Ärztlich unterstützte Priorisierung ist notwendig und hilfreich

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THEMEN DER ZEIT
MEDIZINISCHE VERSORGUNG
Ärztlich unterstützte Priorisierung
ist notwendig und hilfreich
Beim öffentlich-medialen Diskurs kommt es vor allem darauf an, die
Verbindung Priorisierung = Rationierung zu lösen und der Priorisierung auf
der Basis des schwedischen Beispiels ein positives Gesicht zu geben.
Heiner Raspe, Jan Schulze*
Universität zu Lübeck,
Akademisches
Zentrum für Bevölkerungsmedizin und
Versorgungsforschung:
Prof. Dr. med. Dr. phil.
Raspe
Präsident der
Ärztekammer Sachsen,
Dresden:
Prof. Dr. med. habil.
Schulze
ie demografische Entwicklung in Deutschland sowie
der medizinische Fortschritt werden zu einem Anstieg der Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) führen. Die
Menschen in Deutschland werden
weniger, aber dafür (glücklicherweise) immer älter. Damit steigen
die altersbedingte Multimorbidität
sowie der Pflegebedarf. Das Problem wird mit dem Eintritt der
Geburtsjahrgänge 1955 bis 1968
(Babyboomer) in das Rentenalter
in den nächsten Jahren noch verschärft.
Um dann die medizinische Versorgung auf dem heutigen Niveau
aufrechtzuerhalten, wären ohne
Kostendämpfungsanstrengungen erhebliche Beitragssatzsteigerungen
notwendig. Dies kann sich allerdings niemand, weder finanziell
noch politisch, leisten. Darüber sind
sich Politiker wie auch Wissenschaftler und die (gemeinsame)
Selbstverwaltung einig. Nicht einig
ist man sich dagegen über die Wege, die zu einer Lösung dieses nicht
nur fiskalischen Problems führen
können. Allein durch Beitragssatzerhöhungen, Einsparungen oder
Steuerzuschüsse, wie es in zahlreichen Gesundheitsreformen der letzten Jahrzehnte praktiziert wurde, ist
das Trilemma zwischen Leistungsbedarf, Leistungsinanspruchnahme
und dadurch entstehenden Kosten
nicht zu lösen. Auch die Rationa-
D
*In Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Priorisierung
im Gesundheitswesen“: Prof. Dr. Fritz Beske, Prof. Dr. Adele Diederich,
Dr. Esther Freese, Prof. Dr. Christoph Fuchs, Prof. Dr. Dr. Dominik Groß,
Dr. Simone Heinemann-Meerz, Rudolf Henke, Prof. Dr. Georg Marckmann,
Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Prof. Dr. Dr. Eckhard Nagel, Prof. Dr. Dr.
Günter Ollenschläger, Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe (Vorsitz), Dr. Bernhard Rochell,
Prof. Dr. Jan Schulze (Vorsitz), Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 22 | 31. Mai 2013
lisierung in der Medizin stößt an
Grenzen, da Kliniken nicht wie
Autofabriken gesteuert werden
können. Eine stille Rationierung,
wie wir sie bereits heute vorfinden,
kann als Dauerzustand nicht akzeptiert werden.
Vor diesem Hintergrund hat
der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) im Frühjahr 2012 eine
Arbeitsgruppe „Priorisierung im
Gesundheitswesen“ eingesetzt. Er
folgt damit auch einer Bitte des
Deutschen Ärztetages. Das Thema
Priorisierung sollte aus Sicht der
Ärzteschaft weiterentwickelt werden, um den gesellschaftlichen
Diskurs voranzutreiben. Die Vorstandsarbeitsgruppe legt diesen
Zwischenbericht als Diskussionsentwurf vor.
Zu den Beratungsschwerpunkten zählte zunächst ein Konsens,
was unter Priorisierung zu verstehen sei, und dies in Abgrenzung
zur Rationierung. Im Kern geht es
um die Klärung und Feststellung
von Vor- und Nachrangigkeiten in
der medizinischen Versorgung mit
dem Ziel, Entscheidungen Dritter
durch wissenschaftlich fundierte
Versorgungsempfehlungen zu unterstützen. Priorisierung wird enttabuisiert, weil sie Potenziale zur
Klärung zahlreicher Fragen entfaltet, die die Ärzteschaft und die Gesellschaft bewegen. Dazu zählt vor
allem die Frage der Bedarfs- und
Verteilungsgerechtigkeit bei der
Allokation der (unvermeidlich immer) begrenzten Mittel in der
medizinischen Versorgung. Priorisierung eröffnet Perspektiven zum
rationalen Mitteleinsatz und zur
Qualitätssicherung im Gesundheitssystem.
Die Arbeitsgruppe empfiehlt in
einem nächsten Schritt gezielte Veranstaltungen, um einen innerärztlichen Konsens zum Verständnis und
zur Bedeutung der Priorisierung im
Gesundheitswesen herbeizuführen.
Dies ist das Fundament, um den so
wichtigen gesellschaftlichen – ethischen wie politischen – Diskurs zu
dieser Thematik vorzubereiten.
Zum Hintergrund
Das deutsche System der medizinischen Versorgung ist – im
internationalen Vergleich – hoch
entwickelt und leistungsfähig.
Das Gesundheitswesen in Deutschland genießt offensichtlich das Vertrauen der Bevölkerung: 23 Prozent
schätzen dieses System als „sehr
gut“ und weitere 67 Prozent als
„gut“ ein; 86 Prozent halten es für
„eines der leistungsfähigsten der
Welt“ (1). Nach einer anderen Stu-
1
die ist die positive Status-quo-Einschätzung („gut/sehr gut“) nach einem Tief 2008 (59 %) kontinuierlich auf den bisherigen Höchstwert
von 82 Prozent (2012) gewachsen.
Diese Entwicklung zeigte sich unabhängig davon, ob die Befragten
gesetzlich oder privat versichert
waren (2). Entsprechend stimmte
eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung (76 %) vor kurzem noch
der Aussage „voll und ganz“ oder
A 1091
THEMEN DER ZEIT
„eher“ zu: „Meine Krankenkasse
bezahlt zurzeit alle notwendigen
Leistungen, die ich benötige.“ Allerdings sank dieser Anteil auf 48
Prozent, wenn es um die Aussage
geht: „Meine Krankenkasse wird in
Zukunft alle notwendigen Leistungen bezahlen, die ich benötige.“ (3)
Der Bertelsmann-Gesundheitsmonitor verzeichnet seit 2001 einen
steigenden Anteil von Befragten,
die „befürchten, ihre Krankenkasse
(übernimmt) zukünftig nicht mehr
die Leistungen, die für sie wichtig
sind“. (2001: etwas mehr als 60 %,
2009 etwas mehr als 70 %) (4).
Hier wird aufseiten der Bürger
eine pessimistisch gestimmte
Zukunftsunsicherheit deutlich, die
sich auch in der Ärzteschaft selbst
fassen lässt. In einer Befragung
von circa 5 000 Klinik- und Praxisärzten in Schleswig-Holstein (5)
(Antwortrate 58 %) lag die mittlere „Zufriedenheit mit der beruflichen Tätigkeit“ auf einer Skala von
0 = „überhaupt nicht zufrieden“ bis
10 = „voll und ganz zufrieden“ bei
6,7 Punkten (6). Nur 18 Prozent erwarteten keine „Verschlechterung
meiner Arbeitssituation“. Auch in
der jüngsten Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (n =
148 730; Antwortrate 53 %)
stimmten 87 Prozent der Vertragsärzte und -psychotherapeuten
„eher“ oder „voll und ganz“ der
Aussage zu: „Meine Arbeit macht
mir Spaß.“ Nur fünf Prozent empfanden ihre Arbeit nicht als „nützlich und sinnvoll“ (7). Dennoch
wurde in der erstgenannten Studie
die „ärztliche Arbeits- und Berufssituation insgesamt in der Zukunft“
auf einer Skala von –5 („generell
schlechter“) über 0 („unverändert“) bis +5 („generell besser“) im
Mittel bei –2,13 verortet. Die Beurteilung der aktuellen und der
künftigen Situation fallen deutlich
auseinander.
2
Ein zentraler Nenner dieser
pessimistischen Einschätzung
der ärztlich-beruflichen Zukunft
scheint in der wahrgenommenen
Gefährdung dessen zu liegen, was
international unter dem Stichwort
„Medical Professionalism“ disku-
3
A 1092
tiert wird. Eine knappe Definition
gab im Dezember 2005 das Royal
College of Physicians of London
(8): „Medical professionalism signifies a set of values, behaviours,
and relationships that underpins
the trust public has in doctors.“
Auch der kurz vorher erschienenen
Charter on Medical Professionalism (9) ging es um das öffentliche
Vertrauen in die ärztliche Profession. Dieses Vertrauen sei die Basis
eines – ungeschriebenen – „Vertrages zwischen Medizin und Gesellschaft“: Er verlange, die Interessen
der Patienten über die des Arztes
zu stellen, Standards für Kompetenz und Integrität zu setzen und
aufrechtzuerhalten und der Gesellschaft fachlichen Rat dort zu geben, wo es um Fragen der Gesundheit gehe.
Da die Charta sich ganz auf die
ärztliche Situation fokussierte, ließ
sie die Gegenleistungen der Gesellschaft unerwähnt, nämlich die
Möglichkeit von selbstverantwortlicher Tätigkeit und autonomer
Selbstregulierung des Berufsstandes, verbunden mit einem hohen
gesellschaftlichen Ansehen.
Auch solche Übereinkünfte
zwischen „der“ Gesellschaft
und „der“ Ärzteschaft unterliegen
dem Risiko der Kündigung. Für die
Gefährdung dieser Übereinkunft
kommen unter anderem die mediale
Öffentlichkeit, die Legislative und
andere Normgeber, die Kostenträger im Gesundheitswesen, die Gesundheitsindustrie, die Patienten
und schließlich auch die Ärzteschaft selbst infrage. In soziologischer Interpretation geht es der
Ende der 1990er Jahre beginnenden
und bis heute anhaltenden ärztlichen Diskussion um „Medical Professionalism“ darum, diese Übereinkunft und das sie tragende und
durch sie getragene Vertrauen lebendig zu halten und zu stärken.
Mit dieser Zielrichtung (nach außen
und innen!) formulierte die genannte Charta drei zentrale Prinzipien
(Patientenwohl, Patientenautonomie, soziale Gerechtigkeit) ärztlicher Arbeit und zehn Selbstverpflichtungen beziehungsweise Verantwortlichkeiten.
4
Ähnlich wie die Charta bildet die
in ihrer Entwicklung wesentlich ältere (Muster-)Berufsordnung (MBO)
(10) in Teilen vergleichbare Prinzipien und Selbstverpflichtungen ab.
Sie gibt den Rahmen für die ärztliche Berufsausübung in Deutschland und füllt somit die Funktion
aus, der vorab genannten Übereinkunft zwischen Ärzten und ihren
Patienten beziehungsweise der Gesellschaft gerecht zu werden.
Der folgende Text stellt die nationale Priorisierungsdiskussion ausdrücklich in den Kontext der
internationalen Professionalismusdiskussion. Er fasst Priorisierung in
der medizinischen Versorgung auch
als eine professionelle Aufgabe.
Der ärztlich-klinische Beitrag zur
Priorisierung zielt auf den oben genannten „expert advice to society in
matters of health“ ab.
Priorisierung hat nach unserer
Auffassung das Potenzial, zur Klärung einer ganzen Reihe von aktuell
die Gesellschaft und insbesondere
auch die Ärzteschaft beschäftigenden Fragen beizutragen:
● Was sind die zentralen Ziele
der ärztlichen Tätigkeit? Was ist ihr
zentraler Aufgabenbereich? In welchem Verhältnis stehen der in der
MBO genannte Dienst für die Gesundheit des „einzelnen Menschen“
und der für die des „ganze(n)
Volk(es)“ zueinander? Was sind die
Grenzen einer „wunscherfüllenden
Medizin“?
● Welche Krankheitszustände,
Krankengruppen, Leistungen, Indikationen, Bedarfe sind als besonders wichtig und dringend anzusehen?
● Und nach welchen Werten und
Kriterien soll dies von wem in welchen Verfahren beurteilt werden?
● Welche Bedeutung hat für die
Medizin die Begrenztheit, in manchen ihrer Sektoren auch die (zunehmende) Knappheit wichtiger
Ressourcen?
● Wo existieren welche Rationalisierungsreserven, und welche
Leistungen sind aus welchen Gründen so verzichtbar, dass sie, sollte
eine systematische Rationierung
unvermeidlich werden, entfallen
könnten?
5
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THEMEN DER ZEIT
● Welche Verantwortung hat
die Ärzteschaft für die finanzielle
Stabilität der solidarisch verfassten GKV und die bedarfsgerechte und gleichmäßige Allokation,
eventuell auch Umverteilung ihrer
Mittel?
● Wie ist in Hinblick des rascher
werdenden medizinischen Fortschritts zu unterscheiden, was mit
welcher Priorität in die klinische
Praxis und in den Leistungskatalog
der GKV einzubringen ist?
● Wie verhalten sich traditionelle ärztliche Pflichten und Tugenden
zu der zunehmenden Ökonomisierung und Verrechtlichung (11) der
medizinischen Praxis?
● Welche Antwort hat die Medizin auf die (häufig ökonomisch getriebene) Medikalisierung weiter(er) Lebensbereiche?
Es wird eine Aufgabe der Arbeitsgruppe sein, wenigstens auf einige dieser Fragen im Kontext einer
ärztlichen Priorisierungsdiskussion
Antworten zu finden.
Legt man Bürgern die Frage
vor: „Wie groß sollte Ihrer
Meinung nach der Einfluss [der
Ärzte und ihrer Verbände] auf die
Gesundheitspolitik sein?“, dann
antworten 78 Prozent mit „sehr
groß“ oder „eher groß“. Dies wird
nur noch von der Zustimmung zum
Einfluss von „Patientenverbänden“
(84 %) übertroffen (12).
6
Ein mitbestimmender Einfluss
der Ärzteschaft auf die Gestaltung
des Leistungskatalogs der GKV
wird von 84 Prozent unserer Mitbürger befürwortet (13). Dabei
dürfte den meisten Befragten unbekannt sein, dass jedenfalls die Vertragsärzte schon jetzt diese Möglichkeit haben und über ihre „Bank“
im Gemeinsamen Bundesausschuss
(G-BA) wahrnehmen. Würde sich
die gesamte Ärzteschaft an einer
transparenten und partizipativ gestalteten nationalen Priorisierungsdiskussion aktiv beteiligen, könnte
dies – unter bestimmten Voraussetzungen (siehe unten) – das oben genannte öffentliche Vertrauen erhalten und stärken.
Vor diesem Hintergrund hat
der Vorstand der Bundesärztekammer im Frühjahr 2012 die Arbeitsgruppe „Priorisierung im Gesundheitswesen“ eingesetzt. Sie
soll sich „mit der inhaltlichen Weiterentwicklung des Themas aus der
Sicht der Ärzteschaft auf Basis
der Stellungnahme der Zentralen
Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) aus den
Jahren 2000 und 2007 sowie dem
im Ulmer Papier geforderten Gesundheitsrat befassen, die bereits
zur Diskussion gestellten Inhalte
zum Thema konkretisieren sowie
den notwendigen gesellschaftlichen
Diskurs vorantreiben“. (14)
7
Priorisierung – unser ärztliches Grundverständnis
Die Arbeitsgruppe folgt in ihrem Verständnis von Priorisierung der Definition der zweiten
Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) aus dem Jahr
2007 (15) – mit geringen Präzisierungen und Erweiterungen (hier in
[] eingefügt):
„Die ZEKO versteht unter Priorisierung die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit [einer
vorab definierten Menge] von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden [oder anderen Objekten]
vor anderen. Ihr Gegenteil wird mit
Posteriorisierung bezeichnet.
8
Grundsätzlich führt Priorisierung zu einer mehrstufigen Rangreihe. An deren oberen Ende steht,
was [im Rahmen gesellschaftlich
geklärter Ziele, Werte, Normen und
Kriterien] nach Datenlage und
fachlichem wie öffentlichem Konsens als unverzichtbar beziehungsweise wichtig [und dringlich] erscheint, am Ende das, was wirkungslos ist beziehungsweise mehr
schadet als nützt. Nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle,
Kranken- und Krankheitsgruppen,
Versorgungsziele und vor allem Indikationen (das heißt Verknüpfungen bestimmter gesundheitlicher
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Problemlagen mit zu ihrer Lösung
geeigneten Leistungen) können
priorisiert werden.“
Priorisierung lebt somit von
einem methodisch-systematischen
Nahvergleich ihrer Objekte. Dabei
kann erst einmal offenbleiben, ob
der Vergleich sich einer in jedem
Fall identischen Metrik bedient
oder ob diese die Besonderheiten
unterschiedlicher Kontexte zu berücksichtigen hat.
Priorisierung ist ein sehr viel
anspruchsvolleres Unternehmen als Prioritätensetzung: Bei dieser bleibt die Menge der zu vergegenwärtigenden Objekte im Dunkeln. Prioritätensetzung zielt generell darauf ab, wenige ausgewählte
Objekte (zum Beispiel Politikziele
einer neuen Regierung), oft freihändig und in werbender Absicht, als
besonders wichtig und dringlich
herauszuheben.
9
Es gehört zu den bei uns
lange gepflegten Fehlwahrnehmungen, Priorisierung und Rationierung miteinander zu identifizieren und Priorisierung höchstens
für ein euphemistisch-verschleierndes Synonym von Rationierung zu
halten. Hingegen verwirklicht Priorisierung ein eigenes und von Rationierung klar abgrenzbares Reflexions- und Handlungsprogramm,
wenn man unter Rationierung das
systematische tatsächliche Vorenthalten medizinisch notwendiger beziehungsweise wenigstens überwiegend nützlicher (verfügbarer)
Leistungen aus Knappheitsgründen
versteht.
Dabei ist der Begriff Rationierung in Deutschland ausschließlich
– und einseitig – negativ konnotiert.
Diese Auffassung übersieht, dass
Rationierung immer auch ein intentional gerechtes Zuteilen knapper
„Rationen“ (lebens)wichtiger Güter
möglichst oberhalb des Existenzminimums beinhaltet, durchaus unter
Anerkennung unterschiedlicher Bedarfe (man denke an unterschiedliche Lebensmittelrationen für Kinder, Schwangere, Schwerarbeiter,
Senioren).
Priorisierung ist dagegen nicht
mehr und nicht weniger als die vor-
10
A 1093
THEMEN DER ZEIT
gängige gedankliche Klärung und
Feststellung von Vor- und Nachrangigkeiten in der medizinischen Versorgung. Es wird eine zentrale Aufgabe der Arbeitsgruppe sein, die
nahezu reflexhafte Verbindung Priorisierung = Rationierung zu lösen.
Während sich in jeder Rationierung Allokationsentscheidungen mehr oder weniger
schmerzhaft verwirklichen, zielt
Priorisierung darauf ab, die zu solchen Entscheidungen Legitimierten
zu informieren. Priorisierung kann
verschiedene Ziele verfolgen und
verschiedene Funktionen erfüllen:
● sich der eigenen gesellschaftlichen, professionellen et cetera
Moralität zu vergewissern,
● das eigene Berufsfeld einzugrenzen und zu bewahren, es vor
Überbeanspruchung und Ausfransung zu schützen,
● sich am objektivierbaren Versorgungsbedarf zu orientieren,
● sich gegen simple Ökonomisierung zu stellen,
● eine gleichmäßige Versorgung
zu fördern,
● auf Forschungslücken und -erfordernisse hinzuweisen,
● begründete und transparente
Rationierung zu ermöglichen und
● die Einordnung neuer Methoden zu unterstützen.
Priorisierung führt zu wert-, zielund kriterienbasierten Versorgungsoder allgemeinen Allokationsempfehlungen, die den Entscheidungsspielraum der jeweils Legitimierten
respektieren und schützen. Sie
nimmt deren Entscheidungen nicht
vorweg.
11
Priorisierung trägt somit
auch zu einem rationalen
Mitteleinsatz und zur Qualitätssicherung im Gesundheitssystem bei. Bereits heute werden im Rahmen der
Entwicklung von Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) von BÄK,
Kassenärztlicher Bundesvereinigung
(KBV) und Arbeitsgemeinschaft der
Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften (AWMF) durch
das Ärztliche Zentrum für Qualität
in der Medizin (ÄZQ) vertikale
Priorisierungsmethoden angewandt
(16). Nicht zuletzt vor dem Hinter-
12
A 1094
grund der zunehmenden Diskussion
über den nachhaltigen Ressourceneinsatz in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist es einmal mehr
geboten, neue Instrumente für eine
transparente und vernünftige Ressourcenverteilung im deutschen
Gesundheitssystem in die gesellschaftspolitische und ärztliche Diskussion einzubringen.
Zur europäischen Geschichte von Priorisierung
Während sich in Dänemark
eine etwas erratische Priorisierungsdiskussion bis in die
1970er Jahre zurückverfolgen lässt
(17), begann diese – auf hohem institutionellem und theoretischem
Niveau – in Norwegen 1985 mit
der Einsetzung einer Staatskommission durch die Sozialministerin
einer damals konservativen Regierung (18). Ihre Führung wurde Inge
Lønning, einer Professorin für Systematische Theologie der Universität Oslo, übergeben. Die Einsetzung erfolgte zu einer Zeit, in der
Norwegen im Begriff war, infolge
der Förderung des Nordseeöls eines
der reichsten Länder der Erde zu
werden. Dennoch war das Komitee
in seiner 1987 veröffentlichten
Stellungnahme der Ansicht, „that
the guidelines for prioritizations in
the health service should be formulated in such a way that they may
be applied independently of whether the health sector’s total financial resources increase, are reduced
or remain stable“. Diese „Guidelines for prioritizations in the Norwegian health service“ betonten
ausdrücklich: „In its discussion of
objectives, principles and guidelines for the future process of prioritization within the Norwegian
health service, the committee has
based its work on generally-accepted values in Norwegian society
. . . (the) social responsibility for
socially-deprived and underpriviledged individuals in the health
sector should manifest itself as a
prioritized obligation in respect of
the weakest individuals in society.“
Priorisierung erschien hier als Anlass und Chance, sich erneut der
nationalen Moralität zu versichern
und diese zu bekräftigen. Ein zweites Lønning-Komitee arbeitete von
1995 bis 1996; es stellte ernüchtert
fest, dass es in der vergangenen De-
13
kade zu keinen wesentlichen Weiterentwicklungen gekommen sei.
Ein ähnliches Bild zeigt
sich für die Niederlande.
Auch hier wurde – im Jahr 1990 –
eine Staatskommission eingerichtet, das sogenannte Dunning-Komitee. Dessen Bericht erschien 1992
unter dem Titel „Choices in health
care“ (19). Auch hier ging es unter
anderem um eine ethische Grundlegung von Priorisierung – und auch
in diesem Land versandete die Diskussion in den folgenden Jahren.
14
Ein anderes Bild bietet
Großbritannien mit einer
wenigstens bis in die 1960er Jahre
zurückreichenden Diskussion (20):
Hier wurden und werden die Begriffe Priorisierung und Rationierung annähernd synonym gebraucht.
Und da Rationierung (im oben definierten weiten Sinn) die britische
Bevölkerung bis weit in die 1950er
Jahre begleitet hat und im Nationalen Gesundheitsdienst bis heute
erfahrbar ist, gilt Rationierung dort
nicht als „hässliches“ Tabuwort (21).
Im Gegenteil: Rationierung wird als
unvermeidlich („inevitable“) angesehen. Und so gibt es in vielen Regionen des National Health Service
(NHS) „priority-setting boards or
forums“ (22), wobei ethische Fragen nur vereinzelt behandelt werden. Priorisierung wird im NHS als
Entscheidungswerkzeug verstanden,
der sich Rationierung im oben genannten Sinne unmittelbar anschließen soll (23).
15
In Deutschland kam die
Priorisierungsdiskussion nur
schwer in Gang. Jedenfalls fand die
erste Publikation zum Thema (24)
ebenso wenig Resonanz wie die
Stellungnahmen der ZEKO 2000
(25) und 2007 sowie der Arbeitsbe-
16
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 22 | 31. Mai 2013
THEMEN DER ZEIT
richt der Enquetekommission des
Deutschen Bundestages „Ethik und
Recht der modernen Medizin“
2005 (26). Eine heftige Bewegung
kam erst im Mai 2009 in die Diskussion, nachdem der damalige
Präsident der Bundesärztekammer,
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, in Mainz zur Eröffnung des
112. Deutschen Ärztetages über
„Verteilungsgerechtigkeit
durch
Priorisierung – Patientenwohl in
Zeiten der Mangelverwaltung“
sprach. Es dauerte nur Tage, bis
sich ein jahrelanges aktives
Schweigen in einen Sturm der Entrüstung verwandelte. Politiker aller
im Bundestag vertretenen Parteien,
Spitzenvertreter der GKV und auch
eine „linke“ Ärzteopposition waren
sich in ihrer Ablehnung einig. Priorisierung sei unethisch, grundgesetzwidrig, unnötig beziehungsweise vermeidbar, gefährlich, hinterhältig (27). Erst seit 2010 ist die nationale Diskussion in zunehmend
ruhiges Fahrwasser gekommen,
wohl auch durch die Aktivitäten einer Forschergruppe der Deutschen
Forschungsgemeinschaft und ihre
Veröffentlichungen (28). Seither ist
Priorisierung Thema verschiedener
Zeitschriftensonderhefte und diverser Fachkongresse geworden.
In Schweden begann es mit
einem Seitenblick in Richtung Norwegen mit einer auf Betreiben des Reichstags 1992 eingesetzten Parlamentskommission, sie
legte 1995 ihren Abschlussbericht
vor (29). Auch er verdeutlicht, dass
jede Priorisierung eine ethische Basis braucht. Diese muss nicht vor
einem philosophischen Oberseminar bestehen können – sondern in
der Lage sein, die Moralität des Gesundheitssystems (30), in dem und
für das priorisiert werden soll, nach
innen überzeugend in wenigen
Grundprinzipien zusammenzufassen. Dies sichert dem Priorisierungsprojekt einen Teil seiner sozialen Legitimation und gibt den
schließlich gewählten Priorisierungskriterien und -verfahren einen
plausiblen moralischen Rahmen.
Und so zeigen sich, vergleicht man
die Grundprinzipien und Kriterien
verschiedener Länder, durchaus
17
Unterschiede zwischen zum Beispiel Dänemark, Schweden und
Großbritannien. In Schweden soll
Priorisierung „in ranking order“ auf
drei ethische Prinzipien gegründet
werden: Menschenwürde und Diskriminierungsverbot, Bedarf und
Solidarität sowie Kosteneffizienz.
Schweden ist nach unserer
Kenntnis das einzige europäische
Land, in dem die nationale Priorisierungsdiskussion bis heute nie abriss, sondern im Gegenteil zu einem
sehr handfesten Werkzeug der Versorgungssteuerung, den nationalen
Priorisierungsleitlinien, führte. Dieser besondere Typus von Leitlinie
ist ein gemeinsames Produkt einer
staatlichen Agentur (Socialstyrelsen), der schwedischen Ärzteschaft,
der schwedischen Regionen und
des 2001 gegründeten nationalen
Priorisierungszentrums an der Universität Linköping. Die erste Leitlinie erschien 2004 und widmete sich
der Versorgung Herzkranker. Inzwischen existiert ein rundes Dutzend
solcher Leitlinien, manche schon in
dritter Überarbeitung. Sie betreffen
Krankheitsgruppen oder Versorgungsbereiche von herausgehobener klinischer, epidemiologischer
und ökonomischer Bedeutung mit
umstrittenen Leistungen und hoher
Praxisvariation. Innerhalb dieser
Bereiche priorisieren sie – „vertikal“ – sogenannte Condition-Intervention Pairs (CIPs), das heißt feste
Koppelungen bestimmter klinischer
Zustände mit zu ihrer Behandlung
mehr oder weniger geeigneten Interventionen. Diese können diagnostische, präventive, kurative,
rehabilitative oder palliative Ziele
verfolgen.
Im Laufe der letzten Dekade ist
so ein „Nationales Modell für eine
transparente
Priorisierung
im
schwedischen Gesundheitsdienst“
(31) entwickelt und schrittweise
konsolidiert worden. In jüngster
Zeit ist es in verschiedenen Regionen und Einrichtungen auch zur
Vorbereitung von Rationierungen
genutzt worden.
Wie die deutschen NVL haben auch die schwedischen
Priorisierungsleitlinien nur empfehlenden Charakter. Sie dienen aber
im Gegensatz zu den NVL der „Unterstützung der Steuerung und Leitung“ vor allem von regionalen Einrichtungen und Versorgungsprogrammen und von vielfältigen Allokationsentscheidungen typischerweise oberhalb der klinischen Ebene. Die NVL zielen demgegenüber
in erster Linie auf das klinische
Handeln an und mit Patienten ab.
Trotz dieses deutlichen Unterschieds
in der Zielsetzung gibt es Gemeinsamkeiten: Beide Leitlinientypen
sind systematisch und im Rückgriff
auf die bestverfügbare Evidenz –
partizipativ – entwickelt worden und
kennen abgestufte Empfehlungen.
Es stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie beide Leitlinientypen
zusammengeführt werden könnten.
18
Überlegungen zum weiteren Vorgehen
Zur „Weiterentwicklung des
(Priorisierungs-)Themas aus
Sicht der Ärzteschaft“ und um „den
notwendigen gesellschaftlichen Diskurs voranzutreiben“, wird man zuerst die Ärzteschaft selbst gewinnen
müssen. Aus der Arbeit von Schröder und Raspe (5) geht auch hervor,
dass die befragten Ärzte „eine Beteiligung an der Rationierungs-/
Priorisierungsdebatte“ eher als wenig wichtig einstufen. Es war dieses
Item, das unter 39 vorgegebenen
„ärztlichen Aufgaben“ den letzten
Rang einnahm. Um diese Einschät-
19
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 22 | 31. Mai 2013
zung zu ändern, könnten gezielte
Veranstaltungen in allen (interessierten) Landesärztekammern unter
aktiver Unterstützung seitens der
Bundesärztekammer organisiert werden. Sie sollten auf die regional
unterschiedliche Entwicklung des
Themas Rücksicht nehmen und
doch einige klare Botschaften (Wertungen, Fakten, Verfahrensvorschläge) präsentieren. Um in die Problematik einzuführen, haben sich im
Ausland und in der Lübecker Bürgerkonferenz verschiedene „Priorisierungsspiele“ (32) bewährt.
A 1095
THEMEN DER ZEIT
Daneben wird der öffentlich-mediale Diskurs weiterzuführen sein. Hier wird es vor
allem darauf ankommen, die Verbindung Priorisierung = Rationierung zu lösen und Priorisierung auf
der Basis des schwedischen Beispiels ein positives Gesicht zu geben: Ärztlich unterstützte Priorisierung ist notwendig und hilfreich –
auch als vertrauensbildende Maßnahme. Daneben ist eine Reihe weiterer Potenziale ins Bewusstsein zu
bringen (siehe 11).
20
Dieser Diskurs dürfte erheblich von einem organisierten
Forum profitieren. Hierzu hatte die
deutsche Ärzteschaft in ihrem Ulmer Papier 2008 die Einrichtung eines Gesundheitsrats gefordert (33),
der gesundheitspolitische Priorisierungsentscheidungen vorbereitet,
sich also im „vorpolitischen Raum“
bewegen soll. Diese Forderung ist
von Hoppe mehrfach aufgenommen und präzisiert worden (34).
Alternative Foren sind denkbar: Anknüpfung an den G-BA, Enquetekommission des Deutschen Bundestages, gesonderte Regierungskommission, Deutscher Ethikrat.
Von besonderer Bedeutung ist in
diesem Kontext die Erarbeitung einer ethischen Plattform unter Einbeziehung aller relevanten Akteure.
Hierzu sind neben der Ärzteschaft
auch andere Gesundheitsfachberufe, Epidemiologen, Patienten- und
Bürgervertreter, Ethiker und Juristen, Psycho- und Soziologen, Ökonomen und Politologen zu zählen.
Auch Politiker sollten, folgt man
dem Ulmer Papier, einbezogen
werden. Dieses betont auch, dass
die Allokationsentscheidungen (35)
„transparent und öffentlich nachvollziehbar“ „von der Politik“ getroffen werden müssen.
21
Erst danach scheint es möglich, sich mit der Priorisierung konkreter Objekte zu beschäftigen. Hierzu macht das schwedische Modell verfolgenswerte Vorschläge. Aber auch bei uns gibt es
Beispiele gelungener Priorisierung,
etwa im Bereich der Allokation
knapper Organe zur Transplantation. Hier werden Krankheitsfälle
22
A 1096
priorisiert. Eine spontane Priorisierung und Rationierung wurde 2009
unausweichlich, als sich weltweit
und damit auch in Deutschland
plötzlich die Verfügbarkeit des damals einzigen Enzymersatzpräparats zur Behandlung von Morbus
Gaucher (Cerezyme®) auf 20 bis
50 Prozent reduzierte; auch hier
wurden noch Einzelfälle, aber auch
schon Fallgruppen (zum Beispiel
schwangere Patientinnen) priorisiert (36). Als man im Herbst 2009
eine Impfstoffknappheit zur Bekämpfung der neuen Influenza A
(H1N1) wähnte, veröffentlichte die
Ständige Impfkommission eine Liste zur Priorisierung der zeitlich
gestaffelt zu impfenden Bevölkerungsgruppen (37).
In Schweden steht zurzeit
die Priorisierung der genannten Condition-Intervention Pairs
(siehe 17) im Kontext der Leitlinienentwicklung im Zentrum der
Aktivitäten. Hierzu werden von der
staatlichen Agentur drei Gruppen
gebildet: eine Steuerungsgruppe,
eine Faktgruppe und eine Priorisierungsgruppe. In jeder dominiert
die medizinisch-professionelle Perspektive; an der ersten und dritten
ist Socialstyrelsen beteiligt. Die
erstgenannte Gruppe legt das zu behandelnde Versorgungsfeld und
Krankheitenspektrum (zum Beispiel Kardiologie mit koronarer
Herzkrankheit, Herzinsuffizienz,
Klappenfehler, Rhythmusstörungen, kindliche Herzfehler) fest und
schlägt die zu priorisierenden CIP
vor. Die zweite Gruppe sammelt
und sichtet die für sie einschlägige
Evidenz aus klinischer Forschung
und Versorgungsforschung. Parallel
wird die gesundheitsökonomische
Evidenz vergegenwärtigt. Die dritte
Gruppe diskutiert auf der Basis
der Arbeiten der Gruppe 2 die Ränge und legt sie (einvernehmlich)
fest. An ihr sind jeweils ein Ethiker
und ein Gesundheitsökonom (aber
kein Jurist) beteiligt. Die Aufgabe
des Ethikers ist es, auf die Einhaltung der moralischen Standards zu
achten.
Eine Bürger- und Patientenbeteiligung ist möglich. Die Ergebnisse
der Arbeit der Steuerungsgruppe
23
und der Priorisierungsgruppe werden in einem breiten Konsultationsprozess abgestimmt. Über fertiggestellte Priorisierungsleitlinien wird
systematisch und intensiv in der Öffentlichkeit wie in der Fachwelt informiert und diskutiert. Von den
Leitlinien existieren auch Versionen
für Patienten und Regionalpolitiker.
Auch dieser Typ Leitlinie gibt
wie gesagt „nur“ Empfehlungen.
Deren Berücksichtigung wird dort,
wo es möglich ist, im Lichte der
zahlreich vorhandenen schwedischen Register (zum Beispiel der
zur interventionellen Kardiologie)
verfolgt. Auffällige und unplausible
interregionale Variationen und intraregionale Veränderungen werden
identifiziert, öffentlich gemacht und
selbst von den regionalen Medien
diskutiert. Es gilt die „Methode des
offenen Vergleichs“. Hiermit wird
einerseits die professionelle Ehre
angesprochen, andererseits arbeitet
das System mit dem Steuerungsmechanismus der sozialen Verstärkung
– wohingegen sich das deutsche
System ganz überwiegend deprofessionalisierend auf die Mechanismen Geld und Recht verlässt.
Die Arbeitsgruppe hält das
schwedische Modell in seinen Grundintentionen, Grundlegungen und Verfahren für vorbildlich und schlägt vor, es mit angemessenen Modifikationen unter
Berücksichtigung der ZEKO- und
Ärztetags-Vorarbeiten zur Basis des
Priorisierungsprojekts der BÄK zu
machen. Vorbereitend ist die Ärzteschaft für ein deutsches Priorisierungsprojekt zu gewinnen. Schon
auf dieser Stufe ist über angemessene Formen der Beteiligung weiterer
Gesundheitsberufe, von Patientenund Verbraucherorganisationen sowie Bürgern nachzudenken.
24
█
Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2013; 110(22): A 1091−6
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe
Universität zu Lübeck
Akademisches Zentrum für Bevölkerungsmedizin
und Versorgungsforschung
Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck
[email protected]
@
Literatur im Internet
www.aerzteblatt.de/lit2213
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 22 | 31. Mai 2013
THEMEN DER ZEIT
LITERATURVERZEICHNIS HEFT 22/2013, ZU:
MEDIZINISCHE VERSORGUNG
Zur Weiterentwicklung des
Priorisierungsthemas
Das schwedische Modell wirkt in seinen Grundintentionen,
Grundlegungen und Verfahren zur Priorisierung auch für Deutschland vorbildlich.
Heiner Raspe
LITERATUR
1. Continentale-Studie 2012: Positive Dualität: PKV und GKV aus Sicht der Bevölkerung. September 2012. Siehe:
http://www.continentale.de/cipp/continen
tale/lib/pub/tt,oid,2102/lang,1/ticket,guest#2012 – 25.2.13
2. MLP Gesundheitsreport 2012/13, S. 7;
siehe dazu eine ppt-Präsentation unter
http://www.mlp-ag.de/homepa
ge2010/servlet/contentblob/534846/data/praesentation.pdf /15.3.13
3. Diederich A und M. Schreier: Einstellungen zu Priorisierungen in der medizinischen Versorgung: Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung.
FOR655 – Nr. 27/2010. Zugänglich über:
http://www.priorisierung-in-der-medizin.
de/index.php?option=com_content&view=article&id=22&Itemid=21&lang=de / Tabelle 3.1.2,
3.3.2013
4. Bertelsmann Stiftung: Vertrauen ins Gesundheitssystem: Bei Kassenpatienten
Fehlanzeige. Health Policy Monitor
1/2010, Abbildung 1
5. Schröder, Th.H. und H. Raspe: Ärztliche
Einstellungen und Werthaltungen vor aktuellen Herausforderungen der Profession –
Ergebnisse einer postalischen Befragung
von Ärztinnen und Ärzten in SchleswigHolstein. In F.W. Schwartz und P. Angerer
(Hrsg.): Arbeitsbedingungen und Befinden
von Ärztinnen und Ärzten. Report Versorgungsforschung Band 2. Köln (Deutscher
Ärzte Verlag) 2010, 83–100
6. Zum Vergleich: die höchste mittlere Zufriedenheit erreichte in dieser Studie mit
7,5 Punkten die Auswahlmöglichkeit „Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt.“
7. Siehe: http://www.kbv.de/befragung.html
– 25.2.13
8. Royal College of Physicians: Doctors in society. Medical professionalism in a
changing world. London 2005, S. 14
9. Medical Professionalism Project: Medical
Professionalism in the new millennium. A
physicians’ charter. Lancet
2002;359:520–2
10. In ihrer Fassung aus dem Jahr 2011:
http://www.bundesaerztekammer.de/
downloads/MBO_08_20111.pdf –
25.2.13
11. Unter „Ökonomisierung“ wird hier ein
marktgesellschaftlicher Vorgang verstanden, in dem vorher nicht-ökonomische
Sachverhalte zunehmend in rein ökonomischen Begriffen und Modellen diskutiert
und in v.a. betriebswirtschaftlicher Logik
als ökonomische Größen wahrgenommen
und behandelt werden. Analog kann der
Begriff „Medikalisierung“ definiert werden.
12. Bandelow, N.C., F. Eckert und R. Rüsenberg: Wie möchte die Wähler verarztet
werden? Gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse im Urteil der Bevölkerung.
In: Böcken, J, B. Braun und U. Repschläger (Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2012.
Gütersloh (Bertelsmann Stiftung)
2013:14–27
13. Diederich A und M. Schreier: Einstellungen zu Priorisierungen in der medizinischen Versorgung: Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung.
FOR655 – Nr. 27/2010. Zugänglich über:
http://www.priorisierung-in-der-medizin.
de/index.php?option=com_content&view=article&id=22&Itemid=21&lang=de / Tabelle 3.10.1,
14. So die Formulierung des Einladungsschreibens des Hauptgeschäftsführers der
BÄK und Prof. Schulzes (Dresden) zur 1.
und konstituierenden Sitzung der AG vom
29.3.2012
15. Zentrale Ethikkommission: Priorisierung
medizinischer Leistungen im System der
Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
Deutsches Ärzteblatt 2007;PP6 November
2007:531–5
16. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).
Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien. Methoden-Report. 4. Auflage. 2010
[cited: 30.07.2010]. Available from:
http://www.versorgungsleitlinien.de/me
thodik/reports; DOI:
10.6101/AZQ/000061
17. Siehe Pornak, S., Th. Meyer und H. Raspe:
Priorisierung in der Medizin- Verlauf und
Ergebnisse der dänischen Priorisierungsdebatte. Gesundheitswesen
2011;73:1–8. 1997 veröffentlichte der
dänische Ethikrat einen Bericht in englischer Sprache: Priority setting in the health service. A report. The Danish Council
of Ethics. 1997. Seit 2012 beschäftigt er
sich wieder mit diesem Thema.
18. Raspe, H. und Th. Meyer: Priorisierung in
der medizinischen Versorgung: Norwegen
und seine Parlamentskommission. Gesundheitswesen 2012;74:45–8.
19. Government Committee on Choices in Health Care: Choices in Health Care. Ministry
of Welfare, Health and Cultural Affairs(Rijswijk) 1992. Siehe Clemens. T.:
Transparenz und fundierte Entschediungsfindung. Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin 2012;N.
1:24–6
20. Butterfield, W.J.H.: Priorities in medicine.
Nuffield Provincial Hospital Trust 1968
(198 S.)
21. „Ärzte und ein hässliches Wort“ Süddeutsche Zeitung Nr. 126 vom 1./2.6.2011, S.
4
22. Nuffiled Trust: Setting priorities in health.
Research Summary. September 2011.
http://www.nuffieldtrust.org.uk/publicati
ons/setting-priorities /3.3.2013
23. Primary Care Trust Network: Priority setting: an overview. London (The NHS Confederation) 2007,http://www.nhsconfed.
org/Publications/Documents/Priority%20setting%20an%20overview.pdf /
3.3.2013
24. Fleischhauer, K.: Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch
Prioritätensetzung – ein Blick über die
Grenzen. Jahrbuch Wissenschaft Ethik
1997;2:137–153. In einer älteren Publikation aus dem Jahr 1988 widmete sich
bereits A. Schmidt den „Prioritäten im Gesundheitswesen“. Er sah die „Notwendigkeit prioritärer Gesundheitsziele“ (Ortskrankenkasse 1988;17–18:496–500)
25. Zentrale Ethikkommission: Prioritäten in
der medizinischen Versorgung im System
THEMEN DER ZEIT
der Gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV): Müssen und können wir uns entscheiden? Deutsches Ärzteblatt
2000;97:A-1017–23
26. Über den Stand der Arbeit. Bericht der Enquete-Kommission Ethik und Recht der
modernen Medizin. 15. Wahlperiode 06.
09. 2005. Deutscher Bundestag Drucksache 15/5980. http://dip21.bundestag.de/
dip21/btd/15/059/1505980.pdf /15.3.13
27. Siehe Liesching, F., Meyer, Th. und Raspe,
H.: Eine Analyse des nationalen öffentlichen Priorisierungsdiskurses in deutschen
Printmedien. Zeitschrift Evidenz Fortbildung Qualität Gesundheitswesen
2012;106: 389–96
28. Es handelt sich um die Forschergruppe
655 “Priorisierung in der Medizin”.
http://www.priorisierung-in-der-medizin.
de/index.php?option=com_content&task=view&id=3&Itemid=1&lang=de – 25.2.13
29. The Ministry of Health and Social Affairs:
Priorities in health care. Ehtics, economy,
implementation. SOU 1995:5
30. Oder auch die priorisierende Organisation
oder Profession …
31. Broqvist, M., M. Brantig Elgstrand, P.
Carlsson, K. Eklund and A. Jakobsson: National Model for Transparent Prioritisation
in Swedish Health Care. Revised Version.
National Centre for Priority Setting in Health Care 2011
32. Hier wurden die Mitglieder eingangs gebeten, zuerst einzelne Patienten(vignetten)
auf einer Warteliste zu priorisieren, es sei
überraschend ein Platz frei geworden. Danach ging es um die Priorisierung verschiedener Versorgungsprogramme durch
die Freigabe zusätzlicher Mittel.
33. Siehe: http://www.bundesaerztekammer.
de/downloads/UlmerPapierDAET111.pdf /
3.3.2013
34. Hoppe, J-D.: Priorisierung in der medizinischen Versorgung – Was bedeutet das.
Zeitschrift Evidenz Fortbildung Qualitätssicherung Gesundheitswesen 2010; 104:
418–25
35. Im Text des Ulmer Papiers ist – aus heutiger Sicht – missverständlich von „Priorisierungsentscheidungen“ die Rede.
36. Ähnlich verfährt die European Medicines
Agency, wenn sie vor bevorstehenden Medikamentenengpässen warnt. Auch hier
stehen Patientengruppen im Vordergrund.
37. Ständige Impfkommission: STIKO-Empfehlungen zur Impfung gegen die neue Influenza (H1N1). Epidemiologisches Bulletin 2009; Nr. 41 vom 12. Oktober,
403–26
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