlich darum, jede eigene Struktur eines gegenüber
Politik ausdifferenzierten Rechtssystems zu zerstören und in
diesem Sinne den totalen Staat durchzusetzen, Recht vollständig
in Politik aufzulösen.«462
459
460
461
462
Ebd., S. 399.
Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen
Juristen im ›Dritten Reich‹ wehrlos gemacht?, in: Recht und Justiz im
›Dritten Reich‹, hrsg. v. Ralf Dreier und Wolfgang Sellert, Frankfurt
am Main 1989, S. 323-355.
Vgl. hierzu den Beitrag von Hans-Ludwig Schreiber, Die
Strafgesetzgebung im ›Dritten Reich‹, in: Ralf Dreier und Wolfgang
Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹, a. a. O., S. 151179.
Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen
Juristen im ›Dritten Reich‹ wehrlos gemacht? a. a. O., S. 343.
180
Recht als Kultur.
Soziologisch gesprochen sind es also Defizite der strukturellen
Differenzierung, die zur Willfährigkeit der Justiz unter dem
Hakenkreuz beitrugen. Der Beitrag von Hubert Rottleuthner, in
dem die Rolle von ›Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie‹ im
Nationalsozialismus thematisiert ist, wirft irritierende Fragen
auf. So ist es ›Rechtsphilosophen und Helfern aus den
dogmatischen Disziplinen‹ offensichtlich nicht schwer gefallen,
für die Einrichtung von Konzentrationslagern, die Auflösung der
Gewerkschaften, die Abschaffung des Rechtsstaates und die
Entrechtlichung der Juden ›Begründungen‹ zu finden. Aber
Rottleuthner stellt die skeptische Frage nach der
Kausalbedeutung dieser Arbeiten: »Die Rechtsphilosophen im
Nationalsozialismus mögen alles mögliche an (rechts-)
politischen Maßnahmen der Machthaber legitimiert haben. Ihre
Produkte dürften aber kaum von einem größeren juristischen,
geschweige denn nicht-juristischen Publikum zur Kenntnis
genommen worden sein ...«463 Dies ist nicht als Entlastung
gemeint, sondern als soziologische Differenzierung rein
idealistischer Deutungen des Nationalsozialismus. Freilich
verbleibt auch nach diesem material- und deutungsreichen
Band464 über »Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹« der
Eindruck, daß eine rechtssoziologische Interpretation des
nationalsozialistischen ›Rechts‹systems noch aussteht. Wie der
Weg von der ›Freirechtsschule‹ in das ›konkrete
Ordnungsdenken‹ umschlagen konnte, wird von Okko
Behrends465 plausibel gemacht. (Dies stützt im übrigen
nochmals Webers Skepsis gegenüber Ehrlich und Kantorowicz,
463
464
465
Hubert Rottleuthner, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie im
Nationalsozialismus, in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hrsg.),
Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹, a. a. O., S. 295-322 (S. 302).
Vgl. u. a. die Beiträge von Hinrich Rüping, Zur Praxis der Strafjustiz
im ›Dritten Reich‹, in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht
und Justiz im ›Dritten Reich‹, a. a. O., S. 180-193, und im selben Band
von Uwe Diederichsen, Nationalsozialistische Ideologie in der
Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Ehe- und Familienrecht (S.
241-272).
Okko Behrends, Von der Freirechtsschule zum konkreten
Ordnungsdenken, in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht
und Justiz im ›Dritten Reich‹, a. a. O., S. 34-79.
181
Werner Gephart
der eben im propagierten Verlust formaler Rechtsrationalität
auch eine Gefährdung materialer Rationalität befürchtete.) Eine
komplexere, theoriegeleitete und empirisch gehaltvolle Deutung
des nationalsozialistischen Unrechtssystem steht also noch aus,
während in der Studie von Lothar Gruchmann466 ein komplexes
historiographisches Bild der NS-Justiz entwickelt wird.
Der vom Bundesjustizministerium herausgegebene Katalog zu
einer Ausstellung ›Justiz im Nationalsozialismus‹467 liefert
ungewöhnlich reichhaltiges Material, das auch für den
soziologischen Zugang inspirierend ist. So gewinnt das
umfängliche Bildmaterial eine eigenständige Bedeutung, nicht
nur als Illustration des Geschehens im Sinne einer Bebilderung,
sondern als Strukturmerkmal des nationalsozialistischen
›Rechts‹. Hier finden sich eindrucksvolle Belege für eine EntSprachlichung des Rechts, eine Flucht in den Mythos und eine
vormoderne Rechtssymbolik, die an das zwiespältige
Rechtsgefühl appelliert und nicht an die Vernunft. Die
Abstreifung konkret sinnlicher Tatbestandsmerkmale im
abstrakten Recht ist nach Max Weber der Ausgangspunkt
rechtlicher
Rationalisierung,
ein
Prozeß,
der
im
Nationalsozialismus wieder zurückgeschraubt wurde.
Schließlich möchte ich auf die Ergebnisse komparativer
Analysen über ›Law in Totalitarian Societies‹, die auf dem
Weltkongreß für Soziologie in Madrid vorgestellt wurden,
verweisen.468
3.
Nationalsozialismus als Phänomen der Kultur/Unkultur
Die ›kulturellen‹ Aspekte des Nationalsozialismus sind nicht
erst in allerjüngster Zeit in den Blick genommen. Saul
Friedländers faszinierende Studie ›Kitsch und Tod. Der
466
467
468
Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, 1933-1940, München
1988.
Im Namen des deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus, Köln
1989. (Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz).
Vgl. meinen Beitrag auf dem ISA-Kongreß in Madrid 1990, The
Totalitarian Use of Symbols in the Nazis’ Perversion of the Law
(unveröffentl.).
182
Recht als Kultur.
Widerschein des Nazismus‹ (München/Wien 1984) gehört dazu,
wie verschiedene Arbeiten von George L. Mosse.
Die Kunsthistoriker haben aus Anlaß der 50 Jahre
zurückliegenden Ausstellung zur ›Entarteten Kunst‹ das
Scheitern der ästhetischen Moderne im Nationalsozialismus
dokumentiert und analysiert.469 Hier ist nun eine Arbeit
anzuzeigen, in der Ergebnisse und neuere Deutungen zur
›Sprache im Faschismus‹ vorgestellt werden. Der gleichnamige,
von Konrad Ehlich herausgegebene Band umfaßt verschiedene
Einzelstudien, die wiederum Mythen und Klischees zur
Sprachpolitik im ›Dritten Reich‹ differenzieren. Es handelt sich
um linguistische Arbeiten, die freilich aufgrund der
hervorgehobenen pragmatischen Sprachfunktion eine besondere
Nähe zur Soziologie aufweisen. Ein Beitrag von Claus Ahlzweig
über ›Die deutsche Nation und ihre Muttersprache‹ ist nicht nur
aus gegebenem Anlaß der Angleichung zweier deutscher
Sprachkulturen von Interesse. Die ›Muttersprache‹ zeigt deutlich
die Ambivalenzen des Konzepts der ›Gemeinschaft‹ auf, für die
man nicht allein Tönnies haftbar machen kann.
Der organisatorische Streit um die wahre Sprachpflege im
Dritten Reich offenbart nicht nur ihre unfreiwillige Komik,
sondern
ergänzt
zugleich
das
Bild
polykratischer
Herrschaftsstrukturen auch in diesem Feld der ›Kulturpolitik‹.470
Angesichts der propagierten ›völkischen‹ Ideologie ist es
aufschlußreich zu sehen, wie wenig man von Dialekten hielt, um
eine nazistisch infizierte Standardsprache zu ›pflegen‹. Arbeiten
zur impliziten Texttheorie der Nationalsozialisten471 sind auch
für den Sprachsoziologen interessant. Der instruktive Beitrag
von Johannes Volmert über ›Politische Rhetorik des
469
470
471
Vgl. z. B. den Katalog zur Ausstellung: Museum der Gegenwart. Kunst
in öffentlichen Sammlungen bis 1937. Kunstsammlung NordrheinWestfalen, Düsseldorf 1987.
Vgl. Gerd Simon, Sprachpflege im ›Dritten Reich‹, in: Sprache im
Faschismus, hrsg. v. Konrad Ehlich, Frankfurt am Main 1989, S. 58-86.
Vgl. Otto Ludwig, Texte als Explikationen von Haltungen. Zur
Texttheorie der Nationalsozialisten in Deutschland, in: Konrad Ehrlich
(Hrsg.), Sprache im Faschismus, a. a. O., S. 120-136.
183
Werner Gephart
Nationalsozialismus‹ ist für meine oben formulierte These der
›Entsprachlichung‹ weiterführend. Er betont nämlich, neben den
intrinsischen Eigenschaften politischer Rhetorik, die ›situativen
Faktoren‹, ohne sie freilich weiter auszudeuten. So nennt
Volmert unter den ›redebegleitenden Faktoren und
Rahmenbedingungen kommunikativen Handelns‹ die situativen
Elemente »als für den Faschismus unverzichtbarer Rahmen für
die Inszenierung des Redeereignisses: ›historische Stätten‹
›geschichtliche‹ Kulissen, Daten und Räume; die Ausstattung
der Redner-Tribüne als ›Altar‹ eines gleichsam rituellen
Geschehens, dazu die Choreographie des ›Gefolges‹ und der
militärischen Formationen, die Dramaturgie des szenischen
Ablaufs usw.«472 Trotz verschiedener Anläufe, diesen quasireligiösen Charakter der Parteiliturgien einzufangen, steht die
Verknüpfung der soziologisch faßbaren situativen Elemente mit
der Struktur dieser Art entsprachlichter Sprechakte noch aus.
4.
Nationalsozialismus als Bewegung zur ›Gemeinschaft‹
Die soziologisch ambivalente, ›gemeinschaftliche‹ Dimension,
für die man aber auch nicht beliebige Substitute anbieten kann –
wenngleich Webers Idee des ›Gemeinschaftsglaubens‹ auch
theoretisch ausbaufähig ist – wird in verschiedenen Arbeiten
berührt.
Es wäre fatal, die nazistische Art der Gemeinschaftstechnik auf
begriffssoziologische Konstrukte reduzieren zu wollen. Die Art,
tödliche Grenzen der ›Gemeinschaft‹ nach außen zu ziehen, um
gleichzeitig
die
Binnenvergemeinschaftung
hochgradig
emotional zu steuern, verdient m. E. gleichwohl eine größere
soziologische Aufmerksamkeit.
Konrad Kwiet bietet einen umfassenden historiographischen
Überblick über ›Judenverfolgung und Judenvernichtung im
Dritten Reich‹, der in einem von Dan Diner (1987)
herausgegebenen Sammelband zum Historikerstreit zu finden
ist. Hier sind nicht nur die grausigen Fakten zu finden, sondern
472
Johannes Volmert, Politische Rhetorik des Nationalsozialismus, in:
Konrad Ehrlich (Hrsg.), Sprache im Faschismus, a. a. O., S. 137-161 (S.
138).
184
Recht als Kultur.
weitere Differenzierungen bei dem letztlich wohl untauglichen
Versuch, die Judenvernichtung zu ›erklären‹. Nochmals steht die
›idealistische‹ Erklärungsstrategie im Zweifel, nämlich den
Sprung von Rassenfanatismus und Heilsgewißheit in die
schreckliche Wirklichkeit zu überbrücken. Prüfenswert erscheint
die zitierte These Martin Broszats, nach der die
Judenvernichtung »nicht nur aus dem vorgegebenen
Vernichtungswillen [entstand], sondern auch als ›Ausweg‹ aus
einer Sackgasse, in die man sich selbst manövriert hatte. Einmal
begonnen und institutionalisiert, erhielt die Liquidierungspraxis
jedoch dominierendes Gewicht und führte schließlich faktisch
zu einem umfassenden ›Programm‹.«473 Diese These einer
gewissen Eigendynamik der Entwicklung, wie Mommsens
funktionale Deutung der Ventil-Funktion der Entrechtung (s.o.),
sollen freilich die Beteiligung der Bevölkerung in den
verschiedenen Phasen der Judenverfolgung nicht herabspielen.
Und die Aufklärung hierüber ist noch nicht abgeschlossen. Die
DDR-Historiographie hat sich im Mantel des staatlich
verordneten Antifaschismus unangenehmen Fragen entziehen
können. Die Öffnung der Archivbestände in den ehemals
›sozialistischen‹ Ländern wird neues Tatsachenmaterial zu Tage
fördern, wie es zuvor schon der Durkheim-Spezialist Victor
Karady für den Holocaust der ungarischen Juden in
eindrucksvoller Weise verwendet hat.
In der Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus ist schon
seit Jahren die Alltagsgeschichte thematisiert. Detlev J. K.
Peukert greift in seinem Beitrag ›Alltag und Barbarei. Zur
Normalität des Dritten Reiches‹474 diese Perspektive auf, um den
Schein irgendeiner Art von ›Normalität‹ wieder zu entlarven. Es
473
474
Martin Broszat, Hitler und die Genesis der Endlösung. Aus Anlaß der
Thesen von David Irving, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25,
1977, S. 739-775, S. 753; hier zitiert nach Konrad Kwiet,
Judenverfolgung und Judenvernichtung im Dritten Reich. Ein
historiographischer Überblick, in: Ist der Nationalsozialismus
Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, hrsg. v. Dan Diner,
Frankfurt am Main 1987, S. 237-264 (S. 246).
Detlev J. K. Peukert, Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Dritten
Reiches, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung
und Historikerstreit, hrsg. v. Dan Diner, a.a.O., S. 51-61.
185
Werner Gephart
wird eindringlich auf weitere Opfergruppen und ihre
symbolische Stigmatisierung wie faktische Vernichtung
hingewiesen. Was Peukert beunruhigt, ist das Verhältnis von
Barbarei und Moderne, das im Prozeß der Zivilisation nicht
gelöst wurde. Aber dies bleibt eine zentrale Frage der Deutung
des Nationalsozialismus, der sich Soziologen nicht so ohne
weiteres entziehen können: Sind es bloße ›Katarakte der
Moderne‹ (Stürmer), Rückfälle im ›Projekt der Moderne‹
(Habermas)
oder
ist
es
die
Kehrseite
des
Rationalisierungsprozesses, die erst eine Verknüpfung von
›wissenschaftlicher‹ Rassebiologie mit den Techniken ›tödlicher
Wissenschaft‹ ermöglicht hat unter Verwendung des ›rein
technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare‹
(M.
Weber),
insofern
›rationalste‹
Herrschaftsausübung: der Bürokratie.
5.
Instrument
der
Nationalsozialismus als ökonomisches System
Die Debatte über den Anteil des Kapitals an Genese und
Fortbestand des Nationalsozialismus ist nicht neu. Auch in
dieser Fragestellung sind Differenzierungen zu vermelden, wie
sie z. B. in dem Beitrag von Ulrich Herbert ›Arbeit und
Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der
Weltanschauung im Nationalsozialismus‹ zu finden sind.475
Dieser Artikel bietet ein komplexes Bild des Einsatzes
ausländischer Zwangsarbeiter, Kriegsgefangener, KZ-Häftlinge
und Juden. Der Einsatz geschah »während des Krieges
durchweg
nicht
allein
nach
kriegswirtschaftlichen
Gesichtspunkten, sondern durchgängig nach politischideologischen, insbesondere rassischen Kriterien. Dabei rückten
kriegswirtschaftliche Aspekte im Verlaufe des Krieges a)
parallel zur Verschlechterung der Kriegslage und insbesondere
zur Verschärfung des Arbeitskräftemangels und b) wiederum
gestuft nach der Stellung der einzelnen Gruppen in der
475
Vgl. Ulrich Herbert, Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse
und Primat der ›Weltanschauung‹ im Natonalsozialismus, in: Ist der
Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit,
hrsg. v. Dan Diner, a.a.O., S. 198-236.
186
Recht als Kultur.
rassistischen Hierarchie
Vordergrund.«476
der
Nationalsozialisten
in
den
In der Studie von Klaus-Jörg Siegfried über ›Das Leben der
Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939-1945‹477 wird diese
These der abgestuften Diskriminierung der Zwangsarbeiter
bestätigt. Das Volkswagenwerk ist wegen seines hohen
sozialpolitischen Anspruchs, der von dem ›genialen
Konstrukteur‹ Porsche in der Motorisierungskampagne des NSRegimes gestützt wurde, von besonderem Forschungsinteresse.
In Parallele zu der Hamburger Daimler-Benz-Studie (1984)
kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, daß trotz der Präsenz der
Gestapo im Werk und des Kontrollanspruchs von NSDAP und
DAF478 durchaus Handlungsspielräume bestanden. Das Modell
einer reinen Kommandowirtschaft ist verabschiedet, und damit
auch die Vorstellung einer Auflösung von Ökonomie in Politik,
wie umgekehrt die These der ökonomischen Steuerung der
Politik nicht haltbar ist. Um welche Art von ›relativer
Autonomie‹ es sich dann am Ende handelt, dies scheint mir zu
den wichtigen Fragen zu gehören, in denen die soziologische
Theorie weiterführen könnte.
Auf unsere Ausgangsfrage nach dem impliziten Gebrauch von
Soziologie
in
neueren
historischen
Arbeiten
zum
Nationalsozialismus
und
den
hieran
anschließenden
soziologischen Folgeproblemen läßt sich nunmehr eine Antwort
geben. Eine soziologische Forschungsperspektive steht – wenn
man von Ausnahmen absieht 479 – den historischen Arbeiten
476
477
478
479
Ebd., S. 233.
Klaus-Jörg Siegfried, Das Leben der Zwangsarbeiter im
Volkswagenwerk 1939-1945. Wolfsburger Beiträge zur Stadtgeschichte
und Stadtentwicklung, Frankfurt am Main/New York 1988.
Siehe hierzu auch die eindrucksvolle Studie von Tilla Siegel,
Rationalisierung statt Klassenkampf. Zur Rolle der Deutschen
Arbeitsfront in der nationalsozialistischen Ordnung der Arbeit, in:
Herrschaftsalltag im Dritten Reich, hrsg. v. Hans Mommsen, a. a. O., S.
97-150.
So vor allem Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945.
Nationalsozialismus und Bolschewismus, Berlin 1987; vgl. hierzu statt
vieler die Kritik von Hans Mommsen, Das Ressentiment als
Wissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988, S. 495-512.
187
Werner Gephart
durchaus nahe. Um so erstaunlicher bleibt die Tatsache, daß –
wie Hans Ulrich Wehler in seinem ›polemischen Essay‹ zum
Historikerstreit
formuliert
–
»die
kompetenten
Politikwissenschaftler, die Politischen Soziologen, ja die
Sozialwissenschaftler überhaupt ... als interessierte, gleichwohl
stumme Beobachter am Rande standen.«480 Es mag sein, daß
auch methodisch begründete Unklarheiten im Verhältnis der
Soziologie zur Geschichtswissenschaft eine Rolle spielen. In der
Sache sehe ich die schwierige Aufgabe der Soziologie darin, die
Einseitigkeiten rein interessentheoretischer oder idealistischer
Ansätze, gemeinschaftstheoretischer und kulturalistischer
Deutungsmuster des Nationalsozialismus zu überwinden. Wenn
die Soziologie hierbei nicht in schwindelnde Theoriehöhen
abheben will und auch noch von den Historikern ernst
genommen werden will, läßt sich die unbequeme
Auseinandersetzung mit ›historischen‹ Details unerfreulichster
Art hierbei nicht vermeiden. Die symbolische Dimension des
Rechts eröffnet ein aussagekräftiges Forschungsfeld.
II.
Zur symbolischen Inszenierung
Nationalsozialismus
des
Unrechts
im
Zwar ist die symbolische Dimension von Recht als einer
primären Sphäre der Kultur noch immer weitgehend verkannt.
Allerdings gibt es Hypothesen oder Tendenzaussagen über
langfristige Prozesse der De-Symbolisierung481 im Recht, ohne
daß Rückschläge und Kehrtwendungen dieser Art von
›Rationalisierung‹ des Rechts in hinreichender Weise analysiert
sind.
So gilt es einmal, die symbolgeschichtlichen Hypothesen zur
Entwicklung des Rechts zu präzisieren. Am Beispiel des
symbolischen Gebrauchs von Recht im Unrechtssystem des
Nationalsozialismus läßt sich nicht nur der Fehlschlag einer Re-
480
481
Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein
polemischer Essay zum ›Historikerstreit‹, München 1988, S. 200.
Die verschiedenen Ansätze zur soziologischen Analyse von Symbolen
und Symbolsystemen haben sich noch nicht zu einem eigenständigen
Gebiet soziologischer Symbolforschung ausdifferenziert.
188
Recht als Kultur.
Symbolisierung studieren, sondern es wird behauptet, mit der
symbolischen Dimension ein wichtiges Instrument zur Analyse
der nationalsozialistischen Herrschaft einschließlich seines
›Rechts‹-systems fruchtbar zu machen.
Der Ausbau der ›Symbolschutzdelikte‹ und ihre Verfolgung in
den ›Sondergerichten‹ wird als Indikator für die Empfindlichkeit
eines Systems betrachtet, das sich nicht nur physischer, sondern
auch symbolischer Gewaltmittel zur Absicherung seiner
Herrschaft bedient, die in einer unheilvollen Mischung aus antimodernen und ›modernen‹ Elementen besteht.
1.
›Symbolische‹ Elemente des Unrechtssystems
Die nationalsozialistische Bewegung hat sich auch als eine
symbolische Revolution verstanden. In unserem heutigen Bild,
wie es in fotografischen Darstellungen, Film und Fernsehen
vermittelt wird, ist diese Epoche manchmal verführerisch
einfach jeweils über die symbolischen Formen identifiziert: die
Hakenkreuze, Armbinden, Uniformen, der Judenstern, die
gestreifte Kleidung der KZ-Häftlinge usf. prägen das Bild des
Nationalsozialismus.
Das Recht und die Träger der Entwicklung eines ›neuen‹
›germanischen Rechts‹ waren hiervon nicht ausgenommen. Am
1. Oktober 1936 legten Richter, Staatsanwälte und alle sonstigen
zum Tragen einer Amtstracht verpflichteten Beamten der
Reichsjustizverwaltung das – wie es in einem Zeitungsbericht
heißt – zum erstenmal »vom Führer verliehene
Hoheitsabzeichen« kollektiv an.482 Der sog. ›deutsche Gruß‹
hatte nach einem Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers
des Innern vom 22. Januar 1935 schon vorher ganz ebenso wie
die ›Führerbilder‹ in die Gerichtssäle Eingang gefunden
482
Stadtanzeiger Köln, 2. 10. 1936.
189
Werner Gephart
Feier aus Anlaß des Anlegens der ›Hoheitszeichen‹ am 1.10.1936 im
Kriminalgericht Moabit. Quelle: Bilderdienst Süddeutscher Verlag, abgedr.
in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und Nationalsozialismus, Kataog
zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz, hrsg. vom Bundesminister
der Justiz, Köln 1989, Abb 198 S. 303.
Schutz der ›inneren Front‹. Quelle: Im Namen
des
Deutschen
Volkes,
Justiz
und
Nationalsozialismus, a. a. O., Abb 166 S. 208.
Aber was soll an diesem Vorgang der symbolischen
Gleichschaltung bzw. symbolischen Überblendung der Justiz so
aufregend sein? Ist es mehr als die symbolhafte Angleichung an
andere Staatsbereiche in einem Herrschaftssystem, das die
subtile Verknüpfung von Symbolen der Gemeinsamkeit und
Verschiedenheit (etwa zwischen SA und SS) zur höchsten
Perfektion getrieben hat?
190
Recht als Kultur.
Der symbolische Zugriff auf das Recht ist symptomatisch für das
›Rechtsverständnis‹ im Nationalsozialismus. Es muß – nach
einer Rede Görings vor der Akademie für Deutsches Recht –
immer »blut- und gehaltvoll in lebendiger Verbindung mit dem
Volke stehen und aus dem Volke heraus geboren werden«.
Dieses symbolhafte Pathos, das ja dadurch seinen Schrecken
gewinnt, daß die vermeintliche Metapher des Blutes in die
blutige Wirklichkeit übersetzt wurde, ist im Parteiprogramm der
NSDAP auch auf die Rechtssprache übertragen. So heißt es:
»Das Recht des nationalsozialistischen Reiches muß somit der
Ausdruck des neugermanischen Lebens und Raumgefühls sein,
es muß in seinem klaren Stilgefüge den grandiosen Bauten des
Dritten Reiches entsprechen...«483 Es wird also eine
Entsprechung von ›innerer‹ und ›äußerer‹ Architektur des
Rechts postuliert.
Was ist aus diesem penetranten Symbol- und Gestaltungswillen
für das Recht geworden? Z. B. die berüchtigte
›Volksschädlingsverordnung‹, das ›Heimtückegesetz‹, das
Gesetz zur sog. ›Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹
und
schließlich
eine
für
unseren
Zusammenhang
bemerkenswerte Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni
1935, in dem die – wie ich es nennen möchte – Clanverfassung
des NS-Regimes die symbolische Verletzung seiner Totems
unter Strafe stellt: »Wer öffentlich die NSDAP, ihre
Gliederungen, ihre Hoheitszeichen, ihre Standarten oder Fahnen,
ihre Abzeichen oder Auszeichnungen beschimpft oder böswillig
und mit Überlegung verächtlich macht wird mit Gefängnis
bestraft.« (Art. 5 des Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches, §134b StGB) Das System hat sich damit
unter strafrechtlich sanktionierten Symbolschutz gestellt, was
nochmals deutlich macht, welche ungeheure Bedeutung die
nationalsozialistische Herrschaftstechnik den Totems und ihrer
Tabuierung zumaß, während Goebbels z. B. vom Vorwurf eines
483
Hans Frank, Der Schulungsbrief 1939, S. 182 ff.; abgedr. in:
Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Im Namen des deutschen Volkes.
Justiz und Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung, Köln 1989, S.
110.
191
Werner Gephart
Verstoßes gegen das Republikschutzgesetz – nach einer
haßerfüllten Rede, die er im Volksgarten in Mönchengladbach
1930 gehalten hat – von den Richtern der Weimarer Republik
frei gesprochen wurde, mit bemerkenswerten Gründen, wie man
im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf nachlesen kann.484
Diese symbolische Aufladung des Rechtssystems führt zu
ungeheuren Spannungen. Denn die langfristige Entwicklung des
Rechts
ist
eher
durch
eine
Ent-Symbolisierung
485
gekennzeichnet, nämlich durch eine Lösung vom materiellen
Substrat des Damnums, der erhobenen Schwurhand, der
ausgeklügelten Strafen am Körper486 usf.
Die bedrückendsten Beispiele der Mißachtung rechtsstaatlicher
Traditionen sind – wie ich meine bezeichnenderweise –
Praktiken der symbolisch inszenierten Mißachtung des
Menschen. So wird der Reichstagsabgeordnete Kuhnt (SPD),
von SA-Leuten umringt, auf einem Karren zum ›Verhör‹
abgeholt.
Chemintzer
SA
fährt
den
Reichtagsabgeordneten Kuhn (SPD) auf dem
Karren zum ›Verhör‹. Quelle: Bildarchiv
Gerstenberg, abgedr. in: Im Namen des
Deutschen
Volkes,
Justiz
und
Nationalsozialismus, a. a. O., Abb 58 S. 61.
484
485
486
Vgl. Rep. 10/230, 231 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Kalkum.
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 396 f.
Vgl. Michel Foucault, Surveillir et punir, a. a. O.
192
Recht als Kultur.
Der symbolische Terror ist subtil. In Gesellschaftskleidung – vor
den Augen der Öffentlichkeit – auf einer Art Mistkarren zu
sitzen, ist im höchsten Grade demütigend. Dem als ›hohen
Herrn‹ Verachteten wird – so suggeriert das Arrangement – sein
Wagen mit Chauffeur nicht mehr nützen, denn er sitzt schon auf
dem Schinderkarren, der zur Richtstätte führt, obwohl doch
›erst‹ ein Verhör angesagt ist. Dabei hatte Göring die ›Acht‹ als
ruhmvolles Beispiel deutscher Rechtsgeschichte herausgestellt:
»Man ächtete gewisse Elemente, machte sie vogelfrei und stellte
sie damit außerhalb des Rechts und des Gesetzes.«487
Der ehemalige Reichstagspräsident Paul Löbe muß – als er in
das KZ Dürrgoy eingeliefert wird – ein Spalier von
Mitgefangenen abschreiten, so als nähme er eine Parade ab,
wobei er einen Strauss aus Disteln in der Hand hält.
Einlieferung von Paul Löbe in das KZ Dürrgoy. Quelle: Bildarchiv
Gerstenberg, abgedr. in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und
Nationalsozialismus, a. a. O., Abb 84 S. 87.
Diese Art der symbolischen Verhöhnung des Menschen ist
durch ihren nicht-sprachlichen Charakter gekennzeichnet.
487
Hermann Göring, Die Rechtssicherheit
Volksgemeinschaft, Hamburg 1935, S. 9.
als
Grundlage
der
193
Werner Gephart
Die oktroyierte Selbstbezichtigung der Nazi-Opfer, die sich
wegen ›Rassenschande‹, ›Beschwerdeführung‹ bei der Polizei
oder als ›Staatsverbrecher‹ eine Schrifttafel umzuhängen hatten,
indiziert hingegen auf widersprüchliche Weise den
symbolischen Notstand des Regimes.
Links: Verhöhnung wg. ›Rassenschande‹, rechts: Rechtsanwalt Dr. Spielgel
wird von SA-Männern durch die Straßen von München getrieben. Quelle:
Ullstein-Bilderdienst, abgedr. in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz
und Nationalsozialismus, a. a. O., Abb. 108 S. 117 (links), Abb 81 S. 86
(rechts).
Verhöhnung eines jüdischen Mitglieds der
›kommunistischen Jugend‹. Quelle: Bildarchiv
Gerstenberg, abgedr. in: Im Namen des
Deutschen
Volkes,
Justiz
und
Nationalsozialismus, a. a. O., Abb 79 S. 85.
Denn wo die ›Rassenschande‹, ›Querulantentum‹ und ähnliche
Tätertypiken nicht inszenierbar und auch nicht ohne Deutung an
Gesicht und Gestalt ablesbar sind, da erst werden Menschen mit
194
Recht als Kultur.
einem buchstäblichen Etikett versehen, so wie man eine Ware
auszeichnet. Der Versprachlichung wird also nicht nur durch
den verhöhnenden Inhalt der Worte ihr partiell rationaler
Charakter genommen, sondern die symbolische Verdinglichung
des Subjekts zu einem Etikettenträger (dem auch noch der
Schein einer freiwilligen Sprachform unterschoben wird) setzt
die Eigendynamik der diffusen Symbolisierung wieder frei.
Die nationalsozialistischen Repressionstechniken haben sich
also archaischer Mechanismen des Symbolgebrauchs bedient:
die Symbole einer neuen Identität (das Hakenkreuz), die
zugleich das identitätsverbürgende symbolische Pendant, den
Judenstern, hervorbringt;488 die Anknüpfung an mittelalterliche
Techniken der Etikettierung – wie wir sie oben kennen lernten –
ist hierbei auffällig.489 Die symbolischen Techniken der
Verfemung und des Verächtlichmachens und schließlich die
bekannte Inszenierung des Symbolrausches auf den
Parteitagen.490
Woher kommt dieser fanatische Glaube an die Macht der
Symbole? Gibt es gar einen anthropologisch bedingten
Symbolbedarf? Haben diese Symbole wirklich Anteil an der
Macht oder sind sie nur der äußere, pseudoreligiöse Schein der
neuen Gemeinschaft? Gibt es u. U. Symbolschübe im Prozeß der
Entfaltung nationalsozialistischer Herrschaft? Und ist am Ende
diese Entsprachlichung des öffentlichen Lebens vielleicht schon
der treffsichere Indikator für das Unrecht, das in ihrem Namen
geschieht?
488
489
490
Dies sind insofern ›kognitive‹ Funktionen des Symbolgebrauchs im
Sinne primitiver Klassifikationssysteme (vgl. Emile Durkheim und
Marcel Mauss, De quelques formes primitives de classification.
Contribution à l’étude des représentations collectives, in: L’Année
sociologique 6, 1903, S. 1-72); diese ›klassifikatorische‹ wird von der
emotiven Funktion überdeckt.
Vgl. Frantisek Graus, Organisationsformen der Randständigen. Das
sogenannte Königreich der Bettler, in: Rechtshistorisches Journal 8,
1989, S. 235-255 (S. 239 f.).
Vgl. hierzu den Beitrag von Horst Ueberhorst, Feste, Fahnen, Feiern.
Die
Bedeutung
politischer
Symbole
und
Rituale
im
Nationalsozialismus, in: Politik der Symbole, Symbole der Politik, hrsg.
v. Rüdiger Voigt, Opladen 1989, S. 157-178.
195
Werner Gephart
Bevor wir auf diese Fragen weiter eingehen, ist ein Blick auf die
Strukturen des ›Rechtssystems‹, insbesondere die Rolle der
›Träger‹ der Ent-Rationalisierung des Rechts vonnöten.
2.
Träger des nationalsozialistischen Unrechts
Ralph Angermund hat für die ambivalente Haltung der Justiz im
Nationalsozialismus die prägnante Formel vom ›geprellten
Richterkönig‹491 verwendet. Eigene Karriereinteressen der Justiz
und weniger innere Verwandtschaften mit der SA, Hoffnungen
der Richterschaft auf einen autoritären Führerstaat sowie die
probate Mischung aus ›justizfreundlichen‹ Maßnahmen und
Bedrohungen haben die Willfährigkeit der Justiz befördert.
Hierbei war offensichtlich zunächst einigermaßen unklar,
welche Vorstellungen über Rechtspolitik überhaupt bestanden,
bis schließlich die bekannten Kompetenzstreitigkeiten zwischen
Gestapo und Justiz auftraten, die freilich durch Gesetz (vom 10.
Februar 1936) die Nicht-Nachprüfbarkeit der staatspolitischen
Maßnahmen durch die Verwaltungsgerichte statuierte. Insofern
trug das System eben durchaus Züge einer ›legal-rationalen
Herrschaft‹
im
Sinne
Webers,
die
durch
den
Legitimitätsglauben der Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns
getragen wurde, gerade wenn sie für die Abschaffung des
Rechtsstaates eine ›Rechtsgrundlage‹ fordert. Es gehört aber zu
den weniger beachteten Strukturmerkmalen ›charismatischer
Herrschaft‹, daß dieser Herrschaftstypus gerade antiformal und
antijuridisch geprägt ist. Max Weber hat den Charismabegriff ja
der kirchenrechtlichen Dogmatik entnommen, wo er als
Rechtsbegriff gerade den »nicht rechtlichen, sondern
charismatischen« Charakter der ›ecclesia‹ bezeichnet (Rudolph
von Sohm).
Die berüchtigte, durch eine Reichstagsrede vom 26. April 1942
ausgelöste ›Justizkrise‹ hat also durchaus strukturelle Gründe,
die aus dem Anteil ›charismatischer‹ Elemente im
nationalsozialistischen Herrschaftssystem erklärlich sind. Denn
491
Vgl. Ralph Angermund, Die geprellten ›Richterkönige‹. Zum
Niedergang der Justiz im NS-Staat, in: Herrschaftsalltag im Dritten
Reich, hrsg. v. Hans Mommsen, a. a. O., S. 304-342.
196
Recht als Kultur.
der ›Führer‹ stellt sich außerhalb des Rechts, ist an keine
Traditionen und abstrakte Rechtssätze gebunden, sondern er
schafft das Recht kraft Offenbarung oder aber »kraft konkretem
Gestaltungswillen« (Max Weber). Die Richterkönige standen so
in Konkurrenz mit den Sendboten des Führers. »In der Hoffnung
auf
einen
von
›Richterkönigen‹
getragenen
nationalsozialistischen Rechtsstaat hatte man trotz einiger
Probleme mit den überzogenen Kompetenzansprüchen von SAund Parteistellen mit dem NS-Staat bereitwillig kooperiert und
die Rechtsprechung den politischen Bedürfnissen der NSFührung angepaßt.«492 So das Resümee von Angermund. In der
nationalsozialistischen Selbstdeutung des Rechtssystems wird
gar der Begriff der ›Rechtskultur‹ beschworen, um die Reste an
Rechtsstaatlichkeit gegen eine vollständige Auflösung von
Recht in Politik zu verteidigen. ›Deutsche Rechtskultur‹ wird
hierbei dem ideologischen Topos der asiatischen ›Barbarei‹
entgegengestellt, die kein Recht kenne, während die
›germanisch-arische Staatsidee‹ das Recht als ein ›heiliges
Gemeinschaftsgut‹493 ansehe.
3.
Zum Symbolgebrauch in totalitären Gesellschaften
Zu den auffälligsten Parallelen zwischen der Gesellschaft im
Nationalsozialismus und den Gesellschaften des Sozialismus
gehört der gemeinsame Kult der Symbole.
Dieser Vergleich ist freilich nicht unbelastet. Im
Historikerstreit494 war nicht zuletzt diese Frage der
Vergleichbarkeit
zwischen
nationalsozialistischer
und
stalinistischer Terrorherrschaft im Spiel.
492
493
494
Ebd., S. 336.
Vgl. Deutsche Rechtskultur und asiatische Barbarei. Der
Reichsministers Dr. Hans Frank in einer Rede über Recht und Richter
im Kriege in der Universität München am 20. Juli 1942; abgedr. in:
Dokumente zum Niedergang der Justiz im NS-Staat, in: Hans
Mommsen (Hrsg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich, a. a. O., S. 364366.
Vgl. die Sammlung des Streitstandes: ›Historikerstreit‹. Die
Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der
nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987.
197
Werner Gephart
Das Interesse am Phänomen des Nationalsozialismus im
Rahmen der Vorlesungsreihe am Centre for Advanced
Sociological Studies spricht allerdings für sich. Und zwar nicht
etwa als ›Nachschlag‹ zum ›Kalten Krieg‹, sondern primär unter
der Frage: Was man aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen
zum Nationalsozialismus für die Analyse des ›Sozialismus‹ und
der Probleme postsozialistischer Gesellschaften lernen könne.
Diese Art der Fragestellung systemübergreifender Faschismusbzw. Totalitarismustheorien stand lange Zeit in Verruf,
unzulässige Gleichungen vorzunehmen, die Eigenart des
jeweiligen Systems aus letztlich allzu durchsichtigen politischen
Motiven zu verdecken.495
Faschismustheorien marxistischer Herkunft mußten diese
Gleichung ablehnen, weil im Sozialismus ja gerade der
vermeintliche Urheber des Nationalsozialismus, das Kapital,
entmachtet war, während aus dem ideologischen Blickwinkel
des Nationalsozialismus das Fehlen völkischer Elemente und der
Internationalismus den Nationalsozialisten mißfiel.
Wenn man die These der Unvergleichbarkeit, juristisch
gesprochen, im Sinne eines Aufrechnungsverbots deutet, dann
hat sie m. E. noch immer ihre Berechtigung. Wir dürfen uns
aber nicht der Einsicht verschließen, daß mancherlei
Gemeinsamkeiten sichtbar sind. Ob dies nur die Oberfläche der
Phänomene betrifft, oder auch Tiefenstrukturen erfaßt, bedarf
dann eben einer genauen wissenschaftlichen Analyse.
Die symbolischen Mittel der Herrschaftsrepräsentation und der
Symboleinsatz im Recht weisen jedenfalls große Ähnlichkeiten
auf.
Was
der
deutsche
Diktator
an
architektonischen
Phantasmagorien über der Erde produzierte, verlegte Stalin in
die Untergrundbahn, die Metro in Moskau.
495
Ein
ausgezeichneter
Überblick
über
›Das
Wesen
des
Nationalsozialismus: Faschismus, Totalitarismus oder einzigartiges
Phänomen?‹ in: Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen
und Kontroversen im Überblick, Reinbek bei Hamburg 1988 (zuerst
als: The Nazi Dictatorship: Problems and Perspectives of Interpretation,
London 1985), S. 41-81 (zweites Kap.).
198
Recht als Kultur.
Am heiligen Platz des Kreml verkündete einst – mitten im
Freien – ein rotes Warnschild, daß von nun an das Rauchen (wie
in einer Kirche) verboten sei. Öffentlichen Räume pflegten
durch Leninbüsten sakralisiert zu sein, die vor einem roten
Vorhang in immer gleicher Ordnung drapiert sind.
Walter Benjamin hatte für die Kunst den Verlust der ›Aura‹ in
der Zeit der beliebigen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks
behauptet. Die Multiplikation der Führerbüsten, Fahnen und
Embleme in Massenstaat und Reichsgebilden ist einem
ähnlichen
Inflationseffekt
des
›Heiligen‹
ausgesetzt.
Fahnenweihe, Beeidigungen, das feierliche Anlegen der
Hoheitszeichen hatten zwar die Funktion, den Kontakt zum
heiligen Zentrum dieser Gesellschaften als eine lückenlose
magische Legitimitätskette zu suggerieren.
Gescheitert sind diese Gesellschaften aber an dem Versuch,
differenzierte Wirklichkeiten und Widersprüche hinter dem
einheitlichen Schein der Symbole zu verstecken, der um so
deutlicher wird, je mehr die emotionalisierende Wirkung für die
Gemeinschaft zerschellt. Der Verfall des Gemeinschafts- oder
besser: ›Gemeinsamkeitsglaubens‹, wie Weber es nennt, wird
dann im Fehlschlag der Symbole sichtbar, an denen sich Spott,
Ironie und ein eigener Widerstand entzündet.
199
Werner Gephart
SIEBTE VORLESUNG
ORTE DER GERECHTIGKEIT. GERICHTSARCHITEKTUR
ZWISCHEN SAKRAL- UND PROFANBAU
In einem unscheinbaren Büchlein hat Jakob Grimm ›Von der
Poesie im Recht‹ erzählt und die Bedeutung des kulturellen
Gehalts der Rechtsformen hervorgehoben. So ist zu lesen: »Es
ist eine unbefriedigende ansicht, welche in solchen symbolen
blosze leere erfindung zum behuf der gerichtlichen form und
feierlichkeit erblickt. im gegentheil hat jedes derselben gewisz
seine dunkle, heilige und historische bedeutung; mangelte diese,
so würde der allgemeine glaube daran und seine herkömmliche
verständlichkeit fehlen.«496
Der Rechtssoziologie ist jedenfalls das Verständnis für diese
»dunkle, heilige und historische bedeutung« verloren gegangen.
Für die Genese der Soziologie, die sich ja in weiten Teilen als
›Rechtssoziologie‹ etabliert hat, mochte dies noch angehen, galt
es doch, überhaupt ein eigenes Profil gegenüber anderen
Kulturwissenschaften,
nicht
zuletzt
gegenüber
der
Rechtsgeschichte zu entwickeln.
Berührungsängste, die auf der Identitätssuche der soziologischen
Disziplin beruhten, dürften mittlerweile obsolet sein. Dafür hat
sich die soziologische Theorieentwicklung über weite Strecken
von ihrem juristischen Ursprung entfernt und dabei auch das
Recht gerade in den Dimensionen aus den Augen verloren, die
für den kultursoziologischen Blickwinkel relevant sind. Dies
haben wir im ersten Teil dieser Untersuchung skizziert und in
verschiedenen Schritten
hervorgehoben.
kulturelle
Aspekte
des
Rechts
Ich möchte mich im folgenden auf die ›Orte der Gerechtigkeit‹
konzentrieren und hoffe, daß der ›Blick‹ schon ein Stück weit in
die anvisierte kultursoziologische Richtung eingestellt ist.
Denn Georg Simmel meinte in einem Brief an den Mitstreiter
Emile Durkheims, Célestin Bouglé, in Bezug auf die
496
Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, a. a. O., S. 48.
200
Recht als Kultur.
soziologischen Studenten: »Es ist freilich eine schwere Aufgabe,
die Studenten zu dem soziologischen Blick zu erziehen, auf den
alles ankommt und der in der einzelnen sozialen Erscheinung
sogleich die soziale Form und den materialen Inhalt zu scheiden
versteht. Hat man aber erst einmal diesen Blick, so sind die
soziologischen Thatsachen nicht so selten zu finden.«497
Gerichtsarchitektur ist nicht gerade ein klassisches Thema der
Rechtssoziologie oder auch der Kultursoziologie, wie überhaupt
die ›Architektur der Moderne‹ den Architekten und
Kunsthistorikern überlassen wird.
Nun weiß man, daß die Soziologie imperiale Ansprüche erhebt
und man könnte das Postulat einer hier vorgeschlagenen
rechtssoziologischen Befassung mit Gerichtsarchitektur als
einen weiteren Versuch der Grenzüberschreitung abtun, wenn es
nicht eine eigenständige Problematik gibt, zu deren Lösung die
soziologische Perspektive hilfreich wäre.
Ich möchte im folgenden zunächst weiter ausführen, welche Art
von Fragestellungen sich um den Komplex der Gerichtsbauten
gruppieren läßt und wo der mögliche Erklärungsbeitrag der
Soziologie, insbesondere der kultursoziologischen Optik liegt
(I). Sodann möchte ich eine exemplarische Deutung von
›versteinerter Rechtskultur‹ anhand von Gerichtsbauten des 19.
Jahrhunderts vornehmlich wilhelminischer Bauten und
nationalsozialistischer Gerichtsarchitektur versuchen (II).
Abschließend gehe ich auf die Funktion der erstaunlichen
Kontinuität der Rechtsbauten trotz einer auf Wandel
eingestellten Positivität des Rechts ein (III).
I.
Gerichtsbauten als Gegenstand der soziologischen
Betrachtung
»Ein gebautes Werk« – so heißt es bei Lampugnani in der
lesenswerten Arbeit ›Architektur als Kultur‹ – »ist zunächst ein
Gebrauchsgegenstand. Es wird mit bestimmten Materialien nach
497
Brief vom 22. 11. 1896, Nachlaß Célestin Bouglé, Bibliotheque
Nationale, Paris.
201
Werner Gephart
bestimmten konstruktiven und bestimmten nutzungsbezogenen
Regeln gemacht, damit es als Ding funktioniert.«498
Umberto Eco499 hat dies als Primärfunktion des Bauwerks
bezeichnet. Für Gerichtsgebäude leitet sich die Nutzenfunktion
aus der jeweiligen Gerichtsverfassung her, aus der sich
nutzenbezogene architektonische Regeln zur Erstellung des
Gebäudes ergeben. So erfordert das Prinzip der ›Öffentlichkeit‹
der Verhandlung, daß überhaupt ein Publikum Platz findet. Der
Größe des Spruchkörpers ist in der räumlichen Konzeption
Rechnung zu tragen. Auch die jeweilige Aufgabenstellung des
Gerichtspersonals im weitesten Sinne stellt gewisse bauliche
Anforderungen, je nachdem, wie weit das Gericht z. B. mit
Aufgaben der Selbstverwaltung betraut ist oder nicht.
Hierbei haben wir freilich bereits unterstellt, daß das ›Gericht‹
aus anderen öffentlichen Bauten ausgegliedert ist, daß eine
funktionale Spezifikation und Ausdifferenzierung des
Gerichtswesens aus anderen öffentlichen Aufgaben bereits
erfolgt ist.500
Dies ist freilich kein selbstverständlicher Schritt der
Rechtsentwicklung,
sondern
vielmehr
ein
Element
fortgeschrittener Rechtssysteme.
Das Bauwerk ›Gericht‹ läßt sich soweit also im Hinblick auf
drei verschiedene Regelsysteme erfassen: (1) Die Regeln der
Gerichtsverfassung, (2) ihre Umsetzung in technische Regeln
des Bauens sowie (3) sehr viel abstraktere Regeln, die den
Charakter eines Rechtssystems bestimmen.
Ohne die Angelegenheit unnötig zu komplizieren, ist zu
beachten, daß die technischen Regeln der 3. Stufe einem Teil
des Rechtssystems entsprechen müssen, d. h. vor allem den
498
499
500
Vittorio Magnago Lampugnani, Architektur als Kultur, Köln 1986, S.
46.
Vgl. Umberto Eco, La struttura assente. Introduzione alla ricera
semiologica, Bompiani/Mailand 1968.
Wenn das brandenburgische Kammergericht als ›Anbau‹ des Berliner
Schlosses plaziert ist, hat sich die Lösung aus der persönlichen
Rechtsprechung des Landesherrn auch symbolisch noch nicht
vollzogen.
202
Recht als Kultur.
Regeln über die rechtmäßige Erstellung eines Gebäudes, dem
Baurecht z. B. nicht zuwiderlaufen dürfen.
Wenn wir nunmehr fragen, ob ein Gerichtsgebäude überhaupt
der soziologischen Betrachtung unterfallen kann, so ist die
Antwort schnell gegeben.
Definiert man den Gegenstandsbereich der Soziologie über die
Lehre vom ›fait social‹,501 so gehören Gerichtsgebäude zu einem
ganz unzweifelhaften Bereich soziologischer Forschung,
nämlich der durch Regeln bestimmten materiellen Kultur einer
Gesellschaft, die Durkheim auch mit dem Begriff der
morphologischen Erscheinungen umriß: Exteriorität, Zwang und
Universalität sind die Bestimmungsmerkmale der faits sociaux,
eine Merkmalsliste, die – wie an anderer Stelle gezeigt – die
normative Konstitution des sozialen Lebens in der Theorie
Emile Durkheims wiedergibt.502
Wenn sich eine Architektursoziologie oder gar eine Soziologie
der Gerichtsbauten bei Durkheim nicht findet, so hat dies
jedenfalls nichts mit der ›découpage de l’objet sociologique‹ zu
tun.
Kehren wir zur Bestimmung des gebauten Werkes zurück, so
erschöpft es sich nicht – so Lampugnani – in der reinen
Nutzenfunktion, sondern: »Ein gebautes Werk ist aber mehr: Es
ist – oder, besser, es sollte sein – ein Kunstwerk. Es interpretiert
die geistige Position eines Individuums innerhalb einer
Gesellschaft, spiegelt die Widersprüche seiner Zeit wieder und
hat eine kommunikative, ästhetische Aufgabe.«503
Ob man diese Bestimmung von sog. Sekundärfunktionen, wie
sie Umberto Eco nennt, nun für hinreichend widerspruchsfrei
oder nur plausibel hält, muß man nicht im einzelnen diskutieren.
Das Bauwerk hat jedenfalls eine über die Funktionserfüllung
hinausgehende ›Bedeutung‹, indem das gebaute Werk als
501
502
503
Vgl. Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, a. a. O.
Vgl. Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im
soziologischen Diskurs der Moderne, a. a. O., zweiter Teil, zweites
Kap., S. 321-418.
Vittorio Magnago Lampugnani, Architektur als Kultur, a. a. O., S. 46.
203
Werner Gephart
materielles Substrat eines symbolischen Verweises begriffen
wird, der auf etwas anderes als den bloßen Nutzen hinweist.
Aus Privatbriefen geht hervor, wie sich Max Weber in der
Vorbereitung der Protestantismusstudie von dem Eindruck der
protestantischen Kirchenbauten in den Niederlanden hat leiten
lassen. So heißt es in einem Brief vom 13. Juni 1903 aus
Scheveningen: »... die großen katholischen Kathedralen paßten
eben für Predigtzwecke gar nicht, zumal für die nordische
Predigt, die nicht mit den Mitteln der Bettelmönche arbeitete.«
Und weiter: »Für den reformierten Protestantismus ist eben die
kleine helle Dorfkirche die eigentlich ideale Kirchenform ...«504
Architekturbetrachtung kann also durchaus im Sinne einer
verstehenden Soziologie betrieben werden, die das Bauwerk als
Resultat sozialer Handlungsprozesse unterschiedlichster Akteure
begreift, deren Sinn sowohl den subjektiv gemeinten und über
Regelrekonstruktionen erfaßbaren Gehalt wie aber auch die
Einbettung in die Sphäre der objektiven Kultur einschließt.
So ließe sich ja fragen, inwieweit sich in Gerichtsgebäuden der
›Geist‹ der okzidentalen, römischen oder französischen
Rechtskultur niederschlägt ganz ebenso wie Gerichtsgebäude
ihrerseits ja auch ein konstitutiver Bestandteil der Rechtskultur
sein
können.
Um
auf
Lampugnanis
Definition
zurückzukommen, ließe sich ein Gerichtsgebäude dann eben
auch als Interpretation der gesellschaftlichen Funktion, der
»geistigen Position ... innerhalb der Gesellschaft« deuten.
Hierunter mag man sehr Unterschiedliches verstehen. Zunächst
ist aber wichtig, daß diese interpretative Funktion des Bauwerks
mit seiner ästhetischen Funktion verknüpft wird.
Allein, wenn ein Gerichtsgebäude nicht nur unter dem
funktionalen Gebrauchswert, sondern auch auf seinen
ästhetischen Wert hin betrachtet wird, ließe sich das Gericht als
ein ›phénomène totale‹ im Sinne von Marcel Mauss begreifen.
504
Brief vom 13. Juni 1903 (Max Weber-Schäfer, Konstanz).
204
Recht als Kultur.
Unabhängig von der Luhmannschen Frage, ob Kunst vollständig
kodierbar sei,505 so bedarf es zum Verstehen von Architektur als
eines
›Kulturinhalts‹506
der
Auseinandersetzung
mit
ästhetischen, in diesem Falle architektonischen ›Theorien‹
praktisch normativer Art über das schöne Bauwerk.
Freilich sträubt sich bei dem Gedanken einer Rechts- und gar
›Gerichtsästhetik‹ das deutsche Gemüt in ähnlicher Weise, wie
die Möglichkeit einer ›Wirtschaftsästhetik‹ im Deutschen
undenkbar ist. Dies hat – wie ich an anderer Stelle zeigen
konnte507 – etwas mit dem problematischen Verhältnis von
religiöser Ethik und Ästhetik im Klima des Protestantismus zu
tun.
Wir können jedenfalls festhalten, daß neben der reinen
Nutzenfunktion eine Sinnschicht des Bauwerks zu betrachten
ist, die mit Merkmalen der allgemeinen Wertkultur
einschließlich der ästhetischen, sowie der jeweiligen
Rechtskultur verknüpft zu sein scheint.
II.
Zur Deutung der versteinerten Rechtskultur
Welche Deutungsergebnisse lassen sich mit diesem Rüstzeug
erzielen?
Zunächst lassen sich z. B. Wandlungen der Gerichtsverfassung
in den Grundrißzeichnungen der Gerichtsbauten wiederfinden:
Das alte Gericht am Appellhofplatz in Köln gibt den Einfluß des
französischen Verfahrensrechts mit der Betonung der
Mündlichkeit und Öffentlichkeit in der Konzeption der
Gesamtanlage wieder, während nach Verabschiedung der
Reichsjustizgesetze
505
506
507
am
1.
Oktober
1879
eine
Fülle
Vgl. nunmehr Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt
am Main 1995.
Diese Möglichkeit einer Soziologie der Kulturinhalte behauptet Weber
in einem Brief vom 30. Dezember 1913 an den Verleger Paul Siebeck:
»Später hoffe ich Ihnen dann einmal eine Sociologie der Cultur-Inhalte
(Kunst, Litteratur, Weltanschauung) zu liefern ...« (a. a. O., S. 450.).
Vgl. Werner Gephart, Von der ›Unternehmensethik‹ zur
›Unternehmensästhetik‹. Einige Konsequenzen der kunstsoziologischen
Fragestellung Max Webers, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, ZfBErgänzungsheft 1, 1992, S. 51-74.
205
Werner Gephart
verfahrensrechtlicher Änderungen und zusätzliche Aufgaben im
Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit entscheidende bauliche
Maßnahmen erforderte.
Ansicht des alten Appellhofs (erbaut 1824-1826 nach Plänen von J. P.
Weyer). Quelle: Adolf Klein; Günter Rennen, Justiti Coloniensis,
Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), Köln 1981,
S. 80.
Gegenüber
dem
schlichten
klassizistischen
Bau,
der
ursprünglich von dem Stadtbaumeister Johann Peter Weyer
gestaltet war, wurde nicht nur zusätzlicher Raum geschaffen,
also die primäre Funktion erweitert, sondern der Bau wurde
auch zu einem Träger gewandelter Bedeutungen im
Selbstverständnis der Justiz.
206
Recht als Kultur.
Grundriß (Erdgeschoß) des Justizgebäudes Appellhofplatz nach der
Erweiterung. Unten quer der Neubau, errichtet 1884-1887; im Halbkreis oben
die zunächst weiterbenutzten Teile des Weyerschen Appelhofs (abgerissen
1888). Quelle: Franzjosef Ploenes, Justiz ohne Raum, in: Adolf Klein; Günter
Rennen, Justiti Coloniensis, Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre
Geschichte(n), a. a. O., S. 307-324 (S. 316).
Justizgebäude Appelhofplatz (Erdgeschoß) in der 1893 fertiggestellten und
noch heute weitgehend erhaltenen Gestalt nach Plänen von Thoemer und
Mönnich. Quelle: Franzjosef Ploenes, Justiz ohne Raum, a. a. O., S. 318.
207
Werner Gephart
Reich verzierte Giebel und flankierende Türme sind auf
Repräsentation und Darstellung staatlicher Macht angelegt.
Erweiterungsbau zum alten Appellhof (errichtet 1884-1887 nach Plänen
Thoemers). Quelle: Adolf Klein; Günter Rennen, Justiti Coloniensis,
Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), a. a. O.,
S. 80.
Die Kritik an Weyers ursprünglichem Entwurf des
Justizgebäudes am Appelhofplatz, es sei nämlich zu sehr ein
Justizpalast als ein Dienstgebäude, wird nunmehr in dem
Erweiterungsbau durch den Regierungsbaumeister Paul
Thoemer nachgeholt: »So wurde das Treppenhaus pompös mit
edlen Materialien wie schwedischem und schlesischem Granit,
belgischem Kalkstein und viel Stuck ausgestattet.«508
Die zeitgenössische Bewertung durch den bedeutenden
Königlichen Regierungsbaumeister Mönnich sah freilich anders
aus. So heißt es in einer Darstellung, die er auf dem 21.
Deutschen Juristentag vorgestellt hatte: »Bei der inneren
Durchbildung des vollendeten Bautheils ist überall eine
würdige, in keiner Weise jedoch an Luxus erinnernde
508
Franzjosef Ploenes, Justiz ohne Raum, in: Justitia Coloniensis.
Landgericht und Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), hrsg.
von Adolf Klein und Günter Rennen, Köln 1981, S. 317.
208
Recht als Kultur.
Ausstattung erstrebt worden. Die vom Verkehr hauptsächlich
berührten Räume, die Treppenhäuser und Corridore, sind,
soweit praktische Gründe es erforderten, aus echtem Material
hergestellt.«509 Zwar ist nicht einsichtig, welche ›praktischen‹
Gründe dies gewesen sein sollten, dafür wird um so unverstellter
die Absicht, einen räumlichen ›Eindruck‹ zu hinterlassen,
dokumentiert: »Überall, auch in den Geschäftsräumen, ist eine
massive Wölbung durchgeführt, und letztere so gestaltet, daß die
langen Gänge durch rhythmische Theilung der Decken einen
hallenartigen Eindruck hervorrufen.«
Schließlich plagt den Königlichen Regierungsbaumeister die
Tatsache, daß die Finanzmittel für die repräsentativen Absichten
viel zu knapp waren. So wird der monumentale Effekt in
asketischer Manier erzielt: »Der Hauptreiz des Bauwerkes – so
Mönnich – liegt in der Gruppierung der Massen, in der
Mannigfaltigkeit der Dachformen und im Aufbau der mächtigen
Giebel.«510
Freilich geraten wir hier auch unmittelbar an Grenzen der
Interpretation bzw. die Grenzen der Nachprüfbarkeit. Denn was
wird durch diese Art der Repräsentation eigentlich
›repräsentiert‹? Peter Landau meint, hierin das »Selbstgefühl des
Bürgertums« zu finden, das »in monumentalen Justizbauten eher
als in Verwaltungsgebäuden seinen Ausdruck [fand], da die
Justiz mehr als die Exekutive vom Bürgertum personell erobert
worden war.«511 Solche Deutungen liegen freilich im
Fahrwasser eines grundsätzlichen Mißverständnisses über die
Aufgaben
der
Kunstsoziologie,
ausschließlich
nach
Widerspiegelungen der Klassenlage Ausschau zu halten.
Sicher ist auch das Syndrom der wilhelminischen Kultur nicht
unabhängig von Klasseninteressen zu sehen. Aber was ist mit
509
510
511
Rudolf Mönnich, Das neue Justizgebäude in Köln, in: XXI. Deutscher
Juristentag Köln 1891, S. 61-74, S. 70.
Rudolf Mönnich, Das neue Justizgebäude in Köln, a. a. O., S. 72.
Peter Landau, Reichsjustizgesetze und Justizpaläste, in: Ekkehard Mai
u. a. (Hrsg.), Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich. Kunst
im Wandel der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1982, S. 197223, S. 203 f.
209
Werner Gephart
›wilhelminischer Kultur‹ i. e. ›wilhelminischer Architektur‹
gemeint? Julius Posener charakterisiert sie folgendermaßen: »Es
ist die Architektur des Auftrumpfens, die Architektur, die dem
Wesen des Kaisers am meisten entgegenkommt und die der
Stimmung ›Deutschland in der Welt voran‹ entspricht ...«512
Und wie materialisiert sich dieser Wilhelminische Geist?
Wiederum ist Posener einschlägig: »... wir können diese
(wilhelminische, W. G.) Haltung nicht genauer definieren als
durch Eigenschaften wie große Dimensionen, monumentale
Haltung, Weiträumigkeit, kostbare Materialien ...«513
Gegenüber dieser Art der protzigen Architektur, die man mit
dem in Verbindung bringen darf, was Wolfgang J. Mommsen
als den ›autoritären Nationalstaat‹514 bezeichnet hat, ist das
ebenfalls von Rudolf Mönnich gestaltete Kriminalgericht
Moabit weit subtiler zu deuten.
Kriminalgericht Moabit, Treppenhaus. Quelle: Julius Posener, Berlin auf dem
Weg zu einer neuen Architektur, das Zeitalter Wilhelms II., München 1979,
S. 85.
512
513
514
Julius Posener, Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das
Zeitalter Wilhelm II., München 1979, S. 81.
Ebd.
Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung,
Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main
1990.
210
Recht als Kultur.
Architektonisches Zentrum ist ein Treppengebilde, das wie eine
eigenständige Raumskulptur, an die Virtuosität Naumannscher
Treppenkonstruktionen erinnernd, in einer neugotischen
Pfeilerhalle plaziert ist. Mit jedem Schritt entfalten sich neue
Ein- und Durchblicke des Treppenlabyrinths, die eine Parallele
findet in anderen Berliner Gerichtsbauten, dem Amtsgericht
Wedding und dem Amtsgericht Schöneberg.
Kriminalgericht Moabit, Treppenhaus. Quelle: Julius Posener, Berlin auf dem
Weg zu einer neuen Architektur, das Zeitalter Wilhelms II., a. a. O., S. 86.
Posener sieht in dieser Anlage einen ›geheimen
Expressionismus‹, der das banale Pathos der wilhelminischen
Monumentalarchitektur überschreiten würde. Freilich entziehe
sich – so Posener – ihre »symbolische Deutung dem heutigen
Betrachter«.515
Die Treppenkonstruktion mit ihren verwirrenden Winkeln läuft
der Imposanz einer einfachen, aufstrebenden und wuchtigen
Treppe wie in der Eingangshalle des Justizgebäudes am
Reichensperger Platz in Köln zuwider.
515
Julius Posener, Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur,
a. a. O., S. 87.
211
Werner Gephart
Eingangshalle des Justizgebäudes Reichenspergerplatz (heutiger Zustand).
Quelle: Adolf Klein; Günter Rennen, Justiti Coloniensis, Landgericht und
Amtsgericht Köln erzählen ihre Geschichte(n), a. a. O., S. 83.
Sollte in dieser ohne funktionalen Grund verwinkelten
labyrinthischen Raumauffassung ein heimliches Bild von den
verworrenen Wegen und ›Winkelzügen‹ im Recht geschaffen
sein? Auffällig ist im übrigen die Parallele zu den
Treppengestaltungen in den Lichthöfen der Warenhäuser, die
über die reine Transportfunktion hinaus die Warenzirkulation
versinnbildlichen. Ist es also nur ein stilistisches Element, das in
verschiedenen Funktionsräumen rein dekorativ verwendet wird
oder wird gar eine das Warenhaus und das Gerichtsgebäude
212
Recht als Kultur.
gleichermaßen überstrahlende Aura eines quasi-sakralen Baus in
den Treppengebilden symbolisch verdichtet?516
In der Literaturwissenschaft hat sich, in Überwindung der reinen
Rezeptionssoziologie und Rezeptionsgeschichte, der Ansatz
einer ›Rezeptionsästhetik‹517 Ansehen verschafft. In diesem
Sinne ist eben auch eine andere Lesart der von Posener treffend
als ›Treppenskulptur‹ bezeichneten Anlage im Kriminalgericht
Moabit möglich. Anläßlich der Feier zur Anlegung der
›Hoheitszeichen‹ an die Roben der Richter518 fungiert die
Treppe nämlich zur Aufstellung der ›Rechtsfront‹, die nunmehr
von dem Fotografen als höchst symmetrisches Gebilde in einer
starren, zu den Richtern und der gewaltigen Hakenkreuzfahne
aufschauenden Perspektive aufgenommen wird.
Kriminalgericht Moabit, Treppenhaus (Feier aus Anlaß der Anlegung des
›Hoheitszeichens‹ an die Richterroben). Quelle: Ullstein-Bilderdienst,
abgedr. in: Im Namen des Deutschen Volkes, Justiz und Nationalsozialismus,
a. a. O., Abb 190 S. 273.
516
517
518
Auf die spezifische Qualität der Monumentalität der Gerichtsarchitektur
im Verhältnis zu Schwimmbad, Tiergarten, Bahnhofsbauten und
Museen im Kaiserreich kann ich an dieser Stelle nicht eingehen.
Vgl. insbes. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische
Hermeneutik, Frankfurt am Main 1982.
Der symbolische Aspekt des Rechts im Nationalsozialismus war näher
ausgeführt in meinem Deutungsversuch: The Totalitarian Use of
Symbols in the Nazis’ Perversion of the Law (ISA-Kongress, Madrid
1990).
213
Werner Gephart
Somit kommt es eben nicht nur auf eine scheinbar ›objektive‹
Raumqualität an, sondern auch auf die ›Perspektive‹, in der sich
der Raum dem subjektiven Betrachter erschließt.
Nun hat der Nationalsozialismus bekanntlich in besonderer
Weise auf grandiose Bauten Wert gelegt, was so weit ging, die
Baumetapher zur Kennzeichnung des ›Deutschen Rechts‹ selbst
zu verwenden. So heißt es in einem Schulungsbrief von Frank –
wie wir oben bereits sahen: »Das Recht des
nationalsozialistischen Reiches muß ... der Ausdruck des
neugermanischen Lebens und Raumgefühls sein, es muß in
seinem klaren Stilgefüge den grandiosen Bauten des Dritten
Reiches entsprechen ...«519
Nicht nur in der fotografischen Wahrnehmung des Moabiter
Treppenlabyrinths im Sinne des nationalsozialistischen »klaren
Stilgefüges«, sondern auch in eigenen Bauten sollte sich die
Entsprechung von innerer und äußerer Architektur des Rechts
manifestieren. So sollte vor allem das Haus des Deutschen
Rechts ein Hort des neuen Rechtsbewußtseins werden. Der
Präsident der Akademie für Deutsches Recht umschreibt das
Vorhaben: »Dieses Projekt des Hauses des Deutschen Rechts,
welches nicht nur die Heimstätte der Reichsrechtsführung des
deutschen Volkes sein wird, hat bereits mir gegenüber« so Hans
Frank »die Billigung des Führers gefunden. Es wird
entsprechend dem Grundsatz des Führers, daß große
Geschichtsepochen sich in großen Bauten repräsentieren, dem
deutschen Rechtsleben einen monumentalen Hauptbau schaffen,
der der Stolz der deutschen Rechtswahrer und, wie wir hoffen
wollen, der von kommenden Generationen stets in Ehren
bediente Hort des Rechtsgewissens werden soll.«520
In
den
monumentalen
Phantasmagorien
der
nationalsozialistischen Herrschaft hatte, wie das Haus des
Deutschen Rechts zeigt, auch das Recht einen, wenngleich
519
520
Hans Frank, in: Der Schulungsbrief 1939, a. a. O., S. 110.
Hans Frank, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 3, 1936,
S. 1.
214
Recht als Kultur.
nachrangigen Platz in einem aus strukturellen Gründen der
charismatischen Herrschaft letztlich rechtsfeindlichen Klima.
III.
Zur KontinuierungsGerichtsbauten
und
Geltungsfunktion
alter
Wir hoffen zunächst, mit diesem kursorischen Blick auf die
›Erscheinungsebene‹ der Organisationskultur ›Gericht‹ – wie es
in der Sprache von Edgar Schein auszudrücken wäre521 – einige
Gesichtspunkte
und
Probleme
der
Deutung
von
Gerichtsarchitektur transparenter gemacht zu haben.
Dabei bestand die ursprüngliche Faszination am Gegenstand
›Gerichtsgebäude‹ in etwas ganz anderem. Es ist dies die Frage
danach, ob wir den räumlich-materiellen Aspekt des
Gerichtswesens berücksichtigen müssen, um die Funktionsweise
von Recht zu verstehen und zwar nicht nur als halt unabdingbare
physikalische ›Umwelt‹ des Rechtssystems, sondern als einen:
integrierenden Bestandteil der Rechtsordnung.
Wenn man die schnöden Amtszimmer und beengten
Verhältnisse, Aktenstaub und Patina einer vergilbten
Rechtskultur vor Augen hat, dann mag man den
Gerichtsgebäuden kaum eine Rolle bei dem nach wie vor
ungelösten Rätsel der Rechtssoziologie beimessen, wie nämlich
die Geltung des Rechts zu erklären sei.
Pierre Bourdieu hat in seiner Studie über die ›force du droit‹
offensichtlich gerade den Darstellungsmomenten des Rechts
besondere Bedeutung beigemessen.522
So
schwierig
dieser
Effekt
der
›Beeindruckung‹
auch
523
methodisch zu messen ist, so sehr gehört es zumindest zur
Eigentheorie der Juristen von der Würde des Rechts, daß dies
auch einer ›würdigen‹ Umgebung bedürfe.
521
522
523
Vgl. Edgar Schein, Organizational Culture and Leadership, San
Francisco/Washington/London 1985.
Vgl. Pierre Bourdieu, La force du droit. Eléments pour une sociologie
du champ juridique, in: Actes de la recherche en sciences sociales 64,
1986, S. 3-19.
Jedenfalls sind mir keine methodisch befriedigenden Untersuchungen
bekannt.
215
Werner Gephart
Mir scheint eine ganz andere Funktion der Gerichtsbauten
bedenkenswert zu sein, die sich nicht im ersten Blick erschließt.
Unserem Modell der normativen Konstitution des
Erklärungsgegenstandes Gerichtsbauten zufolge, müßten ja die
Wandlungen der Verfahrensordnungen im Kontext eines sich
wandelnden Rechtssystems Stück für Stück in der ›versteinerten
Rechtskultur‹ wiederzufinden sein.
Neue Gerichtsbauten scheinen aber eher durch Raumbedürfnisse
als durch den normativen Wandel bedingt zu sein, wobei
zunehmend Gesichtspunkte einer arbeitsökonomischen, d. h.
kommunikativen und auch die ›corporate identity‹ fördernden
Raumkonzeption artikuliert werden.524 Und so überrascht eher
die erstaunliche Kontinuität der Gerichtsgebäude, die vom
Kaiserreich über die Weimarer Republik auch das
nationalsozialistische Unrecht beherbergt haben, wie es im
Moabiter Amtsgericht sinnfällig wird.
Das führt zu der Überlegung, der Gerichtsarchitektur nicht nur
einen explikativen Ort in der Frage der Rechtsgeltung
zuzuweisen, sondern gerade die Kontinuität eines Rechtssystem
zu symbolisieren, dessen Geltungsbasis auf die – scheinbar –
beliebige Veränderbarkeit des Rechts gestellt ist.525 Alte
Gerichtsgebäude erscheinen somit auch als Rechtsmuseen, in
denen die Idee des Rechts trotz aller Wandlungen und
Schwankungen, die sich aus seiner Positivierung ergeben,
aufbewahrt wird.
Wenn wir also diese Gerichtsbauten als eigene Bedeutungsträger
interpretieren, liegt auch die Vorstellung nicht mehr fern, den
Bedeutungsanspruch und die Doppelcodierung der Architektur,
wie sie in der Postmoderne diskutiert wurde, auf neue
Gerichtsbauten zu übertragen: Warum sollte man nicht die
Replikationen des wilhelminischen Neu-Barock und der Neo-
524
525
Vgl.
den
Forschungsbericht
Organisation
der
Verwaltungsgerichte/Finanzgerichte der Wibera Wirtschaftsberatung
AG (erstellt im Auftrag des Bundesjustizministeriums).
Zu dieser Idee der Rechtsgeltung vgl. insbesondere Niklas Luhmann,
Rechtssoziologie, 2 Bde., a. a. O.
216
Recht als Kultur.
Gotik im kalkulierten Eklektizismus der Postmoderne526
wiederaufnehmen? – Freilich würde dies voraussetzen, daß die
Verbindung von Recht und Ästhetik bzw. ein ironisches
Verhältnis zu den Ursprüngen des Rechts im Kaiserreich
überhaupt denkbar ist.
Das 1981 in Köln eingeweihte Gerichtshochhaus an der
Luxemburger Straße ist jedenfalls von postmodernen
Schnörkeln frei. Dafür weisen die Büros Einbauschränke auf,
die symbolisch wichtigen Handwaschbecken sind eingebaut und
man geht über textile Bodenbeläge.527 Wiederum ist die
Entsprechung von Bedeutung des Gerichts und seiner
Ausstattung anvisiert. So heißt es in der Baubeschreibung: »Die
Säle sind entsprechend ihrer Bedeutung gestaltet, in der Regel
mit einer holzverkleideten Stirnwand und einer Textiltapete an
den übrigen Wandflächen. Auch Decke und Beleuchtung tragen
Funktion und Bedeutung der Säle Rechnung.«528 Der gleiche
Autor insistiert nun auch darauf, daß das Gebäude auch nach
außen nicht nur Funktions-, sondern ›Bedeutungsarchitektur‹
darstellen soll, wie es vor allem der französischen
Architekturtradition zugesprochen wird. Als architektonischer
Imperativ formuliert: »... das Gebäude muß sich als Gericht
darstellen, Würde zeigen und keine Abschreckung bewirken.«529
So löblich dieser moderate Anspruch sein mag, so unklar ist die
Art der Umsetzung, wenn sich nämlich ein 23-geschossiges
Bürohochhaus von den Traditionen des Gerichtsbaus endgültig
gelöst hat. Und wenn auch diese neue Justizarchitektur mit
34.940 m2 Nutzfläche und 48 Gerichtssälen sowie 398
Büroräumen von den Erbauern wiederum als ein
›Rechtsdenkmal‹ konzipiert wurde, so mag es einmal als ein
526
527
528
529
Vgl. die Beiträge von Umberto Eco, Robert Venturi und Charles
Jencks, in: Wolfgang Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne.
Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988.
Vgl. Fridolin Hallauer, Der Neubau der Justizbehörden in Köln 19771981, in: Justitia Coloniensis Landgericht und Amtsgericht Köln
erzählen ihre Geschichte(n), hrsg. von Adolf Klein und Günter Rennen,
a. a. O., S. 325-345 (S. 334).
Ebd., S. 334.
Ebd., S. 338.
217
Werner Gephart
Sinnbild der ›Verrechtlichung‹, der ›Prozeßflut‹ und steigenden
›Geschäftsanfalls‹ betrachtet werden, denen man nur mit einer
Hochhausarchitektur meint beikommen zu können.
Inwieweit die These der ›Verrechtlichung‹ empirischer
Überprüfung statthält, ist umstritten. Methodisch hat man sich
eigenartigerweise noch nicht des Instruments bedient, das nach
unseren Überlegungen ja nunmehr zum Greifen nahe liegt,
nämlich die Erstellung von Gerichtsgebäuden als einen
objektiven Indikator für den Wandel der Gerichtsbarkeit zu
verwenden. Eine erste Auswertung der von dem
Justizministerium
des
Landes
Nordrhein-Westfalen
freundlicherweise zur Verfügung gestellten Daten ergibt
folgendes Bild für die Entwicklung der Amts- und Landgerichte:
Amts- und Landgerichte in Nordrhein-Westfalen
Kumulierte Häufigkeiten (%) nach Baujahr
100
90
80
70
Prozent
60
50
40
30
20
Amts- und Landgerichte
in NRW
10
88
96
19
80
19
72
19
64
19
56
19
19
40
48
19
19
24
32
19
16
19
08
19
19
92
00
19
84
18
76
18
68
18
60
18
52
18
44
18
18
18
36
0
Jahr
Mir scheint eine quantitative Aufbereitung der in Gerichtsbauten
›versteinerten Rechtskultur‹ jedoch auch für die vergleichende
Forschung fruchtbar zu sein, wenn man die geläufigen Bilder
218
Recht als Kultur.
der grandiosen Gerichtsbauten in Belgien und Frankreich über
die Erscheinungsebene hinaus interpretieren will.530
Dann würde es sich anbieten, die soziologischen Denkmittel
eines Autors zu mobilisieren, dessen soziologischer Ansatz bis
in die letzten Winkel seines mitunter labyrinthische Formen
annehmenden Gedankengebäudes von der Subkultur des
Juristen geprägt ist: gemeint ist Max Weber.
Es würde wohl auch die Paradoxie sichtbar werden, wie das
nach Webers Auffassung im höchsten Maße formal ›rationale‹
Recht in Bauten verwaltet wurde, die symbolüberladen und
machtstrotzend im Stile eklektizistisch und monumental pompös
genau diejenige Bauform repräsentieren, die Weber in seinem
Vortrag ›Wissenschaft als Beruf‹ so unerträglich fand:
»Versuchen wir, monumentale Kunstgesinnung zu erzwingen
und zu ›erfinden‹, dann entsteht so ein jämmerliches
Mißgebildete wie in den vielen Denkmälern der letzten 20
Jahre.«531 Ob wir diese Wertung Max Webers teilen müssen
oder für uns heute der museale Charakter dieser
Gerichtsarchitektur überwiegt, ist freilich eine andere Frage.
530
531
Hierzu ist die erwähnte Studie von Peter Landau ein erster
Anhaltspunkt, vgl. Peter Landau, Reichtsjustizgesetze und Justizpaläste,
a. a. O.
Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 582-613, S. 612.
219
Werner Gephart
ACHTE VORLESUNG
ALTE UND NEUE BILDER DER GERECHTIGKEIT. VON DEN
SYMBOLEN DES RECHTS ZUM SIMULACRUM DER
GERECHTIGKEIT
»Es ist eine unbefriedigende ansicht, welche in solchen
symbolen blosze leere erfindung zum behuf der
gerichtlichen form und feierlichkeit erblickt. im
gegentheil hat jedes derselben gewisz seine dunkle,
heilige und historische bedeutung; mangelte diese, so
würde der allgemeine glaube daran und seine
herkömmliche verständlichkeit fehlen.«532
Den Bildern der Gerechtigkeit wäre bei einigen der von uns
propagierten
Ahnherrn
einer
noch
ungeschriebenen
Kulturwissenschaft des Rechts wohl eine besondere
Aufmerksamkeit sicher gewesen: Simmel würde zweifellos die
Korrespondenz von Über-Formung des Lebens im Recht und
seiner ästhetischen Formentsprechung533 einfordern, bei
Durkheim wäre damit zu rechnen, daß die imaginäre Kraft534,
der überschießende Gestaltungsbedarf der Rechtsgemeinschaft,
auch in den Rechtsbildern sich niederschlagen müßte, denen
dann auch eine legitime soziologische Aufmerksamkeit zukäme,
während Webers unvollendetes Projekt einer Soziologie der
Kunst- und Kulturinhalte535 auf die Rationalitätsunterschiede
juridischer Repräsentation im Gewande der Kunst zu lenken
wäre.
532
533
534
535
Jakob Grimm, Von der Poesie im Recht, a. a. O., S. 48.
Zu Simmels Beitrag zur Soziologie der Kunst als einer Sphäre der
Moderne vgl. meine Deutung in: Bilder der Moderne. Studien zu einer
Soziologie der Kunst- und Kulturinhalte, Opladen 1998, S. 25-44.
Vgl. ebd., S. 45-56.
Vgl. ebd., S. 47-82.
220
Recht als Kultur.
Diese doppelten Ansprüche einer gesellschaftstheoretisch
anspruchsvollen Kunstsoziologie und einer kultursoziologisch
inspirierten Rechtsanalyse werden sich hier nicht einlösen
lassen. Marie-Theres Fögen hat gezeigt, wie sich ›Römische
Rechtsgeschichten‹536 anhand von Bildern erzählen lassen.
Läßt sich etwas über das Recht der Dritten Französischen
Republik in den bildlichen Darstellungen von Daumier erfahren,
die den Anwaltsstand in aller Welt noch heute zu Höchstgeboten
motiviert?
Erzählt das Fakultätenbild der Jurisprudenz von Klimt eine
andere Geschichte, die mehr als mit stilistischen Differenzen
vielleicht mit einer anderen Rechtskultur und der kulturellen
Gemengelage im Wien des Fin-de-siècle zu tun hat ?
Läuft schließlich die Medialisierung der Gesellschaft nicht nur
auf die Darstellung der Intimität im Medium der Öffentlichkeit
hinaus, sondern hat sie auch der Erfahrung von Recht und
Gerechtigkeit einen neuen Raum der Imagination und
Simulation unter dem Vorwand des Reality-TV geliefert,
demgegenüber der klassische Geschworenen- und Gerichtsfilm
nur dadurch interessant ist, daß im Zuge der amerikanistischen
Globalisierung systematisch ein Rechtsbild produziert wird, das
amerikanischer Rechtswirklichkeit entsprechen mag, aber mit
der Vielfalt völlig anders gearteter Rechts- und insbesondere
Prozeßkulturen gar nichts zu tun hat?
Zunächst werden wir einen Blick auf das Recht als einer
theatralischen Inszenierung werfen, das als Theater des
Schreckens von Foucault bis van Dülmen, hier nun im
Sprachspiel der Durkheimschen Religionssoziologie als ein
religiöses Ritual537 begriffen wird:
536
537
Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und
Evolution eines sozialen Systems, Göttingen 2002.
Über den Parallelismus von »dogmatischer Jurisprudenz und
orthodoxer Theologie« handelt schon die Kampfschrift der
Freirechtsschule von Hermann U. Kantorowicz (als Gnaeus Flavius):
Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906, S. 35 f., dort
freilich in polemischer, nicht in analytischer Absicht.
221
Werner Gephart
Werner Gephart, Recht als Kultur (1998), Collage, Pastell (57,5 × 40,5 cm)
I.
Das Gerichtsverfahren als religiöses Ritual
An die Stelle der alten Götter und ihrer profanen Deuter und
Vermittler sind professionelle Akteure getreten, die mit
besonderer Sorgfalt die Differenz zum ›Laien‹ pflegen: Ihre
Sprache ist ›geheim‹, ihr Wissen bleibt dem Laien
unverständlich, und dieser Unterschied wird in ausgeklügelten
Arrangements symbolisiert: von der Robe des Richters, einer
Gewandform538, die noch im Äußerlichen die Nähe zum
538
Zum ›effet de manche‹ des plädierenden Anwalts in Frankreich siehe
unten!
222
Recht als Kultur.
Gewand des Priesters bewahrt, bis zur räumlichen
Symbolisierung des ›Geheimen‹. Für das Publikum des
Strafprozesses, den ›Sünder‹ mit eingeschlossen, tritt das
Gericht aus einer heiligen Zone in eine profane ›Öffentlichkeit‹,
ganz ebenso wie das ›Allerheiligste‹, die ›Sakristei‹ und andere
heilige Räume539 dem ›Laien‹ verschlossen und vom Geheimnis
des Unbekannten umhüllt sind.
1.
Rituelle Dimensionen
Das Verfahren540 selbst ist von der Aura des Heiligen und
Feierlichen umgeben. Die rituelle Anordnung legt die zulässigen
Schritte der Akteure auf das Genaueste fest, die in heiligen
Büchern – für den Laien unbegreiflich – fixiert sind. Die soziale
Veranstaltung des Prozesses bürdet damit den Akteuren – im
Unterschied zur zeremoniellen Praxis – eine weit größere
Verhaltensunsicherheit auf, in der der Angeklagte nach und nach
von allem sozialen Schein, Beruf, Herkunft, Leben entkleidet
wird, um als nackter ›Täter‹ wie ein rituelles Opfer dargebracht
zu werden. Die kultischen Handlungen von Anklage,
Verteidigung, Beeidigung und Richterspruch inszenieren eine
Stimmung der emotiven Spannung, des Mitleids und der
existentiellen Furcht all der potentiellen ›Opfer‹, die einmal zum
Täter oder auch Objekt der Tat werden können. Die
Rekonstruktion der Tat führt das Geschehen der ›Öffentlichkeit‹
bildhaft vor Augen, die am Grauen auf diese Weise in
anschaulicher Weise teilhat. Über den Gegenstand des Kultes
sind sich die Teilnehmer des Rituals nicht unbedingt einig:
›Ordnung‹, ›Gerechtigkeit‹ und ›Schuld‹ sind die unerbittlichen
539
540
Dieser räumliche Aspekt der sozialen Organisation des Strafverfahrens
bedürfte einer eingehenden Deutung, in der neben der architektonischen
Verwandtschaft mit religiösen Räumen die ›choreographischen‹
Entsprechungen, die Bedeutung der ›heiligen Bücher‹, die
Sequentialisierung der Eröffnungs-, Haupt- und Schlußrituale
Beachtung finden sollten.
Die Studie von Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren,
Neuwied und Berlin 1969, verzichtet unverständlicherweise auf den
naheliegenden Bezug zur Religionssoziologie. Der Versuch, eine
normative Legitimation durch Verfahren zu begründen, ist zum
Scheitern verurteilt. Was bleibt, ist die weittragende Idee der
Selbstbindung durch die Verstrickung in Rollen.
223
Werner Gephart
Embleme der Justitia, deren allegorische Blindheit die Laien zu
häretischen Zweifeln animiert.
2.
Die Rechts- als Kultgemeinde
Zwischen den Richter-Priestern und der vagen Öffentlichkeit
vermittelt die ›Gemeinde‹541 als Gemeinschaft all derer, die an
Gerechtigkeit noch glauben, aber auch als Häretiker dem
unerbittlichen Schwert des Gesetzes ausgeliefert sind. Ihre
Gemeinschaft wird gestiftet auf der spirituellen Basis des
›Gemeinsamkeitsglaubens‹542,
Angehörige
derselben
Rechtsordnung zu sein, auch wenn die Verteilung der
›Rechtsgüter‹ durchaus mehr und minder Privilegierte kennt.
Der
Glaube
an
die
Rechtsordnung
bzw.
das
›Verbindlichkeitsgefühl‹ löst den verlorenen Glauben an die
außerweltliche Gerechtigkeit ab. So gewinnt das Zeremonielle
einen eigenen Legitimitätsgrund und die verlorene Idee der
religiösen Klassen und Rassen überspringenden Gemeinschaft
kehrt im Gefühl der ›Rechtsgemeinschaft‹ wieder, deren
Mitglieder sich gegenseitig als Rechtsgenossen verpflichtet
fühlen sollen. Die Zelebrierung des Rechts setzt schließlich auf
geheimnisvolle Weise Kräfte frei, in der Priester, Gemeinde und
Gemeinschaft miteinander im Opfer versöhnt werden. Der
Spruch des Richters543 löst die Spannung des Kampfes zwischen
541
542
Max Weber hat in seiner systematischen Religionssoziologie die
Eigengesetzlichkeit der Konfiguration von Priester, Laien und
Gemeinde gegenüber den bloßen religiösen Ideen herauspräpariert. Vgl.
§ 5 der in ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ abgedruckten
Religionssoziologie, S. 275-279.
Ebenso wie das Problem der Legitimität bei Weber in den
Legitimitätsglauben verwandelt ist, so löst sich die Frage nach dem
Realitätsgehalt von religiöser, ethnischer und kultureller Gemeinschaft
in den Gemeinsamkeitsglauben auf. Vgl. z. B. Wirtschaft und
Gesellschaft, S. 235 ff.
543
Der Richter-Spruch ist Paradigma des Sprechaktes, dessen
Bindungswirkung bzw. illokutionären Bindungseffekte Jürgen
Habermas aus der immanenten Rationalität der Rede herleiten möchte
(vgl. Theorie des kommunikativen Handelns, a. a. O., Bd. II, S. 112 ff.),
während sich bei Durkheim eine religionssoziologische Wurzel des
bindenden Wortes finden läßt; vgl. die interessante Rezension zu
Richard Lasch, Der Eid. Seine Entstehung und Beziehung zu Glaube
und Brauch der Naturvölker, Stuttgart 1908, in: L’Année sociologique
11, 1910, S. 460-465. Vgl. im übrigen Werner Gephart,
Gesellschaftstheorie und Recht, S. 409 f.
224
Recht als Kultur.
Gott und Teufel, Gut und Böse. Das Wort erzeugt die
Bindungswirkung von Entscheidungen und setzt die
eigentümliche Kraft der Rechtskraft frei, wenn dies im Einklang
mit den Regeln des Kultus zu erwarten ist. Wie der Gläubige
nicht einfach mehr ›weiß‹, sondern mehr ›kann‹, hat sich im
Verfahren eine Stimmung der ›effervescence‹544 verbreitet, in
der Richter – Priester –, Öffentlichkeit und Angeklagter vom
Pathos des Heiligen getragen und über sich selbst erhoben
werden.
3.
Heilige und profane Zeiten des Rechtslebens
Diese Zeiten der ›effervescence‹ werden periodisch
unterbrochen; wie der Gläubige wird der Zuschauer wieder in
den Alltag entlassen, der Richter entledigt sich der Robe und
kehrt in die profane Welt zurück, in der er sich gerade durch
soziale Unauffälligkeit wieder in die Gemeinschaft der Laien
einreiht. Aber wie in der Diskurszeitschrift ›Betrifft: Justiz‹
berichtet wird, fahren auch Richter Porsche, haben Krach mit
ihrer Frau oder sind gar alkoholkrank und wollen befördert
werden.545 Die ›Veralltäglichung des Heiligen‹ widerstrebt
immer wieder dem Anspruch des Sakralen, auf Dauer gestellt zu
werden. Die Einheit des Kultes aber wird in Legenden und
Mythen erzeugt, deren – für moderne Gesellschaften –
konstitutiver Teil den Mythos der Gleichheit und Gerechtigkeit
kultiviert, der noch um die Idee einer Brüderlichkeit ergänzt
wird, die in vielen Bildern und Erzählungen beschworen wird.
So werden die Werte der sakralen Rechtsgemeinschaft zu
heiligen Dingen erhoben, deren Verletzung fest umschriebener
Reinigungsriten546 bedarf, um die unumstößlichen Grenzen
544
545
546
Zu weitern Ausdeutungen dieses Durkheimschen Konzepts vgl. N.J.
Allen, W.S.F. Pickering und W. Watts Miller (Hrsg), On Durkheim’s
Elementary Forms of Religious Life, London/New York 1998.
Vgl. den Artikel von Rolf Lamprecht in der Süddeutschen Zeitung vom
8./9. Januar 2000.
Die Untersuchungsausschüsse sind ein besonders interessanter Fall zur
Reinigung von politischen Schandtaten. Die Verarbeitung politischer
Unmoral ist zweifellos vom Stil der jeweiligen politischen Kultur bzw.
Unkultur geprägt. So werden politische Skandale in Großbritannien (z.
B. Profumo), den USA (Watergate) und der Bundesrepublik (Flick)
225
Werner Gephart
zwischen
dem
aufrechtzuerhalten.
4.
Heiligen
und
dem
Un-Heilgen
Orte der Gerechtigkeit
Ebenso wie es die heiligen Räume547 des Rechts als Orte der
Gerechtigkeit548 zu beachten gilt, sind auch die Stätten der
Reinigung selbst vom Charakter des Heiligen durchdrungen:
magische Orte der Besserung, die das Opfer durch bloße
Anwesenheit und asketische Riten vom Zustand des Bösen in
die Welt des Guten zurückführen soll. Diese ›rites de passage‹
erfordern allergrößte rituelle Vorkehrungen und schließlich auch
eine räumliche Ausgrenzung, die das Böse verdrängt und das
Gute in Ruhe wachsen läßt.
Was läßt sich von dieser Beobachtung des Verfahrens, durch
den religionssoziologischen Blick vermittelt, in den
Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung der Künstler und
Format-Produzenten wiederfinden?
II.
Honoré Daumier: Der Maler des modernen Rechtslebens
»C’est un satirique, un moqueur;
Mais l’energie avec laquelle
Il peint le Mal et sa séquelle
ganz unterschiedlich entwickelt, in Szene gesetzt und ›verarbeitet‹.
Gemeinsam ist den kuturell geprägten Reinigungstechniken, daß sie als
Ritual vollzogen werden. Soziologisch ist bei aller Verärgerung und
Empörung nicht die positive Funktion des Skandals und der rituellen
Abarbeitung zu vergessen. Es ist eine interessante dogmatische Frage,
ob sich die juristischen Unsicherheiten in der Anwendung der
Strafprozeßordnung auf die Untersuchungsausschüsse durch eine
funktionale Betrachtung der jeweiligen Verfahren eingrenzen ließen. Zu
Watergate vgl. den religionssoziologisch inspirierten Versuch von
Jeffrey C. Alexander, Culture and political Crisis. ›Watergate‹ and
Durkheimian Sociology, in: ders. (Hrsg.), Durkheimian Sociology.
Cultural Studies, Cambridge 1988, S. 187-224.
547
548
Der rechtliche Schutz der Bannmeile gehört zur modernen
Sakralisierung des Raumes. Vgl. im übrigen auch Georg Simmel, Der
Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, in: Soziologie,
Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908,
1968, S. 460-526.
Siehe oben (zweiter Teil, drittes Kapitel). Vgl. auch daran anknüpfend:
Klemens Klemmer, Rudolf Wassermann und Thomas Michael Wessel,
Deutsche Gerichtsgebäude. Von der Dorflinde über den Justizpalast
zum Haus des Rechts, München 1993.
226
Recht als Kultur.
prouve la beauté de son cœur«
– Baudelaire über Daumier
In Deutschland dürfte unter Juristen das Bild von Daumier durch
Gustav Radbruchs glänzende und sympathetische Analyse
bestimmt sein. Er bemüht sich hinter dem Karikaturisten den
Ernst des Moralphilosophen aufscheinen zu lassen, der das
»Menschliche, allzu Menschliche« mit scharfen Augen
beobachtet und der doch eine »heimliche ästhetische Liebe für
die gens de justice nicht ganz unterdrücken konnte«549 Radbruch
sieht die außerordentliche Leistung Daumiers gerade darin, daß
er als Karikaturist »überindividuelle Individualitäten,
menschliche Idealtypen und Urphänomene« geschaffen habe.550
Damit aber habe er ein Bild der Justiz gezeichnet, das nicht nur
seine eigenen negativen Erfahrungen aufnimmt, sondern zu
einer einzigartigen Quelle geworden sei, »für den damaligen
Geist der französischen Bourgeoisie und ihrer Justiz.«551 Es ist
bezeichnend, daß Radbruch im Jahre des Ausbruchs des Ersten
Weltkriegs auch die dahinter stehende Differenz französischer
und deutscher Kultur, insbes. ihrer Rechtskultur wahrnimmt:
Noch hinter der Entlarvung des falschen Pathos, der
unangemessen großen Geste lauere eine Wahrheit: Forensische
Rhetorik
ist
in
Frankreich
legitimes
Mittel
der
Überzeugungsbildung im Gerichtssaal, während für Deutschland
Radbruch zu Recht festhält: »Die Rhetorik ist uns verdächtig,
sie steht im Geruch der Unechtheit und Unehrlichkeit.«552 Diese
Beobachtung läßt sich bis in die heutige universitäre Ausbildung
in den Grands Ecoles verfolgen, wo noch immer die
geschliffene Rede als Ausweis der Vernunft gilt und am Collège
549
550
551
552
Gustav Radbruch, Honoré Daumier: Gens de Justice, abgedr. in: Gustav
Radbruch, Gesamtausgabe Band 5: Literatur und kunsthistorische
Schriften, hrsg. von Arthur Kaufmann, bearb. von Hermann Klenner,
Heidelberg 1997, S. 234-244 (S. 236), nach einem 1914 in Manheim
gehaltenen Lichtbildvortrag.
Ebd., S. 237.
Ebd.
Ebd., S. 239.
227
Werner Gephart
de France bedeutende Lehrstühle dem Studium der Rhetorik
gewidmet sind.553 Insofern sind Radbruchs Beobachtungen
treffend und klingen nach medientheoretischer Belehrtheit, wie
sie von Baudrillard formuliert sein könnte: »Der ganze Prozeß,
das Schicksal eines Menschen, das seinen Gegenstand bildet, ist
in einem rhetorischen Kunstereignis, einer illusionären
Scheinwelt untergegangen.«554 So ließe sich die berühmte
Lithographie
›Une
péroraison
à
la
Démosthène‹
charakterisieren.
Honoré Daumier, Une péroraison à la Démosthène (Planche 33 de la série
Les Gens de jusice Le Charivari, 27 avril 1848), Lithographie sur blanc;
deuxième état sur deux (25,2 × 19 cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog
zur Ausstellung in Ottawa 1999, Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb.
98, S. 217.
Es demonstriert zugleich den berühmten ›effet de manche‹, den
mit dem schwungvollen Wurf des Talars erzielten theatralischen
Effekt.
Hier macht es übrigens Sinn, Daumiers Vorliebe für das
Theater, das Beobachten der Beobachter, auch am Theatersujet
selbst zu verfolgen. Wir wissen, daß Daumier nach einer über 30
Jahre währenden Tätigkeit als rastloser Zeichner in Stein, als
Lithograph also, nach einer dauerhafteren, weniger auf flüchtige
553
554
Vgl. die glänzenden Arbeiten Fumalis!
Gustav Radbruch, Honoré Daumier: Gens de justice, a. a. O., S. 239.
228
Recht als Kultur.
Effekte zielenden Kunstform strebte. Eine in Öl gemalte
Theaterszene, die sich in der Neuen Pinakothek in München
befindet, macht bei aller Seriosität der Maltechnik das
Theatralische auch des Theaters durchsichtig: Wir schauen mit
den Theaterzuschauern auf eine Guckkastenbühne, auf der sich
eine weiße Lichtgestalt händeringend von dem dunkel
konturierten Mörder einer am Boden liegenden Person
abwendet, denen man eben die Gespieltheit ihrer Gesten in der
dramatischen Übertreibung deutlichst anmerkt.
Honoré Daumier, Au théâtre (Vers 1860-1864), Huile suir toile (97,5 × 90,4
cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur Ausstellung in Ottawa 1999,
Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb. 260, S. 412.
Eine weiterer Blick in den Zuschauerraum eines heute im
Metropolitan Museum befindlichen Werks zeigt, wie ernst der
Beobachter Daumier den Status des Beobachters nimmt, der im
Mittelgrund zu einer typisierten Masse verschwimmt, während
die halb beschienenen Herren im Vordergrund individuell, aber
gerade in einer differenzierten Gestik gezeichnet sind: die zur
Seite gedrehte, um bessere Sicht auf die Bühne bemühte Gestalt
229
Werner Gephart
neben der statuarischen Würde des backenbärtigen Herrn mit
Zylinder und dem vorgereckten Kopf des ins Bühnengeschehen
hineingezogenen jugendlicheren Beobachters.
Honoré Daumier, Les Spectateurs (Vers 1863-1865), Plume, aquarelle et
rehauts de gouache (34 × 29 cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur
Ausstellung in Ottawa 1999, Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb. 262,
S. 414.
Radbruchs Deutung verdient noch in einem weiteren Punkt
gewürdigt zu werden: Noch bevor das volle Ausmaß der
plastischen Tätigkeit Daumiers von der Forschung
herausgearbeitet war, sieht der Rechtsphilosoph und
Rechtshistoriker das plastische Talent Daumiers, gleichviel, ob
Daumier nun die überlieferten Statuetten für sich selbst als
Erinnerungshilfe produziert habe, was angesichts des tausende
von Zeichnungen umfassenden Werks ziemlich absurd
230
Recht als Kultur.
erscheint.555 Radbruch sieht zu recht: »Nicht ein verhinderter
Maler offenbart sich in Daumiers Lithographien – viel eher ein
berufener Plastiker«. Und zwar ein solcher – so ist zu ergänzen
– der wie Rodin556 insofern ›Impressionist‹ war als er den
Augenblick festhielt, den Körper in einer wie in Ton fixierten
Bewegung.557 Das Plastische im Werk von Daumier benennt
Radbruch in der folgenden Weise: »Die Umwelt bedeutet ihm
nichts, Landschaft oder Straße werden nur angedeutet, allein
wichtig ist ihm die menschliche Gestalt und ihre Gebärde, sie
hat wie die wirkliche Freiplastik die Kraft, den Raum gleichsam
aus sich heraus zu erschaffen und zu gestalten.«558 Aber auch
dies erscheint einseitig, läßt man die Studien zu dem berühmten
Werk ›Une Cause célèbre‹ beiseite. Sie zeigen, wie aus
kreisenden Zeichenbewegungen die plädierende Geste
herausgeformt wird und insofern auch in der Zeichnung das
›Bewegungsmotiv‹ innovativ behandelt ist – wie in den
Lithographien der Rennbahnbilder Manets, mit dem Daumier
gemeinsam im Salon ausstellt.559
Honoré Daumier, Étude d’expression pour pour Une cause célèbre,
555
556
557
558
559
Vgl. auch Juergen Albrecht, Daumier, Reinbeck bei Hamburg 1984, S.
62.
Dem jungen Rodin wird – als er die Statuette Ratapoil (1850) sah – die
Bemerkung nachgesagt: »Was für ein Bildhauer«!
Dies war Georg Simmels Entdeckung bei Rodin: Georg Simmel, Die
Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik, in: Nord und
Süd 1909. S. 199.
Gustav Radbruch, Karikaturen der Justiz. Lithographien von Honoré
Daumier, 1947, in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe Bd. 5, Heidelberg
1997, S. 245-289 (S.251).
Sein Kommentar über Manet war im übrigen nicht unkritisch: »Manet
me dégoûte de la peinture compliquée de l’école, sans me faire aimer sa
peinture à lui.« (in: La promenade du critique influant, Anthologie de la
critique de l’art en France 1850-1900, Paris 1990, S. 261).
231
Werner Gephart
Charcoal, pen and ink (27 × 17,5) et (27 × 21). Quelle: Bruce Laughton,
Honoré Daumier New, Haven/London 1996, Abb. 121 und. 122, S. 99
Honoré Daumier, Une cause célèbre (Vers 1865-70), Pierre noire, lavis,
plume, encre, aquarelle, gouache et crayon, Conté sur papier vélin (26 × 43
cm). Quelle: Bruce Laughton, Honoré Daumier, a. a. O., Abb. 120, S. 98.
Damit wäre eigentlich Daumier ein geeigneter Kandidat für den
Ehrentitel eines ›Peintre de la vie moderne‹ geworden, den
Baudelaire aber anderweitig vergeben hatte, ohne Daumier –
wie der Eingangsvers zeigt – den Respekt zu versagen, als
jemand, der sich nicht scheut die Häßlichkeit und die Fratzen
der Gerechtigkeit zu zeigen: le Mal dans la société.
Dieser eher konventionellen Deutung des Werks von Daumier
gegenüber560 bahnt sich nun eine neue Sicht an, die Daumier
aus dem Dunstkreis des Karikaturisten zugunsten höherer
künstlerischer Berufung befreien möchte.
Freilich sollte man sich hierbei vor Augen halten, wie kritisch
Daumier das Geschäft des Kritikers selbst eingeschätzt hat. Die
selbstgefällige ›Promenade du critique influant‹, dem sich die
Künstlerkollegen tief zum Gruß verneigend, bzw. um die milde
Gabe einer wohlwollenden Besprechung bettelnd annähern,
müßte eigentlich einen jeden Kritiker gegenüber Daumier
zumindest verstummen lassen.
560
Vgl. Colta Ives Juristen und das Gericht, in: Colta Ives et al. Honoré
Daumier, Zeichnungen, a. a. O., S. 174 ff. sowie die präszise Studie von
Bruce Laughton: Honoré Daumier, Yale University Press. New Haven
and London 1996.
232
Recht als Kultur.
Honoré Daumier, La Promenade du critique influent (1865), lithographie.
Quelle: La promenade du critique influent, Anthologie de la critique d’art en
France 1850-1900, Paris 1990, S. 2.
Aber schauen wir auf die ›Ehrenrettung‹ Daumiers in der New
Yorker Ausstellung561. Wie in der zu Lebzeiten, mit
ungeheurem Defizit, veranstalteten Pariser Ausstellung (1878),
werden die Gemälde als die eigentliche Überraschung
empfunden.562 Formal-technisch wegweisend für Cézanne und
gar Giacometti, wird ihre differente Stimmungslage immer
wieder bemerkt. »But his paintings, far from being caricatures in
another medium, exist in an entirely different spiritual and
aesthetic register…They possess rare depths of solitude and
561
562
In der Ausgabe vom 28. Februar 2000 lautet der Artikel von Hilton
Cramer bezeichnenderweise: ›The Daumier Retrospective: More Than
A Caricaturist‹.
Vgl. Roger Kimball, ›Strange Seriousness‹: Discovering Daumier, in:
The New Criterion, 18. April 2000.
233
Werner Gephart
melancholy tenderness.«563 Läßt sich dies in den hier
interessierenden Bildern von Recht und Gerechtigkeit
wiederfinden? Eine aquarellierte Gouache, die in das Jahr 1850
datiert wird, mag diesen Unterschied deutlich machen:
Honoré Daumier, Au palais de Justice (Vers 1862-1865), Plume, encre,
lavis, pierre noire, aquarelle et gouche, sur papier vergé, (14 × 23 cm).
Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur Ausstellung in Ottawa 1999, Paris
1999/2000, Washington 2000, Abb. 283, S. 441.
Hier finden sich alle Motive, die wir aus den
Gerichtskarikaturen kennen:564 die verzweifelt Rechtsuchende,
von Daumier immer wieder mit Empathie gezeichnete junge
Frau. Anders in dem Verhör einer Minderjährigen:
563
564
Ebd.
Ich verweise auf die glänzende Beschreibung von Gustav Radbruch,
Karikaturen der Justiz, a. a. O.
234
Recht als Kultur.
Honoré Daumier, La Déposition d’une mineure, dit aussi La Séance à huis
clos (Vers 1865-1868), Fusain, lavis gris et crayon Conté sur papier vergé
(21,5 × 34,5 cm). Quelle: Daumier 1808-1879, Katalog zur Ausstellung in
Ottawa 1999, Paris 1999/2000, Washington 2000, Abb. 288, S. 446.
Hier geht es nicht um die anklagend gezeichnete Atmosphäre
einer schlüpfrigen Befragungssituation eines jungen Mädchens.
Und es geht auch nicht um die triumphale Geste des Anwalts,
der sich im Glanz des rhetorischen Triumphes eines verlorenen
Prozesses sonnt.
Honoré Daumier, Deux avocats (Vers 1862), Pierre noire, lavis, aquarelle,
gouche et crayon, Conté sur papier vergé (20,9 × 27 cm). Quelle: Daumier
1808-1879, Katalog zur Ausstellung in Ottawa 1999, Paris 1999/2000,
Washington 2000, Abb. 212, S. 364.
235
Werner Gephart
Anwälte, die ihre Köpfe so nahe zusammenstecken, daß dem
ohnehin bestehenden Kollusionsverdacht nur weiter Nahrung
gegeben wird. Es findet sich auch das gotisierende massive
Gemäuer eines Eindruck schindenden Justizpalastes, wie in
manchen Karikaturen der ›Gens de la Justice‹. Eine wogende
Masse von Rechtssuchenden im Hintergrund der endlosen Flure
der Justizgebäude, vor dem sich ein offensichtlich erfolgreicher
Anwalt mit Stolz vorgewölbtem Leib in heller Beleuchtung
abhebt.
Honoré Daumier, Le grand escalier du Palais de Justice (1860-64),
Charcoal, black chalk, pen and wash, watercolour and gouache (35,8 × 25,6).
Quelle: Bruce Laughton, Honoré Daumier, a. a. O., Abb. 123, S. 99.
236
Recht als Kultur.
Mir scheint dieses Bild, das von Bruce Laughton565 als additive
Anhäufung bekannter Justizmotive geschildert wird, hierüber in
seiner Bedeutung doch hinauszugehen. Es sind die narrativen
Episoden, von denen Daumiers Karikaturen leben, zu einer
Gesamterzählung der juridischen Lebenswelt zusammengefaßt,
in der es einen einzelnen Sinn oder Pointen der Kritik gar nicht
mehr zu transportieren gilt: In diesem unscheinbaren Bild sind
Triumph und Tristesse, Elend und Glanz, sich überkreuzende
Beziehungskonstellationen des juristischen Personals in
unterschiedlichen Rollen, das Publikum der Recht suchenden
Rechtsgemeinschaft, die in eine partikulare Masse zerfällt und
das in den Vordergrund gerückte Schicksal der Recht
Suchenden und zu Tränen enttäuschten Rechtsnachfrager in
einem einzigen Bild zusammengeführt. Das ist der nicht mehr
narrativ erfaßbare Gesamtsinn eines Rechtssystems, das Simmel
wie folgt beschrieb: »Von einem besonderen Stande getragen,
gewinnt es den anderweitigen, von den Personen empfundenen
Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene
Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit
forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird.«566
Dieser ›besondere Stand‹ ist in seinen Schwächen,
Schläfrigkeiten des Justizsystems, Eitelkeiten und narzißtischen
Kränkungen in den ›Gens de la justice‹ ja eher liebevoll
gezeichnet, weshalb auch Anwälte zu den bedeutendsten
Sammlern der Lithographien gerechnet werden. In diesem Bild
aber, das weniger bissig ist und die niederen Beweggründe der
Justiztäter schont, ist gleichwohl eine düstere Stimmung
wiedergegeben, die über dem Rechtswesen liegt, und für
ironisch-sarkastische
Distanzierungen
Identifikationen keinen Raum mehr läßt.
565
566
und
paradoxe
Bruce Laughton: Honoré Daumier, Yale University Press. New Haven
and London 1996, S. 98ff.
Georg Simmel, Philosophie des Geldes, a. a. O.,S. 525
237
Werner Gephart
III.
In den Polypenarmen der Gerechtigkeit: Das Rechtsbild
des Gesellschaftsmalers Gustav Klimt
»Kein Symbol kann dem Menschen, der am Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts denkt, reichere Beziehungen
offenbaren als jenes der Jurisprudenz; die
Allgegenwärtige in allen politischen, sozialen,
wirtschaftlichen Kämpfen, die da schlichtet, zwischen
jenen, welche die Macht festhalten, und jenen, welche
die Macht erfassen wollen, zwischen Hohen und
Niedrigen, Reichen und Armen, Mann und Weib,
Kapital und Arbeit, Erzeugung und Verbrauch, – das
alles ist uns die Jurisprudenz... Aber für Herrn Klimt
erschöpft sich der Begriff der Jurisprudenz in
Verbrechen und Strafe...«567
Nicht der französische Symbolismus eines Gustave Moreau oder
andere Vertreter der Nabis haben eines der kraftvollsten
Symbolbilder der Gerechtigkeit in der ästhetischen Moderne
hervorgebracht. Es war der Gesellschaftsmaler der schönen
Damen und erotischen Lasziva, der ein eindrucksvolles Bild der
›Jurisprudenz‹ geschaffen hat: Gustav Klimt. Wir befinden uns
im Aufschwung der Psychoanalyse, des Neopositivismus und
der Geburt der Reinen Rechtslehre, die in den ›Hauptproblemen
der Staatrechtslehre‹ erstmals Gestalt gefunden hat (1911),
während Eugen Ehrlich seine Erfahrungen mit dem
Vielvölkerstaat der KUK-Monarchie in das Postulat des
›lebendigen‹ Rechts gekleidet hat. Läßt sich dies in den
Fakultätenbildern, insbesondere der Jurisprudenz, wiederfinden
und kultursoziologisch für ein Verständnis von Recht
ausdeuten?
567
Zit. nach Christian M. Nebehay, Gustav Klimt. Sein Leben nach
zeitgenössischen Berichten und Quellen, München 1976, S. 71.
238
Recht als Kultur.
Klimt durfte das Fakultätenbild auf der Weltausstellung in St.
Louis, die Weber, Troeltsch und Tönnies nach Amerika geführt
hatten und Webers revolutionäre Protestantismusthese
eingeleitet hatte, nicht zeigen. Auch die Ausstellung weiterer
Bilder versuchte man zu vereiteln. Klimt war hiervon so tief
getroffen, daß er den ministeriell erteilten Auftrag zur
Ausschmückung der neu gegründeten Universität an der
Ringstraße und das vorab gezahlte Honorar für diesen großen
Staatsauftrag zurückgab. Dabei hatte alles ungewöhnlich
begonnen. Die Wiener Sezessionisten arbeiteten nämlich mit
staatlicher Unterstützung an ihrem neuen Bild der Moderne, das
zugleich mit dem gesellschaftlichen Auftrag versehen war,
zwischen den Kulturen des Habsburgerreiches zu vermitteln:
»Wenn auch jede Kunstentwicklung in nationalen Bahnen
wurzelt, so sprechen doch die Gebilde der Kunst eine
gemeinsame Sprache und führen, in einen edlen Wettstreit
tretend, zu gegenseitigem Verständnis mit wechselseitiger
Wertschätzung.«568 Schon das erste der Fakultätenbilder, eine
allegorische Darstellung der Philosophie hatte Proteststürme
ausgelöst und die Wiener Universität und kunstliebende
Gesellschaft erschüttert. Der Rektor sprach davon, die
Philosophie verdiene es nicht »als nebelhaftes, phantastisches
Gebilde, als rätselhafte Sphinx dargestellt zu werden.«569 Gerade
Friedrich Jodl, den Georg Simmel als philosophischen
Gewährsmann seiner ja nicht unkritischen Sicht des Rechts
genannt hatte,570 und dessen Rechtsauffassung er in höchsten
Tönen gelobt hatte, wird zum wichtigsten Sprecher im Protest
gegen die Darstellung der Philosophie. Dieser Repräsentant
eines ›rationalen Liberalismus‹ (Schorske) oder eines liberalen
›Rationalismus‹, der an angelsächsischem Empirismus und
568
569
570
Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien, Protokoll des Kunstrates vom
16. Februar 1899; zit bei Carl E. Schorske, Wien. Geist und
Gesellschaft im Fin de Siècle, München 1994, S. 224.
Vgl. Strobl, in: Albertina-Studien, Bd. 2, S. 152-154 (S.153), zit. bei
Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle,
a. a. O. S. 220.
Vgl. oben im Simmel-Kapitel.
239
Werner Gephart
Utilitarismus ausgerichtet war, aber auch politisch der EthikBewegung angehörte, um die Wiener ›Gesellschaft für Ethik‹
mitzubegründen, die sich der Frauenfrage, der Bürgerrechte
sowie der Volksbildung annahm, aber keinen Raum für »die
dunkle unklare Symbolik des Bildes, die nur von wenigen erfaßt
und verstanden werden dürfte«571 ließ. Die schrillen,
antisemitischen Töne im ›Deutschen Volksblatt‹ sind wie ein
Vorschein des Schicksals der Fakultätenbilder, die nach ihrer
›Arisierung‹ im Mai 1945 in Niederösterreich verbrannten,
nachdem das Schloß Immendorf von abziehenden SS-Truppen
in Brand gesteckt worden war. Nur was war so provozierend an
einem Bild, das einerseits als Hauptwerk österreichischer Kunst
für die Weltausstellung in St. Louis vorgesehen war und dann
aber eine so empörte Kritik, wie die von Karl Kraus provozierte,
»daß der Künstler, der zweimal schon des Gedankens Blässe mit
den leuchtendsten Farben übertüncht hat, ... die Jurisprudenz
malen (wollte) und das Strafrecht symbolisiert (hat).«572
In dem ursprünglichen Entwurf, den Klimt der
Kunstkommission vorgelegt hatte, erscheint Justitia als eine
Frauengestalt, die in Gestus, Gewand und Haartracht nicht in
eine Ferne, wie die mythologischen Figuren der ›Philosophie‹
und Hygeia, gestellt waren, sondern dem Wiener Zeitgeschmack
entsprungen zu sein schien und wofür Klimt bekanntermaßen
zuständig war. Allein die vom Betrachter nach oben gerichtete
Perspektive, die das Schwert der Justitia über den Niederungen
des Lasters in den höheren Sphären des Lichts schweben läßt,
erhöht sie zu der Kultgestalt, die in der liberalen Kultur
Österreichs verehrt wird. War doch der Gründer ihrer Zeitschrift
›Ver sacrum‹ ein anerkannter Verwaltungsjurist gewesen! Die
impressionistisch anmutende Malweise der langgezogenen
Gewandstriche, ein flirrendes Licht, lassen im Vergleich mit
571
572
Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle,
a. a. O., S. 221.
Karl Kraus, Die Fackel, Nr. 147, 21. November 1903, S. 10.
240
Recht als Kultur.
anderen Werken nur den Schluß zu, daß hier ein idealisierendes
Mittel der Darstellung gewählt wurde.573
Gustav Klimt, Gemalter Kompositionsentwurf der Jurisprudenz (Detail)
(1897-1898), Öl auf Leinwand (Maße unbekannt). Quelle: Gottfried Friedl,
Gustav Klimt 1862-1918, Die Welt in weiblicher Gestalt, Köln 1998, S. 87
Das neue Bild der Gerechtigkeit ist nach den
Auseinandersetzungen um die übrigen Fakultätenbilder zu etwas
völlig anderem geworden. Aus dem Wertehimmel der Rechtsund Wertideen, die von einer Justitia mit der Kraft einer
anmutigen Frau verteidigt werden, hat sich die Hauptfigur in ein
Objekt juristisch-autoritativer Zurechnung verwandelt. Diese
nackte, erbarmungswürdige Figur steht im Zentrum des
Bildinteresses, auch wenn die Aufteilung einer höheren und
einer niederen Welt beibehalten wird. In dieser höheren Welt, in
der allegorische Gestalten von ›Wahrheit‹, ›Gerechtigkeit‹ und
›Gesetz‹ im Dekor ihrer sie umgebenden Ornamentik
573
So überzeugend: Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin
de Siècle, a. a. O., S. 231.
241
Werner Gephart
verschwinden.
Wie
in
mittelalterlichen
Kreuzigungsdarstellungen befinden sich Richtersoldaten auf ein
Büstenformat reduziert zu Füßen der zentralen Gestalt der
Gerechtigkeit, die über eine, wie im Lettner trennende Zone
hinweg, in die profane Welt der Rechtsanwendung, der
Exekution und Praxis der Strafen überleitet.
Gustav Klimt, Jurisprudenz, Endzustand (1907), Öl auf Leinwand (430 ×
300). Quelle: Gottfried Friedl, Gustav Klimt 1862-1918, Die Welt in
weiblicher Gestalt, a. a. O., S. 89
Je näher das Geschehen der Alltagsmythologie des Strafens dem
Betrachter rückt, um so unklarer wird die Vorstellung vom
242
Recht als Kultur.
Raum, der keine Tiefe hat, sondern sehr treffend als
vakuumartig beschrieben wird.574 Vor diesem schwarzen
Hintergrund hebt sich die Gestalt des männlichen Opfers heraus,
die von einem ebenso dekorativen, wie ekelerregenden Polypen
umschlungen ist, in einer mit dem Kopf nach unten geneigten
Haltung, aus einer Seitenperspektive von einem niedriger
gelegenen Standpunkt aus beobachtet,575 die das Geschlecht
der nackten Gestalt verdeckt. Dies erlaubt dann triebtheoretisch
motivierte Deutungen der aus den Göttinnen der Gerechtigkeit
und
des
Gesetzes
gleichsam
herausgewachsenen
Exekutionsorgane, die als weibliche Furien, untereinander in
einem symbolisch aufgeladenen Haarstrudel verbunden, das
männliche Opfer in gestrenger oder lasziver Pose umstellen. Es
sind femmes fatales des Fin de siècle und antike Rachegöttinnen
zugleich, die den Rechtsbrecher umlagern. Seine knochige
Gestalt ist durch die ausgeprägten perspektivischen
Verkürzungen, etwa des linken Schulterblattes und der betonten
Schraffuren des Gesichterschattens in größter Plastizität aus der
flächigen Anlage der bildparallel angelegte Schichten der
ornamental eingemauerten Justitia herausgehoben, die das
Geschehen aus ferner Distanz beobachtet und die
Verwirklichung des Rechts den Furien der mittleren Bildebene
überläßt.
Nach Format (430 x 300), Linienführung und einem eigenen
Pathos hatte Klimt – nach dem Beethovenfries – ein weiteres
Monumentalwerk geschaffen, von dem zwar behauptet wurde,
das sein Symbolgehalt unklar sei, dessen Botschaft aber doch
nur schwer zu verfehlen ist. Dies war auch Karl Kraus durchaus
bewußt, der auch nicht das Fehlen einer Botschaft bemängelt,
sondern dessen Inhalt: »Kein Symbol kann dem Menschen, der
am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts denkt, reichere
Beziehungen offenbaren als jenes der Jurisprudenz; die
574
575
So die in allem hervorragende Analyse bei: ebd. S. 236.
Diese ›komplizierte perspektivische Wiedergabe‹ ist bei Marian BisanPralken (Gustav Klimt, der Beethovenfries. Geschichte, Funktion und
Bedeutung, Salzburg 1977, S. 46) betont.
243
Werner Gephart
Allgegenwärtige in allen politischen, sozialen, wirtschaftlichen
Kämpfen, die da schlichtet, zwischen jenen, welche die Macht
festhalten, und jenen, welche die Macht erfassen wollen,
zwischen Hohen und Niedrigen, Reichen und Armen, Mann und
Weib, Kapital und Arbeit, Erzeugung und Verbrauch, – das alles
ist uns die Jurisprudenz... Aber für Herrn Klimt erschöpft sich
der Begriff der Jurisprudenz in Verbrechen und Strafe...«576
Damit benennt Karl Kraus ein grundsätzliches Problem der
Visualisierbarkeit von Recht, Jurisprudenz und seiner
Deutungen als Wissenschaft und jurisprudentieller Praxis: Wie
nämlich soll die Allgegenwart des Rechts in seiner
dogmatischen Differenziertheit und rechtstatsächlichen Omniund Multipräsenz in den unterschiedlichsten Lebensbereichen
als die dominante Struktur des sozialen Lebens (Emile
Durkheim), als Formgeber einer widersprüchlichen Moderne
(Georg Simmel), in der Wohltat zum Übel wird, und als
Paradigma des rationalistischen Geistes und seiner
Widersprüche von formaler und materialer Rationalität (Max
Weber), wie sollen diese Gehalte denn überhaupt in einem Bild
visualisierbar sein? Ein ästhetischer Ausweg ist die Abstraktion,
die uns aber Rechtsbilder weder bei Kelly, Serra, Rothko,
Picasso, Miro und den übrigen Helden der abstrakten Moderne
geliefert hat.
Warum sollten wir die Überlieferung des Klimtschen Werkes
nicht als ein in der Rechtsgemeinschaft durchaus dominantes
Bild der Gerechtigkeit lesen, in dem die Strafe im Vordergrund
steht, von der wir nicht wissen, auf welches Verbrechen es sich
bezieht? Damit aber schafft es erst den offenen symbolischen
Raum, in den religiöse Urschuld und imaginierte Verbrechen der
Seele projizierbar sind und damit den Rechts- und
Strafmechanismus auf eine von den konkreten Umständen der
Gesellschaft losgelöste Ebene verlagern, die eine Kritik der
schläfrigen Wahrheit, einer herrisch abweisenden Justitia und
576
Zit. nach Christian M. Nebehay, Gustav Klimt. Sein Leben nach
zeitgenössischen Berichten und Quellen, München 1976, S. 71.
244
Recht als Kultur.
des blindwütigen Gesetzes als einer den Menschen
niederdrückenden Struktur des Überichs verbildlicht.577
Es stellt sich die abschließende Frage, ob die neuen Medien es
erlauben, ein umfassenderes, ›gerechteres‹ Bild oder gar Abbild
des
Rechtssystems
in
seinen
multimedialen
Kommunikationszusammenhängen zu liefern, als es die
zweidimensionale, in den Keilrahmen eingespannte, Leinwand
vermag.
IV.
Recht und neue Medien: Werbung für Gerechtigkeit?
»Mit den gängigen Medienpraktiken sind daher Risiken
der Selektivität bis hin zur Verfälschung verbunden.«
(Entscheidung des BverfG vom 24. 1. 2001)
Auch das neue Format des ›Court-TV‹ befreit uns nicht aus dem
›Wald der Fiktionen‹.578
Mit Urteil vom 24. Januar 2001 hatte der erste Senat des BverfG
die Verfassungsbeschwerde des Nachrichtensenders n-tv gegen
das
Verbot
von
Fernsehaufnahmen
während
der
Gerichtsverhandlung zurückgewiesen. Interessant sind die
medientheoretischen Argumente gegen eine Medialisierung des
Gerichtsverfahrens. Zwar entfiele der Eindruck von
Authentizität, wenn das Fernsehen aus dem Gerichtssaal
während der Verhandlung verbannt werde. Dafür aber sei eben
nicht gewährleistet, daß eine Fernsehberichterstattung zu einer
»möglichst
wirklichkeitsgetreuen
Abbildung
von
Gerichtsverhandlungen« führen würde. Denn den Medien
unterliege ja eine Gestaltungsfreiheit der Wiedergabe, in der
Selektion von Ausschnitten, der Wahl der sujets, aus den
Eigeninteressen
einer
Branche,
die
unter
577
578
Hier schaffte die Überlieferungslage des zerstörten Werkes, das wir nur
über Photographien und Beschreibungen kennen, Grenzen der
Auslegung.
Vgl. Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die
Literatur, Münschen 1994. Die literaturwissenschaftliche Debatte um
Fiktionalität nimmt leider den juridischen Ursprung der FiktionenDebatte nicht zur Kenntnis.
245
Werner Gephart
Wettbewerbsbedingungen
des
Marktes
begrenzter
Aufmerksamkeiten, dem Sensationellen und Skandalösen
Vorrang geben müsse. Daher gerät der Senat zu dem Schluß:
»Mit den gängigen Medienpraktiken sind daher Risiken der
Selektivität bis hin zur Verfälschung verbunden.«
Das Gericht schließt im übrigen gerade aus den Eigenschaften,
die überhaupt eine Medialisierung attraktiv erscheinen lassen,
auf die Zulässigkeit des Fernsehverbots während der
Verhandlung: Zeugen und Angeklagte befinden sich gerade
während der Verhandlung in einer angespannten emotionalen
Lage – was gerade die seit den Stummfilmtagen erkannte und
genutzte dramatische Qualität der Gerichtsverhandlung,
zumindest im anglo-amerikanischen Recht ausmacht. Werden
nun extreme emotionale Erregungen während des Verfahrens
von der Kamera festgehalten und TV-weit wiedergegeben, sind
Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten
zu erwarten und möglicherweise gar eine spätere
Resozialisierung gefährdet. Es wird das Schreckbild
mittelalterlichen Rechts, des Prangers bemüht, um solche
negativen Sanktionierungen, vor dem Hintergrund im übrigen
hochselektiver Darstellungspraktiken, abzuwehren. Erst
nachrangig wird vom Sinn des Verfahrens her argumentiert,
nämlich einer ungestörten Wahrheits- und Rechtsfindung. Es ist
aus der forensischen Psychologie ja nicht unbekannt, daß
Menschen ihr Verhalten vor laufender Kamera oder Tonband
schlichtweg ändern. Und die Ausführungen des Gerichts zur
Verneinung eines Aufnahmerechts während der Verhandlung
erfaßt treffsicher den Grund für den problematischen
Öffentlichkeitsreiz der Gerichtsverhandlung, nämlich die
institutionelle Legitimität des in der Court-Sitcom erzeugten
Herabsetzung von Peinlichkeitsschwellen: »Die Fairneß des
Verfahrens ist insbesondere im Strafprozeß für Angeklagte oder
Zeugen
gefährdet,
wenn
diese
sich
infolge
der
Medienaufnahmen scheuen, intime, peinliche oder unehrenhafte
246
Recht als Kultur.
Umstände vorzutragen, die zur Wahrheitsfindung wichtig
sind.«579
Mit dieser Entscheidung, die § 169 S. 2 GVG für
verfassungsmäßig erklärt, indem der Gesetzgeber sein
Bestimmungsrecht zur Konkretisierung des Grundsatzes der
Öffentlichkeit der Verhandlung auf verfassungsmäßige Weise
ausübe, hat das Gericht Big Brother zwar – nach Auffassung der
dissentierenden Richter580 zu pauschalisierend – aus dem
Gerichtssaal verwiesen, nicht aber die Inszenierung prozessual
aufgedeckter ›Intimität‹ in Court-TV-Sitcoms verhindern
können.
Motive und mediale Gewinne der Simulation von
Gerichtsverhandlungen, Darstellung des Sensationellen,
Makabren, Peinlichen und Intimen, sind vom höchsten
deutschen Gericht treffsicher benannt. Bevor wir uns diesem
neuen Terror der Intimität zuwenden, der offensichtlich in die
Peinlichkeitslücke getreten ist, die Big Brother und daily soaps,
bzw. Nachmittags-TV-Shows hinterlassen haben, ist ein Blick
auf den amerikanischen Gerichtsfilm erforderlich, für den sich
der Terminus ›courtroom drama‹581 eingebürgert hat. Er ist als
Vorbild europäischer Adaptionen nicht nur deshalb interessant,
weil er eine subkutane ›Rezeption‹ des amerikanischen Rechts
befördert, sondern weil er die Fiktionalisierung einer Fiktion
verdoppelt: Zwar liegt dem amerikanischen Strafverfahren ein
dramatisierbares Prinzip der adversary jury zugrunde; aber
selbst in der amerikanischen Rechtswirklichkeit werden nur
wenige Fälle nach dem Drehbuch der Gerichtsfilme absolviert,
wie Edward B. Williams bemerkt: »Very, very few actual cases
are won with dramatic appeals to a jury, sudden disclosures of
proof or sly little tricks.«582 Die Präsentation der »last minute
579
580
581
582
Aus der Pressemitteilung des BverfG vom 24.1. 2001.
Von ihnen wird der gewandelten Bedeutung der Medienlandschaft,
insbesondere der Verschiebung von den Print- zu den audiovisuellen
Medien, auch verfassungsrechtliches Gewicht beigelegt.
Vgl. Die informative Studie von Matthias Kuzina, Der amerikanische
Gerichtsfilm. Jusitz, Ideologie, Dramatik, Göttingen 2000.
Edward B. Williams, The High Cost of Television’s Courtroom, in:
247
Werner Gephart
production of the real guilty party« ist auch deshalb
wirklichkeitsfremd, weil eine Vielzahl von Fällen aufgrund der
Bedeutung außerprozessualer Absprachen gar nicht im
Gerichtssaal, sondern außerhalb entschieden werden. Die Logik
der Inszenierung ist schlicht, wie Barret schon in der
Frühgeschichte des Gerichtsfilms bemerkte: »Dramatic law
demands that the man or woman being tried should almost
invariably be an innocent victim of circumstances. The big thrill
nearly always depends on a long duel between counsel for the
prosecution and the defence to prove the innocence against
really overwhelming evidence to the contrary and the last
minute production of the real guilty party.«583 Stellt schon im
tatsächlichen Verfahren die Herstellung der Wahrheit einen
Konstruktionsakt dar, so wird dies im Medium der symbolischfilmischen Realisation verdoppelt. Insofern – ohne das
Verfahren der Jury-Auswahl oder der Richterwahl
mitzuthematisieren – wird eine mehrfach fiktionalisierte, aber in
ihrem fiktionalen Charakter nichtdurchschaute Inszenierung
schon des amerikanischen Verfahrens noch einmal verlängert,
wenn es zum Modellfall z.B. deutscher Fernsehproduktionen
gerät. Es wird ein Theater der Justiz aufgespielt, das keiner
Wirklichkeit mehr entspricht: Wenn die Bank von ›Richter Holt‹
nicht nur aus edlem Teakholz, sondern auch noch mit seinem
Namensschild in Messing versehen ist, dann entspricht dies
weder einem amerikanischen Gerichtsaal, noch der trivial
nüchternen Atmosphäre deutscher Gerichtssäle, selbst wenn in
ihnen auch Anflüge religiöser Ritualisierungen anzutreffen sein
sollten.584 Der geraffte, auf 20 Minuten im Werbetakt von
Privaten Fernsehsendern produzierte, Verfahrensablauf läßt sich
sehr wohl nach dem dramatischen Muster des amerikanischen
Court
Dramas
beschreiben,
dem
selbst
eine
Dramatisierungsstrategie zugrunde liegt: »The opening
Television quarterly 3, 1964, S. 11-16 (S.15).
583
584
E.E. Barrret, Cases in Camera, in: The Picturegoer (Nov. 1929), S. 2021 (S. 21) (zit. bei Matthias Kuzina, Der amerikanische Gerichtsfilm
a. a. O., S.82).
Siehe oben!
248
Recht als Kultur.
statement is the exposition which, by not divulging all, creates
suspense. The artful order on which witnesses are called sets up
crisis and climax. Conflict, the gist of any lawsuit, is developed
during cross-examination and impeachment. Timing is always
important: to maintain jury interest the climax should not come
too soon, although, deflating as it may be for the counsel’s ego,
it rarely seems to occur during the closing argument. Attention
is given to costuming….if all this snacks of manipulation, it is.
Like a play, a trial must be produced.«585 Der Richter eröffnet
mit einer Vernehmung zur Person und einer Rechtsbelehrung,
die in tatsächlichen Verfahren schon zu der Bemerkung geführt
haben soll, dies wisse man ja bereits von Richterin Salesch.
Sobald der Tatvorwurf, möglichst eine Vergewaltigung oder als
ärztlicher Eingriff nicht gerechtfertigte Brustimplantation,
benannt und von einer resoluten Staatsanwältin mit dramatischer
Musik unterlegt, vorgetragen ist, werden in der dramatisch
geeigneten Reihenfolge Zeugen verhört, die den Tatvorgang in
einer Weise schildern, wo im Gerichtsverfahren die
Öffentlichkeit hätte ausgeschlossen werden müssen. Und
tatsächlich tritt die ›Last minute real guilty (or proving) party‹
am Ende in den Gerichtssaal ein, um jegliche Zweifel am
tatsächlichen Ablauf zu beseitigen. Daß ein Vater, wohnhaft in
der Geilenkirchner Straße, Beihilfe zur Vergewaltigung seiner
eigenen Tochter durch seinen Vorgesetzten geleistet hat, dem er
einen Ausgleich für einen erotischen Nachteil auf einer
Thailandsextour ›schuldig‹ war,586 wird als motivationsmäßig
evidente Struktur eines Täterverhaltens präsentiert, dem der
Richter in der Abschlußsequenz nur noch mahnende Worte zur
Verarbeitung des Traumas bei dem Opfer der Vergewaltigung
hinzufügen muß, um die gestörte kollektive Ordnung
wiederherzustellen. In dem Fall einer durch einen nicht
approbierten Arzt durchgeführten Brustimplantation wird jede
Art von juristischer Argumentation, in diesem Fall das
585
586
Vgl. John E, E. Simonett, The Trial as One of the Performing Arts, S.
1145 (zit. bei Matthias Kuzina, Der amerikanische Gerichtsfilm a. a. O.,
S. 52).
Sendung vom 2. Januar 2003 auf SAT1.
249
Werner Gephart
Vortragen der Verteidigerin bezüglich der tatsächlichen
Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes über das Alter
der einwilligungsunfähigen ›Patientin‹ als eine juristische
Feinschmeckerei abgetan, die eben mit dem gesunden
Rechtswillen der hier imaginierten Rechtsgemeinschaft nichts
zu tun hat. So sind in einer einzigen Verhandlungsrunde sowohl
die voyeuristisch tauglichen Themen von Vergewaltigung
ausgeschöpft – in detaillierter Beschreibung, die moralistisch
verbrämt wird – wie ein sexualistischer, un-verschämter
Kamerablick auf die sekundären Geschlechtsmerkmale junger
Frauen gerichtet, um all dies im Gewande moralischer
Belehrungen zu überhöhen und aus der abgeschmackten
Szenerie ein Lehrstück öffentlicher Moral und Förderung des
Rechtsbewußtseins zu machen.
Mediensoziologisch gäbe es manches zu ergänzen: die Analyse
von Benutzerprofilen, die Statuarik einer Kameraführung, die im
Vergleich zur rasenden Geschwindigkeit der Musik-VideoChannels Sicherheit und Ordnung simuliert, und das entstehende
Gesamtbild eines Gerichtssystems im Zeitablauf, wie es
inhaltsanalytische Beobachtungen hervorbringen würden. Wir
wollen uns auch nicht mit der trivialen Feststellung einer
Wirklichkeitsverzerrung zufrieden geben, die schon dem
Rechtsbild von Klimt entgegengehalten wurde. Auch dürfte die
bloße Einsicht in die Unstofflichkeit von Recht und
Gerechtigkeit nicht die einzige Lehre sein, die aus diesem neuen
Format, ja einer neuen Form der Präsentation der Formalität des
Rechts, hervorgeht. Vielmehr läßt sich diese – von juristischen
Profis in Rollenspiel und Textdramaturgie durchgestaltete –
symbolische Präsentation als Ausdruck eines fundamentalen
Bedürfnisses der Rechtsgemeinschaft deuten, diesem doch so
unverständlichen und undurchsichtigen Juristenrecht ein Stück
näher zu rücken und sei es um den Preis einer mehrfachen
Trivialisierung und Fehlrezeption amerikanischen Rechts im
deutschen Fernsehzimmer mit dem Anspruch globaler
Rechtsgeltung.
250
Recht als Kultur.
Die Mehrfachebenen der Fiktionalität sollte der beobachtende
Soziologe gleichwohl auseinanderhalten, zumal er selbst an
einer zentralen Stelle soziologischer Begriffsbildung, der
Rollentheorie, mit der Schauspiel und Theatermetapher
operiert:587 1. die in der Rechtsanwendung selbst gebrauchten
juristischen Fiktionen, 2. die Distanz zum ›wirklichen
Rechtsverfahren‹ in der symbolischen Repräsentation des Filmund Fernsehformats amerikanischer Produktionen und 3. die
Fiktionalisierung
dieses
selektiven
Rechtsbildes
zur
Geltungsgrundlage eines fremden Rechtskreises, das gleichwohl
den Anspruch kontrajuridisch aufrecht erhält, geltendes Recht
zu präsentieren.
Der Jurist wird ›Im Wald der Fiktionen‹ nur Déjà-vueErlebnisse
haben.
Ob
es
aber
eine
Art
588
zwischen Konsumenten und
Fiktionalitätseinverständnis
Produzenten virtueller Rechtswelten gibt, hängt davon ab, wie
weit sich der auf Unverständlichkeit des Juristenrechts
spezialisierte Juristenstand gleichwohl für eine Kommunikation
mit den Laienschauspielern des Rechtssystems nicht zu schade
ist. Im Sinne eines Rechtsfriedens zwischen Juristen und all den
Kritikern, die wie Simmel und andere im Recht nur die ewig
sich fortschleppende Krankheit und Plage sehen, könnte dies
von Belang sein. Hierfür steht die Kommunikation vermittels
nichtsprachlicher Symbole. Sie ist riskant, weil sie ungenau ist.
Aber sie setzt auch Emotionen frei für die positive Besetzung
eines Handlungsfeldes, dem wir zentrale Ordnungsleistungen
der Gesellschaft zuschreiben.
587
588
Vgl. Werner Gephart, Das Lachen des Beobachters. Tragödie oder
Komödie der modernen Kultur, in: Ralf Simon (Hrsg.), Theorie der
Komödie – Poetik der Komödie, Bielefeld 2001, S. 105-125.
Was die literaturwissenchaftliche Theoriebildung zunehmend für sich
entdeckt.
251
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