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Schütteltrauma
Das Baby schreit und schreit. Mutter oder Vater sind mit dem Kind allein. Alle Versuche, das
Kind zu beruhigen, scheitern. Verzweiflung, Hilflosigkeit und Wut werden überwältigend und in
einem Moment des Kontrollverlustes greift ein Elternteil das Kind am Brustkorb oder den
Oberarmen und schüttelt es. Der Kopf des Kindes bewegt sich unkontrolliert vor und zurück,
die Nacken- und Halsmuskulatur kann den schweren Kopf nur unzureichend halten. Diese
gewaltsame Kopfbewegung, die durch das Schütteln ausgelöst wird, kann das Kind nicht
kontrollieren.
Was passiert im Kopf?
Gehirn, Hirnhaut und Schädelknochen werden durch das Schütteln in Bewegung versetzt.
Das Gehirn schwimmt im Gehirnwasser. Kleine und große Blutgefäße verlaufen zwischen
Hirnhaut und Gehirn und versorgen das Gehirn mit lebensnotwendigem Sauerstoff und
Zucker. Das Gehirn ist nicht fest mit der Hirnhaut oder dem Schädelknochen verbunden. Es
bewegt sich vor- und zurück, erst langsam, dann schneller. Nichts bremst die Bewegung,
wenn sie einmal begonnen hat. Durch die Vor- und Rückbewegung wird das Gehirn vom
Schädelknochen und der Hirnhaut abgeschert. Zuerst reißen kleine Blutgefäße, dann
größere. Blut läuft in den Spalt zwischen harter Hirnhaut und Gehirn, eine subdurale
Gehirnblutung ist entstanden.
Aber das ist noch nicht alles!
Die Hirnnervenzellen bilden ein kompliziertes, feines Geflecht. Die Knotenpunkte zwischen
den Nervenzellen heißen Axone. Diese Axone sind verbunden, es ist so, als hielten sie sich
millionenfach an den Händen. Während des Schüttelns lassen immer mehr Axone einander
los. Die Nervenzellen können nicht mehr zusammenarbeiten. Eine Funktion nach der anderen
wird geschädigt: Sehen, Hören, Sprechen, Atmen. Je länger das Schütteln andauert, desto
mehr Verknüpfungen zwischen Nervenzellen werden voneinander getrennt. Das Gehirn
schwillt an. Manche Verknüpfungen werden für immer zerstört. Getrennte
Nervenzellverbindungen wachsen nie wieder zusammen. Funktionen, Fähigkeiten, die das
Kind besessen hat, gehen unwiederbringlich verloren. Das Kind erleidet fast immer eine
lebenslange Behinderung. Das Ausmaß reicht von Lernstörungen über Krampfanfälle,
schwere Bewegungsstörungen, Blindheit, Taubheit, schwerer geistiger Behinderung bis zum
Wachkoma.
Jedes fünfte Kind stirbt.
Das Schütteltrauma gehört zu den häufigsten Todesursachen im Säuglingsalter. Von den
überlebenden Kindern werden nur 10 Prozent vollständig gesund. Jedes Jahr erleiden
nachweislich bis zu 200 Kinder in Deutschland ein Schütteltrauma, am häufigsten Säuglinge
im Alter von 2 bis 5 Monaten – in diese Zeit fällt das „Hauptschreialter“ kleiner Säuglinge. Die
Dunkelziffer ist höher, da Säuglinge nach weniger intensiven Schüttelepisoden mitunter nicht
durch akute Zustände auffallen, sondern Symptome wie Unruhe, Schläfrigkeit oder Erbrechen
zeigen, die häufig als Zeichen eines Infekts o.ä. gewertet werden. Auch hier kommt es jedoch
langfristig zu Schädigungen der Hirnsubstanz. Dem schweren Schütteltrauma Syndrom geht
ein heftiges, gewaltsames Schütteln von im Schnitt etwa 5 bis 10 Sekunden mit einer
Frequenz von 10 bis 30 mal voraus. Schütteln beruhigt schreiende Kinder nicht.
Schütteln schädigt ein Kind für immer !
Text © Frau Dr. Stefanie Märzheuser - Kinderchirurgin an der Charité Berlin, Oberärztin,
Mitglied der Kinderschutzgruppe der Charité Berlin.
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