Abschnitt 7 Veränderungen der Nieren- und Harnwegsfunktionen John W. Warren 60e Dysurie, Blasenschmerzen und interstitielle Zystitis/Blasenschmerzensyndrom Für die deutsche Ausgabe Anne-Kathrin Sünder und Dirk Fahlenkamp DYSURIE Eine Dysurie, oder Schmerzen beim Wasserlassen, wird häufig als Brennen und Stechen in der Harnröhre wahrgenommen und tritt bei zahlreichen Syndromen auf, die sich oft durch den Nachweis anderer Symptome abgrenzen lassen. Einige dieser Syndrome unterscheiden sich bei Frauen und Männern. & FRAUEN Etwa 50 % der Frauen leiden irgendwann in ihrem Leben unter einer Dysurie, etwa 20 % geben an, im vergangenen Jahr eine Dysurie gehabt zu haben. Die meisten Dysuriesyndome von Frauen lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: die bakterielle Zystitis und die Infektionen des unteren Genitaltrakts. Die bakterielle Zystitis entsteht meist durch Escherichia coli sowie seltener durch einige andere gramnegative Stäbchen und Staphylococcus saprophyticus. Sie beginnt akut und geht nicht nur mit einer Dysurie, sondern auch mit einer Pollakisurie, Harndrang, suprapubischen Schmerzen und/oder einer Hämaturie einher. Zu den Infektionen des unteren Genitaltrakts gehören die Vaginitis, die Urethritis und Ulzera. Viele dieser Infektionen werden durch sexuell übertragbare Erreger ausgelöst und sollten insbesondere bei jungen Frauen mit neuen oder wechselnden Sexualpartnern oder Partnern, die keine Kondome verwenden, in Erwägung gezogen werden. Bei diesen Syndromen entwickelt sich die Dysurie langsamer als bei der bakteriellen Zystitis und entsteht vermutlich (nicht belegt) durch den über das geschädigte Epithel fließenden Urin. Pollakisurie, Harndrang, suprapubische Schmerzen und Hämaturie sind seltener als bei bakterieller Zystitis. Die Vaginitis durch Candida albicans oder Trichomonas vaginalis geht mit vaginalem Ausfluss oder einer vaginalen Reizung einher. Die Urethritis entsteht durch eine Infektion mit Chlamydia trachomatis oder Neisseria gonorrhoeae. Ulzeröse Läsionen im Genitalbereich entstehen durch das Herpes-simplex-Virus und mehrere andere Erreger. Die Wahrscheinlichkeit einer bakteriellen Zystitis beträgt bei Frauen mit Dysurie etwa 50 %. Sofern Dysurie und Pollakisurie ohne vaginalen Ausfluss oder vaginale Reizung vorliegen, beträgt sie sogar 90 %. Derzeit geht man davon aus, dass bei Frauen, die diese vier Kriterien erfüllen, sofern sie ansonsten gesund und nicht schwanger sind und einen anatomisch normalen Harntrakt besitzen, eine unkomplizierte bakterielle Zystitis vorliegt, die sich empirisch mit Antibiotika behandeln lässt. Bei den anderen Frauen mit Dysurie sollte ein Uristick durchgeführt werden, eine Urinkultur angelegt werden und eine gynäkologische Untersuchung erfolgen. & MÄNNER Bei Männern ist die Dysurie seltener. Die mit einer Dysurie einhergehenden Syndrome sind ähnlich wie bei Frauen, unterscheiden sich aber in einigen wichtigen Punkten. Bei den meisten Männern mit Dysurie, Pollakisurie, Harndrang und/oder suprapubischen Schmerzen, Penis- und/oder Dammschmerzen ist die Prostata beteiligt, die entweder infiziert ist oder den Harnfluss verlegt. Die bakterielle Prostatitis wird in der Regel von Escherichia coli oder anderen gramnegativen Stäbchen ausgelöst und hat zwei klinische Formen. Die akute bakterielle Prostatitis geht mit Fieber und Schüttelfrost einher. Die Prostata sollte vorsichtig oder gar nicht untersucht werden, da eine Massage zu einer Bakteriämiewelle führen kann. Die chronische bakterielle Prostatitis manifestiert sich mit rezidivierenden Episoden einer bakteriellen Zystitis. Die Prostata- untersuchung mit Massage ergibt prostatische Bakterien und Leukozyten. Die benigne Prostatahyperplasie (BPH) kann den Harnfluss verlegen, sodass es zu einem abgeschwächten Harnstrahl, Harnverhalt und Harntröpfeln kommt. Wenn sich hinter der Prostatablockade eine Infektion entwickelt, treten eine Dysurie und andere Symptome einer Zystitis auf. Bei Männern mit den Symptomen einer bakteriellen Zystitis sollten eine Urinanalyse und eine Urinkultur durchgeführt werden. Mehrere der sexuell übertragbaren Krankheiten gehen mit einer Dysurie einher. Die Urethritis (meistens ohne Pollakisurie) verursacht Absonderungen aus der Harnröhre und wird durch C. trachomatis, N. gonorrhoeae, Mycoplasma genitalium, Ureaplasma urealyticum oder T. vaginalis verursacht. Herpes simplex, Ulcus molle und andere ulzeröse Läsionen können mit einer Dysurie verbunden sein, während eine Pollakisurie auch hier nicht vorkommt. Für weitere Erläuterungen siehe Kapitel 162 und 163. & FRAUEN UND MÄNNER Wieder andere Ursachen der Dysurie finden sich bei beiden Geschlechtern. Zu den akuten gehören Steine der unteren Harnwege, Traumata und der Kontakt der Harnröhre mit topischen Chemikalien. Andere sind eher chronisch und umfassen Krebserkrankungen der unteren Harnwege, bestimmte Medikamente, das Behçet-Syndrom, die reaktive Arthritis, das chronische Urethralsyndrom und interstitielle Zystitis/Blasenschmerzsyndrom (siehe unten). BLASENSCHMERZEN Studien zeigen, dass Patienten Schmerzen auf die Blase projizieren, wenn diese suprapubisch auftreten, sich abhängig vom Füllungszustand der Blase verändern und/oder mit Symptomen wie Pollakisurie und Harndrang einhergehen. Bei akut (über Stunden bis 1–2 Tage) auftretenden Blasenschmerzen muss die bakterielle Zystitis von Urethritis, Vaginitis und anderen genitalen Infektionen abgegrenzt werden. Chronische oder rezidivierende Blasenschmerzen treten bei Steinen der unteren Harnwege, Krebserkrankungen von Blase, Uterus, Zervix, Vagina, Urethra oder Prostata, Harnröhrendivertikeln, einer durch Strahlen oder bestimmte Medikamente induzierten Zystitis, bei einer tuberkulösen Zystitis, einer Blasenausgangsstenose, einer neurogenen Blase, einem urogenitalen Prolaps oder einer BPH auf. Sofern sich diese Krankheiten nicht nachweisen lassen, sollte eine interstitielle Zystitis/Blasenschmerzsyndrom in Betracht gezogen werden. INTERSTITIELLE ZYSTITIS/BLASENSCHMERZSYNDROM Die meisten ambulant tätigen Ärzte kennen nicht diagnostizierte Fälle von interstitieller Zystitis/chronischem Beckenschmerzsyndrom (IC/ CPPS). Diese chronische Erkrankung geht mit Schmerzen, die auf die Harnblase projiziert werden, Harndrang und häufigem Wasserlassen sowie Nykturie einher. Frauen sind häufiger betroffen. Die Symptome nehmen monatelang, jahrelang oder das ganze Leben über zu und ab. Die Symptomschwere ist ausgesprochen unterschiedlich. Es können unerträgliche Schmerzen, ein störender Harndrang, bis zu 60 Miktionen in 24 Stunden und eine zur Schlaflosigkeit führende Nykturie bestehen. Diese Symptome können die täglichen Aktivitäten, die Arbeitsplanung und soziale Beziehungen beeinträchtigen. Patienten mit IC/CPPS berichten über eine schlechtere Lebensqualität als solche mit einer terminalen Niereninsuffizienz. Das IC/CPPS ist kein neues Krankheitsbild, da es bereits Ende des 19. Jahrhunderts bei einem Patienten mit den vorgenannten Sympto- 60e-1 Teil 2 Leitsymptome von Krankheiten men und einem zystoskopisch erkennbaren Ulkus beschrieben wurde (heute nach dem erstbeschreibenden Urologen als Hunner-Ulkus bezeichnet). In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde deutlich, dass bei vielen Patienten mit ähnlichen Symptomen kein Ulkus nachweisbar war. Es ist allgemein anerkannt, dass maximal 10 % der Patienten mit IC/CPPS ein Hunner-Ulkus aufweisen. Die Definition der IC/CPPS, die diagnostischen Merkmale und selbst ihre Bezeichnungen entwickeln sich ständig weiter. Die American Urological Association definiert IC/BPS als „ein unangenehmes Gefühl (Schmerzen, Druck, Beschwerden), das als von der Harnblase stammend wahrgenommen wird und mit Symptomen seitens der unteren Harnwege einhergeht und seit mehr als sechs Wochen besteht, ohne dass sich eine Infektion oder eine andere Ursache nachweisen lässt“. Viele Patienten mit IC/CPPS weisen auch andere Syndrome, wie Fibromyalgie, chronisches Müdigkeitssyndrom, Reizdarmsyndrom, Migräne, Depression und Allergien auf. Diese Syndrome werden als funktionelle somatische Syndrome bezeichnet. Die Laborbefunde und histologischen Befunde sind aber oft normal. Ebenso wie die IC/CPPS gehen die funktionellen somatischen Syndrome oft mit Depression und Angst einher. Meistens sind Frauen betroffen. Ein Patient kann auch mehrere funktionelle somatische Syndrome aufweisen. Aufgrund ähnlicher Merkmale und Komorbidität wird die IC/CPPS oft als funktionelles somatisches Syndrom betrachtet. & EPIDEMIOLOGIE Aktuelle Populationsstudien zur IC/CPPS in den Vereinigten Staaten zeigen eine Prävalenz von 3–6 % bei Frauen und 2–4 % bei Männern. Die Angaben schwanken international aufgrund der unterschiedlichen Erfassungsmethoden erheblich. Jahrzehntelang ging man davon aus, dass der IC/CPPS vor allem bei Frauen auftritt. Diese Prävalenzen haben jedoch zu Studien Anlass gegeben, in denen der Anteil der symptomatischen Männer ermittelt wird, bei denen normalerweise eine chronische Prostatitis diagnostiziert wird (inzwischen als chronische Prostatitis/chronisches Beckenschmerzsyndrom bezeichnet) und die tatsächlich eine IC/CPPS haben. Frauen erkranken durchschnittlich mit Anfang 40 an IC/CPPS, wobei auch Fälle in der Kindheit oder Erkrankungen erst mit Anfang 60 möglich sind. Risikofaktoren sind vor allem die funktionellen somatischen Syndrome. So nimmt das Risiko für eine IC/CPPS mit der Anzahl derartiger Syndrome zu. Lange galten Operationen als Risikofaktor der IC/PBS. Dieser Zusammenhang wurde widerlegt. Etwa ein Drittel der Patienten leidet bei Beginn der IC/CPPS unter einer bakteriellen Harnwegsinfektion. Der natürliche Verlauf der IC/CPPS ist unbekannt. Obwohl Studien aus urologischen Praxen nahelegten, dass die IC/CPPS lebenslang vorhanden ist, lassen Populationsstudien vermuten, dass manche Patienten mit IC/CPPS keinen Spezialisten oder sogar überhaupt keinen Arzt aufsuchen. Die meisten Prävalenzstudien zeigen keinen altersabhängigen Aufwärtstrend, wie er bei Neuerkrankungen im gesamten Erwachsenenalter mit lebenslanger Persistenz einer nicht tödlichen Erkrankung zu erwarten wäre. Vermutlich entsprechen die in urologischen Praxen vorstelligen Patienten denen mit den schwersten und hartnäckigsten Fällen von IC/CPPS. & PATHOLOGIE Für die weniger als 10 % der IC/CPPS-Patienten mit einem HunnerUlkus beschreibt der Begriff interstitielle Zystitis das histopathologische Bild korrekt. Bei den meisten dieser Patienten finden sich eine deutliche Entzündung, Mastzellen und Granulationsgewebe. Allerdings ist die Harnblasenmukosa bei 90 % der Patienten ohne derartige Ulzera relativ normal und fast ohne Entzündungszeichen. & ÄTIOLOGIE Es gibt zahlreiche Theorien zur Pathogenese der IC/CPPS und es überrascht nicht, dass sich die meisten früheren Theorien auf die Harnblase konzentrierten. So wurde die IC/CPPS als chronische Harnblaseninfektion angesehen. Mithilfe spezifischer Verfahren wurden im Urin oder Harnblasengewebe Keime nachgewiesen. Diese Ergebnisse schließen die Möglichkeit nicht aus, dass die IC durch eine Infektion ausgelöst werden kann. Untersucht wurden noch weitere entzündliche Faktoren, wie die Rolle der Mastzellen. Wie bereits erwähnt, haben die 90 % Patienten ohne Hunner-Ulkus nur eine geringe Harnblasenentzündung und keine deutliche Mastzellreaktion. Diskutiert werden auch Autoimmunreaktionen, wobei nur niedrigtitrige, 60e-2 unspezifische Autoantikörper vorliegen, die vermutlich eher eine Folge als eine Ursache der IC/CPPS sind. Die erhöhte Harnblasenpermeabilität der Harnblasenmukosa durch das geschädigte Epithel oder die GAG-Schicht wurde ebenfalls oft untersucht, wobei die Befunde unterschiedlich ausfielen. Da häufig begleitend funktionelle somatische Syndrome vorhanden sind, wurde nach Ursachen außerhalb der Harnblase gesucht. Viele Patienten mit funktionellen somatischen Syndromen haben eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit, was an (1) den niedrigen Schmerzschwellen in anderen Körperbereichen, die nicht auf das diagnostizierte Syndrom zurückzuführen ist, (2) der dysfunktionellen abnehmenden neurologischen Kontrolle von taktilen Signalen und (3) der verstärkten Gehirnreaktion auf Berührung bei der funktionellen neurologischen Bildgebung zu erkennen ist. Außerdem sind von der Harnblase entfernte Körperoberflächen bei Patienten mit IC/CPPS schmerzempfindlicher als bei Menschen ohne IC/CPPS. Alle Befunde sprechen für eine Hochregulation der sensiblen Informationsverarbeitung im Gehirn. Die vorherrschende Theorie lautet, dass diese gleichzeitig auftretenden Syndrome eine Anomalie der Verarbeitung sensibler Informationen im Gehirn gemein haben. Bislang konnte keine Studie belegen, dass der IC/CPPS oder den funktionellen somatischen Syndromen eine anormale Schmerzempfindlichkeit vorausgeht. & KLINISCHES BILD Bei einigen Patienten beginnt die IC/CPPS allmählich und/oder es treten die Leitsymptome Schmerz, Harndrang, hohe Miktionsfrequenz und Nykturie in beliebiger Reihenfolge auf. Andere Patienten können genau angeben, wann die IC/CPPS-Erstsymptomatik aufgetreten ist. Mehr als die Hälfte der letztgenannten Patienten kann ein Datum benennen, an dem die Dysurie begann. Wie bereits erwähnt, weisen nur wenige Patienten mit IC/CPPS, die kurz nach dem Auftreten der ersten Symptome einen Arzt aufsuchen, uropathogene Bakterien oder Leukozyten im Urin auf. Diese und andere Patienten mit neu aufgetretener IC/CPPS werden wegen des Verdachtes auf eine bakterielle Zystitis mit Antibiotika behandelt. Männer mit derartigen Symptomen werden normalerweise wegen einer chronischen bakteriellen Prostatitis behandelt. Persistierende und rezidivierende Symptome ohne Bakteriurie führen schließlich zur Differenzialdiagnostik und es wird eine IC/CPPS erwogen. Traditionell wurde die Diagnose der IC/CPPS verzögert gestellt (im Durchschnitt erst nach 9 Jahren), durch das inzwischen zunehmende Interesse an der Erkrankung wurde dieses Intervall jedoch verkürzt. Die Schmerzen bei IC/CPPS sind häufig suprapubisch am stärksten und ändern sich beim Wasserlassen. Zwei Drittel der Frauen mit IC/ CPPS geben mindestens zwei schmerzende Stellen an (80 % der Frauen), bei denen mit den stärksten Schmerzen ist es oft der suprapubische Bereich. Etwa 35 % der Patientinnen haben Schmerzen in der Urethra, 25 % in anderen Bereichen der Vulva und 30 % außerhalb des Urogenitalbereichs, überwiegend im Lendenwirbelsäulenbereich sowie an Vor- oder Rückseite der Oberschenkel oder am Gesäß. Die Schmerzen bei der IC/CPPS werden meistens als dumpf, drückend, pulsierend und/oder stechend beschrieben. Die IC/CPPS unterscheidet sich von anderen Formen des Beckenschmerzes dadurch, dass die Schmerzen bei 95 % der Patienten durch die Harnblasenfüllung zunehmen und/oder bei der Harnblasenentleerung abnehmen. Fast ebenso viele Patienten beschreiben, dass durch Nahrungsmittelinhaltsstoffe die Schmerzen der IC/CPPS verstärkt werden. Ein Großteil der Patientinnen gibt an, dass die Schmerzen der IC/CPPS durch die Menstruation, bei Stress, durch enge Kleidung, Sport und Autofahren sowie bei vaginalem Geschlechtsverkehr zunehmen. Die Urethra- und Vulvaschmerzen der IC/CPPS werden meistens als brennend, stechend und scharf beschrieben und durch Berührung, Tampons und vaginalen Geschlechtsverkehr verstärkt. Die Patientinnen geben an, dass die Urethraschmerzen bei der Miktion zunehmen und anschließend meistens abgeschwächt sind. Deswegen wurden die Urethraschmerzen bei der IC/CPPS oft als chronisches Urethrasyndrom und die Vulvaschmerzen als Vulvodynie bezeichnet. Bei vielen Patientinnen mit IC/CPPS besteht ein Zusammenhang zwischen Schmerzen und Harndrang, indem zwei Drittel der Patienten einen Harndrang mit dem Wunsch der Schmerzlinderung angeben. Nur 20 % geben an, dass der Harndrang durch die Angst vor Inkontinenz entsteht, obwohl nur sehr wenige Patientinnen mit IC/ CPPS inkontinent sind. Die Miktionsfrequenz kann stark erhöht sein, wobei etwa 85 % der Patienten zehnmal häufiger in 24 Stunden Was- Dysurie, Blasenschmerzen und interstitielle Zystitis/Blasenschmerzensyndrom ser lassen, im Einzelfall bis zu 60-mal. Es besteht eine Nykturie, die oft mit den Symptomen des Schlafentzugs einhergeht. Neben diesen häufigen Symptomen der IC/CPPS können noch weitere Symptome vorliegen. Zu den Harnwegssymptomen gehören Schwierigkeiten zu Beginn der Miktion und das Gefühl einer erschwerten Entleerung der Harnblase und Harnblasenspasmen. Zu den anderen Symptomen zählen Manifestationen der begleitend vorhandenen funktionellen somatischen Syndrome sowie Symptome, wie Taubheitsgefühl, Muskelspasmen, Schwindel, Tinnitus und Sehstörungen. Schmerzen, Harndrang und erhöhte Miktionsfrequenz bei IC/ CPPS können zur Einschränkung der Lebensqualität führen. Die Nähe zu einer Toilette ist ein zentrales Bedürfnis und die Patientinnen beschreiben Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, bei Freizeitaktivitäten, Reisen oder auch nur beim Verlassen des Hauses. Auch familiäre und sexuelle Beziehungen können leiden. & DIAGNOSTIK Bislang galt die IC/CPPS als seltene Erkrankung, die zystoskopisch vom Urologen diagnostiziert wurde. Heute weiß man jedoch, dass sie weitaus häufiger ist als früher angenommen. Dadurch wird sie inzwischen früher im Krankheitsverlauf erkannt und diagnostiziert. Körperliche Untersuchung, Urinanalyse und urologische Untersuchungsverfahren erbringen oft unspezifische Befunde. Daher wird die Diagnose häufig durch das Vorhandensein entsprechender Symptome als Ausschlussdiagnose gestellt. Zur urologischen Diagnostik gehört neben einer Urinkultur eine Uroflowmetrie, eine Zystoskopie mit Hydrodistension, eine tiefe PE der Harnblase, ein Miktionsprotokoll und eine Beckenboden-EMG. Etwa die Hälfte der Patienten mit IC/CPPS weist eine intermittierende oder persistierende Mikrohämaturie auf. Die systematische, muskeltiefe Probebiopsie der Harnblase dient nicht nur zum Ausschluss eines Carcinoma in situ, sondern zum Nachweis IC-typischer Histomorphologie wie Mastzellinfiltrationen und einer Nervenfaserproliferation im Detrusor. Drei wichtige Erkrankungskategorien müssen differenzialdiagnostisch von der IC/CPPS abgegrenzt werden. Zur ersten Gruppe gehören Erkrankungen, die sich mit Blasenschmerzen (siehe oben) oder Harnwegssymptomen manifestieren. Zu den letztgenannten gehört die „Reizblase“, eine bei Frauen und Männern chronische Erkrankung, die sich mit Harndrang und erhöhter Miktionsfrequenz manifestiert und sich anamnestisch von der IC/CPPS abgrenzen lässt Eine „Reizblase“ ist grundsätzlich nicht schmerzhaft und der Harndrang entsteht aus Angst vor Inkontinenz. Ein Sonderfall ist die Endometriose: Sie kann asymptomatisch sein oder mit Beckenschmerzen, Dysmenorrhö und Dyspareunie einhergehen, d. h. Schmerzformen, die eine IC/CPPS vortäuschen können. Endometriumablagerungen auf der Harnblase können zu Harnwegssymptomen führen, die eine IC/CPPS nachahmen. Selbst bei Nachweis der Endometriose lässt sich bei fehlenden Absiedlungen auf der Harnblase nur schwer feststellen, ob sie bei der jeweiligen Frau für die IC/PBS-Symptome verantwortlich ist oder nur zufällig gleichzeitig vorliegt. Zur zweiten Krankheitskategorie gehören die funktionellen somatischen Syndrome, die eine IC/CPPS begleiten können. Die IC/CPPS kann als chronischer Beckenschmerz, Reizdarmsyndrom oder Fibromyalgie fehldiagnostiziert werden. Eine korrekte Diagnose ist oft erst möglich, wenn sich die Schmerzintensität abhängig vom Harnblasenvolumen ändert, Harnwegssymptome auftreten oder sich verstärken. Zur dritten Kategorie gehören Syndrome, die eine IC/CPPS durch Übertragungsschmerzen vortäuschen, wie die Vulvodynie und das chronische Urethrasyndrom. Daher sollten bei persistierenden oder rezidivierenden „Harnwegsinfektionen“ und sterilem Urin differenzialdiagnostisch eine IC/CPPS, eine schmerzhafte Reizblase, chronische Beckenschmerzen, eine Endometriose, eine Vulvodynie, funktionelle somatische Syndrome mit Harnwegssymptomen und eine „chronische Prostatitis“ erwogen werden. Wie bereits erwähnt, sind die Schmerzverstärkung bei zunehmender Harnblasenfüllung oder beim Verzehr bestimmter Nahrungsmittel oder Getränke sowie die Schmerzlinderung nach der Miktion wichtige diagnostische Hinweise. Häufige Auslöser sind Chili, Schokolade, Zitrusfrüchte, Tomaten, Alkohol, koffeinhaltige und kohlensäurehaltige Getränke. Vollständige Listen der auslösenden Nahrungsmittel finden sich auf den weiter unten im Behandlungsabschnitt erwähnten Internetseiten. 60e Normalerweise suchen die Patienten ihren Hausarzt auf, nachdem sie schon seit Tagen, Wochen oder Monaten unter Schmerzen, Harndrang, erhöhter Miktionsfrequenz und/oder Nykturie gelitten haben. Der Nachweis von Nitrit, Leukozyten oder uropathogenen Bakterien im Urin spricht für eine Harnwegsinfektion bzw. eine bakterielle Prostatitis, die entsprechend behandelt werden sollte. Persistierende oder rezidivierende Symptome bei fehlender Bakteriurie sollten bei Frauen zu einer Untersuchung des Urogenitaltraktes führen, bei Männern zur Bestimmung des prostataspezifischen Antigens (PSA). Bei beiden sollte eine Urinzytologie erfolgen und die IC/CPPS sollten in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden. Bei der Diagnose der IC/CPPS ist die Anamnese bezüglich Schmerzen, Druckgefühl und Unwohlsein sinnvoll. Liegen diese Symptome in einem oder mehreren anterioren oder posterioren Bereichen zwischen Nabel und Oberschenkeln vor, sollte eine IC/CPPS in Erwägung gezogen werden. Offene Fragen nach dem Einfluss der Harnblasenfüllung sind: „Rechnen Sie damit, dass Ihre Schmerzen bei der nächsten Miktion besser oder schlechter werden oder unverändert bleiben?“ und „Sind die Schmerzen nach der Miktion besser, schlechter oder unverändert?“ Die Feststellung, dass die Schmerzen durch den Verzehr bestimmter Nahrungsmittel und Getränke verstärkt werden, stützt die Diagnose der IC/CPPS nicht nur, sondern ist auch ein erster Ansatzpunkt zur Behandlung der Erkrankung. Offene Fragen nach dem Harndrang beinhalten die Beschreibung des unwiderstehlichen Drangs, Wasser zu lassen, der sich kaum hinauszögern lässt; anschließend wird erfragt, ob der Harndrang der Schmerzlinderung dient oder eine Inkontinenz verhindern soll. Zur Ermittlung der Schwere sollten Schmerzen und Harndrang vom Patienten auf einer Skala von 0–10 eingestuft werden. Auch die Miktionsfrequenz in 24 Stunden sollte erfragt werden und eine Nykturie anhand der Häufigkeit der nächtlichen Miktionen beurteilt werden (Führen eines Miktionstagebuches). BEHANDLUNG: IC/CPPS Behandlungsziel der IC/CPPS ist die Symptomlinderung; die Herausforderung entsteht dadurch, dass es keine grundsätzlich erfolgreiche Therapieoption gibt. Bei den meisten Patienten gelingt jedoch irgendwann eine Linderung, meistens durch einen multifaktoriellen Ansatz. Die Leitlinien der American Urological Association zur Behandlung von IC/BPS sind eine ausgezeichnete Quelle. Die Therapie sollte multimodal erfolgen. Die Therapieziele beinhalten eine Schmerzreduktion sowie eine Erhöhung der Blasenkapazität und damit verbunden die Verbesserung der Schlafund Lebensqualität. Die Therapie kann oral, intravesikal, invasiv und operativ erfolgen. In fast allen Fällen ist eine Kombinationstherapie sinnvoll. Mögliche weitere Ansätze sind Patientenschulung, Ernährungsumstellung, Medikamente, Beckenbodengymnastik und die Behandlung assoziierter funktioneller somatischer Syndrome. Vom Beginn der Symptome bis zur Diagnosestellung vergehen oft Monate oder sogar Jahre. Die Lebensqualität der Patienten wird auch durch die ständigen Arztbesuche beeinträchtigt, was für Ärzte und Patienten häufig frustrierend ist. Unter diesen Umständen reicht es oft schon aus, dem Syndrom einen Namen zu geben. Der Arzt sollte die Erkrankung, ihre Diagnostik, die Behandlungsstrategien und die Prognose mit dem Patienten und seinem Ehegatten und/oder anderen Angehörigen besprechen, denen oft bewusst gemacht werden muss, dass die IC/CPPS zwar keine sichtbaren Symptome verursacht, der Patient aber trotzdem unter erheblichen Schmerzen und anderen Beschwerden leidet. Diese Information ist vor allem für Sexualpartner wichtig, da die Schmerzen oft während des Geschlechtsverkehrs zunehmen. Da Stress die IC/BPSSymptome verstärken kann, sollte der Patient zur Stressreduktion und zur Durchführung von Entspannungstechniken, wie Yoga oder Meditation, angehalten werden. Die Interstitial Cystitis Association (www.ichelp.com), das Interstitial Cystitis Network (www.ic-network.com) und ICA Deutschland e. V. – Förderverein Interstitielle Cystitis (www.ica-ev.de) helfen bei dieser Aufklärung. Im Laufe der Zeit merken viele Patienten, dass bestimmte Nahrungsmittel und Getränke ihre Symptome verstärken. Manche Patienten meiden eine Zeitlang alle möglichen Auslöser und nehmen sie dann allmählich wieder zu sich, um festzustellen, was genau 60e-3 Teil 2 Leitsymptome von Krankheiten die IC/CPPS-Symptome bei ihnen verstärkt. Außerdem sollten die Patienten mit der Flüssigkeitsaufnahme experimentieren; manchen hilft es, wenn sie weniger trinken, anderen, wenn sie mehr trinken. Oft klagen IC/CPPS-Patienten über einen druckschmerzhaften Beckenboden. Zwei randomisierte kontrollierte klinische Studien ergaben, dass eine wöchentliche Krankengymnastik der Muskeln und des Weichgewebes des Beckenbodens die Symptome signifikant besser lindert als eine ähnlich häufige Ganzkörpermassage. Diese Intervention wird unter Anleitung durch einen erfahrenen Physiotherapeuten begonnen, dem bewusst ist, dass die Beckenbodenmuskulatur entspannt und nicht gestärkt werden soll. Als orale Medikamente werden oft zunächst nicht steroidale Antiphlogistika eingenommen, die aber kontrovers beurteilt werden und oft unwirksam sind. Zwei randomisierte kontrollierte Studie zeigten, dass Amitriptylin die IC/BPS-Symptome lindern kann, wenn es in ausreichend hoher Dosis gegeben wird (≥ 50 mg zur Nacht). Dabei wird es nicht wegen seiner antidepressiven Wirkung eingesetzt, sondern wegen seiner nachgewiesenen Wirkung auf neuropathische Schmerzen. Allerdings ist es von der U.S. Food and Drug Administration nicht zur Behandlung des IC/BPS zugelassen. Initial werden zur Nacht 10 mg gegeben und die Dosis dann in Wochenschritten auf 75 mg erhöht (oder weniger, sofern die Symptome dadurch verschwinden). Zu erwartende Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, Sedierung und Obstipation. Sofern dadurch keine ausreichende Symptomkontrolle gewährleistet ist, kann zusätzlich Pentosanpolysulfat 3 × 100 mg/d gegeben werden, ein halbsynthetisches Polysaccharid. Seine Wirkung beruht theoretisch auf der Wiederherstellung der möglicherweise defekten Glykosaminoglykanschicht auf der Harnblasenmukosa, wobei randomisierte klinische Studien nur einen geringen Vorteil gegenüber Placebo belegen. Nebenwirkungen sind selten und umfassen gastrointestinale Symptome, Kopfschmerzen und eine Alopezie. Pentosanpolysulfat ist schwach antikoagulatorisch wirksam und bei Patienten mit Gerinnungsstörungen vermutlich kontraindiziert. Ein spezieller Therapieansatz zur Erhaltung oder Steigerung der Blasenkapazität sowie zur lokalen Schmerzbehandlung stellt das EMDA-Verfahren (Elektromotive Drug Administration) dar. Bei diesem Verfahren wird ein Zusammenwirken von Ionto- und Elektrophoren mittels elektrischen Feldes und gezielter Medikamentenapplikation in die Blase genutzt. Verwendung findet hier besonders das Zweistufenschema mit 50 ml Lidocain 4 %, 2 ml Adrenalin (1 : 1000), 40 mg Dexamethason in 10 ml sowie in der 2. Stufe 2 ml Pentosanpolysulfat SP 54. Eine neue Therapieoption, insbesondere zur Behandlung des Schmerzes stellt die extrakorporale Stoßwellentherapie (ESWT) dar. Die Wirksamkeit gegenüber Placebo wurde in kontrollierten 60e-4 Studien gezeigt. Die Applikation der Stoßwellen erfolgt lokal im Dammbereich und ggf. suprapubisch, wobei die Behandlung ohne Narkose durchgeführt werden kann, da kaum Schmerzen auftreten. Nebenwirkungen sind hier ebenfalls nicht zu erwarten. Insbesondere in Kombination mit EMDA-Therapie kann die Lebensqualität der Patienten oft deutlich verbessert werden. Einzelfallberichte lassen vermuten, dass die erfolgreiche Behandlung eines funktionellen somatischen Syndroms auch die Symptome anderer funktioneller somatischer Syndrome abschwächt. Wie schon angemerkt, geht die IC/CPPS oft mit einem oder mehreren funktionellen somatischen Syndromen einher. Daher scheint die Hoffnung berechtigt, dass die Symptome der IC/ CPPS bei erfolgreicher Behandlung begleitender funktioneller somatischer Syndrome ebenfalls abnehmen. Der Patient sollte frühzeitig an einen Urologen oder Urogynäkologen überwiesen werden. Mittels Zystoskopie ist unter Anästhesie eine Distension der Harnblase mit Wasser möglich, was bei etwa 40 % der Patienten mehrere Monate lang Erleichterung bringt und wiederholt werden kann. Bei den wenigen Patienten mit HunnerUlkus kann eine Verödung Linderung bringen. Möglich ist auch die wiederholte Instillation in die Harnblase. Verwendete Lösungen sind Chondroitinsulfat, Hyaluronsäure, eine Kombinationslösung aus Chrondroitinsulfat und Hyaluronsäure, Pentosanpolysulfat, selten Dimethylsulfoxid (DMSO), Bacillus Calmette-Guérin (BCG), Lokalanästhetika, Heparin oder Capsaicin. Mit der Behandlung von IC/CPPS-Patienten erfahrene Ärzte haben auch Antiepileptika, Beruhigungsmittel und Ciclosporin eingesetzt. Schmerzspezialisten können ebenfalls hinzugezogen werden. Bei der sakralen Neuromodulation kann mit einer temporären perkutanen Elektrode getestet werden, die bei Erfolg durch eine implantierte Elektrode ersetzt wird. Bei einer sehr kleinen Zahl von Patienten mit rezidivierenden Symptomen können Operationen hilfreich sein, wie eine partielle oder totale Zystektomie mit künstlicher Harnableitung. Die alleinige Harnableitung ohne Zystektomie ist sehr umstritten. WEITERFÜHRENDE LITERATUR EUROPEAN ASSOCIATION OF UROLOGY: Guidelines on Chronic Pelvic Pain, 2015 TISELIUS HG: Urology – Shock Wave Therapy In Practice. Kabisch S, Fahlenkamp D: ESWT: Interstitial cystitis – new promising indication for the extracorporeal shock wave therapy? LEVEL 10 Verlag, Heilbronn, Seite 124–7, 2013 JOCHAM D, FROEHLICH G, SANDIG F, ZIEGLER A: Die Versorgungssituation von Patienten mit interstitieller Zystitis in Deutschland – Ergebnisse einer Umfrage unter 270 Betroffenen. Der Urologe 52 (5):691–700, 2013