Fremdnützige Forschung - Aktion Lebensrecht für Alle eV

Werbung
Nr. 120 | 4. Quartal 2016 | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,– E
B 42890
LEBENSFORUM
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Ausland
Abtreibungspille
per Luftpost
Medizin
Was wir über den
Embryo wissen
Gesellschaft
Enttäuschendes
Manifest
Fremdnützige Forschung
Bundestag kippt
Schutzstandards
LebensForum 120
In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V. und Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG)
1
INHALT
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
LEBENSFORUM 120
EDITORIAL
Reales Halloween
Alexandra Maria Linder
3
4-7
TITEL
Kein Sturm im Wasserglas
Stefan Rehder
4
Türöffner
Erklärung von Hubert Hüppe
8
AUSLAND
Staatsdogma Abtreibung
Markus Werz
9
Der Tod kommt frei Haus
Cornelia Kaminski
12
BIOETHIK-SPLITTER
10
LIFE ISSUES INSTITUTE
Der Deutsche Bundestag hat die Schutzstandards für die fremdnützige Forschung
an Nichteinwilligungsfähigen gesenkt.
MEDIZIN
Ohne Ehrfurcht keine Zukunft
Dr. med. Susanne Ley
16
Der Embryo: Individuum und Person
Prof. Dr. Günter Rager
19
19 - 24
GESELLSCHAFT
25
»Sie haben doch 3 gesunde Kinder!« 28
Aufgezeichnet von Eckhard Michaelis
BÜCHERFORUM
30
KURZ VOR SCHLUSS
32
LESERBRIEFE
34
IMPRESSUM
35
LETZTE SEITE
36
2
Zellhaufen? Schwangerschaftsgewebe? Und die Erde ist eine Scheibe: Es ist schon erstaunlich,
was wir dank der Embryologie längst alles über die Entwicklung des Menschen wissen und
trotzdem ignorieren.
DANIEL RENNEN
Enttäuschend
Stefan Rochow
25 - 27
Warum das Memorandum zu Fragen
des Lebensschutzes des Kolpingwerks nicht nur enttäuscht, sondern
auch unnötig provoziert.
LebensForum 120
E D I TO R I A L
12 - 15
In das Stelldichein der Abtreibungsärzte und
-lobbyisten in Lissabon hat sich auch die Zweite
Stellvertretende Bundesvorsitzende der ALfA,
Cornelia Kaminski, geschmuggelt.
28 - 29
Ein Ehepaar, das bereits drei Kinder hat und sich
ein weiteres Kind wünscht, erwartet überraschend Zwillinge: Tagebuch einer ungewöhnlichen Geburtsgeschichte.
LebensForum 120
Reales
Halloween
sen Sie einfach den
Artikel über die FIAPAC-Konferenz
in Lissabon. Und
es gibt unerwartete Volten, wie
das Ansinnen von
Liebe Leserin, lieber Leser!
Kolping, katholische BeratungsstelWas wird heutzutage nicht alles mit
len zurück ins staatder Gattung Mensch angestellt. Liest
liche Scheinsystem
man den Beitrag von Professor Dr. Razu bringen.
ger, den er auf der BundesdelegiertenverÄrzte stehen im
sammlung im Juni vorgestellt hat, kann
Augenblick an eiman eigentlich nicht umhin, Ehrfurcht
nem Scheideweg, was den assistierten Suvor dieser Wunderschöpfung Mensch
izid angeht. Hierzu finden Sie im Heft
zu bekommen. Wie einmalig, wie uneine Beilage mit einem Aufruf zur klaren
verwechselbar, wie unglaublich ist jede
Positionierung. Wenn Sie in diesem Beeinzelne Person! Umso heftiger ist die
reich beruflich tätig sind, unterstützen
Wirkung dessen, was Sie in diesem Heft
Sie bitte die Kampagne von Frau Dr. Ley
außerdem erwartet.
aus Köln und geben Sie es weiter. DaSobald der Mensch nicht willkürlichen
mit möchten wir verhindern, dass Ärzte
Qualitätsrichtlinien entspricht, wird er ofzu Suizidassistenz-Profis werden. Denn
fenbar als Mensch zweiwenn jemand durch beter Klasse oder möggleiteten Selbstmord
licherweise gar nicht
sterben will, fragt er
»Person: Einmalig und
mehr als Mensch angenicht seinen Nachbarn
sehen, vor allem dann,
oder seine Schwester,
unverwechselbar«
wenn er wenige Tage
sondern wünscht sich
oder Wochen alt oder
natürlich Fachkompebeeinträchtigt ist.
tenz. Je mehr Ärzte den
Man kann vielleicht demnächst, auch
Aufruf unterstützen, desto größer ist die
wenn der Mensch selbst nicht in der LaChance, festzulegen, dass die Mehrheit
ge ist, einzuwilligen beziehungsweise zu
der Ärzte auch weiterhin nicht zum Towidersprechen, mit und an ihm herumdesverhelfer werden will und dies auch
forschen und Neuheiten ausprobieren,
in der Berufsordnung so steht.
ohne dass es ihm selbst dient (früher eiDie ALfA wird im nächsten Jahr 40
ne eherne Regel in diesem Bereich). Hier
Jahre alt. Das werden wir feiern, mit dem
wirkt der CDU-Bundestagsabgeordnete
leisen Hintergedanken, dies könnte der
Hubert Hüppe gerade an federführender
letzte runde Geburtstag sein – nicht weil
Stelle mit, um solche Entscheidungen zu
wir aufgeben wollen, sondern weil Leverhindern.
bensrecht zum Standard und die ALfA
Bei aller wissenschaftlichen Notwendamit überflüssig wird.
digkeit braucht es, um die EntwicklunGerade am Ende eines Jahres wergen auf jeder Ebene zu veranschaulichen,
den wir in der Gewissheit bestärkt, dass
bewegende Geschichten aus dem Leben,
wir die Hoffnung nie aufzugeben braudie verdeutlichen, dass es nicht um fiktive
chen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen
Möglichkeiten, sondern immer um zum
im Namen der ALfA gesegnete WeihBeispiel konkrete Familien mit konkrenachten und ein hoffnungsvolles neues
ten Kindern geht. Eine solche GeschichJahr.
te wurde uns dankenswerterweise zur
Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.
Ihre
Während die Forschung, wie Sie im
Artikel über Eizellen nachlesen können,
die Grenzen des Machbaren weiter verschiebt, geht es in Kernbereichen des Lebensrechts wie der Abtreibung um ganz
andere Dinge – wir brauchen kein HalloAlexandra Maria Linder
ween, um uns ordentlich zu gruseln. LeBundesvorsitzende der ALfA
3
TITEL
Kein Sturm im
Wasserglas
Die Tests von Medikamenten an Menschen sind notwendig, aber mitunter ethisch heikel. Das gilt
besonders, wo diese an Menschen vorgenommen werden, die davon selbst nicht mehr profitieren
können. Noch problematischer ist es, wenn diese Menschen gar nicht in der Lage sind, »Wesen,
Bedeutung und Tragweite« solcher Tests zu erkennen und ihren »Willen« danach auszurichten.
Trotzdem hat der Bundestag genau dies kürzlich beschlossen und damit ein Tabu gebrochen.
E
s stimmt schon: Vermutlich wird
– zumindest vorerst – niemand
die Anfang November vom Deutschen Bundestag beschlossene Novelle
des deutschen Arzneimittelrechtes mit
seinem Leben bezahlen müssen. Dennoch ist die von Kirchen, Lebensrechtlern und Behindertenverbänden artikulierte Kritik an der vom Bundestag dabei mehrheitlich verabschiedeten Neuregelung alles andere als ein »Sturm im
Wasserglas der Moral« oder »ethische
Erbsenzählerei«. Zumal die Absenkung
des mit ihr verbundenen Schutzniveaus
erkennbar keiner wissenschaftlich begründbaren Notwendigkeit folgt. Aber
der Reihe nach.
Die Fakten: Am 11. November hat der
Deutsche Bundestag in namentlicher Abstimmung mit 357 gegen 164 Stimmen
bei 22 Enthaltungen den »Entwurf eines
Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher Bestimmung und anderer Vorschriften« (Drucksache 18/18034)
in Dritter Lesung beschlossen. Anlass für
die Novellierung des deutschen Arzneimittelgesetzes ist die vor zwei Jahren von
der Europäischen Union mit der EU-Verordnung 536/2014 neu geregelte Prüfung
von Humanarzneimitteln.
Eine EU-Verordnung ist einer von
zwei möglichen Gesetzgebungsakten der
Europäischen Union. Sie werden in der
Regel auf Vorschlag der Europäischen
Kommission vom Rat der Europäischen
Union, das heißt dem jeweils zuständigen Fachministerrat der EU-Mitgliedsstaaten, und dem Europäischen Parlament gemeinsam erlassen. Mit solchen
4
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR
Von Stefan Rehder
LebensForum 120
diese zuvor in einem einwilligungsfähigen Zustand nach ärztlicher Aufklärung
dazu schriftlich bereit erklärt haben. Die
Bereitschaft dazu kann jederzeit widerrufen werden.
Ferner dürfen die Studien für die Probanden nur »minimal belastend« und
müssen zuvor von einer Ethikkommission begutachtet und genehmigt worden
sein. Allerdings kann künftig – auch die-
zählt, hatte am 9. November erfolgreich
einen Änderungsantrag eingebracht, demzufolge Ärzte, die solche Studien durchführen, auch nonverbale Äußerungen wie
ablehnende Gesten zu beachten hätten.
Mehr war für die Gegner dieser Forschung nicht zu holen.
Denn zuvor hatte das Parlament den
von einer Gruppe von mehr als 150 Abgeordneten um Ex-BundesgesundheitsCDU
SPD
Verordnungen verfolgt die Europäische
Union das Ziel, EU-weit einen einheitlichen Rechtsrahmen für bestimmte Bereiche zu schaffen. Dabei steht es sämtlichen Mitgliedsstaaten jedoch in aller
Regel frei, einzelne Sachverhalte strengeren Regeln zu unterwerfen, als dies das
von ihnen neu zu etablierende Gemeinschaftsrecht vorsieht. Dazu später mehr.
Mit der EU-Verordnung 536/2014
soll ein EU-weiter einheitlicher Rechtsrahmen für Medikamententests an Menschen geschaffen werden. Bis Oktober
2018 müssen alle Mitgliedsstaaten der
»Der heftig umstrittene Passus
wurde leidenschaftlich debattiert«
Europäischen Union diese Verordnung
in nationales Recht umgesetzt haben. Die
in der Verordnung vorgesehenen Regelungen sind aus deutscher Sicht überwiegend unstrittig gewesen.
Strittig war aber bis zuletzt die Abschaffung des bis dato in Deutschland geltenden Verbots, solche Medikamententests
auch an Personen durchzuführen, die zum
Zeitpunkt der Durchführung klinischer
Studien nichteinwilligungsfähig sind und
von den Ergebnissen der klinischen Prüfung selbst keinen erwartbaren Nutzen
haben. Unter einer klinischen Prüfung
versteht man die versuchsweise Verabreichung von Arzneimitteln an Menschen.
Solche Medikamententests sind mit einer genauen Beobachtung der Patienten
und einer Auswertung der dabei gewonnenen Daten nach einem vorher festgelegten Schema verbunden.
Über diesen heftig umstrittenen und
von Kirchen, Lebensrechtlern, Behindertenverbänden und Patientenschützern vehement kritisierten Passus hatte der Bundestag, wenige Tage zuvor, am 9. November in Zweiter Lesung zweieinhalb
Stunden über leidenschaftlich debattiert.
Anschließend stimmten 330 Abgeordnete für eine Regelung, mit der das bisher
geltende absolute Verbot der fremdnützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen aufgehoben wird.
243 Parlamentarier stimmten dagegen,
acht enthielten sich. Für die namentlichen Abstimmungen am 9. und 11. November war jeweils der Fraktionszwang
aufgehoben worden.
Das Ergebnis: Künftig können Humanarzneimittel im Rahmen klinischer Studien an nichteinwilligungsfähigen Personen dann getestet werden, wenn sich
LebensForum 120
Ulla Schmidt, SPD
Hermann Gröhe, CDU
se Neuerung war unter den Parlamentariern heftig umstritten – das Bundesamt
für Arzneimittelsicherheit die Ethikkommissionen überstimmen.
Der CDU-Gesundheitspolitiker Hubert Hüppe, der zu den vehementen Befürwortern eines Verbots fremdnütziger
Forschung an Nichteinwilligungsfähigen
ministerin Ulla Schmidt (SPD) eingebrachten Änderungsantrag mit 321 gegen 254 Stimmen bei acht Enthaltungen
abgelehnt. Dieser auch von Hüppe unterstützte Antrag (Drucksache 18/10233)
wäre auf die Beibehaltung des Verbots
fremdnütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen hinausgelaufen.
ANZEIGE
Akademie Bioethik:
Zellhaufen? Mensch? Menschenrechte?
Gilt das Menschenrecht auf Leben schon vor der
Geburt?
13. bis 15. Januar 2017 - Köln
Weitere Infos: [email protected]
5
TITEL
Die Hintergründe: Besonders brisant ist dabei, dass die Umsetzung der
EU-Verordnung 536/2014 eine Absenkung der bis dato in Deutschland geltenden Schutzstandards für nichteinwilligungsfähige Personen gar nicht erforderlich gemacht hätte. Denn Artikel 31
der EU-Verordnung 536/2014 hätte den
EU-Mitgliedsstaaten auch erlaubt, an einem gesetzlichen Verbot fremdnütziger
Forschung an nichteinwilligungsfähigen
Patienten festzuhalten.
Als nichteinwilligungsfähig gilt nach
Paragraf 41 Absatz 3 Arzneimittelgesetz
(AMG), wer »nicht in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite einer klinischen Prüfung zu erkennen und« seinen
»Willen hiernach auszurichten«.
Mehr noch: Selbst der »Verband der
Forschenden Arzneimittelhersteller« (vfa)
hält derartige Studien für nicht erforder-
lich. Dazu passt, dass es nach Recherchen
von »LebensForum« auch im liberaleren
Ausland weltweit bislang keine einzige
publizierte Studie gibt, die ausschließlich mit nichteinwilligungsfähigen Patienten durchgeführt wurde.
Auch der ursprüngliche, Ende 2015
vorgelegte Referentenentwurf sah noch
die Beibehaltung des geltenden Schutzniveaus von nichteinwilligungsfähigen
»180-Grad-Wende ist fachlich wie
moralisch nicht nachvollziehbar«
Menschen vor. Darin hieß es: »Die Beibehaltung des Schutzniveaus für nichteinwilligungsfähige Erwachsene trägt dem
Beschluss des Bundestags vom 31. Januar 2013 (Drucksache 17/12183) Rechnung. Danach ist bei der Forschung an
nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen
ein direkter individueller Nutzen vorauszusetzen. Dies entspricht auch dem Beschluss des Bundesrates vom 12. Oktober
2012 (Drucksache 413/12) ...«
Die Bewertung: Die 180-Grad-Wende, die der Bundestag nun vollzogen hat,
ist daher sowohl fachlich wie moralisch
nicht nachvollziehbar. Fachlich, weil dafür
überhaupt keine Notwendigkeit zu bestehen scheint. Und ethisch, weil es sich bei
Nichteinwilligungsfähigen um einen besonders schützenswerten Personenkreis
handelt. Die im Laufe der Debatte verschiedentlich vorgetragene Behauptung,
es stelle gewissermaßen eine Diskriminierung dar, wenn diesen Personen zu einem
Zeitpunkt, zu dem sie einwilligungsfähig
INFO
Auszüge aus der Bundestagsdebatte
Ulla Schmidt (Aachen) (SPD):
»(...) Der Ausgangspunkt ist – da habe ich
keine Zweifel, dass wir uns da einig sind –,
dass kranke Menschen, die nicht selbst in
Forschungsvorhaben einwilligen können, eine besonders verletzliche und damit auch eine besonders schützenswerte Personengruppe sind, so wie das auch in der Deklaration von Helsinki beschrieben ist. Im Hinblick
auf all diese Fragen hat schon der Nürnberger Kodex von 1947 gesagt, dass Aufklärung
über Nutzen, Risiken und möglicherweise
auch Belastungen eine zwingende Voraussetzung dafür sein soll, dass einwilligungsfähige Menschen, Probandinnen und Probanden,
in ein Forschungsvorhaben einsteigen können. Dabei ist klar, glaube ich, dass von Nutzen nur dann gesprochen werden kann, wenn
es eigennützig ist. Bei ›fremdnützig‹ stehen
immer die Belastungen und auch die eventuellen Risiken im Vordergrund; bei fremdnützigen und gruppennützigen Forschungsvorhaben gibt es keinen individuellen Nutzen. Ich
glaube, dass das der Grund ist, warum bisher bei allen Debatten über die Frage ›Forschung an Nichteinwilligungsfähigen‹ hier im
Parlament einstimmig Konsens war, in dieser
schwierigen Abwägung zwischen dem hohen
Schutzbedürfnis des Nichteinwilligungsfähigen auf der einen Seite und dem vielleicht
vorhandenen Nutzen und den Notwendigkeiten medizinischen Forschens auf der anderen Seite zu sagen: Nichteinwilligungsfähige können dann an Forschungsvorhaben teilnehmen, wenn sie davon einen individuellen
6
Nutzen haben. Denn von einem solchen Nutzen wollte man auch Nichteinwilligungsfähige nicht ausschließen. Die aktuelle Gesetzeslage – auch Frau Vogler hat darauf hingewiesen – wurde Anfang 2016 noch einmal einstimmig bestätigt – mit dem Auftrag,
bei der Arzneimittelrichtlinie dafür zu sorgen,
dass dieses hohe Schutzniveau in Deutschland erhalten bleibt.
Dem ist die EU-Kommission nachgekommen,
aber davon soll jetzt abgewichen werden.
Das ist schon ein Widerspruch in sich. Das
war etwas, was uns geeint hat, und jetzt soll
es geändert werden. (...)
Ich glaube, drei Gründe sprechen dagegen.
Erstens: Zu dem Zeitpunkt, an dem ich eine
solche Vorabentscheidung treffe, kenne ich
den Forschungsinhalt nicht (...). Keiner, auch
kein Arzt, kann mich über Risiken, Nutzen
oder Sonstiges aufklären. (...)
Zweitens: Jeder Proband und jede Probandin, die an einer Studie teilnehmen, haben
das Recht, jederzeit ohne Nachteil selbstbestimmt aus einer Studie wieder aussteigen zu können. Auch das kann der Nichteinwilligungsfähige nicht wahrnehmen, weil die
Möglichkeit, selbstbestimmt auszusteigen,
für ihn nicht mehr gegeben ist. Damit ist es
auch eine Benachteiligung gegenüber denen,
die einwilligungsfähig sind.
Drittens: Wir überschreiten diese Grenze, ohne dass wirklich ein Nutzen vorhanden ist.
Die Kollegin Vogler hat gesagt: Niemand
kann uns sagen, welche Forschung nicht
möglich ist, wenn wir diesen Weg nicht ge-
hen – Professor Dr. Johannes Pantel, Leiter
des Arbeitsbereichs Altersmedizin der Universität Frankfurt, hat auf diese Frage so geantwortet: Ich kann mir nicht wirklich eine klinische Forschung vorstellen, die zu wesentlichen Fortschritten führt und ausschließlich mit einer solchen Gesetzesänderung
möglich wäre. Irgendwann werden im Zuge der Teilnahme an einem Forschungsvorhaben medizinische Belastungen bei den Menschen auftreten. Er spricht sich weiter dafür aus, dass das, was wir hier machen, ausschließlich dem Wohle der Patienten dienen solle. Dem steht aber die gruppennützige Forschung entgegen. Wir brauchen keine
neuen Wege.
Lassen Sie mich abschließen mit dem, was
die Deutsche Alzheimer Gesellschaft gesagt
hat. Sie ist die Selbstvertretung der Menschen mit Demenz. Sie hat dazu aufgefordert, die Regelung, wie wir sie jetzt haben,
beizubehalten, und sie setzt sich dafür ein,
dass Menschen mit Demenz, die nicht mehr
einwilligungsfähig sind, selber entscheiden
können müssen, ob sie aus einer Studie aussteigen.
Weiterhin sagt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft, dass das, was wir hier vorhaben, nämlich dass die Betreuer es entscheiden sollen, nicht mit dem geltenden Betreuungsrecht zu vereinbaren ist; denn die Betreuer sind dem Wohle des Einzelnen verpflichtet. (...)
Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Lassen Sie uns diesen VorschläLebensForum 120
seien, das Recht genommen werde, sich
für den Fall der Fälle aus altruistischen
»Ein derartiger Blankoscheck ist
keine Selbstbestimmung«
Gründen der Forschung zur Verfügung
zu stellen, ist übelste Bauernfängerei.
Selbstverständlich ist das Selbstbestimmungsrecht so lange zu respektieren, wie
ein Mensch sich noch selbstbestimmen
kann. Nur hat das, was der Bundestag
jetzt mehrheitlich beschlossen hat, mit
echter Selbstbestimmung gar nichts zu
tun. Dass jemand sich vorausverfügend
zu Medikamententests bereit erklärt, deren Ziele, Umfänge und mögliche Belas-
gen folgen. Lassen wir die Gesetzeslage, wie
sie ist. Sie reicht aus. Deutsche Forschung ist
immer noch Spitze in der Welt. (...)«
Hermann Gröhe, Bundesminister für Gesundheit (CDU):
»(...) Auch wenn es in dieser Debatte zuallererst um die Zulässigkeit sogenannter gruppennütziger Forschung geht, möchte ich doch
zunächst etwas zum Gesetzentwurf insgesamt sagen. Wir setzen mit diesem Vierten
AMG-Änderungsgesetz eine EU-Verordnung
um, deren Ziel die Harmonisierung klinischer
Studien ist. Diese Harmonisierung wird dazu führen, dass auch Menschen in unserem
Land schneller Zugang zum medizinischen
Fortschritt erhalten. Wer einmal erlebt hat,
wie viele Menschen Hoffnung auf die Möglichkeit zur Beteiligung an einer solchen Studie setzen, wird wissen, was das bedeutet.
Ich denke auch daran, dass im letzten Jahr
die Europäische Arzneimittel-Agentur Zulassungen von Arzneimitteln zurückgezogen hat,
weil es zu Recht Zweifel an klinischen Studien in anderen Kontinenten gab. Es geht also
im Kern um den Schutz von Patientinnen und
Patienten und um den Zugang zum medizinischen Fortschritt. (...)
Ich will aber auch sagen, worum es aus meiner Sicht nicht geht. Es geht nicht um eine
Abwägung zwischen Lebensschutz und Forschungsinteresse. Würde es darum gehen –
da kann ich wirklich auf mein Abstimmungsverhalten in der Vergangenheit hinweisen –,
LebensForum 120
tungen er zum Zeitpunkt der Erklärung
gar nicht kennen kann und die zu diesem
Zeitpunkt nicht einmal den Forschern,
die sie konzipieren, und den Ärzten, die
sie durchführen werden, bekannt sein
können, kann unmöglich Ausdruck von
Selbstbestimmung sein. Wer einen derartigen Blankoscheck ausstellt, bestimmt
nicht mehr sich selbst, sondern verzichtet vielmehr darauf.
Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, auch der Verzicht auf Selbstbestimmung sei eine Form, sich selbst zu
bestimmen, und daher zu respektieren.
Dann sollte man zumindest den Mut besitzen, das auch so zu benennen. Aber
auch würde die informierte Einwilligung
des Patienten, der sogenannte »informed
consent«, auf dem nicht nur das »Arzt-Patient-Verhältnis«, sondern praktisch die
gesamte moderne Medizin basiert, wenn
wäre für mich klar, dass ich auf der Seite des
Lebensschutzes stünde. (...)
Deshalb lehne ich wie viele beispielsweise
jede verbrauchende Embryonenforschung ab,
bei der Lebensschutzinteressen gegenüber
Forschungsinteressen hintangestellt werden. Nein, worum es heute geht, ist, wie wir
in diesen schwierigen Fragen die Orientierung auf die Menschenwürde, zu der wir alle
verpflichtet sind, behalten. Dazu aus meiner
Sicht drei Anmerkungen.
Erstens: Gerade die Schwächsten brauchen
unseren Schutz. Ich lehne die ›Verzweckung‹
eines Menschen – ein Begriff aus der Anhörung – ausdrücklich ab. Sie darf es nicht geben. Deswegen freue ich mich darüber, dass
es in Wahrheit bei allem notwendigen Ringen einen großen Konsens darüber gibt und
dass wir, egal welcher Antrag heute beschlossen wird, die strengste Regelung in der
Europäischen Union haben und wir gemeinsam eine Forschung an Nichteinwilligungsfähigen ohne deren Einwilligung ablehnen. Dafür hatten wir in Brüssel im Rahmen der Beauftragung durch den Bundestag gekämpft.
Dies haben wir durchgesetzt. Davon machen
wir Gebrauch, unabhängig davon, welcher
Antrag heute hier beschlossen wird.
Zweitens: Zum Menschsein gehört es auch,
Leid lindern zu wollen, Krankheiten besser
zu verstehen, ja heilen zu können. Mich bedrückt der in Teilen – weniger hier, aber in
der öffentlichen Debatte – forschungsfeindliche Ton; denn gerade solche Töne gefährden die notwendige Debatte über die ethi-
auch nicht völlig auf den Kopf gestellt, so
doch in einem sehr sensiblen Bereich ausgehebelt, nämlich ausgerechnet dort, wo es
um besonders vulnerable Patienten geht.
Warum der Deutsche Bundestag so
entschied, wie er entschied, ist schwer zu
begreifen. Eine ebenso spannende wie beunruhigende Lesart hat der CDU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe öffentlich gemacht (siehe dazu Seite 8f).
»Der ›informed consent‹ wird
ausgehebelt«
Wie auch immer es sich verhält: Der moralische Kollateralschaden ist – so oder
so – immens.
schen und rechtlichen Grenzen unseres Forschens. (...)
Drittens: Menschsein verwirklicht sich auch in
der Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts, auch wenn es weit darüber hinausgeht. Dass das Selbstbestimmungsrecht auch
Vorausverfügungen für den Fall eigener Nichteinwilligungsfähigkeit umfasst, ja sogar zwingend umfassen muss, ist durch die Rechtsprechung und Gesetzgebung zur Patientenverfügung immer wieder betont worden. Dabei können solche Verfügungen beispielsweise einen Behandlungsabbruch oder einen Behandlungsverzicht vorgeben und damit eine
Entscheidung treffen, die bis zur schnelleren
Lebensbeendigung führen kann. Um weit weniger geht es bei den Entscheidungen über
die Beteiligung an einer Studie, bei der Belastung und Risiko minimal sein müssen. Wir haben damit ja Erfahrungen durch die Anwendung der entsprechenden Regelung seit 2004
bei Kindern – auf die wir übrigens, weil wir
viel zu wenig ausdrücklich für Kinder zugelassene Arzneimittel haben, so dringend angewiesen sind. (...)
Meine Damen, meine Herren, diese drei Gedanken haben uns bei der Erarbeitung des
Gesetzentwurfes geleitet. Ich will aber ausdrücklich sagen, dass ich es gut finde, dass
wir – nach sehr intensiven parlamentarischen
Beratungen und zwei Anhörungen – Sorgen
und Anfragen bezüglich des Gesetzentwurfes
heute auch in Form von Änderungsanträgen
aufnehmen und uns insofern eine Weiterentwicklung vorgenommen haben. (...)«
7
TITEL
Türöffner
Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags sieht in § 31 vor, dass jedes Mitglied des
Bundestages zur abschließenden Abstimmung eine kurze schriftliche Erklärung abgeben kann, die
in das Plenarprotokoll aufzunehmen ist. Davon hat der CDU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe
Gebrauch gemacht. »LebensForum« dokumentiert die Erklärung des Gesundheitspolitikers und
ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen im Wortlaut:
nahme nicht einwilligungsfähiger Personen zu streichen. Dies ist umso nahe liegender, als diese Forderung von als vermeintlichen Befürwortern der jetzt getroffenen Regelung vorgestellten Gruppen
bereits während der parlamentarischen
Beratungen erhoben worden ist.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik
CDU
»Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31
GO zu TOP 36 am 11.11.2016
Ich stimme heute in der Dritten Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher
und anderer Vorschriften auf Drucksache
18/8034 mit Nein, obwohl ich als Berichterstatter den während des parlamentarischen Verfahrens erarbeiteten Änderungen, die sich in Beschlussempfehlung und
Bericht des Ausschusses für Gesundheit
auf Drucksache 18/10056 wiederfinden,
zugestimmt habe.
Grund meiner Ablehnung ist die Einführung von fremdnützigen klinischen
Arzneimittelprüfungen an nicht einwilligungsfähigen Menschen, die ausschließlich einen Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe, zu der die betroffene Person gehört, zur Folge haben
wird, nicht jedoch für den nicht einwilligungsfähigen Probanden selbst, sogenannte gruppennützige klinische Prüfungen. Diese lehne ich aus ethischen
Türöffner für die Einbeziehung
besonders vulnerabler Gruppen
Die getroffene Regelung ist
erkennbar praxisuntauglich
Gründen ab und bekenne mich zu dem
vom Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 einstimmig gefassten Beschluss:
›Bei Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen und an Personen in
Notfallsituationen ist ein direkter individueller Nutzen vorauszusetzen‹.
Die erkennbare Praxisuntauglichkeit
der vorgesehenen schriftlichen Verfügung
nach ärztlicher Aufklärung wird absehbar
zu der Forderung führen, die schriftliche
Verfügung einschließlich der ärztlichen
Aufklärung als zwingende Voraussetzung
gruppennütziger klinischer Prüfungsteil8
anders als die entsprechende EU Richtlinie – wirklich so eng begrenzen?‹
Das KKS-Netzwerk und der Medizinische Fakultätentag schrieben am 18. Mai
2016 an den Gesundheitsausschuss, dass
sie eigentlich die schriftliche Verfügung
– und damit implizit auch die damit verknüpfte ärztliche Aufklärung – ablehnen:
›Auch wenn wir uns eine generelle Regelung ohne Patientenverfügung wünschen
würden, so unterstützen wir den Vorschlag
der Bundesregierung, die gruppennützige
Hubert Hüppe, CDU
und Nervenheilkunde (DGPPN) hielt in
ihrer Stellungnahme zur 4. AMG-Novelle vom 28. August 2016 fest, dass die vorgesehene gesetzliche Regelung gruppennützige Forschung an Menschen, die ›nie
einwilligungsfähig waren (wie bei Menschen mit geistigen Behinderungen)‹ unmöglich mache, und stellte die rhetorische Frage: ›Will also der deutsche Gesetzgeber gruppennützige Forschung –
Forschung bei einer Untergruppe der nicht
einwilligungsfähigen Erwachsenen auf der
Basis einer Patientenverfügung zu erlauben.‹
Der als Einzelsachverständiger zur Anhörung am 16.10.2016 geladene Vorsitzende des Arbeitskreises Medizinischer
Ethik-Kommissionen, Professor Dr. Joerg Hasford, empfahl in seiner schriftlichen Stellungnahme, ›den Artikel 31 der
EU-Verordnung Nr. 536/2014 nicht mit
eigener Gesetzgebung zu ergänzen‹, also gruppennützige Forschung gemäß
Artikel 31 der EU-Verordnung an allen
nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen
und Kindern, einschließlich solchen mit
sogenannter geistiger Behinderung, in
Deutschland zu legalisieren.
Daher halte ich die Befürchtung für
begründet, dass die heutige begrenzte
Zulassung fremdnütziger Forschung an
nicht einwilligungsfähigen Menschen der
Türöffner für die zukünftige Einbeziehung zusätzlicher besonders vulnerabler
Gruppen in fremdnützige Forschung ist.
Hubert Hüppe, MdB«
LebensForum 120
AUSL AND
Staatsdogma Abtreibung
Geht’s noch? Frankreichs sozialistische Regierung will tatsächlich die »Behinderung« von
vorgeburtlichen Kindstötungen durch Informationsangebote von Lebensrechtlern im Netz
kriminalisieren und zukünftig mit Haft- und/oder Geldstrafen ahnden können.
Von Markus Werz
LebensForum 120
auseinandersetzen, bevor die Nationalvertung des »délit d’entrave«, also des Versammlung endgültig abstimmt.
suchs, eine Abtreibung zu verhindern, auf
Der aktuelle Gesetzesentwurf zur Ändas Internet auch strafrechtlich weitergederung des Artikels L 2223-2 des Code de
führt werden.
la Santé Publique wurde von der RegieDie Polemik in der Sozialkommissirung Valls in einem Schnellverfahren einon war nicht einer grundsätzlichen Abgebracht, das die Abstimmung bereits nach
lehnung der Abtreibung von Seiten der
der ersten Lesung ermöglicht. Im Oktokonservativen Republikaner geschuldet.
ber war der Vorstoß der Regierung im SeSie warf der Regierungsfraktion lediglich
nat gescheitert, die gleiche Gesetzesändevor, den Vorwahlkampf der Republikarung versteckt in einem Gesamtpaket zur
ner durch die Terminplanung dieser AbReform der Gesundstimmung torpedieren
heits- und Sozialgesetzzu wollen. Tatsächlich
gebung in Kraft zu setstimmte die konservazen. Seit längerer Zeit
tive Opposition bis auf
häufen sich auch die Äusieben Ausnahmen, unßerungen der Gesundter ihnen befand sich der
heitsministerin Marigescheiterte Vorwahlsol Touraine gegen Inkandidat Jean-Frédéric
ternetseiten, die FrauPoisson, für die Abtreien ein alternatives In- Französische Nationalversammlung
bungs-Apologie vom 26.
formationsangebot zur
November 2014 zum
Abtreibung bereitstellen. Der Vorwurf der
40. Jahrestag der Loi Veil. Nun wird sich
Ministerin lautet auf Irreführung, denn die
im von den Republikanern dominierten
Seiten erweckten durch ihre ProfessionaSenat entscheiden, wie sich die Konservalität und das Angebot einer Gratis-Teletiven zu diesem Gesetzesvorhaben stellen.
fonhotline den Eindruck, offizielle InforBereits im Januar dieses Jahres wurde zumationsportale zu sein. Allerdings sucht
dem die Bedenkfrist von einer Woche vor
man auf den Seiten des Gesundheitsmider Abtreibung abgeschafft. In Frankreich
nisteriums den Hinweis, dass die Abtreiwerden jährlich rund 220.000 Abtreibunbung Tötung von menschlichem Leben
gen durchgeführt, was einem Anteil von
ist und mit schweren Belastungen für die
20 Prozent an allen Schwangerschaften
werdende Mutter verbunden sein kann,
entspricht. Kritik an der Abtreibung gibt
vergebens. Der tatsächliche Grund für die
es in den Eliten kaum. Man kann, wie der
Offensive der Regierung dürfte in der Tatneue Präsidentschaftskandidat Fillon, den
sache liegen, dass die Alternativangebote
die Medien als konservativen Katholiken
wie ivg.net besser über die Suchmaschibeschreiben, im Privaten die Abtreibung
nen auffindbar sind als die Seiten des Miablehnen, aber dennoch den lebensfeindnisteriums oder der Abtreibungsorganisalichen Trend mit dem eigenen Abstimtion »Planning familial«. Seit dem Machtmungsverhalten unterstützen. Er stimmantritt der Sozialisten im Jahre 2012 spürt
te 2014 für das »Grundrecht auf Abtreiman die Tendenz zur Dogmatisierung der
bung«. Am Freitag fehlte Fillon bei der
Abtreibung. So wurde die Abtreibung, die
Abstimmung in der Nationalversammin Frankreich – wie auch in Deutschland –
lung. Auf solche Politiker ist bei der Erlediglich straffrei ist, per Abstimmung der
richtung einer Kultur des Lebens nicht zu
Nationalversammlung im Jahr 2014 zum
zählen. Dafür werden am 22. Januar 2017
Grundrecht. Nun muss die Dogmatisiewieder tausende Teilnehmer am »Marsch
rung der Abtreibung durch die Ausweifür das Leben« in Paris erwartet.
REUTERS
D
er Vorwahlkampf der Republikaner wird durch einen befremdlichen Moment in der Erinnerung bleiben: Gegen den Vorwurf Alain
Juppés, die Abtreibung einschränken zu
wollen, verteidigte sich François Fillon
mit dem Hinweis, noch nie gegen die Abtreibung gestimmt zu haben. Der nationale Konsens um das sogenannte Recht
auf Abtreibung war im Nu wiederhergestellt. Weniger präsent in den Medien
waren hingegen die Auswirkungen dieses
Schlagabtausches auf die Sozialkommission der französischen Nationalversammlung. Dort wird derzeit ein Text diskutiert, der vorsieht, die Einschränkungen,
die bereits für die Gehsteigberatung bestehen, auch auf das Internet auszudehnen. Das bedeutet konkret, dass Internetseiten gesperrt und deren Betreiber strafrechtlich belangt werden können, wenn
ihr Informationsangebot »psychischen
Druck« auf die Frauen ausübt, nicht abzutreiben. Das sogenannte »Grundrecht
auf einen Schwangerschaftsabbruch« darf
nicht durch andere Informationen, die den
Tod des Embryos oder mögliche psychische Belastungen für die Frau thematisieren, eingeschränkt werden. Wer die
Abtreibung behindere, müsse mit bis zu
zwei Jahren Gefängnis und 30.000 Euro
Geldstrafe rechnen. Der Vorsitzende der
französischen Bischofskonferenz Erzbischof Georges Pontier von Marseille hat
noch am Vorabend der Abstimmung an
den Staatspräsidenten François Hollande
appelliert, »ein so wichtiges Thema nicht
in parteipolitischen Schablonen« zu diskutieren. Dieser Gesetzesentwurf drohe
die Meinungsfreiheit einzuschränken. Erzbischof Pontier fragte: »Muss man notwendigerweise jede Alternative zur Abtreibung ausschließen, um als ehrlicher
Staatsbürger zu gelten?« Nach dem Ja der
Sozialkommission am Mittwoch stimmte
am vergangenen Freitag die Nationalversammlung für den Gesetzesentwurf. Nun
muss sich der Senat mit diesem Projekt
9
BIOETHIK-SP L I T T E R
+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio
Augsburg (ALfA). Die »Allianz für
Fortschritt und Aufbruch« (ALFA) hat
sich in »Liberal-Konservative Reformer« (LKR) umbenannt. Die Partei von
AfD-Gründer Bernd Lucke reagiert damit auf den verlorenen Rechtsstreit gegen die Lebensrechtsorganisation Aktion Lebensrecht für Alle, die ebenfalls
»ALfA« abgekürzt wird. Auf einem Parteitag in Frankfurt am Main sagte LKRGeneralsekretär Jürgen Joost, seine Partei wolle sich über ihren neuen Namen
politisch klar positionieren. Das berichtet die Wochenzeitung »Die Zeit«. Damit ist der Rechtsstreit um das Kürzel
»ALFA« zu Ende. Die Umbenennung
der Partei am Samstag in »LKR« sei eine »gute Lösung für beide Seiten«, erklärte Alexandra Linder, Bundesvorsitzende der ALfA, in einer Pressemitteilung. »Die Partei hatte inzwischen auch
erkannt, dass es in der Öffentlichkeit regelmäßig zu Verwechslungen und Verwirrungen kam«, so Linder weiter. Für die
Namensänderung räume der Verein der
Partei eine Übergangsfrist ein. Nächstes
Jahr feiert die ALfA, die mit über 11.000
Mitgliedern eine der größten, bekanntesten und ältesten Lebensrechtsorganisationen in Deutschland und Europa ist, ihr
40-jähriges Bestehen. Als überkonfessionelle und überparteiliche Vereinigung
für das Leben tritt die ALfA für das Lebensrecht aller Menschen ein, von der
Zeugung bis zum Tod.
Abtreibung stoppt ein schlagendes Herz
New York (ALfA). Die US-Lebensrechtsorganisation »National Pro-Life
Alliance« (NLPA) hat US-amerikanische
Bürger aufgerufen, eine Petition für ein
Gesetzesvorhaben zu unterzeichnen, das
die Zahl der vorgeburtlichen Kindstötungen in den USA drastisch reduzieren
soll. Der sogenannte »Ultrasound Informed Consent Act« sieht vor, dass abtreibungswillige Frauen vor der Abtreibung
mit einem von 3D-Druckern erzeugten
Modell ihres ungeborenen Kindes konfrontiert werden. Wie die NLPA in ihrem
Aufruf schreibt, lasse sich mittels dieser
Technik aus dem Ultraschallbild ein 3DModell des ungeborenen Kindes erzeugen, das die Mutter anschließend in ihren Händen halten könne. Diese Technik ermögliche Schwangeren »eine völlig
neue Dimension der Erfahrung«. Auch
ließen sich solche 3D-Modelle zusätzlich
mit der Aufnahme der Herztöne des ungeborenen Kindes kombinieren.
VALTENTINA R./FOTOLIA.COM
Rechtsstreit gewonnen: ALfA bleibt ALfA
»Denn bei jeder Abtreibung wird ein Kind
getötet, eine Frau verletzt, eine Familie
beschädigt«, so Linder. Über die Folgen
würden Frauen in Beratungsstellen wie
der Arbeiterwohlfahrt und »pro familia«
gar nicht oder nur unzureichend aufgeklärt. Gegenüber »idea« kritisierte Linder
auch den Vorsitzenden der CDU-Kreistagsfraktion in Stadthagen, Gunter Feuerbach: »Wenn nicht einmal mehr Vertreter ›christlicher‹ Parteien diese Klarheit zum Ausdruck bringen und ein solches Krankenhaus unterstützen, kann man
all denjenigen Menschen, die ein eindeu-
3D-Ultraschallbild
Nach Ansicht der NLPA bezeuge diese
Technik »die Wahrheit über das ungeborene Kind« und verweise die Erzählung
der Abtreibungsbefürworter, wonach der
Embryo ein bloßer »Zellklumpen« sei, ins
Reich der Legende. Die Lebensschutzorganisation beruft sich auf eine kürzlich
erschienene US-weite Studie. Ihr zufolge entschieden sich 78 Prozent der abtreibungswilligen Frauen gegen die vorgeburtliche Tötung ihres Kindes, wenn
ihnen zuvor ein Ultraschallbild des Kindes gezeigt wurde.
Abtreibung: Linder verteidigt Klinik
Stadthagen (ALfA). Lebensrechtler
haben die Haltung des Gesundheitskonzerns Agaplesion gegen Kritik verteidigt.
Das christliche Unternehmen, das ab April 2017 das Krankenhaus in Stadthagen
im Kreis Schaumburg (Niedersachsen)
betreiben wird, hatte angekündigt, Abtreibung dort nur noch bei medizinischer
Indikation dulden zu wollen, und dafür
Kritik in Teilen von Politik und Medien
geerntet. Das berichtet die evangelische
Nachrichtenagentur »idea«. Gegenüber
»idea« lobte die Bundesvorsitzende der
Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA), Alexandra Maria Linder, das Krankenhaus nehme den Begriff »christlich« ernst. Dafür
ernte es »Diffamierungen und bösartige
Reaktionen«. Abtreibung könne niemals
ein Recht sein und sei auch keine Hilfe:
Klinikum Schaumberg in Stadthagen
tiges Menschenwürde-Konzept haben,
nicht vermitteln, warum man solche Politiker noch wählen sollte.«
Die Vorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL), Mechthild
Löhr, erinnerte daran, dass in Deutschland jede Klinik für sich entscheiden könne, welche medizinische Leistung sie anbiete: »Weder Personen noch Kliniken
können daher verpflichtet werden, Abtreibungen oder andere lebensgefährliche oder gar tödliche Aktionen durchzuführen, wenn sie sich aus guten Gründen dagegen entscheiden.« Etwa 100.000
gemeldete Abtreibungen pro Jahr zeigten, »dass es dringend geboten ist, junge Frauen und Familien mehr Hilfe zum
Leben mit dem Kind und nicht etwa noch
mehr Abtreibungsangebote zu fördern«,
zitiert »idea« Löhr.
Zuvor hatte die gemeinnützige Aktiengesellschaft Agaplesion (dt.: »Liebe den
Nächsten«) die Kritik von Medien in einer Stellungnahme zurückgewiesen. Als
christliches Unternehmen sei man aufgerufen, einerseits eine klare Position
zu formulieren und andererseits Betroffene in ihren seelischen Nöten zu begleiten. Die Berichterstattung erwecke den
Eindruck, dass das Krankenhaus Frauen
ohne Hilfe und Gespräche wegschicken
+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio
10
LebensForum 120
oethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik
Euthanasie: In Den Haag wächst
der Widerstand
Den Haag (ALfA). In den Niederlanden wenden sich Christdemokraten und
Sozialisten gegen die von der Regierung
geplante Ausweitung der »Tötung auf Verlangen« für lebensmüde Menschen. Das
RIJKSOVERHEID.NL
Belgien: 2.022 Tötungen auf Verlangen
Edith Schippers
berichtet der »Deutschlandfunk«. In den
Niederlanden ist die »Tötung auf Verlangen« seit 2002 gesetzlich erlaubt. Menschen, die von einem Arzt getötet werden wollen, müssen dem Gesetz zufolge
»unheilbar« erkrankt sein und »unerträglich« leiden. Nun will – wie an dieser Stelle bereits berichtet – die niederländische Gesundheitsministerin Edith
Schippers die »Tötung auf Verlangen«
Brüssel (ALfA). In Belgien hat sich die
Zahl der Euthanasie-Fälle seit der Zulassung im Jahr 2.002 nahezu verhundertfacht. Das geht aus einer Pressemitteilung der »Alliance Defending Freedom«
(ADF International) hervor. ADF International beruft sich dabei auf den 7. Euthanasie-Bericht, der alle zwei Jahre von
der Euthanasie-Kontroll-Kommission in
Belgien vorgelegt wird. Demnach sind
2015 in Belgien 2.022 Menschen durch
Euthanasie gestorben. »Der siebte Euthanasie-Bericht in Belgien zeigt, dass es,
wenn wir die Tür zur Tötung auf Verlangen öffnen, keinen logischen Endpunkt
gibt.« Während es im Jahr 2002 erst 24
Euthanasie-Fälle gegeben habe, sei die
Zahl nun »um ein Hundertfaches« gestiegen. »Die abschüssige Bahn, die Belgien im Jahr 2002 betreten hat, wird nun
mehr und mehr sichtbar. Heute wird Euthanasie bei einer Person, die im physischen Sinne vollkommen gesund ist, aber
an einer psychischen Krankheit leidet, in
Belgien akzeptiert«, wird Sophia Kuby,
Director of EU Advocacy bei ADF International, zitiert.
Karlsruhe entscheidet über Suizidhilfe
Karlsruhe (ALfA). Das Bundesverfassungsgericht wird über die Verfassungs-
gemäßheit des am 6. November 2015
vom Bundestag beschlossenen Gesetzes befinden, welches die geschäftsmäßige Förderung der Suizidhilfe erstmals in
Deutschland unter Strafe stellt. Das beTOBIAS HELFRICH
auch sterbewilligen alten und gesunden
Menschen ermöglichen.
Laut dem Deutschlandfunk sind die oppositionellen Christdemokraten und die
calvinistische Partei SGP »vehement dagegen«. Sie sprächen von einem »moralischen Wendepunkt«. Es gehe vielmehr
darum, Einsamkeit zu bekämpfen und die
Situation in den Pflegeheimen zu verbessern. Barmherzigkeit bedeute, Perspektiven zu bieten, aber nicht den Tod, gibt
der Radiosender den SGP-Fraktionsvorsitzenden Kees van der Staaij wieder. Auch
den Sozialisten gehe das geplante Gesetz
viel zu weit. Es sei zynisch, dass ausgerechnet eine Gesundheitsministerin mit
diesem Plan komme, die jahrelang drastische Einsparungen bei der Altenpflege durchgeführt und damit die Einsamkeit gefördert habe, fasst der Sender die
Ansicht des Fraktionsvorsitzenden der
ebenfalls in der Opposition befindlichen
Sozialisten, Emile Roemer, zusammen.
werde. Das werde man niemals tun, sondern kompetente Ansprechpartner und
Einrichtungen in der Nähe nennen, die
professionelle psychische Unterstützung
anbieten. Wenn es medizinische Gründe
gebe, werde man einen Schwangerschaftsabbruch durchführen, berichtet »idea«.
Weiter schreibt die Agentur: »Im
Selbstverständnis von Agaplesion heißt
es: ›Menschen sind im biblischen Sinne
Ebenbild Gottes. Deshalb stehen für uns
der unendliche Wert und die unantastbare Würde jedes Menschen im Mittelpunkt.‹« Zu dem Unternehmen gehörten über 100 Einrichtungen, darunter
26 Krankenhausstandorte, mit mehr als
19.000 Mitarbeitern. Diese versorgten
pro Jahr mehr als eine Million Patienten.
Bundesverfassungsgericht Karlsruhe
richtet das Online-Portal des Deutschen
Ärzteblatts unter Berufung auf die katholische Nachrichtenagentur KNA. Demnach lägen den Karlsruher Richtern bislang sieben Verfassungsbeschwerden vor.
Wie das Blatt schreibt, kämen diese von
zwei Sterbehilfevereinen sowie von Palliativmedizinern und tödlich Erkrankten. Laut dem Ärzteblatt hänge der weitere Verlauf des Verfahrens von den Beratungen der Richter ab. Sicher sei nur,
dass eine Entscheidung nicht unmittelbar bevorstehe.
Samenspender: Zentralregister geplant
Berlin (ALfA). Das Bundesgesundheitsministerium plant offenbar ein Zentralregister, mit dem sich Samenspender
als biologische Väter identifizieren lassen
sollen. Das berichtet der Norddeutsche
Rundfunk. Dem Bericht zufolge sei das
Ministerium schon länger dabei, die institutionellen und organisatorischen Voraussetzungen zu erarbeiten, die es so erzeugten Kindern ermöglichen soll, sich
über ihre Herkunft zu informieren. Im
Gegenzug dazu sollten Samenspender vor
späteren Unterhaltsforderungen und Erbansprüchen ihrer nur biologischen Kinder geschützt werden. Das fordere auch
der Verein Spenderkinder. Dem Verein zufolge gibt es in Deutschland rund
100.000 Kinder, die mittels einer Samenspende gezeugt wurden.
oethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik
LebensForum 120
11
MOPIC/FOTOLIA.COM
AUSL AND
Der Tod kommt
frei Haus
Alle zwei Jahre treffen sich Abtreibungsärzte und -lobbyisten zu einem großen internationalen
Kongress. In diesem Jahr fand er in Lissabon statt. Unter die rund 500 Teilnehmer
der »Internationalen Vereinigung von Fachkräften und Verbänden für Schwangerschaftsabbruch
und Kontrazeption« (FIAPAC) hatte sich auch die Zweite Stellvertretende Bundesvorsitzende der
ALfA, Cornelia Kaminski, geschmuggelt.
Von Cornelia Kaminski
L
issabon ist zweifelsohne eine Reise wert: die malerischen Gassen
der Altstadt, Museen und Kirchen
spiegeln den einstigen Reichtum und geistigen Horizont einer großen Seefahrernation. Vom 13. bis 15. Oktober war Lissabon jedoch das Ziel von ca. 500 Personen aus aller Welt, die sich auf vielfältige
Weise der Aufgabe verpflichtet haben, die
Lebensreise ungeborener Menschen auf
voller Fahrt zu stoppen – und die sich für
ihr Treffen ausgerechnet einer Reisemetapher bedienten. »Improving women’s
12
journeys through abortion« – »Verbesserung der Reisen von Frauen durch Abtreibung« war also der etwas doppeldeutige Titel des 12. Kongresses von FIAPAC, der internationalen Vereinigung
von Abtreibungsmedizinern. Gemeinsam
mit einem Facharzt hatte ich mich nach
Lissabon begeben, um zu erfahren, welche Entwicklungen wir von der Abtreibungslobby zu erwarten haben.
Lissabon war als Kongressort, wie Teresa Bombas, Gynäkologin und Kongresspräsidentin aus Coimbra in ihren Eröff-
nungsworten festhielt, eine gute Wahl.
Erst seit 2007 sind Abtreibungen in Portugal weitgehend erlaubt, womit das südeuropäische Land als gelungenes Beispiel
für den erfolgreichen Kampf der Abtreibungslobby um die weltweite vollständige
Freigabe der Abtreibung gilt. »Wir schützen Leben und Kinder und bewahren
Familien vor Armut!«, rief Bombas den
applaudierenden Zuschauern zu. »Wir
haben allen Grund, stolz zu sein!« Dass
Kinder als Armutsrisiko schlechthin gelten, ist bekannt – dass aber Abtreibungen
LebensForum 120
LebensForum 120
willige, die das Präparat in der Apotheändert. Das allerdings hofft Gomperts –
ke abholen und zur Post bringen. So soll
schließlich habe das Zikavirus die Disein »telemedizinisches Abtreibungsnetzkussion um die Freigabe der Abtreibung
werk« aufgebaut werden. Wo der Zoll das
neu entfacht. »Das ist ein wirklich aufMedikament beschlagnahmt, können in
regender Moment für uns«, freut sich
Zukunft vielleicht Drohnen zum Einsatz
Gomperts. Ist es zynisch, aus dem Leid
kommen, erklärt sie mir, und der Vertreter
der Frauen, die ein missgebildetes Kind
von Exelgyn (Hauptsponsor des Kongreszur Welt gebracht haben, auf diese Weises und Produzent von Mifegyne) freut
se Kapital zu schlagen? Zynismus traut
sich. Schließlich bietet Exelgyn mit Miman der zierlichen und charismatischen
soOne jetzt auch ein Prostaglandin an,
Gomperts eigentlich nicht zu. Wie viele
ein Präparat, das zur Ausstoßung des geandere Kongressteilnehmer erweckt sie
töteten Embryos führt.
Bei meinem Besuch
am Stand bekomme
ich gleich noch einen
Schwangerschaftstest
geschenkt: so kann der
Erfolg der Abtreibung
überprüft werden. Mit
Mifegyne, MisoOne
und dem Test schnürt
Exelgyn ein lukratives
Komplettpaket, mittels
dessen die Abtreibung
vollständig ins Private verlagert wird. Der
Gesetzgeber hat keinerlei Zugriff mehr:
Wie will man nachweisen, dass mit diesem Präparat tatsächlich abgetrieben wurde? Und wie kann eine
Frau sich davor schützen, dass andere durch
Beigabe des Präparats
in ihr Essen (wie bereits geschehen) ihr
Kind abtreiben? Noch
gravierender aber: es Rebecca Gomperts: Dienste für abtreibungswillige Frauen
ist keine Vorlage eines positiven Schwangerschaftstestes notden Eindruck, davon beseelt zu sein, das
wendig, um die Pille über das Internet zu
Richtige zu tun, Frauen zu helfen.
bestellen. Mit anderen Worten: auch die
Bereits 50.000 Frauen haben mit Hilfe
Frau, die das Präparat schluckt, kann dies
von »Women on Web« abgetrieben, die
»auf Verdacht« tun, und sich somit notmonatliche Zugriffszahl auf die Webseifalls vormachen, es sei ja gar nicht »site liegt bei 1 Million. In Ländern, in denen die Seite der Zensur unterworfen ist,
verschafft Gomperts Zugang über eine
»Safe Abortion App«: Apple iTunes und
»Bereits 50.000 Frauen haben mit
Google Playstore sind nicht der Zensur
unterworfen, die App ist somit in allen
›Women on Web‹ abgetrieben.«
Ländern der Welt erhältlich.
Wie mächtig die Abtreibungslobby ist,
zeigte sich in der zweiten einstündigen
cher«, dass sie tatsächlich abgetrieben haPlenarsitzung, die FIAPAC vollständig der
be. Schuldgefühle können so unterdrückt
WHO eingeräumt hatte. Bei einem mewerden. Auch Brasilien ist ein Land, in
dizinischen Kongress eher ungewöhnlich:
dem die Abtreibungspille bisher verboin der Regel haben die einzelnen Redner
ten ist und daher per Drohne zugestellt
sich auf eine Redezeit von 15 Minuten inwerden könnte. Zumindest, falls die braklusive Diskussion zu beschränken. Die
silianische Regierung nicht die Abtreidrei Vertreter der WHO nutzten die Zeit
bungsgesetzgebung in nächster Zukunft
dazu, ein gigantisches DatensammelproWWW.WOMENONWAVES.ORG
nicht nur verhindern sollen, dass Familien
in diese Armutsfalle tappen, sondern sogar als lebensrettende Maßnahme für geborene Kinder verkauft werden, ist neu.
Wer auf Grund des Kongressthemas
meinte, eine Verbesserung der »Abtreibungsreise von Frauen« bestehe darin,
diese sicherer zu machen, irrte jedoch. Es
gelte, Barrieren aus dem Weg zu räumen,
so die FIAPAC-Präsidentin Sharon Cameron aus Großbritannien, wie etwa »Gesetze« und »unnötige Tests«, die abtreibungswillige Frauen von medizinischen
Einrichtungen verordnet bekommen.
Ärztliche Beratung oder Tests, wie sie
im Rahmen einer Anamnese Standard bei
jeder medizinischen Behandlung sind, sind
bestenfalls noch wünschenswert, ein direkter Arzt-Patientenkontakt nicht notwendig. Das führte Rebecca Gomperts
von »Women on Waves« aus den Niederlanden vor Augen, die 2004 mit ihrem Abtreibungsschiff vor Portugal geankert hatte. Das Schiff ist mittlerweile
fast schon obsolet. Gomperts neues Projekt heißt »Women on Web« und bietet
Abtreibungen per Telemedizin: seit 2006
können abtreibungswillige Frauen diesen Dienst in Anspruch nehmen. Über
die Webseite www.womenonweb.org bekommen sie nach Ausfüllen eines Fragebogens und Abgeben einer Einverständniserklärung die Abtreibungspille direkt
nach Hause geschickt – ohne dass sie je ein
Arzt gesehen hätte, der eine Schwangerschaft bestätigt oder sich von der Wahrhaftigkeit der Antworten überzeugt hätte.
Im Selbstversuch reichte als Abtreibungsgrund »Familienplanung abgeschlossen«,
um die Auskunft zu erhalten, dass gegen
eine »Spende« von 70 bis 100 Euro die
Pille zu mir unterwegs sein könnte. Angesichts der möglichen Nebenwirkungen, die von Krämpfen, starken Blutungen und Infektionen (sehr häufig bis häufig) bis zu toxischem Schock und Gebärmutterrissen (sehr selten) reichen können,
kann von sicheren Abtreibungen nicht die
Rede sein. Spätestens jetzt wird klar, dass
es hier nicht um Verbesserung durch sichere Methoden, sondern lediglich um
Ausräumen jeglicher Hindernisse geht.
Dass diese Hindernisse in den allermeisten Fällen wenigstens noch einen Schutz
der Frau, wenngleich nicht des Ungeborenen darstellen, ist irrelevant. Alles wird
dem Ziel, den Zugang zu Abtreibungen
weltweit so einfach wie möglich zu machen, untergeordnet.
Gomperts ist Aktivistin und Netzwerkerin. Sie sucht europäische Ärzte, die bereit sind Mifegyne Patientinnen irgendwo in der Welt zu verschreiben – ohne
diese je gesehen zu haben –, und Frei-
13
AUSL AND
jekt vorzustellen: von allen Ländern der
Erde werden Daten bezüglich ihrer Abtreibungsgesetzgebung sowie – und das
ist das eigentlich erschreckende – ihrer
Abtreibungspolitik gesammelt: wie werden die bestehenden Gesetze tatsächlich
umgesetzt? Weder FIAPAC noch WHO
sind zufrieden mit dem Status quo, nach
dem nur noch in sieben Ländern der Erde Abtreibungen strikt verboten sind. In
manchen Ländern sei die Gesetzgebung
nicht eindeutig oder nicht genügend bekannt, und, so Dr. Bela Ganatra, Frauen seien manchmal immer noch »unwis-
(WHO Guidelines on Safe Abortion, 2nd
edition 2012). Die Liste der Mitarbeiter
an diesen WHO Guidelines liest sich wie
ein »Who is Who« der weltweiten Abtreibungslobby, und so wundert es auch
nicht weiter, dass die drei WHO-Vertreter sich herzlich bei den Anwesenden für
ihre Unterstützung bei der Datensammlung bedankten.
Beim Mittagessen treffen wir zwei
deutsche Studentinnen. Beide haben sich
einer studentischen »pro choice«-Organisation angeschlossen und verfolgen
mit großem Interesse den Kongress. Ei-
Homepage der Women on Web: Lieferung von Abtreibungspillen auch per Drohne
senschaftlichen, voreingenommenen Beratungen« vor einer Abtreibung ausgesetzt. Noch immer gebe es verordnete
Wartezeiten, die Pflicht, einen zweiten
Arzt zu konsultieren, oder gar die Möglichkeit, aus Gewissensgründen Abtreibungen abzulehnen.
»Wir beschäftigen uns mit dem Gesetz, aber wir machen, was wir wollen«,
hatte Mariet Lecoultre aus den Niederlanden noch 2008 augenzwickernd dem
FIAPAC-Auditorium mitgeteilt. Sie besorgt minderjährigen Schwangeren einen Anwalt, der die gesetzliche Zustimmungspflicht der Eltern zur Abtreibung
umgeht. So etwas ist heute nicht mehr akzeptabel, derartige Barrieren gilt es auszuräumen. Mit der neu zusammengestellten Datenbank, die im Frühjahr 2017 zur
Verfügung stehen soll, stellt die WHO
nun ein Instrument zur Verfügung, mittels dessen Druck auf Institutionen und
Regierungen ausgeübt werden soll, flächendeckend Abtreibungen nach WHOStandard anzubieten – und diese bezeichnen Abtreibung als ein Menschenrecht
14
gentlich erschütternd: noch bevor sie ihre Ausbildung als Mediziner, die ja dazu
da sein sollte, Menschenleben zu retten,
abgeschlossen haben, sind sie schon davon überzeugt, dass das Töten von Ungeborenen eine sinnvolle berufliche Tätigkeit darstellt.
Angesichts der offensichtlichen Macht,
mit der FIAPAC seine Ziele verfolgt,
könnte man als Lebensrechtler durchaus
»1.050 Euro für eine Abtreibung
jenseits der 20. Woche«
den Mut verlieren. Insofern war der Bericht von Vicky Saporta, Präsidentin der
National Abortion Federation aus den
USA, fast ein Highlight. Sie berichtete sichtlich aufgewühlt von den Enthüllungsskandalen, denen ihre Organisation
im letzten Jahr ausgesetzt war und die dazu geführt haben, dass insgesamt 450 ge-
setzgeberische Maßnahmen verabschiedet wurden, die Abtreibungen erschweren. Einige Abtreibungskliniken mussten
geschlossen werden. Nur am Rande ging
sie auf die Inhalte der veröffentlichten
heimlich gefilmten Videos ein.
Diese zeigen unter anderem, wie Dr.
Nucatola, bei International Planned Parenthood USA zuständig für das Qualitätsmanagement der Abtreibungseinrichtungen und spezialisiert auf Abtreibungen im letzten Schwangerschaftsdrittel,
bei einem Glas Rotwein über den Preis
abgetriebener Babys verhandelt und dabei »höchste Gewebequalität« verspricht.
Der Staat Texas sei glücklicherweise mit
einem neuen Gesetz zur Entsorgung fetalen Gewebes gescheitert, so Saporta,
schließlich brauchten die Wissenschaftler
doch fetales Gewebe für ihre Forschung.
»Ich bin nicht eher zufrieden, bis dass ich
diejenigen, die die Videos veröffentlicht
haben, in Gefängniskleidung sehe«, ließ
Saporta verlauten. Und kündigte an, auf
eine »proaktive Gesetzgebung« hinzuarbeiten: Aktivitäten von Lebensrechtlern
müssten identifiziert und bestraft werden, bevor sie überhaupt in die Tat umgesetzt werden können.
Auch in den USA ist man an der Patientensicherheit offensichtlich weniger
interessiert. Die Firma MedGyn stellt auf
dem Kongress eine Kamera mit Saugvorrichtung vor, die eine Abtreibung besonders ungefährlich macht. Wie mir der
Vertreter mitteilt, verkauft sie an Planned Parenthood kein einziges Gerät. Zwar
sei diese Organisation der Hauptanbieter
von Abtreibungen in den USA, aber das
Gerät sei ihnen wohl zu teuer.
Ein großes Arbeitsfeld sieht FIAPAC
im Umgang mit dem Stigma, mit dem
Abtreibungen behaftet seien. Dieses gelte
es auszuräumen, so Rebecca Wilkins von
der International Planned Parenthood Federation, und weiß auch schon, wie: gerade junge Frauen, die abgetrieben haben, sollten zu Verfechterinnen von Abtreibungen werden und dazu vor allem
auch die sozialen Netzwerke nutzen. Zudem müsse Abtreibung ein Thema in den
Lehrplänen werden, und es müsse mehr
getan werden, um auch Abtreibungen im
zweiten Schwangerschaftsdrittel gesellschaftsfähiger zu machen. Das sehen offensichtlich alle Kongressteilnehmer so:
unter den 15 Sponsoren sind drei Kliniken, die sich auf Spätabtreibungen spezialisiert haben, keine setzt eine Grenze. Für 1.050 Euro ist zum Beispiel eine
Abtreibung jenseits der 20. Schwangerschaftswoche in den holländischen CASA Klinieken zu haben, die ihre Dienste
im Internet auch auf Deutsch anbieten.
LebensForum 120
Rebecca Wilkins unterstützt ihre Forderungen mit einer Studie zur Erhebung
von Abtreibungsstigmata, die allerdings
wissenschaftlichen Standards in keiner
Weise gerecht wird: ob die Befragten bereits eine Abtreibung hinter sich hatten
oder nicht, spielte keine Rolle, womit die
Ergebnisse eher dem Bereich von Mutmaßungen zuzuordnen sind. Die Antwortmöglichkeiten selbst waren äußerst
suggestiv. Sprache spiele schließlich eine
große Rolle, so Wilkins: noch immer werde zum Beispiel in inakzeptabler Weise
von schwangeren Frauen als »Müttern«
gesprochen. So zeigte sich auch im Verlauf des Kongresses, dass Sprache durchaus als wichtiges Instrument wahrgenommen und entsprechend eingesetzt wird.
Die Lebensrechtsbewegung wird konsequent nicht als »pro life«, sondern als
»anti choice« bezeichnet, und Abtreibungen sind in zahlreichen Publikationen
nun »ToP« (Termination of Pregnancy).
Stigmata entstehen aber nicht nur
durch Sprache, sondern auch dadurch,
dass Mediziner und Krankenhäuser sich
bei der Weigerung, an Abtreibungen mitzuwirken, auf ihr Gewissen berufen. Das
darf keinesfalls sein, führt Christian Fiala,
der ehemalige Präsident von FIAPAC, in
seinem Vortrag aus. Der Begriff »Conscientious Objection (CO)« (Weigerung aus
Gewissensgründen) werde falsch verwendet. Vielmehr missbrauchten diese Personen ihre Machtposition und das Vertrauen der Patientinnen und erwarteten
obendrein noch, ihr Gehalt und ihre Position zu wahren – ohne ihre Pflicht zu
tun. CO spiele in privaten Einrichtungen kaum eine Rolle, da dort bereits bei
der Einstellung auf eine entsprechende
Haltung zur Abtreibung geachtet werde.
In städtischen oder staatlichen Krankenhäusern und Praxen stelle CO jedoch ein
großes Problem dar und sei sowohl ein
Missbrauch öffentlicher Einrichtungen als
auch von Steuergeldern und sei schädlich
sowohl in Hinblick auf Menschenrechte als auch die gesundheitliche Versorgung von Frauen. Die Möglichkeit, unter Berufung auf Gewissensentscheidungen die Mitwirkung an einer Abtreibung
zu verweigern, sei ein Überbleibsel aus
einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung und nicht vereinbar mit den Menschenrechten. Mit diesen Ausführungen
geht Fiala noch einen Schritt weiter als
die WHO, die Abtreibungen nur als ein
Menschenrecht unter vielen sieht. Fiala
hebt das Recht auf Abtreibung über alle anderen Menschenrechte – nicht nur
das Menschenrecht auf Leben, sondern
auch das Recht auf freie Ausübung der
Religion.
LebensForum 120
Bei so viel Religionsverachtung ist es
erstaunlich, dass der Organisation »Catholics for choice« eine eigene (überfüllte)
Nachmittagssitzung eingeräumt wird. Allerdings spielten hier theologische Erwägungen keine Rolle. Das sei interessant,
fragte mein Begleiter bei Dr. John O’Brien,
Präsident von Catholics for choice, nach:
wie man denn Katholizismus und Abtreibung unter einen Hut bringe? O’Briens
Antwort ist einfach: Katholikinnen treiben nicht seltener ab als andere Frauen,
und insofern repräsentiere die katholi-
»Alle stellten sich als ›provider
of abortions‹ vor.«
sche Hierarchie gar nicht das, was Katholiken leben. Also müsse die Kirche ihre Haltung ändern. Unter der Hand gäbe
es da auch entsprechende Gespräche mit
Vertretern der Kirche, aber diese dürften
das natürlich nicht offen zugeben. Beide
Aussagen sind bemerkenswert: wenn die
Kirche das sanktionieren soll, was die Kirchenmitglieder ohnehin leben, sind Gebote überflüssig. Und falls es tatsächlich
solche Gespräche mit hohen Kirchenvertretern geben sollte, wäre das schon
ein Skandal. Allerdings ist das wohl eher
Wunschdenken seitens O’Briens, der sich
gerade mit der amerikanischen Bischofskonferenz wegen seiner »Abortion in Good
Faith Campaign« (Abtreibung mit gutem
Glauben) eine Fehde leistet. Die Sitzung
selbst bot denn auch Abtreibern aus Ländern mit restriktiven Regelungen ein Podium für Erfahrungsberichte. Und so erklärt sich auch der große Zulauf: Geschichten von »Märtyrern«, die Abtreibungen
unter widrigen Umständen vornehmen,
motivieren die Kongressteilnehmer und
bestärken ihr Wir-Gefühl.
Beim abendlichen Galadinner sitze ich
mit einer silbergelockten, freundlichen älteren Dame aus Neuseeland, einer Belgierin und einer charmanten, lebhaften
Ärztin aus Vancouver am Tisch. Alle stellen sich als »provider of abortions« vor.
Ob sie denn ihre Studie zur Wirkung von
Cannabis als Schmerzmittel nach Abtreibung in Angriff genommen habe, wird
die Kanadierin gefragt. Ich bin erstaunt
– Cannabis? Sind die Schmerzen so groß?
Die seien tatsächlich nicht unerheblich,
so die Ärztin, aber es gehe auch um das
Wohlbefinden insgesamt. Der Titel des
Kongresses fällt mir wieder ein – Abtreibung als Trip auf einer rosaroten Wolke, irgendwie passend. Die Studie hat die
Ärztin aus Vancouver aber nicht in Angriff nehmen können, sie baut sich gerade ein zweites Standbein auf: in Kanada ist seit Juni dieses Jahres aktive Sterbehilfe erlaubt, und so sei sie nun in der
Lage, in ihrer Praxis beides anbieten zu
können. Die Räume seien perfekt dafür
geeignet, sie habe ja einen gemütlichen
Ruheraum, in dem schon 33 Patienten
von ihr ins Jenseits befördert wurden.
Das dürfen ihre Enkelkinder nicht erfahren, erzählt sie mir lachend: die seien
katholisch. Leider habe man der Schwiegertochter ihre Religion nicht gleich angesehen. Die Neuseeländerin hat MaoriEnkelkinder, eines davon magersüchtig,
und ist sich nicht ganz sicher, was nun
am schlimmsten ist: Maori, magersüchtig oder doch katholisch? Ob Euthanasie
in Deutschland erlaubt sei, fragt sie mich.
Ihr wesentlich älterer jüdischer Ehemann
ist vor den Nazis aus Wien geflohen und
nach Neuseeland ausgewandert. »Nein«,
sage ich. »Wir haben schon einmal im
großen Stil die Menschen getötet, die
wir in unserer Gesellschaft nicht haben
wollten: das dürfen wir nicht wiederholen.« Das sei doch etwas Anderes, meint
die Neuseeländerin, diesmal sei das doch
nicht von oben verordnet, sondern käme
aus der Bevölkerung. »Ich glaube, den getöteten Menschen ist es egal, von wem es
kommt«, sage ich und gehe lieber, bevor
mir endgültig der Kragen platzt.
IM PORTRAIT
Cornelia Kaminski
Cornelia Kaminski, geboren 1965 in
Arnsberg, ist verheiratet und lebt mit ihrer Familie, zu der drei Kinder gehören,
in Fulda. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit als Oberstudienrätin an einem
Gymnasium in
Hünfeld für Englisch und Französisch ist sie als Autorin und Beraterin für
einen Schulbuchverlag tätig. In der Aktion Lebensrecht für Alle hält sie Vorträge,
verantwortet unter anderem Materialien
wie die Schulunterlagen der ALfA
(Schwanger mit 16?) sowie die Aktion
»Geh Du für mich!«. Seit 1996 ist Cornelia Kaminski Mitglied des Vereins, davon
viele Jahre im erweiterten oder geschäftsführenden Bundesvorstand. Auf
der diesjährigen Bundesdelegiertenversammlung der ALfA wählten die Delegierten sie in das Amt der Zweiten Stellvertretenden Bundesvorsitzenden.
15
MEDIZIN
Ohne Ehrfurcht
keine Zukunft
Unter der Überschrift »§ 217 StGB und die Folgen für die Gesellschaft« hat die Autorin den
folgenden Beitrag als Gastvortrag bei der Bundesmitgliederversammlung der Christdemokraten für
das Leben (CDL) am 22. Oktober 2016 in Königswinter gehalten.
Von Dr. med. Susanne Ley
D
ie sehr weit gefasste Fragestellung unseres heutigen Themas
»§ 217 StGB und die Folgen für
die Gesellschaft« ist meines Erachtens sehr
bedeutsam. Sie stellt uns alle gemeinsam
vor die Aufgabe, abzuschätzen und darüber aufzuklären, welche Gefahren mit
dem assistierten Suizid und der Tötung
auf Verlangen für unsere menschliche Gemeinschaft verbunden sind. Es ist bitter
von Nöten, sich aus allen Bereichen der
Zivilgesellschaft in dieser Frage eng zusammenzuschließen.
1. RECHTLICHE VERANKERUNG DES
LEBENSSCHUTZES
Die Garantie der Menschenwürde und
das daraus abgeleitete Recht auf Leben
sind unveräußerliche vorstaatliche Rechte
mit universeller Gültigkeit. Die Scholastiker leiteten sie vom göttlichen Recht, die
Aufklärung vom Vernunftrecht oder Naturrecht ab. Sie sind in der Europäischen
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und in der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte von 1948 verankert.
In einem 2.500 Jahre währenden Ringen haben die Menschen in Europa –
insbesondere auch aus den Erfahrungen
der Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts – den Staat in seiner modernen
Form entwickelt. Grundidee und oberster Zweck ist dabei der Schutz des Lebens aller seiner Bürger.
In Deutschland gelten nach wie vor
starke Gesetze, die den Schutz des menschlichen Lebens garantieren sollen. Der Lebensschutz ist in unserem Grundgesetz
verankert und wird in unserer Rechtsordnung durch geeignete Gesetze normiert.
Darüber hinaus ist er in der Mehrzahl der
16
Landesärztekammerbezirke durch das
Standesrecht der Ärzte gesichert.
Nach Artikel 1 Abs. 1 GG ist die Würde
des Menschen unantastbar. »Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt.« Die vitale Basis der
Menschenwürde ist das Leben selbst. Es
stellt in der grundgesetzlichen Ordnung
einen Höchstwert dar und ist die Voraussetzung aller anderen Grundrechte. Daraus leitet sich die Schutzpflicht des Staates für das Leben aller seiner Bürger ab.
Artikel 2 unserer Verfassung soll das
Recht auf Leben für jedermann garantieren. Das Recht auf Leben stellt nicht nur
ein Abwehrrecht der Bürger gegen staatliche Gewalt dar, sondern verpflichtet die
staatliche Gemeinschaft auch zum Schutz
des Lebens seiner Bürger. Die Nichterfüllung der staatlichen Schutzpflicht für
das Leben ist verfassungswidrig. Diese
Schutzpflicht bekommt bei Menschen,
die zum eigenen Schutz selbst nicht fähig sind, besonderes Gewicht. Die staatliche Schutzpflicht gegenüber Hilflosen
überwiegt im Verhältnis zu deren Selbstbestimmungsrecht. So urteilte das Bundesverfassungsgericht am 26.7.2016 und
traf damit eine klare Werteentscheidung
für den Schutz des Lebens als höchstem
Rechtsgut. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, zur Sicherung der Grundrechte geeignete Gesetze zu erlassen.
Von großer Bedeutung für den Schutz
des Lebens, insbesondere auch für suizidale Menschen, sind die Strafrechtsparagraphen 216 und 323 c. Aufgrund unserer Geschichte gibt es in Deutschland eine
starke Opposition gegen Euthanasie. Seit
1945 ist es in Deutschland Konsens, dass
es kein lebensunwertes Leben gibt. »Die
Humanität gebietet die Achtung vor dem
Bild des Menschen auch in seiner beschä-
digten Erscheinung.« Folgerichtig ist in
Deutschland die Tötung auf Verlangen in
§ 216 StGB strafbewehrt verboten. Auch
dem assistierten Suizid geht immer voraus,
dass ein Menschenleben von Dritten als lebensunwert beurteilt wird. Damit ist aber
bereits die Grenze zur Euthanasie überschritten. Dies kommt auch in dem Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 15.6.2016 zum Ausdruck: In einem Fall von ärztlich assistiertem Suizid hielt das Gericht den Suizidbeihelfer für hinreichend verdächtig, sich der
versuchten Tötung auf Verlangen durch
Unterlassung schuldig gemacht zu haben.
Der § 323 c verpflichtet jedermann zur
Hilfeleistung gegenüber Verunglückten
und Menschen in Not. Unterlassene Hilfeleistung wird unter Strafe gestellt. Das
Prinzip der Hilfeleistung gilt auch im Falle eines Suizidversuches, der rechtlich als
Unglücksfall betrachtet wird.
Durch entsprechende Bestimmungen
im Strafgesetzbuch und im Bürgerlichen
Gesetzbuch haben Personen, die eine sogenannte Garantenstellung gegenüber
einer anderen Person einnehmen (z. B.
Eltern – Kind, Ehepartner, Arzt – Patient), zusätzlich eine Pflicht, die über die
normale Hilfeleistung gegenüber jedermann deutlich hinausgeht.
Auch das Standesrecht der Ärzte kann
einen starken Schutz für das Leben der
Menschen bieten. Um einer Relativierung
des Tötungsverbotes für Ärzte entgegenzutreten, wurde auf dem Deutschen Ärztetag 2011 in Kiel beschlossen, einen neuen § 16 in die Musterberufsordnung der
Bundesärztekammer einzufügen: »Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter
Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und PatienLebensForum 120
ten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.«
Damit entspricht der § 16 der Musterberufsordnung für Ärzte dem ärztlichen
Ethos in der Hippokratischen Tradition,
dass ein Arzt sich niemals an der Tötung
oder Selbsttötung eines Menschen beteiligen darf. Auch wenn Beihilfe zum Suizid
laut Strafgesetzbuch nicht explizit verboten
ist, können die Landesärztekammern ein
solches Verbot für Ärzte standesrechtlich
erlassen und durchsetzen, so das Verwaltungsgericht Berlin. Aus den Ausführun-
eines anderen zu fördern, diesem hierzu
geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt,
verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft.«
Der zweite Teil des Gesetzes wird
meist verschwiegen:
§ 217 StGB, Abs. 2
»Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer
selbst nicht geschäftsmäßig handelt und
entweder Angehöriger des in Absatz 1
genannten anderen ist oder diesem nahesteht.«
schäftsmäßig handeln würde: Sollte »im
Einzelfall aber gleichwohl von diesem
Personenkreis Suizidhilfe gewährt« werden, geschehe dies »typischerweise gerade nicht geschäftsmäßig«, also in der Absicht, dies zu einem wiederkehrenden oder
dauernden Bestandteil der Beschäftigung
zu machen. Einer besonderen Ausschlussregelung bedürfe es daher nicht. Der Abgeordnete René Röspel (SPD) sagte hierzu bei der ersten Lesung der Gesetzentwürfe im Bundestag: »Sie (die Ärzte, Anmerk. d. Verf.) müssen über das Ende von
Leben entscheiden, sie müssen loslassen
und am Ende vielleicht sagen: Ja, jetzt ist
der Zeitpunkt gekommen, an dem ich Hilfe gebe, damit ein anderer sich selbst vielleicht umbringen kann.«
Oberstes Gebot ärztlichen Handelns
ist es jedoch, dem Patienten nicht zu
schaden. Der Arzt ist Beschützer des
Lebens, er darf nicht zur Gefahr für das
Leben seiner Patienten werden. Es widerspricht zutiefst dem ärztlichen Ethos
und der Menschlichkeit eines jeden, einem leidenden Menschen Beihilfe zum
Suizid zu leisten.
3. MÖGLICHE FOLGEN DES GESETZES
Albert Schweitzer bei der Arbeit in seinem Spital in Lambaréné
gen wird ersichtlich, dass bisher ein strafrechtliches Verbot des assistierten Suizids
nicht notwendig war, weil in der Rechtsordnung auf andere Weise hinreichend zum
Ausdruck kommt, dass der assistierte Suizid rechtsphilosophisch nicht erlaubt ist.
2. § 217 StGB
In der über mehrere Monate in der Öffentlichkeit geführten Diskussion über den
assistierten Suizid wurde suggeriert, mit
dem neuen § 217 StGB werde ein starkes
Zeichen für den Lebensschutz gesetzt, da
er die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe verbiete. Der neue § 217 lehnt jedoch weder
den assistierten Suizid noch die geschäftsmäßige Beihilfe zum assistierten Suizid
grundsätzlich ab. Vielmehr regelt das neue
Strafgesetz, welchem Personenkreis assistierter Suizid bzw. die Teilnahme an der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe straffrei ermöglicht wird. Dadurch wird eine Handlung explizit straffrei gestellt, zu der es bisher lediglich aus formaljuristischen Gründen keine strafrechtliche Bestimmung gab.
In seinem ersten Teil stellt das neue
Gesetz die geschäftsmäßige Beihilfe unter Strafe:
§ 217 StGB, Abs. 1
»Wer in der Absicht, die Selbsttötung
LebensForum 120
Gerade diejenigen Menschen, die nach
unserem geltenden Recht eine Garantenpflicht zum Lebensschutz haben, d. h.
Angehörige und Nahestehende, werden
nun ausdrücklich straffrei gestellt, wenn
sie Beihilfe zum Suizid leisten oder Teilnehmer einer geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe sind. Sie dürfen also ein Delikt
fördern, das in Abs. 1 des § 217 StGB unter Strafe gestellt ist. In der Begründung
des Gesetzes heißt es dazu:
»Der Ehemann, der seine todkranke
Ehefrau ihrem freiverantwortlich gefassten Entschluss entsprechend zu einem
geschäftsmäßig handelnden Suizidhelfer
fährt, um sie mit in den Tod zu begleiten,
fördert damit zwar als Gehilfe die Haupttat des Suizidhelfers. Er legt damit jedoch
kein strafwürdiges, sondern in der Regel
ein von tiefem Mitleid und Mitgefühl geprägtes Verhalten an den Tag.«
Angehörige und Nahestehende dürfen
also diese »grenzüberschreitende Dienstleistung« fördern, ohne sich strafbar zu machen. Außerdem beabsichtigen die Initiatoren des neuen § 217 StGB, dass »Angehörige von Heilberufen«, also auch Ärzte,
im Einzelfall legal Suizidassistenz leisten
können. Dies sei nach dem neuen Gesetz
straffrei möglich, weil dieser Personenkreis im Einzelfall eben gerade nicht ge-
Durch die europaweit in der Öffentlichkeit geführte Diskussion um den assistierten Suizid und die Tötung auf Verlangen werden elementare Grundlagen
unseres menschlichen Zusammenlebens
in Frage gestellt. Soziale Bindungen werden zerstört, die Arzt-Patient-Beziehung
zutiefst erschüttert, die menschliche Solidarität wird beschädigt und die Schutzpflicht des Staates für das Leben seiner
Bürger wird in Frage gestellt.
Bereits im Jahr 1910 schrieb Alfred
Adler, der Begründer der Individualpsychologie: »Der Selbstmord ist ein individuelles Problem, das soziale Ursachen und Folgen hat.« Sein Schüler Erwin Ringel, Psychiater und Neurologe an der Universität Wien, erforschte
bereits in den 1950er Jahren das präsuizidale Syndrom, eine seelische Verfassung, die dem Selbstmord vorausgeht.
Auch untersuchte er, welche Faktoren
in der Gesellschaft den Selbstmord fördern. Gruppen mit erhöhtem Suizidrisiko sind demnach: Alte Menschen, besonders wenn sie chronisch krank, einsam und verarmt sind, Depressive, Süchtige, Verfolgte, Geschiedene, in Partnerschaftsprobleme Verwickelte, Menschen
in finanzieller Not, Arbeitslose u. a. m.
Gemeinsam sei den Betroffenen, dass sie
zu den Außenseitern, Diffamierten, Stigmatisierten gehörten. »So frei und so willig, wie man uns glauben machen möch17
MEDIZIN
te, gehen die meisten Selbstmörder nicht
in den Tod; sie werden nur allzu oft dazu ›eingeladen‹, hinauskomplimentiert.
Das Selbstmordproblem lehrt uns daher
einmal mehr, wie nötig es ist, die Gesellschaft hier und heute – wie das Adler verlangt hat – zu verbessern.«
Als wichtigste therapeutische Chance
bezeichnet Ringel die Psychotherapie. Es
gehe vor allem zuerst darum, durch ein
gutes tragfähiges, verbindliches Arzt-Patient- Verhältnis die Einengung der zwischenmenschlichen Beziehung zu durchbrechen. Die entscheidende Wirkung
würde immer über diese Beziehung erfolgen. »Wenn für den Selbstmörder alle
anderen nur Abwesenheit bedeuten, ergibt sich daraus unsere wichtigste Verpflichtung von selbst: mit allen unseren
Kräften anwesend zu sein.«
Bezüglich der Prophylaxe, so Ringel
weiter, spiele die Herstellung eines antisuizidalen Klimas in der Gesellschaft eine große Rolle. Dabei sei es wichtig, den
Selbstmord nicht zu tabuisieren oder zu
verherrlichen, sondern ihn als Symptom
menschlicher Not zu erkennen. Die Forschungsergebnisse Ringels zur Suizidprävention decken sich mit aktuellen Studienergebnissen von Jones und Paton von
2015, die zeigen, dass die Einführung
des assistierten Suizids in mehreren USBundesstaaten mit einem Anstieg der Gesamt-Suizidrate um 6,3 Prozent einhergeht. Anders, als die Befürworter behaupten, führt die Möglichkeit des assistierten Suizids nicht zu einer Abnahme der
nicht-assistierten Suizide, sondern sogar
zu einem Anstieg. Das zeigen auch die aktuellen Zahlen aus der Schweiz.
Die Niederlande verzeichnen seit Jahren steigende Zahlen bei der »Hilfe zur
Selbsttötung« und der »Tötung auf Verlangen«. Gleichzeitig gibt es Berichte über
eine Vielzahl von Fällen, wo Menschen
ohne ihren ausdrücklichen Willen umgebracht wurden. Inzwischen werden in unserem Nachbarland auch demenzkranke
und psychisch kranke Menschen getötet.
Ähnlich ist es in Belgien: Neben steigenden Fallzahlen ist hier eine Ausweitung
der Indikationen zu konstatieren. Mittlerweile schreckt man auch nicht mehr
davor zurück, Kinder zu töten.
Der Arzt Dr. Leo Alexander wies 1949
darauf hin, dass es wichtig sei zu erkennen, dass die Haltung gegenüber unheilbar Kranken – nämlich, dass es Zustände
gebe, die als nicht mehr lebenswert zu betrachten sind – der winzige Auslöser für
das Euthanasieprogramm der Nazis war.
Auf Grund der ausdrücklichen Straffreistellung des § 217 Abs. 2 StGB für
Angehörige und Nahestehende ist zu er18
warten, dass die gesellschaftliche Akzeptanz des Suizids und der Suizidbeihilfe
steigt. Daraus ergibt sich, dass suizidale Menschen leichter einen Suizidbeihelfer finden werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Suizid zum Tod führt,
steigt durch das unterstützende Hinzutreten des Suizidbeihelfers. Die aktuelle
Gesetzeslage wird vermutlich dazu führen, dass Suizidversuche häufiger gelingen
und somit die Zahl der Suizidtoten steigt.
Die Vertrauensbeziehungen in den Familien werden durch die Möglichkeit des
assistierten Suizids erschüttert. Sogenannte Mitleidstötungen könnten zunehmen.
Alte oder kranke Menschen könnten sich
gedrängt fühlen, ihren Angehörigen sogar
nicht weiter zur Last zu fallen. Angehörige, die sich überfordert fühlen, könnten
den Pflegebedürftigen bewusst oder unbewusst subtil zu dieser »Lösung« drängen. Auch andere Motive sind denkbar.
Was dieses Misstrauen in den Familien
anrichtet und wie es sich auf die Solidarität und den Zusammenhalt der gesamten
Gesellschaft auswirkt, möchte man sich
lieber nicht vorstellen. Wer übernimmt
die Verantwortung dafür?
Durch die Diskussion um den ärztlich assistierten Suizid wird auch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zutiefst beschädigt. Oberstes Gebot
ärztlichen Handelns ist es, dem Patienten
nicht zu schaden. Der Arzt ist Beschützer des Lebens, er darf nicht zur Gefahr
für das Leben seiner Patienten werden.
Es widerspricht zutiefst dem seit 2.400
Jahren gültigen ärztlichen Ethos und der
Menschlichkeit eines jeden, einem leidenden Menschen Beihilfe zum Suizid zu leisten. Jeder psychisch oder physisch kranke Mensch braucht fachgerechte ärztliche Hilfe und echte mitmenschliche Zuwendung sowie die Gewissheit, dass der
Arzt alles tun wird, um seine Krankheit
zu heilen oder, wo dies nicht möglich ist,
sein Leiden zu lindern.
Der Wunsch nach Beihilfe zum Suizid
entsteht nicht in erster Linie aus Angst vor
unstillbaren Schmerzen, sondern aus der
Sorge, anderen zur Last zu fallen, ausgeliefert zu sein, die Kontrolle zu verlieren
oder allein zu sein. Patienten, die einen
Suizidwunsch äußern, erwarten in aller
Regel nicht, dass ihr Tod herbeigeführt
wird. Überwiegend ist der Wunsch nach
assistiertem Suizid ein Hilferuf und vorübergehender Natur. Es gibt keine Rechtfertigung für die ärztliche Beihilfe zur
Selbsttötung eines Patienten.
Aufgrund des medizinischen Fortschritts und der sozialen Verbundenheit
sind wir heute in der Lage, schwer kranke und sterbende Menschen so zu ver-
sorgen, dass sie nicht unerträglich leiden müssen, sondern sich aufgehoben
fühlen. Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir auch am Lebensende auf
unsere Mitmenschen angewiesen sind.
Eine Einschränkung unserer Autonomie
oder unserer Selbstbestimmung liegt darin nicht begründet.
Betrachten wir die Debatte um den assistierten Suizid unter dem Aspekt des demographischen Wandels, d. h. einer immer älter werdenden Gesellschaft, und
kommen dann noch ökonomisch schwierige Zeiten hinzu, besteht die Gefahr, dass
der Mensch immer stärker nach seinem
Nutzen bewertet wird.
Der moralische Stand einer zivilisierten Gesellschaft misst sich daran, wie
sie mit den Schwächsten umgeht. »Die
staatliche Gemeinschaft darf den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst
überlassen«, so urteilte im Juli dieses Jahres das BVerfG in einem hoffnungsvollen Beschluss und traf damit eine klare
Werteentscheidung für den Schutz des
Lebens als höchstem Rechtsgut. Auch
hebt es damit die Bedeutung der sozialen Verbundenheit und der natürlichen
Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander für das menschliche Zusammenleben hervor.
Die Garantie der Menschenwürde und
das Recht auf Leben sind universell gültig
und können nicht durch Menschenhand,
auch nicht durch irgendeinen Gesetzespositivismus abgeschafft werden. Gesitteten Kulturnationen ist die Bindung an
diese Grundsätze selbstverständlich. Dahinter sollten wir nicht zurückgehen.
Die Würde des Menschen überall in
der Welt zu verwirklichen ist die Aufgabe aller. Schließen möchte ich mit einem
Zitat von Albert Schweitzer: »Ohne Ehrfurcht vor dem Leben hat die Menschheit keine Zukunft.«
IM PORTRAIT
Dr. med. Susanne Ley
Die Autorin, Jahrgang 1963, studierte
Medizin an der Universität zu Köln. Nach
der Facharztausbildung zur Internistin
spezialisierte sie
sich auf Rheumatologie und arbeitet als Funktionsoberärztin in einer
rheumatologischen
Fachklinik. Sie ist
Mitglied im Arbeitsbündnis »Kein assistierter Suizid in Deutschland!« und Gründungsmitglied der Liga »Ärzte in Ehrfurcht vor dem Leben«.
LebensForum 120
LIFE ISSUES INSTITUTE
MEDIZIN
Der Embryo:
Individuum und Person
Der folgende Beitrag basiert auf einem Vortrag, den der Autor unter der Überschrift
»Gibt es Grenzen in der frühen Entwicklung des Menschen?« Anfang Juni 2016 auf der von der
Aktion Lebensrecht für Alle und den Ärzten für das Leben gemeinsam veranstalteten Jahrestagung in
Fulda gehalten hat. Bei der hier veröffentlichten Version handelt es sich um eine leicht gekürzte, um
Fußnoten und Literaturliste bereinigte Fassung. Das vom Autor den Veranstaltern zur Verfügung
gestellte Original-Manuskript findet sich unter: http://www.aerzte-fuer-das-leben.de/aefdl_neues.html
Von Professor Dr. Günter Rager
G
ibt es in der Entwicklung des
menschlichen Embryos eine
Grenze, an der er von einer Sache zu einer Person oder, um mit Robert
Spaemann zu sprechen, aus einem »Etwas« zu einem »Jemand« wird? Um diese
Frage zu beantworten, werde ich im ersten Teil die wichtigsten Ereignisse während der ersten acht Wochen der Embryonalentwicklung schildern. Im zweiten Teil
werde ich einige Grenzziehungen nennen,
an denen der Übergang zur schutzwürdigen menschlichen Person geschehen soll.
Ich werde sie auf ihre Stichhaltigkeit hin
prüfen. Im dritten Teil schließlich werde
ich Ihnen philosophische Überlegungen
zur Frage nach dem ontologischen Status
des Embryos präsentieren.
FERTILISATION (STADIUM 1)
Beginnen wir mit der Fertilisation. Sie
ist ein kontinuierlicher Prozess, der etwa
24 Stunden dauert. Wenn das Spermium
LebensForum 120
die Zona pellucida durchdringt, fusionieren die Zellmembranen von Spermium und Ooczyte. Diese Fusion löst eine
Membrandepolarisation aus und triggert
eine Calcium-Welle, die sich über das
ganze Zytoplasma der Oozyte ausbreitet.
Die Zunahme der Calcium Konzentration veranlasst die Oozyte, die 2. Reifeteilung zum Abschluss zu bringen und das
Entwicklungsprogramm zu starten, welches nach übereinstimmender Ansicht der
Embryologen zur Embryogenese führt.
Die Oozyte wird aktiviert. Das Spermium dringt in die Oozyte ein.
Am Ende der 2. Reifeteilung, etwa 16
Stunden nach Beginn der Fertilisation,
wird einer der beiden haploiden, durch
das Crossing-over verschiedenen Chromosomensätze der Oozyte mit dem zweiten Polkörper ausgestoßen. In der Oozyte verbleiben zwei haploide Chromosomensätze, die sich im männlichen und im
weiblichen Vorkern (Pronucleus) befinden (Pronucleus-Stadium). Mit dem Ab-
schluss der 2. Reifeteilung und dem Ausstoßen des zweiten Polkörpers ist die genetische Einzigartigkeit des neu entstandenen Menschen festgelegt.
Während der folgenden Phase, die
ungefähr 6 Stunden dauert, wandern die
beiden Pronuclei aufeinander zu. Während der Wanderung verdoppeln sie ihre
Chromosomensätze (Synthese- oder SPhase). Bei der Annäherung lösen sich ihre Kernmembranen auf. Es entsteht aber
kein gemeinsamer Kern. Vielmehr ordnen sich die Chromosomen in einer gemeinsamen Mitosespindel an. Es beginnt
sodann die erste Furchungsteilung. Nach
der Entstehung von zwei Tochterzellen
spricht man vom Blastomerenstadium.
BLASTOMERENSTADIUM (STADIUM 2)
In der Folge teilen sich die Zellen weiter, ohne dass sich zunächst das Volumen
der Oozyte änderte (Blastomerenstadium).
Die Tochterzellen werden durch die Zo19
MEDIZIN
Zygote ausgeschieden wird, verhindert,
dass der Embryo bei der Einnistung als
Fremdkörper abgestoßen wird. Andere
embryonale Signale wie etwa das humane Choriongonadotropin (HCG) führen
zur Erhöhung der Progesteronproduktion bei der Mutter, wodurch die Aufrechterhaltung der Schwangerschaft gewährleistet wird. Der mütterliche Organismus stellt sich auf Grund dieses Dialogs
auf Schwangerschaft um.
Trotz der beginnenden Differenzierung bleiben die Tochterzellen bis zum
Achtzellstadium totipotent, das heißt,
jede einzelne von ihnen kann sich zu einem vollständigen Embryo entwickeln, wenn sie
aus dem Zellverband gelöst wird. Im Verband sind
diese Tochterzellen jedoch
nicht totipotent, sondern
sind Teil im Ganzen des
Systems. Sie sind bereits
aufeinander zugeordnet
und bilden eine Funktionseinheit oder ein biologisches System. Erst wenn
sie voneinander getrennt
werden, gewinnen sie ihre
Unabhängigkeit und können einen ganzen Embryo
hervorbringen.
Zwischen dem Achtund Sechzehnzellstadium geht die Totipotenz
über in die Pluripotenz,
das heißt, die einzelnen
Zellen des Embryos können sich nicht mehr zu einem ganzen Embryo entwickeln, sondern nur noch
zu verschiedenen Zelltypen, die im Embryo vorkommen.
Die Zellen festigen ihren Zusammenhalt auch in
morphologisch erkennbarer Form und rücken enKleiner Mensch: Fötus in der 7. Schwangerschaftswoche
ger zusammen. Es entstehen spezialisierte VerbinGenoms wird erst zwischen dem Vier- und
dungen zwischen den außen liegenden
Acht-Zellstadium beobachtet; sie ist weZellen, wodurch die inneren Zellen von
sentlich sowohl für die Proteinsynthese als
dem äußeren Milieu abgeschirmt werden
auch für den Fortgang der Zellteilungen.
und sich in ihrem eigenen Milieu diffeDer neu entstandene Organismus
renzieren. Die äußeren Zellen erscheinen
agiert bereits als eine Einheit. Er sendet
morphologisch polarisiert, weil sie an der
an den mütterlichen Organismus wichäußeren Oberfläche Mikrovilli ausbilden,
tige Signale, die den embryo-maternaan den seitlichen Flächen die genannten
len Dialog einleiten und zur SynchroniKontakte herstellen und im Inneren eisierung und Feinabstimmung des embne asymmetrische Verteilung der Zellorryonalen und des mütterlichen Systems
ganellen aufweisen. Zellteilungen könbeitragen. Eines dieser Signale, der Earnen radiär (senkrecht zur gemeinsamen
ly Pregnancy Factor, der schon wenige
Oberfläche der Blastomere) oder tangenStunden nach der Fertilisation von der
tial (parallel zu dieser Oberfläche) erfolLIFE ISSUES INSTITUTE
na pellucida zu einem einheitlichen Verband zusammengehalten. Es ist anzunehmen, dass in dem von der Zona pellucida
umschlossenen Raum ein von außen verschiedenes Stoffwechselfeld besteht. Für
die ersten beiden Zellteilungen genügt die
normale DNA-Synthese. Für die anlaufende Proteinsynthese reichen noch die Reserven an mütterlicher Boten-RNA (mRNA), an Ribosomen, Transfer-RNA (tRNA) und Vorläuferproteinen, welche die
Oozyte vor der Befruchtungskaskade angereichert hat. Die Aktivierung der mütterlichen mRNA erfolgt durch die Fertilisation, die Aktivierung des embryonalen
20
gen. Bei radiär eingestellten Teilungen
entstehen zwei polar organisierte Tochterzellen, die an der Oberfläche bleiben.
Bei tangentialer Teilungsebene entsteht
eine polare oberflächliche Zelle und eine unpolare innere Tochterzelle, die in
dem inneren Stoffwechselmilieu einen
anderen Differenzierungsweg einschlägt.
Während die äußeren Zellen den Trophoblasten bilden, entsteht aus den inneren Zellen der Embryoblast.
BLASTOZYSTE, ADPLANTATION UND
IMPLANTATION (STADIEN 3 BIS 5)
Ab etwa 32 Zellen entstehen Flüssigkeitsräume zwischen den Zellen, die allmählich zu einer einzigen Höhle zusammenfließen. Wir sprechen jetzt vom Stadium der Blastozyste (Stadium 3). Die
Blastozyste besteht aus einem Mantel von
Zellen (Trophoblast), welcher sowohl die
Blastozystenhöhle als auch den Embryoblasten umhüllt. Die Zellen des Embryoblasten liegen konzentriert an einem Pol
der Blastozyste, die Blastozystenhöhle
bildet den anderen Pol des inneren Bereichs, wodurch sich eine polare Differenzierung ergibt. Der Embryoblast differenziert sich in zwei Schichten, den Epiblasten (in der Nähe des Trophoblasten)
und den Hypoblasten (angrenzend an die
Blastozystenhöhle). Der zweischichtige
Embryoblast wird als Embryonalscheibe
bezeichnet. Am Ende von Stadium 3 löst
sich die Zona pellucida auf. Der Embryo
schlüpft aus der Zona pellucida. Mit dem
Trophoblasten hat der Embryo eine neue
schützende Hülle entwickelt. Die Hülle
des Trophoblasten ist von da an für die
weitere Entfaltung des Embryos wesentlich geeigneter. Sie kann sich der Größe
des Embryos anpassen, ermöglicht den
Vorgang der Implantation in den Uterus und wird zu einer Schnittstelle zwischen Mutter und Kind.
Die Blastozyste lagert sich mit dem
Pol, an welchem der Embryoblast liegt,
der Wand des Uterus an (Adplantation,
Stadium 4), löst mit den Enzymen des
Trophoblasten die Uterusschleimhaut
auf, dringt in sie ein und ist schließlich
am Ende der ersten Woche völlig in die
Uterusschleimhaut eingenistet (Implantation, Stadium 5).
ASYMMETRIEN, POLARISIERUNG UND
ACHSENBILDUNG
Die Beschreibung der Vorgänge, die
von der kugelförmigen Zygote zur Ausbildung der Körperform führen, ist eine der zentralen Aufgaben der Humanembryologie, seit es sie gibt. Aus der
LebensForum 120
LebensForum 120
net diese konträren Pole als embryonalen und abembryonalen Pol. Die Achse,
die beide Pole verbindet, ist die embryonal-abembryonale Achse (Emb-Ab-Achse). Sie steht senkrecht auf der AV-Achse.
Sie wird später zur dorsoventralen Achse
(DV-Achse oder sagittale Achse).
Die Längsachse ist zugleich die Achse der bilateralen Symmetrie. Bilaterale Symmetrie kann bereits in der frühen
Blastozyste festgestellt werden. Sie hängt
nicht von der Implantation ab. Ein normaler Körperbauplan entwickelt sich auch
in vitro, ohne Implantation.
Die Körperlängsachse weist nicht nur
eine Orientierung, sondern auch eine Polarität auf. Es gibt einen oberen Pol, an
welchem der Kopf entsteht, und einen
unteren Pol, an welchem sich die Steißregion bildet. Schon die Zygote enthält
determinierende Faktoren im Zytoplas-
anderem die Signale des Proteins Nodal
in dem darüberliegenden Epiblasten. Dadurch wird die Aktivität von Nodal auf
die untere Region des Embryos eingeschränkt, wo später der Primitivknoten
und der Primitivstreifen entstehen. Damit ist auch die Polarität der Längsachse bestimmt.
ENTSTEHUNG DES NEURALROHRS UND
WACHSTUMSDYNAMIK DES NERVENSYSTEMS (2. BIS 5. WOCHE, STADIEN 6
BIS 15)
Die Schwerpunkte der zweiten und
dritten Entwicklungswoche sind die Entstehung des Primitivstreifens und der axialen Strukturen, vornehmlich des Neuralrohrs. Da diese Ereignisse für die Debatte über die Grenzen nicht mehr so zentral sind wie vor einigen Jahren, möchte
LIFE ISSUES INSTITUTE
Zygote wird allmählich ein Körper, der
nicht nur durch Symmetrie, sondern
auch durch Asymmetrien und Polaritäten gekennzeichnet ist. Bilaterale Symmetrien werden beschrieben in Bezug
auf eine virtuelle Längsachse, die vertikale Achse, sowie auf die ebenfalls virtuelle, senkrecht auf ihr stehende sagittale Achse, die zusammen die Medianebene aufspannen. Asymmetrien und Polaritäten werden sichtbar, wenn man sich
entlang dieser Achsen bewegt. So ist das
obere Ende (superiorer Pol, Kopfende)
der vertikalen Achse ganz anders gebildet
als das untere Ende (inferiorer Pol, Steißende), das bauchseitige (ventrale) Ende
der sagittalen Achse ganz anders als deren rückenseitiges (dorsales) Ende. Wie
kommt es zur Ausbildung dieser Symmetrien, Asymmetrien und Polaritäten,
die man kurz mit dem Begriff der Ausbildung der Körperachsen zusammenfasst?
Schon die Zygote ist in ihrer inneren Struktur keineswegs kugelsymmetrisch. Sie weist eine wichtige Polarität
auf, nämlich den animalen und den vegetalen Pol. Der animale Pol (A) ist definiert durch die exzentrische Lage der
Metaphasenspindel. Äußerlich wird er
sichtbar durch die Lage des zweiten Polkörpers, welcher in Zweidrittel der Fälle
über eine dünne Zytoplasmabrücke mit
der Zygote und später mit der Blastozyste verbunden bleibt. In Anlehnung an die
Entwicklung bei Invertebraten wird der
gegenüberliegende Pol als vegetaler Pol
(V) bezeichnet. Durch den animalen und
den vegetalen Pol wird die animal-vegetale Achse (AV- Achse) gelegt. Es gibt starke Argumente dafür, dass die AV-Achse,
die Vorläuferin der Längsachse des Embryos, bereits in der Zygote angelegt ist.
Man kann sich nun Meridiane vorstellen,
die den animalen und den vegetalen Pol
miteinander verbinden. Entlang einem
dieser Meridiane erfolgt die erste Furchungsteilung und damit der Übergang
zum Zwei-Zellstadium.
Welcher der möglichen Meridiane für
die Furchungsteilung ausgewählt wird,
wird nach neueren Befunden vermutlich durch den Ort entschieden, an welchem das Spermium in die Oozyte eindringt (sperm entry point, SEP). Mit der
ersten Furchungsteilung wird eine Ebene
generiert, welche die beiden ersten entstehenden Blastomeren trennt. In dieser
Ebene liegt die AV-Achse.
Die Blastozyste weist drei verschiedene Bereiche auf, den Embryoblasten, den
Trophoblasten und die Blastozystenhöhle. Der Embryoblast liegt auf der einen
Seite, die Blastozystenhöhle auf der anderen Seite der Blastozyste. Man bezeich-
Schon in der 8. Woche sind Füße und Zehen deutlich als solche erkennbar
ma, die bei den Furchungsteilungen in
ungleicher Weise auf die Blastomeren
verteilt werden. Dies wurde vor einigen
Jahren durch konfokale Laser-ScanningMikroskopie für die Markermoleküle Leptin und STAT3 bestätigt. Beide Proteine
sind gut charakterisiert. Leptin wirkt als
Hormon und STAT3 gehört zur Familie von Aktivatoren der Signaltransduktion und Transkription.
Schon längere Zeit vor der Entstehung des Primitivstreifens gibt es bereits
Evidenz für die Ausbildung der Polarität
der Längsachse beim Maus-Embryo. Im
viszeralen Entoderm der späteren Kopfregion werden bestimmte Gene und eine Reihe von wichtigen Inhibitoren exprimiert. Die Inhibitoren hemmen unter
ich Ihnen das Studium bzw. die Rekapitulation selbst überlassen.
In der vierten Entwicklungswoche
schließt sich das Neuralrohr am kranialen und am kaudalen Ende des Embryonalkörpers. Von jetzt an dominiert das
Nervensystem das Wachstum des Embryos. Das Gehirn wächst rasch über die
Begrenzungen des Nabelbläschens hinaus und beugt sich nach vorn. Dabei entstehen die Pharyngealbögen. Es entstehen ferner die Augen- und Ohrbläschen
und die vier Gliedmaßenknospen.
In der fünften Entwicklungswoche
wird die Beugung des Kopfes so stark,
dass die Stirn auf dem Nabel zu liegen
kommt. Die Hirnabschnitte sind schon
weit fortgeschritten in ihrer Differenzie21
MEDIZIN
rung. Im Stadium 15 werden die Hemisphärenblasen bereits sichtbar.
AUFRICHTUNG DES EMBRYOS UND
ENTWICKLUNG DES GESICHTS (6. BIS 8.
WOCHE, STADIEN 16 BIS 23)
gischen Gesichtspunkten eine in Raum
und Zeit unverwechselbare Einheit dar,
der wir zu Recht Individualität im biologischen Sinne (Individuumb) zuschreiben.
GRENZZIEHUNGEN
LIFE ISSUES INSTITUTE
Im Verlaufe der sechsten Entwicklungswoche wird der Kopf fast ebenso groß
wie der ganze Rumpf. Die Gliedmaßen
schaffen, dass in jedem Moment der Entwicklung ein menschlicher Embryo zu erkennen ist (humanspezifische Entwicklung).
- Jedes Entwicklungsstadium geht kontinuierlich in das folgende über (Kontinuität der Entwicklung). Nach der Fertilisation können keine Einschnitte in
der Entwicklung des Embryos beobachtet werden.
Auf dem Hintergrund der Entwicklung des menschlichen Embryos wollen
wir uns jetzt mit verschiedenen Grenzziehungen auseinandersetzen, an denen
jeweils das Leben des individuellen Menschen beginnen soll. Erst ab dieser Grenze soll der Embryo eine Würde haben,
die unantastbar ist.
SCHWANGERSCHAFTSABBRUCH
Hand eines Embryos in der 12. Woche. Bis zu diesem Zeitpunkt darf abgetrieben werden.
sind weiter differenziert. In der Handplatte sind die Fingerstrahlen erkennbar
(Stadium 17). Der Entwicklung des äußeren Erscheinungsbildes entspricht eine rasch fortschreitende Differenzierung
der Organsysteme im Inneren des Embryonalkörpers.
Als Folge der Ausbildung der Wirbelsäule richtet sich der Embryo in der 7.
und 8. Entwicklungswoche allmählich auf,
Finger und Zehen werden fein ausgebildet, das Gesicht wird zu dem geformt, was
auch der nicht embryologisch Geschulte
als typisch menschliches Antlitz bezeichnen würde. Betrachtet man mehrere verschiedene Gesichter am Ende der Embryonalzeit (Ende der 8. Woche), dann
wird man jedem dieser Gesichter eine individuelle Besonderung zusprechen müssen. Der Embryo ist zu dieser Zeit etwa
30 mm groß.
EINIGE WESENTLICHE BEFUNDE BEI DER
EMBRYONALENTWICKLUNG
- Die Zygote ist als menschliches Wesen in der Lage, sich unter geeigneten Bedingungen zur Gestalt des erwachsenen
Menschen zu entwickeln. Es muss nichts
Wesentliches mehr hinzugefügt werden
(aktive Potenz zur vollständigen menschlichen Entwicklung).
- Das Genom ist individuell und humanspezifisch. Seine Struktur ist so be22
- In jedem Moment der Embryonalentwicklung agiert der Embryo als eine
funktionelle, sich selbst organisierende Einheit (Einheit eines dynamischen,
sich selbst organisierenden Systems). Der
Entwicklungsablauf ist irreversibel und
strebt nach der Ausprägung der Endgestalt. Die Einheit des sich selbst organisierenden Systems ist das zentrale und
zugleich wichtigste Kriterium, um einem
Lebewesen Individualität zusprechen zu
können. Es enthält in sich bereits die anderen, vorher genannten Kriterien. Nur
der Blick auf das System als ganzes kann
den Embryo in seiner biologischen Verfassung angemessen repräsentieren. Eine Verkürzung der Perspektive, wie etwa auf die genetische Information oder
die Funktionen des Nervensystems, wird
der biologischen Realität nicht gerecht.
Wenn wir vom System als ganzem sprechen, dann müssen wir zugleich einräumen, dass wir dieses System in vielen Hinsichten noch nicht verstehen.
Aus der embryologischen Betrachtung
der menschlichen Entwicklung folgt, dass
der Embryo von der Befruchtung an ein
Mensch ist und die aktive Möglichkeit
besitzt, dieses Menschsein voll zu entfalten, wenn ihm die dafür nötigen Umgebungsbedingungen geboten werden.
Der Embryo lebt zu jeder Zeit als ein
zu einer einheitlichen Leistung befähigtes System und stellt daher unter biolo-
Im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch wurde früher der Übergang von
der Embryonal- zur Fetalzeit, also das Ende der 8. Entwicklungswoche festgelegt.
Begründet wurde dies mit der Behauptung, dass um diese Zeit die Entstehung
der Köperform eine wichtige Etappe erreicht habe und die Organentwicklung beginne. Das trifft aber nicht zu. Die Organentwicklung beginnt schon viel früher. Denken Sie nur an die Entwicklung
des Herzens, der Gefäße, der peripheren
Nerven und des Zentralnervensystems.
Die heutige Gesetzgebung legt das Ende
des dritten Monats als Grenze fest, bis zu
welcher die Schwangerschaft unterbrochen werden darf. Für diese Festlegung
gibt es keinen embryologischen Grund.
PRIMITIVSTREIFEN, ZWILLINGSBILDUNG, PRAE-EMBRYO
Um den Embryonaltag 14 entsteht
der Primitivstreifen. In der Regel entstehen danach keine Zwillinge mehr. Solange ein Embryo sich noch zu zwei Individuen entwickeln könne, so das Argument, sei er noch kein individueller
Mensch. Die Zygote und die nachfolgenden Embryonalstadien bis zur Entstehung des Primitivstreifens sollen als
Prä-Embryo bezeichnet werden. Es ist
zuzugeben, dass der Prozess der Zwillingsbildung noch nicht richtig verstanden ist. Sicher ist aber, dass der Embryo
zu jeder Zeit als ein zu einer einheitlichen
Leistung befähigtes System lebt und daher unter biologischen Gesichtspunkten
eine in Raum und Zeit unverwechselbare Einheit darstellt, der wir zu Recht Individualität im biologischen Sinne (Individuumb) zuschreiben.
Der Embryo ist vor der Zwillingsbildung ein Individuumb (Zustand A). Nach
der Zwillingsbildung (Zustand B) handelt
es sich um zwei Individuenb.
LebensForum 120
DIE NIDATION
Um das Jahr 2000 herum, also zu der
Zeit, als die Gewinnung embryonaler
Stammzellen eine immer größere Bedeutung erlangte, wurde die Nidation (Einnistung in den Uterus), also der Embryonaltag 7, entscheidend für die Zuschreibung
des individuellen Menschseins. Es wurde
verschiedentlich behauptet, so auch von
Christian Kummer (1999), in der Zygote
und in den nachfolgenden Präimplantationsstadien gebe es noch keine Achsen.
Zur Ausbildung der Körperachsen brauche der Embryo Positionssignale, die er
erst durch die Implantation in den Uterus
erhalte. Deshalb habe der Embryo nicht
schon mit der Fertilisation die aktive Potenzialität, sich zum erwachsenen Menschen zu entwickeln. Die Implantation
liefere ihm noch zusätzliche Eigenschaften, die für seine weitere Entwicklung wesentlich seien. Auf Grund der Konfrontation mit neueren Befunden zur Entstehung der Körperachsen, über die ich im
Teil 1 berichtet habe, sah sich aber Kummer zu einer »empfindlichen Korrektur«
seiner Position veranlasst. »Eine grundlegende Befähigung zur autonomen Bestimmung seiner Körperachsen ist dem
Embryo nach all dem sicher nicht mehr
abzusprechen«. Die embryologischen
Daten sprechen dafür, dem Embryo von
der Fertilisation an den »ontologischen
Status einer vollständigen Organisationsform« zuzuerkennen, und zwar unabhängig von der Einnistung in den Uterus.
Dennoch wird verschiedentlich daran
festgehalten, dass der Embryo erst durch
die Einnistung zu einem vollständigen
menschlichen Individuum werde. Gemäß
Christiane Nüsslein-Volhard sei der Uterus notwendig für die Vervollständigung
und Steuerung des embryonalen Entwicklungsprogramms. Doch dafür gibt es bisher keine Evidenz. Der Uterus ist sicherlich notwendig für das Weiterleben des
Embryos. Er liefert die geeignete Behausung, die lebensnotwendige Nahrung und
den unverzichtbaren Schutz für den Embryo. Diese Funktionen des Uterus sind
notwendig, wie auch für Kinder und Erwachsene Nahrung, Behausung und Schutz
LebensForum 120
notwendig sind für das Überleben und die
Entwicklung der eigenen Möglichkeiten.
Lebensnotwendige Faktoren sind aber
nicht per se schon konstitutiv. Nach allem, was wir heute wissen, steuert der Embryo sein Entwicklungsprogramm selbst.
Unser Gegenargument wird durch soeben publizierte experimentelle Befunde
aus der Arbeitsgruppe von Magdalena
Zernicka-Goetz unterstützt. Diese zeigen, dass menschliche Embryonen in einer speziellen Kulturschale und in einem
besonderen Nährmedium über den Zeitpunkt der Implantation hinaus weiterleben und sich entwickeln konnten. Die
Forscher gehen davon aus, dass sie die
Embryonen auch länger als die gesetzlich
erlaubten 14 Tage (in
Großbritannien) am
Leben halten könnten.
über eine individuelle genetische Ausstattung. Seine Zellen bilden eine organische Einheit, ein sich selbst organisierendes System. Sie kommunizieren miteinander und teilen sich schon sehr früh
die Aufgaben, die zu regionalen Differenzierungsunterschieden führen. Dieses komplexe System ist umgeben von
LIFE ISSUES INSTITUTE
Die Autoren Smith & Brogaard haben dafür ein anschauliches Beispiel aus
der Geschichte der Vereinigten Staaten
von Amerika vorgestellt. Die Vereinigten Staaten existierten 1860 als Einheit,
obwohl sie im Falle eines Bürgerkrieges
in zwei Staaten hätten zerfallen können.
Wenn etwas der Möglichkeit nach zwei
ist, dann folgt daraus nicht, dass es nicht
aktuell eins ist.
DIE REDE VOM
ZELLHAUFEN
Als ich zum ersten
Mal hörte, dass der
Embryo ein Zellhaufen sei, dachte ich, es
handle sich um einen
populistischen Ausdruck von Journalisten. Mittlerweile ist
aber dieser Ausdruck
weit verbreitet, und
zwar sogar bei Bio- In der 14. Woche sind Gliedmaßen und Organe schon ausgebildet
logen, Reproduktionsmedizinern und Politikern. So hat
einer schützenden Hülle, der Zona pelder schweizerische Bundesrat Alain Berlucida, die die Einheit des Embryos geset in der Arena-Sendung vom 15. Mai
währleistet. Entfernt man diese Hülle,
2015 gesagt, der Embryo sei zu Beginn
dann zerstört man die Einheit des Embseines Lebens noch kein Mensch, sonryos. Die Zona pellucida schafft ein nach
dern »ein Zellhaufen, der sich später entaußen abgeschlossenes inneres Milieu
wickeln kann zu einem Menschen«. Dafür die Differenzierung der Zellen. Zumit begründete er die Verfassungsändegleich ermöglicht sie die Kommunikatirung, die die Einführung der Präimplanon mit der Außenwelt und insbesondetationsdiagnostik erlauben sollte.
re den Austausch von Signalen mit der
Wie jeder von uns weiß, bedeutet ein
Mutter, was die Embryologen als embHaufen, dass die einzelnen Elemente in
ryo-maternalen Dialog bezeichnen. Nun
beliebiger Nachbarschaft liegen und ausgibt es Aufnahmen vom Blastomerenstagetauscht werden können. Ganz anders
dium mit dem Rasterelektronen-Mikrosist die Situation beim menschlichen Emkop. Zur Darstellung der einzelnen Zelbryo, wie ich im Teil 1 gezeigt habe. Mit
len wurde die schützende Hülle, die Zoder Befruchtung beginnt er sein indivina pellucida entfernt. Beim Anblick dieduelles menschliches Leben. Er verfügt
ser Zellen könnte man meinen, es hand23
MEDIZIN
le sich tatsächlich um einen Zellhaufen.
In Wirklichkeit hat man die Individualität des Embryos zerstört und künstlich
einen Zellhaufen erzeugt.
DER ONTOLOGISCHE STATUS
DES EMBRYOS
Die Analyse des biologischen Status
hat ergeben, dass der menschliche Embryo alle Bedingungen erfüllt, um als ein
Individuum im biologischen Sinn (Individuumb) angesehen zu werden. Welche
Relevanz hat dieser Befund für die philosophische Frage, ob der Embryo schon
Person ist? Die klassische Definition der
Person stammt von dem antiken Philosophen Boethius. Sie lautet: »Person ist die
individuelle Substanz einer vernunftbegabten Natur«. Es ist nun erstens zu klären, ob das biologische Individuum ontologisch als eine individuelle Substanz
angesehen werden muss, und zweitens,
ob dieses Individuum vernunftbegabt ist.
Wir haben im ersten Teil des Vortrags gesehen, dass der Embryo von der
Fertilisation an alle Bedingungen erfüllt,
die für ein biologisches Individuum erfüllt sein müssen. Er ist eine Einheit in
Raum und Zeit. Diese Einheit wird garantiert durch eine schützende Hülle, und
zwar zuerst von der Zona pellucida, danach vom Trophoblasten. Als individuelle Einheit ist der Embryo ein System,
das sich schon in seinem Anfang auf seine Endgestalt hin organisiert. Trotz der
Veränderungen, die im Laufe der Entwicklung auftreten, bleibt der Embryo
mit sich über die Zeit hinweg (diachron)
identisch. Er ist deshalb biologisch als Individuum und ontologisch als eine individuelle Substanz anzusehen.
Gemäß Aristoteles und vielen anderen
Philosophen sind natürliche Seiende bestimmt durch grundlegende Eigenschaften wie Potentialität (dynamis) und Aktualität (energeia). Potentialität bedeutet
nicht einfach eine reine Möglichkeit, sondern ein aktives Vermögen, sich in seine
Aktualität zu entwickeln. Sie ist auf die
Realisierung ihres Endzustands ausgerichtet. Dieses Konzept wurde von Thomas von Aquin systematisch weiter entwickelt. Thomas unterscheidet eine aktive und eine passive Potentialität (potentia activa, potentia passiva). Ein Seiendes
hat dann eine aktive Potentialität, wenn
es fähig ist, aus sich selbst heraus diese
Möglichkeit in Wirklichkeit umzusetzen (capacitas ad actum producendum).
Der Mensch ist dadurch charakterisiert,
dass er vernunftbegabt ist. Das biologische
Korrelat der Rationalität ist das Nervensystem. Da der menschliche Embryo die
24
aktive Potentialität hat, ein menschliches
Nervensystem zu entwickeln, hat er eine
rationale Natur. Daraus ergibt sich, dass
die philosophische Reflexion über biologische Sachverhalte zu der Schlussfolgerung berechtigt: Der menschliche Embryo ist eine individuelle Substanz einer rationalen Natur und deshalb eine Person.
PERSONALSITTLICHES SUBJEKT
Während die antike und die mittelalterliche Philosophie von der Ontologie der Substanz ausgeht, legt Immanuel Kant die Freiheit für den Personenbegriff zugrunde. Person ist für Kant »dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer
Zurechnung fähig sind. Die moralische
Persönlichkeit ist also nichts anderes, als
die Freiheit eines vernünftigen Wesens
unter moralischen Gesetzen (...).« Freiheit ist aber für Kant kein Gegenstand
möglicher Erfahrung, somit auch nicht
ein Objekt der theoretischen Vernunft.
Wir werden der Freiheit nur gewärtig als
Subjekte, und zwar in praktischer Perspektive. In dieser Perspektive weiß jeder
Mensch, dass er unter einem Anspruch
des Sollens steht. Nach Kant zeigt aber
die Erfahrung des Sollensanspruchs, dass
der Mensch frei ist; sonst könnte er das
Sollen nicht als Sollen verstehen. »Freiheit ist für Kant nur Freiheit, wenn sie als
eine ursprüngliche Selbstbestimmung des
Willens gedacht wird, als die Fähigkeit,
von sich selbst her einen Anfang zu setzen. Selbstbestimmung des Willens aber
bedeutet, sich von nichts anderem als (...)
von der Vernunft bestimmen zu lassen.«
Da das Subjekt seinen Willen für das sittlich Gute selbst bestimmt, wird es zum sittlichen Subjekt. Das sittliche Subjektsein
und seine zum Guten realisierte Freiheit
stellt aber nicht mehr einen Zweck dar, der
für andere Zwecke verfolgt wird, sondern
ist Zweck an sich selbst. Wenn aber das
sittliche Subjekt Zweck an sich selbst ist,
»dann gibt es keinen äquivalenten Wert,
gegen den es verrechnet werden könnte«.
Diese Selbstzwecklichkeit des sittlichen
Subjekts hat keinen Preis, »sondern einen inneren Wert, d. i. Würde«. Das sittliche Subjektsein verleiht also dem Menschen Würde und macht ihn zur Person.
Aus dieser Herleitung des Würdebegriffs wird klar, dass dem Menschen Würde und Personalität nicht einfach deshalb
zukommen, weil er der biologischen Spezies Homo sapiens angehört, sondern weil
er sittliches Subjekt ist. Nun aber ist das
leibliche Leben Bedingung dafür, sittliches
Subjekt zu sein. Deshalb gehören schon
bei Kant Persönlichkeit und menschliche
Natur untrennbar zusammen.
SCHLUSS
Bei genauer Betrachtung der Eigenschaften und der Entwicklung des menschlichen Embryos ergibt sich, dass der Embryo von der Befruchtung an ein menschliches Individuum ist. Dieses Individuum
verfügt über die Möglichkeit, ein Nervensystem zu entwickeln, womit seine rationale Natur grundgelegt ist. Der Embryo
ist deshalb als Person im philosophischen
Sinn zu bezeichnen. Aus der Zuschreibung des Personseins ergeben sich wichtige ethische Konsequenzen. Eine Person
hat Würde und darf nicht als Mittel zum
Zweck gebraucht werden. Diese philosophische und ethische Sicht steht heute im
Konflikt mit politischen, juristischen, sozialen und psychologischen Gesichtspunkten, die bei der Gesetzgebung ebenfalls
berücksichtigt werden müssen. Man darf
aber auf keinen Fall zulassen, dass biologische Sachverhalte so umgedeutet werden,
dass damit die Gesetzgebung auch moralisch gerechtfertigt wird und man beim
Eingriff in das Leben des Embryos kein
schlechtes Gewissen mehr haben muss.
IM PORTRAIT
Prof. Dr. Günter Rager
Der Autor ist emeritierter Professor und
Direktor des Instituts für Anatomie und
spezielle Embryologie der Universität Fribourg (Schweiz). Günter Rager wurde
1938 geboren.
Nach dem Studium der Philosophie
an der Universität
München, das er
1966 mit der Promotion über den
Personbegriff bei dem indischen Philosophen Sri Aurobindo abschloss, nahm er
das Studium der Medizin auf, das ihn
über Zwischenstationen in Erlangen, Zürich und Tübingen schließlich an die Universität Göttingen führte, wo er bis zu
seiner Berufung als Ordinarius und Direktor des Instituts für Anatomie und
spezielle Embryologie an der Universität
Fribourg im Üchtland sein langjähriges
Wirkungsfeld fand. Die wissenschaftliche Tätigkeit von Günter Rager fand Anerkennung durch die Berufung in zahlreiche wissenschaftliche Institutionen und
Gremien. Von 1983 bis 1986 war er Präsident der Schweizerischen Gesellschaft
für Anatomie, Histologie und Embryologie, von 1998 bis 2006 war er zudem Direktor des Instituts der Görresgesellschaft für Interdisziplinäre Forschung.
LebensForum 120
DANIEL RENNEN
GESELLSCHAFT
Enttäuschend
Gewogen und für zu leicht befunden: Das angekündigte und von vielen mit Spannung erwartete
Lebensschutz-Memorandum des Kolpingwerks Deutschland enttäuscht.
Mit seinen bescheidenen Forderungen und einer unnötigen Provokation bleibt der katholische
Verband deutlich hinter den an ihn gestellten Erwartungen zurück.
Von Stefan Rochow
P
apst Benedikt XVI. prägte in seiner
Rede vor dem Deutschen Bundestag im Jahr 2011 den Begriff von
der »Ökologie des Menschen«. Nicht nur
die Umwelt und das Klima seien schützenswert, sondern auch der Mensch selbst
müsse sich als unbedingt schützens- und
achtenswert erkennen.
Der Pontifex aus Deutschland stellte
sich damit ganz in die Linie mit seinen
Vorgängern, insbesondere Papst Johannes Paul II., dem das Thema Lebens- und
Menschenwürde immer wieder ein so
großes Anliegen gewesen ist. Aber auch
der jetzige Papst Franziskus hat sich in
seinem Pontifikat bisher immer wieder
zu diesem Thema unmissverständlich
geäußert. Zum Ja für das Leben, anders
kann man die Botschaften nicht verstehen, gibt es keine Alternative. Kompromisse sind in einer Demokratie existenzielle Voraussetzung dafür, dass das Zusammenleben überhaupt funktionieren
kann. Geht es aber um das Recht auf Leben, darf es in dieser Frage keine Kompromissbereitschaft geben.
Vor diesem Hintergrund war man erfreut, dass sich ein großer katholischer
LebensForum 120
Verband wie das Kolpingwerk Deutschland in einem »Memorandum zum Schutz
des menschlichen Lebens« zur Frage des
Lebensrechts geäußert hat. »Mit Besorgnis beobachtet das Kolpingwerk Deutschland ein schwindendes Bewusstsein für
den Lebensschutz; das wirkt sich auch
auf politische Entscheidungen und den
uneingeschränkten Schutz des menschlichen Lebens aus«, heißt es in der Erklärung des katholischen Sozialverbandes.
Tatsächlich gibt es seit vielen Jahren
öffentliche Diskussionen in bioethischen
Bereichen, die nachdenklich stimmen. Gerade erst wird zum Beispiel in den Niederlanden darüber diskutiert, ob man die
seit Jahren bei unseren Nachbarn legale
Sterbehilfe ausweiten soll. Bisher haben
nur kranke Menschen, die ohne Hoffnung
auf Genesung unerträglich leiden, unter
bestimmten Bedingungen ein Recht darauf. Nun möchte Gesundheitsministerin Edith Schippers einen Schritt weiter
gehen: Auch alten und gesunden Menschen soll ein ähnliches Recht eingeräumt
werden. Pseudohuman wird argumentiert, dass es viele alte Menschen geben
würde, die aus den unterschiedlichsten
Gründen ihrem Leben ein Ende setzen
möchten, weil sie ihr Dasein nicht mehr
ertragen könnten.
»Untersuchungen haben ergeben, dass
dieser Wunsch (Sterbehilfe – Anm. der
Redaktion) in allen Schichten der Bevölkerung existiert. Nicht nur gut ausgebildete, emanzipierte Bürger wollen
diese Möglichkeit haben. Was noch lange nicht heißt, dass sie davon dann auch
Gebrauch machen. Es ist für viele ein beruhigender Gedanke, dass sie, wenn sie
wollten, die Möglichkeit hätten. Es gibt
immer wieder entsetzliche Vorfälle von
alten Menschen, die sich eine Plastiktüte
über den Kopf stülpen. Diese Verzweiflung ist Realität. Und dabei geht es leider nicht um Ausnahmen!«, argumentieren die Befürworter einer derart liberalisierten Sterbehilfe.
So wie beim bestehenden Sterbehilfeparagrafen muss der Todeswunsch deutlich und mehrfach geäußert worden sein.
Geprüft werden soll dies von einem sogenannten Sterbensbegleiter: Er muss sämtliche Alternativen ausschließen, einen Arzt
zu Rate ziehen und sich außerdem vor einer Ethikkommission verantworten.
25
GESELLSCHAF T
die Rahmenbedingungen für die Hospiz- und Palliativversorgung entscheidend verbessert werden.
Mancher hätte sich im Memorandum,
im Hinblick auf die Sterbehilfe, eine größere Deutlichkeit gewünscht. Gerade unter dem Aspekt, dass der Bundesvorsitzende des Kolpingwerkes, Thomas Dörflinger, im vergangenen Jahr als Bundestagsabgeordneter zusammen mit seinen Fraktionskollegen Professor Patrick Sensburg
und Hubert Hüppe zu diesem Thema einen eigenen Gesetzentwurf vorgestellt
hat, verwundern die doch relativ zahm
gefassten Passagen dann doch.
Die CDU-Abgeordneten Sensburg,
Hüppe und Dörflinger hatten damals einen Gesetzentwurf veröffentlicht, in dem
DANIEL RENNEN
Das Fatale an solchen Diskussionen
ist, dass sich die Argumente in die Köpfe der Menschen verfangen. 2002 waren
es die Niederlande, die weltweit als erstes
Land die Beihilfe zur Tötung von Menschen, die große Schmerzen erdulden
müssen und die keine Chance auf Heilung haben, legalisiert haben. Die Sterbehilfe ist in den Niederlanden gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Auch
im Zusammenhang mit der Ausweitung
der Sterbehilfe haben sich in verschiedenen Umfragen 70 Prozent der Niederländer für eine Ausweitung der Sterbehilferegelung ausgesprochen. Damit stehen die Niederländer nicht alleine da.
Auch in Deutschland schließt eine große Mehrheit der Deutschen Sterbehilfe
Das Kolpingwerk fordert die Bischöfe zur Rückkehr in die Schein-Beratung auf
für sich nicht aus. Im Oktober veröffentlichte die »Apotheken-Rundschau« eine
repräsentative Umfrage, die aufhorchen
lässt. So können sich 77,6 Prozent der
Befragten gut vorstellen, im Falle einer
unheilbaren oder tödlichen Erkrankung,
als unheilbar oder tödlich erkrankter, leidender oder sterbender Mensch das eigene Leben mit ärztlicher Hilfe beenden zu wollen. Für 79,1 Prozent der Befragten zählt es sogar zur Menschenwürde, als leidender oder sterbender Mensch
selbst über Todesart und Todeszeitpunkt
bestimmen zu können.
»Weder Suizid noch aktive Sterbehilfe sind eine Lösung«, macht das Kolpingwerk deutlich. Das Kolpingwerk
Deutschland begrüßt es, dass gemeinsam mit der Gesetzgebung zum Verbot
der organisierten Suizid-Beihilfe auch
26
sie sich für ein vollständiges ausnahmsloses Verbot der Anstiftung zum und Mitwirkung am Suizid einsetzten. Es sollte
insbesondere keine Ausnahmen für Angehörige und Ärzte geben. Zu Recht verwiesen die Bundestagsabgeordneten darauf, dass gerade Ausnahmen für diese
beiden Personengruppen im Bezug auf
assistierten Suizid einen neuen Erwartungs- und Entscheidungshorizont am
Lebensende begünstigen würden. Wenn
lebenserhaltende Therapien und der Tod
als gleichwertige Behandlungsalternativen betrachtet werden, würde der Patient, der sich für das Leben entscheidet,
begründungspflichtig, da er damit Kosten für Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung verursacht – der Gesellschaft
und der Familie. Der Gesetzentwurf der
CDU-Abgeordneten war der einzige, der
dieser problematischen Entwicklung einen vollständigen Riegel vorschieben
wollte. Durchsetzen konnten sie sich allerdings nicht.
Zwar beschloss der Bundestag damals, dass nicht nur der gewinnorientierte, sondern jeder geschäftsmäßig assistierte Suizid unter Strafe gestellt wird
und dass Sterbehilfevereine damit endgültig nicht erlaubt sind.
Angehörige und besonders nahestehende Person werden aber für eine Suizidbeihilfe nicht bestraft. Auch Ärzte sollen
regelmäßig straffrei bleiben. Diese Ausnahmen von der Strafbarkeit sahen Sensburg und Dörflinger kritisch und legten
daher einen konsequenten Gesetzentwurf
vor, der auch einer Sterbehilfe durch die
Hintertür einen Riegel vorschiebt.
Im Memorandum des Kolpingwerkes
ist von dieser Problematik leider nichts
zu lesen. Irritiert nimmt der Leser zur
Kenntnis, dass der Gesetzentwurf ein
»starkes Zeichen für den Lebensschutz
und für ein Sterben in Würde« sei.
Doch nicht nur alte Menschen sind
Gegenstand intensiver bioethischer Debatten in unserem Land. So hat gerade
in den letzten Monaten wieder eine Diskussion an Fahrt aufgenommen, die ebenfalls ethisch bedenkliche Weichen stellen
könnte: Der sogenannte »PraenaTest«
der Konstanzer Firma LifeCodexx könnte bald als Kassenleistung aufgenommen
werden. Der seit August 2012 in Deutschland erhältliche Test erfasst mit »hoher
Wahrscheinlichkeit«, ob bei dem noch
ungeborenen Kind eine Trisomie 21 –
die Ursache für das sogenannte DownSyndrom – vorliegt. Auch zwei andere
Trisomien – 18 und 13 – lassen sich damit diagnostizieren.
Schon bei der Einführung dieses Tests
vor über vier Jahren gaben Kritiker immer wieder zu bedenken, dass die einfache Blutuntersuchung dazu führt, dass
Kinder mit Down-Syndrom häufiger abgetrieben und behinderte Menschen diskriminiert werden. Durchsetzen konnten
sich die Bedenken damals nicht.
Befürworter weisen darauf hin, dass
schon heute Methoden Bestandteil der
Regelversorgung sind, mit denen sich
Trisomien nachweisen lassen – etwa die
Fruchtwasseruntersuchung. Nun auf eine risikoärmere Alternative zu verzichten, sei nicht nachvollziehbar.
Das sind nur zwei Debatten, die deutlich machen, dass sich in der Frage der
»Ökologie des Menschen« sehr vieles in
eine Richtung bewegt, die als gefährlich
bewertet werden muss. »Der Lebensschutz ist nicht allein Aufgabe des Staates und der Politik, sondern der gesamLebensForum 120
LebensForum 120
ven und Wünsche der Mutter miteinander abwiegen«. Das ist aber eine Illusion, wie das Memorandum selber feststellt,
in dem es heißt: »Mit Befremden stellt
das Kolpingwerk Deutschland fest, dass
sich unter den anerkannten und staatlich
geförderten Trägern von Beratungsstellen in Schwangerschaftskonflikten auch
solche Organisationen befinden, die ei-
nen Lebens rechtliche Deckung erfährt.
Ein Mitwirken daran stellt der Weg dar,
den Donum Vitae geht. Das wird leider
vom Kolpingwerk im Memorandum ausgeblendet.
Auch beleuchtet das Memorandum
an keiner Stelle die Arbeit vieler Vereine, die ohne die Ausstellung eines Beratungsscheins für Frauen in allen Lebens-
DANIEL RENNEN
ten Gesellschaft«, heißt es daher im Kolping-Memorandum folgerichtig. Seine
verbandlichen Ebenen ruft der Sozialverband auf, »durch Aufklärung, Gewissensbildung und praktische Hilfe für Frauen
in Not sowie Schwerkranke am Schutz
des menschlichen Lebens mitzuwirken«.
Mag man viele Punkte in dem Memorandum als sehr oberflächlich angesprochen ansehen oder wünschte man sich in
manchen Punkten eine deutlichere Akzentuierung, so gibt es vor allem einen
Punkt, der beim Lesen wie eine unnötige
Provokation wirkt: Die Bundesversammlung empfiehlt der Deutschen Bischofskonferenz »eine Rückkehr in das Beratungssystem nach § 219 StGB«. Konkret
bedeutet diese Forderung, dass katholische Beratungsstellen in Zukunft wieder
einen Beratungsschein ausstellen dürfen,
welcher die Mutter berechtigt, ihr Kind
straffrei im Mutterleib töten lassen zu
können. Was hat so ein Punkt in einem
Memorandum zum Schutz des menschlichen Lebens zu suchen?
Offenbar sollen hier die Schlachten
von Vorgestern geschlagen werden. Im
Jahr 1999 hatte sich die Katholische Kirche in Deutschland nach einem längeren Diskussionsprozess, in den sich zum
Schluss dann auch Papst Johannes Paul II.
mit deutlichen Worten einmischte, dafür
entschieden, in ihren Schwangerschaftsberatungsstellen einen sogenannten Beratungsschein auszustellen, der Voraussetzung für eine straffreie Abtreibung in
Deutschland ist. Da der Beratungsschein
»eine Schlüsselfunktion für die Durchführung straffreier Abtreibungen erhalten hat«, bat der Papst die Bischöfe eindringlich, »Wege zu finden, dass ein
Schein solcher Art (…) nicht mehr ausgestellt wird«.
Da nicht alle Katholiken diese Entscheidung mittragen wollten, gründete sich im Jahr 1999 der Verein Donum
Vitae, der bis heute die umstrittenen Beratungsscheine ausstellt. Von der Katholischen Kirche werden seine Beratungsstellen nicht als katholische Einrichtungen anerkannt. Durch den Beschluss, so
begründet es der Pressesprecher des Kolpingwerkes Martin Grünewald gegenüber
dem Domradio in Köln, soll das Engagement von Donum Vitae gewürdigt werden. Nach Vorstellungen des Kolpingwerkes könnte die Ausstellung eines Beratungsscheines dazu führen, dass jene
Mütter eine Beratung aufsuchen, die mit
dem Gedanken einer Abtreibung spielen.
Hier könne man ihnen deutlich machen,
dass sie ein menschliches Leben im Mutterleib töten und, so Grünewald, das »Lebensrecht des Kindes und die Perspekti-
Schwangere in Not brauchen Hilfe und keine Scheine, die zur Abtreibung berechtigen
ne Abwägung zwischen dem Lebensrecht
des ungeborenen Kindes einerseits und
den möglichen Nöten und Konfliktsituationen der schwangeren Frau andererseits völlig ablehnen. So überrascht auch
nicht, dass in den Positionen und Publikationen dieser Träger der Schwangerschaftskonfliktberatung mit keinem Wort
das Lebensrecht des ungeborenen Kindes erwähnt wird.«
Natürlich ist hier nicht der Verein Donum Vitae gemeint, und trotz aller Kritik an der Ausstellung des Scheins muss
man den Verantwortlichen zugestehen,
dass sie sich um genau diesen Ausgleich
zwischen dem Lebensrecht des Kindes
und den Sorgen und Nöten der Mutter
bemühen. Trotzdem bleibt es dabei, dass
es am Ende einen Beratungsschein gibt,
den der Osnabrücker Sozialethiker Professor Manfred Spieker als eine »Lizenz
zum Töten« bezeichnet. Das ist am Ende ja genau das Problem: Der Nachweis
der Beratung durch einen Schein stellt
sogleich das Mittel dar, dessen man sich
bedienen kann, um das Leben des Kindes im Mutterleib abzutöten. Gerade in
der Rückschau auf die letzten Jahre wird
deutlich, welcher Bewusstseinswandel
stattfindet, wenn die Tötung ungebore-
lagen erreichbar sind. In den meisten Fällen möchten auch Frauen, die über eine
Abtreibung nachdenken, ihre Kinder behalten. Von außen herangetragene Gründe führen häufig dazu, dass sie eine Abtreibung in Betracht ziehen. Die Ausstellung eines Beratungsscheins bedeutet eine Kapitulation. Wenn das Kolpingwerk
mit seinem Memorandum nun die Teilnahme an einem System einfordert, das
durch das Ausstellen eines Scheines den
Anschein erweckt, jede Entscheidung sei
rechtmäßig und damit gleich gültig, dann
kann das keine Verbesserung des Lebensschutzes sein.
Das Kolpingwerk hat sich mit dem Memorandum selber das Ziel gesetzt, beim
Lebensschutz in die Offensive zu gehen,
und damit hohe Erwartungen gesetzt.
Wer in der Frage der Menschenwürde
und des Lebensrechts auf die schrankenlose Freiheit setzt, der öffnet eine Büchse der Pandora, die Potential hat, genau in das Gegenteil zu kippen. Manchmal muss der Mensch vor der Selbstzerstörung geschützt werden. Papst Benedikt hat genau deshalb die Ökologie des
Menschen eingefordert. Das Memorandum hingegen bleibt hinter den großen
Erwartungen zurück.
27
GESELLSCHA F T
»Sie haben doch
drei gesunde Kinder!«
Ein Ehepaar, das bereits drei Kinder hat und sich ein viertes wünscht, erwartet überraschend Zwillinge: Tagebuch einer ungewöhnlichen Geburtsgeschichte. Aufgezeichnet von Eckhard Michaelis.
28
dass das Kind in ihr verstorben sei und
sie eine Ausschabung brauche. Das alles
in einem einzigen Zimmer. Wie nah da
doch Leben und Tod beieinander sind.
Er (Ehemann): Wie manche Leute mit
Leben umgehen! Ein junges Paar kam gut
gelaunt, nach dem Motto: Jetzt machen wir
das Kind mal kurz weg – wie wenn man einen Kühlschrank entsorgt. Das ist eben ein
Termin, den man wahrnimmt, und abends
ist man wieder zu Hause, einfach so.
Sie: Für uns war klar: Wir können über
das Leben nicht entscheiden. Es ergab sich
nun folgende Situation: Das eine Kind
war kleiner. Die Ärzte rieten, man könnte das eine »wegmachen«, damit das andere mehr Chancen habe. Aber wir haben
immer gesagt, wir hätten die Schwangerschaft geschenkt bekommen und möchten das auch so annehmen. Die versuchte Einflussnahme ging weiter: Es könnte
eines der Kinder behindert sein, ob wir
uns das überhaupt zumuten wollten. Die
Ärzte hatten da immer die »besten« Ratschläge für uns. Inzwischen waren wir Gesprächsstoff in der Klinik. Zum einen: Wer
will denn schon vier Kinder – schon damit fällt man auf –, und dann auch noch
Zwillinge und das in der 19. Woche; das
hat ja sowieso keinen Wert.
Es gab mehr als einen Arzt, der uns
unter Druck setzte: »Sie haben doch
drei gesunde Kinder, stehen Sie auf; was
wollen Sie hier?« Aber man wächst mit
der Situation – obwohl alles schwer war
und auch viele Tränen geflossen sind –,
bis ich eines Tages so weit war, dass ich
den Mut fand, zu antworten: »Ich glaube nicht, dass es Sie etwas angeht, wie
viele Kinder wir wollen!« Diese Frauenärzte mit ihrem Geschwätz hatte ich
sechs Wochen lang bis dahin erduldet.
Auch im eigenen Umfeld gab es bei jemandem die Auffassung, wir sollten die
Kinder abtreiben lassen, »denn sie sind
eh behindert«. Das haben wir aber erst
später erfahren und haben dieser Person
inzwischen vergeben.
Er: Es gab Bekannte, die gedrängt haben: »Es gibt Literatur, die musst du lesen, damit du genau weißt, wann was wie
vorkommen könnte, mit Erklärungen der
Fachbegriffe.« Sechs Bücher bekam ich.
Ich habe nur eine Seite gelesen und mir
gesagt: »Wie es Gott zulässt, so werden
die Kinder. Wenn es gut geht, ist es sehr
schön, wenn nicht, dann möchten wir‘s
auch so annehmen.«
DANIEL RENNEN
M
ein Frauenarzt bestätigte die
Schwangerschaft in der 8. Woche. In der 12. Woche, kurz vor
Weihnachten, überraschte mich der Arzt:
»Jetzt können Sie sich zu Weihnachten größere Kochtöpfe wünschen: Es sind Zwillinge.« Wir hatten schon drei Kinder (4 1/2,
3 1/2 und 1 1/2 Jahre alt) und wünschten
uns ein viertes; jetzt waren‘s fünf.
An einem Wochenende in der 19.
Schwangerschaftswoche öffnete sich die
Fruchtblase (Blasensprung), Zeichen für
eine beginnende Geburt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Kinder 17 Wochen alt und
praktisch ohne Chance. Daher musste
die Geburt unbedingt verzögert werden.
Das bedeutete möglichst bewegungsloses Liegen, keinen Fuß vors Bett, nicht
einmal zur Toilette. So lag ich sechs Wochen auf der OP-Station. Die Ärzte fanden den Fall interessant, wollten auch eine
Wissenschaft daraus machen. Es gab viele harte Vorkommnisse, aber das härteste
war zunächst: Es kam ein Arzt, der meinte, man könnte doch mal einen Farbstoff
durch die Bauchdecke einspritzen, um zu
sehen, wie groß das Loch in der Fruchtblase wäre. Doch als Versuchskaninchen
wollte ich nicht herhalten: »Ich muss das
erst mit meinem Mann besprechen.« Ein
anderer Arzt, der mich von den anderen
Geburten her kannte, fragte: »Frau Maier, geht‘s Ihnen heute nicht so gut?« Ich
erzählte ihm von dem Vorschlag des Kollegen. Da schaute er mich scharf an: »Mit
dieser Information wäre ich sehr vorsichtig.« Das war für mich eine klare Antwort.
Ich wurde in ein Vierer-Zimmer verlegt. Es kamen viele Frauen, die gerade
ihre Kinder abgetrieben hatten, weil es
jetzt nicht gelegen kam, weil es von der
Geschwisterreihenfolge her oder arbeitsplatztechnisch nicht passte. Schlimm war
für mich, als ein junges Pärchen kam, das
unbedingt ein Kind haben wollte und alles Mögliche probiert hatte. Sie wurde
schwanger und nun kam die Nachricht,
Überraschung: mit Zwillingen schwanger
Sie: Während ich auf der OP-Station
lag, musste ich in der 23. Woche wegen
einer Infektion Antibiotika einnehmen. Es
wurden auch Kinderärzte und -schwestern
hinzugezogen. Diese waren uns wohlgesonnen, auch weil sie merkten, dass die Familie die Zwillinge wirklich wollte und dahinterstand. Dann kam die Verlegung auf
die Gyn-Station zu den Schwangeren. Um
8 Uhr am Sonntagmorgen in der 24. Woche schockte mich eine Schwester wortwörtlich: »Sie bluten ja wie eine gestochene Sau!« Eine gefährliche Situation. Die
Schwester hat sogar verboten, dass ich die
Decke bewege; ich solle klingeln, wenn
ich sie anders haben wolle, und sie würden mich jetzt in den Kreißsaal schieben,
LebensForum 120
weil es wohl zur Geburt kommen würde,
ich solle schnell meinen Mann anrufen. Da
habe ich gedacht: Halb neun, das müsste
noch reichen, vor dem Gottesdienst Leute vom Hauskreis zu mobilisieren, damit
noch mal verstärkt für uns gebetet wird.
Ich habe sie erreicht. Die Blutung hörte
um 11 Uhr auf.
Eines Abends in der 26. Woche bekam
ich Wehen. Jetzt wurde es sehr spannend.
Mein Mann war bei mir, hat mir noch einen Kuchen gebracht von einem Geburtstag. Die Wehen sind da, aber wer weiß, wie
ernst sie werden? Sie verschwanden wieder. Gut, wenn es dann so weit ist, können
die Ärzte meinen Mann wieder anrufen. Er
war kaum eine Stunde fort, als die Ärzte
um 23.30 Uhr entschieden: »Die Kinder
müssen heute noch raus!« Da dachte ich
bei mir: Jetzt ist mein Mann noch nicht
da und womöglich kommt eins heute und
eins morgen. Mit diesem Gedanken bin ich
eingeschlafen. Die Ärzte verlangten nämlich Vollnarkose statt Rückenmarksnarkose, aufgrund der Vorgeschichte.
Er: Von einem Nebenraum aus sah ich
durch die Glastüre, dass die Ärzte im Kreißsaal hantierten – und nach kurzer Zeit war
das erste Kind da, um 0.08 Uhr. In eine
Alufolie wickelten sie das Kind, mit 800
g ein sehr kleines Menschlein. Die Oberärztin kam hinzu und nahm den Buben.
Er hat nicht geschrien – was ja normal ist
nach der Geburt –, und dann ging das hin
und her, hektisches Hantieren und Absaugen. Als Laie kann man nicht feststellen,
was da genau vor sich geht. Das Kind wurde danach kurz beatmet und dann wurde
wieder abgesaugt. Irgendwelche Geräte
schienen nicht richtig zu funktionieren.
Plötzlich packte die Oberärztin das Kind,
legte es in einen Transportinkubator und
brachte es sofort in die Kinderklinik – ein
paar hundert Meter entfernt. Das Personal ist hektisch durch die Gänge gerannt,
wodurch mir klar wurde, dass irgendwas
nicht stimmte.
Sie: Ja, da hat die Technik versagt im
Kreißsaal.
Er: Das erste Kind, Peter, war also fort,
und dann kam das zweite, Paul, mit 700 g.
Er hat geschrien wie normal, wurde normal beatmet, untersucht und an die vielen Überwachungsgeräte angeschlossen.
Diesmal ließen sich die Ärzte auch Zeit.
Das Kind lag da, ganz normal. Dann die
Vorbereitung für die Kinderklinik, ohne
Stress und Hektik.
Sie: Peter musste eine Stunde nach
der Geburt operiert werden, denn er hatte einen Lungenriss. Er hat heute noch
am Lungenflügel eine leichte Delle, aber
man merkt im Alltag kaum etwas. Motorisch beim Sport, den er treibt, gibt es
LebensForum 120
kein Problem, weder beim Ski- noch beim
Radfahren.
Paul hatte damals Probleme mit dem
Duktus. Das ist das Verbindungsstück
Herz-Lunge – es war offen.
Er: Nun durfte ich zu den Frühchen
auf die Intensivstation gehen, um die Kinder zu sehen, und war geschockt über die
ganzen Geräte.
Sie: Wobei wir sehr schnell gemerkt
haben: Da ist uns einfach auch Angst gemacht worden, dass man vor lauter Apparaten kein Kind mehr sehen würde. Das
alles kann man tatsächlich beim ersten
Anblick als schlimm empfinden, aber wir
haben uns gesagt: »Es hilft unseren Kindern.« Ab dem Zeitpunkt ist es uns auch
besser gegangen.
Er: Ich durfte zu den Kindern, musste aber nach 2 bis 3 Minuten raus, weil ja
die OP anstand. Sie: Ich konnte erst am fünften Tag
nach der Geburt erstmals die Kinder sehen. Ich hätte sie früher sehen dürfen, aber
ich konnte einfach nicht, weil die 8 Wochen Liegezeit nicht spurlos an mir vorübergegangen sind, obwohl wir die Ärzte
und das Pflegepersonal auf der Gynäkologie als offen und nett empfanden. Wir
besuchten nun zweimal täglich unsere
Zwillinge und hofften natürlich immer
auf Fortschritte. Irgendwann waren wir
so weit, dass wir gesagt haben: »Es geht
heute nicht schlechter.«
Er: Später bei der Entlassung erfuhren
wir: Am Anfang gab es eine Zeit, in der
es dem kleineren Paul so schlecht ging,
dass die Ärzte alles abschalten wollten. Eine ärztliche Zusammenkunft endete mit
dem Ergebnis: »Jetzt schalten wir die Apparate aus!«
Sie: Aber sie haben keinen Arzt gefunden, der bereit war, es uns Eltern beizubringen, weshalb sie dann beschlossen:
»Wir lassen es einfach laufen.« Die Ärzte
haben uns gesagt: »Wenn es nicht schlechter wird, ist es besser.« Wir übernahmen
dieses Denken, und wie durch ein Wunder ging es tatsächlich in kleinen Schritten
aufwärts. Ein Oberarzt, der selbst ein behindertes Kind hat, ist immer wieder zum
Inkubator gegangen und hat sich gewundert: »Das kann nur der Wille des Himmels sein, dass dieses Kind, dass diese beiden Kinder leben.«
Während der zwei Wochen auf der Geburtsstation, bevor die Kinder kamen, haben alle gemerkt, wie wir ticken. Wir hatten ja auch dementsprechend Besuch und
Bücher bekommen. Mit dem Pflegepersonal hat es dann wirklich auch gute, wertvolle Gespräche gegeben. Als ich zum ersten Mal zu Fuß gehen durfte, bekam ich
vom kleinen Zeh bis überall hin Muskel-
kater; ich hatte ja kein Kräftchen mehr
gehabt. Das hat mich schon geschlaucht.
Nach Hause gekommen sind unsere Zwillinge 3 Tage nach dem errechneten Geburtstermin.
Wir waren erst 8 Tage daheim, da ging
es Peter sehr schlecht und er musste wieder in die Klinik. Ja, er ist schon viel bewahrt worden in seinem Leben bis heute. Beide Zwillinge haben sich grundsätzlich gut entwickelt. Es hat auch Prognosen
gegeben – besonders für Peter, weil er in
den ersten vier Wochen 100 Prozent Sauerstoff gebraucht hat –, dass es fraglich sei,
ob die beiden das Gleichgewicht werden
halten können, ob sie motorisch in Ordnung sind, ob sie überhaupt hören oder sehen können. Peter hatte übrigens während
der Schwangerschaft auch noch eine Hirnblutung. Das wurde allerdings erst später
festgestellt. Wir vermuten, dass er dadurch
etwas lernschwächer ist als Paul. Wir sind
sehr dankbar, obwohl wir 2 3/4 Jahre lang
mit jedem Kind zwischen 3 und 6 Mal täglich inhalieren mussten, weil die Bronchien Probleme machten – das ist typisch für
Frühchen. Es gab natürlich auch anderes
zu bewältigen, doch das war sehr prägend.
Da wir aus beruflichen Gründen im
Sommer nicht in den Urlaub können, hatten wir trotz allem einen Winterurlaub
beschlossen, weshalb sich einige Bekannte an den Kopf gegriffen haben: Mit fünf
Kindern, Skiern, Schlitten, Reisebettchen,
Hochstühlchen, Windeln für drei Kinder!
Doch wir sind losgezogen, der VW-Bus
vollgepackt bis unter die Decke. Nach diesen fünf Tagen in der Schweiz mussten wir
mit keinem Kind mehr inhalieren. Das war
wirklich ein Geschenk.
Unsere Zwillinge kamen in den Regelkindergarten. Daneben liefen viele Therapien. Irgendwann aber kam der Zeitpunkt, wo Paul, da war er fünf, jammerte: »Wo muss ich eigentlich noch überall
hin?« Das war für uns ein Alarmzeichen,
sodass wir beschlossen haben: »Jetzt lassen wir sie einfach Kinder sein.« Sie bekamen von uns selbst die besondere Betreuung, die sie brauchten.
Unsere Zwillinge sind inzwischen erwachsen, führen ein normales Leben, haben eine abgeschlossene Berufsausbildung
und einen Arbeitsplatz und sind zufrieden,
sie fahren genauso Auto und Ski wie ihre
drei Geschwister.
Es ist unser Wunsch, dass Leser in schwieriger
Lage aus unserem Erleben Kraft und Hoffnung
schöpfen können. Wir sind auch bereit, uns Betroffenen, die ein Gespräch mit uns wünschen,
zur Verfügung zu stellen. Den Zugang zu uns können Sie über Eckhard Michaelis (0172-7446772)
erfahren, der das Gespräch mit uns führte.
29
BÜCHERFORU M
A
nders als Abtreibung, Euthanasie
und embryonenverbrauchende
Forschung gehört das sogenannte »Neuroenhancement«, also die Verbesserung der
geistigen Fähigkeiten gesunder Menschen, nicht zu den Themen, denen Lebensrechtler größte Aufmerksamkeit zu
schenken pflegen. Von echtem Interesse
ist Neuroenhancement für sie nur dort, wo
es von Transhumanisten gefordert wird,
die den Homo sapiens auf allen Ebenen
zu verbessern wünschen.
Zwar kann auch die Einnahme von
Substanzen, die geistige Fähigkeiten verbessern, Menschen
vor ethisch relevante
Fragen stellen, insbesondere dann,
wenn Nebenwirkungen und gesundheitliche Risiken nicht
hinreichend geklärt
sind. Die Aufmerksamkeit von Lebensrechtlern erfordern
solche Fragen aber
erst dort, wo durch
derart verbesserte
Fähigkeiten der Begriff »Gesundheit«
von Gesellschaften
neu definiert würde
und diese im Gefolge auch der Selektion zuneigten, wie
dies etwa beim sogenannten »GenomeEditing« mittels der
neuen CRISPR/CAS-9-Technologie erwartet werden kann.
Trotzdem ist der vorliegende Sammelband auch für Lebensrechtler von erheblichem Wert. Denn am Beispiel des Umgangs mit Neuroenhancement zeigt er
gewissermaßen exemplarisch auf, wie so
gut wie alle gesellschaftlichen Debatten
zu bioethischen Streitthemen verlaufen.
Am Anfang stehen dabei regelmäßig euphorisch vorgetragene Versprechungen
von Wissenschaftlern, die – obwohl es
sich bei ihnen um weitgehend ungedeckte Schecks handelt – in Politik, Medien
und Gesellschaft zu ähnlichen Ergebnissen führen. Sie entfachen einen medialen
Hype, in dessen Folge sich Befürworter
und Gegner einer Technologie gegenseitig heftig bekämpfen. Im Falle des Neuroenhancement stehen dabei Transhumanisten, die ein Übermenschentum erstreben, sogenannten Biokonservativen
gegenüber, die unter Berufung auf die
Natur sämtliche Maßnahmen ablehnen,
mit denen Menschen die eigene Evolution selbst zu lenken suchen.
Neben der
ausführlichen
Betrachtung
des Neuroenhancement als gesellschaftliches Phänomen behandeln die Autoren des Bandes auch zahlreiche Einzelfragen. Dabei
wird in vielen Fällen deutlich, wie groß die
Schere zwischen mehr oder weniger haltlosen Versprechungen und dem ist, was tatsächlich als gesichertes Wissen in diesen
Bereichen gelten kann. Dabei können sie
zeigen, dass Letzteres oftmals viel zu gering ist, um auch nur
annährend die Konsequenzen abschätzen zu können, welche Interventionen
zeitigen können. Ein
Muster, dass auch bei
anderen bioethischen Themen erkennbar ist, so etwa bei der künstlichen Befruchtung,
der Stammzellforschung oder dem
»Genome-Editing«.
Kritisch hinterfragt wird dabei, inwieweit solche Interventionen verantwortet werden
können, und welche Rahmenbedingungen gegeben sein
müssen, um bei Probanden, die sich solchen Interventionen
unterziehen, von einer selbstbestimmten
Entscheidung sprechen zu können, die diesen Namen verdient. Gerade weil die Autoren nicht skandalisieren und das Neuroenhancement auch keinesfalls grundsätzlich ablehnen, wiegen die Mängel, die sie
mit ihren Beiträgen in Theorie und Praxis aufzeigen, besonders schwer.
Wer sich zudem für das Thema selbst
interessiert, der findet hier eine überaus
hilfreiche und komprimierte Sammlung
sämtlicher gängiger Argumente, die für
und gegen das Neuroenhancement ins
Feld geführt werden.
Neuroenhancement
30
Sebastian Sander
Ronja Schütz / Elisabeth Hildt / Jürgen Hampel (Hrsg.):
Neuroenhancement – Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Kontroverse. Transcript-Verlag, Bielefeld
2016. 180 Seiten. 32,99 Euro.
Im Schaufenster
Gesünder, intelligenter, perfekt?
Ergänzend zu der nebenstehenden Rezension des aktuellen Sammelbandes
ist bereits vor zwei
Jahren dieser Band
der jungen Philosophin Tina-Louise Eissa erschienen. In ihm stellt Eissa verschiedene Enhancement-Technologien vor und beleuchtet, welche Gestaltungsmöglichkeiten
sich dem Menschen hierdurch bieten. Die für
oder gegen den Einsatz entsprechender Praktiken vorgebrachten Argumente werden von
ihr anschließend im Rahmen der Philosophischen Anthropologie, der Gattungsethik
und des Verständnisses von Natürlichkeit
und Menschenwürde analysiert. Daran anschließend untersucht sie, ob ein Konsens,
ein Kompromiss oder ein plausibler Lösungsvorschlag bezüglich des Zulassens oder Ablehnens von Enhancement zu erlangen ist, so
dass der Konflikt zwischen der bioliberalen
und der biokonservativen Position beigelegt
werden kann.
Fazit: Für leidenschaftlich Interessierte. san
Eissa, Tina-Louise: Gesünder, intelligenter, perfekt? Selbstgestaltung durch Enhancement im
Kontext pluralistischer Ethik. Karl Alber Verlag,
Freiburg im Breisgau 2014. 580 Seiten. 49,00 EUR.
Vom Leib zur
Person
Das vorliegende
Buch geht auf eine
lange Serie von Internet-Vorlesungen
über die Erziehung
zur Liebe zurück.
Es richtet sich, wie
es im Vorwort des
Herausgebers heißt, an »Menschen mit verschiedenen Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen«. Es argumentiert »auf
rein rationaler Ebene« und ist »sachlich und
wissenschaftlich gut fundiert«. Dennoch wage es die Autorin, Professorin für Biologie
und Mitglied des Ethikrates der Universität
»Campus Bio-Medico« in Rom, in ihm Überzeugungen vorzulegen, »die offensichtlich
dem ›Mainstream‹ widersprechen«. »Allem
LebensForum 120
Relativismus zum Trotz« wolle Leda Galli, so
der Herausgeber weiter, dem Leser verständlich machen, »dass der Biologie selbst eine
Ethik innewohnt; eine Ethik, die nicht ›unsere persönliche‹ oder irgendeine Ethik ist, sondern eine Ethik, die aus der ›Sprache des Leibes‹ und aus dem Wesen der Beziehungen
zwischen Mann und Frau zu entnehmen ist.«
Herausgekommen ist ein gut lesbares, allgemeinverständlich geschriebenes Werk, das
so manche Überraschung bereithält.
Für Lebensrechtler von besonderem Interesse ist dabei ganz sicher das Kapitel über
Empfängnisregelung. In diesem legt die Autorin nicht nur die Wirkung und Nebenwirkungen von Kontrazeptiva dar und erläutert
diese, sondern bezieht auch ausführlich Stellung zur vorgeburtlichen Kindstötung. Ähnlich bedeutsam dürften für Lebensrechtler
auch ihre Ausführungen zur natürlichen Geburtenregelung im dritten und letzten Teil
des Buches sein.
Fazit: Empfehlenswert.
reh
Leda Galli: Vom Leib zur Person. Sex, Sexualität
und Liebe: Reichtum statt Banalität. Fassbender
Verlag, Wien 2014. 160 Seiten. 14,84 EUR.
Leid und Schmerz
Schmerz und Leid
sind allgegenwärtige Erfahrungen. Sie
zermürben das physische und psychische
Wohlbefinden, stören
soziale Beziehungen,
gefährden die Existenz des Leidenden.
Heute werden Erwartungen der Schmerzund Leidenslinderung vor allem an die Medizin gerichtet. Dabei wirft dieser Trend zu einer Fokussierung auf einen rein medizinischtechnischen Umgang mit Schmerz und Leiden Fragen auf: Können alle Formen von
Leiderfahrung angemessen mit medizinischen Mitteln behandelt werden? Wie kann
im medizinischen Kontext mit der Frage nach
dem Sinn von Schmerz und Leid umgegangen werden? Welche Bedeutung hat der gesellschaftliche Umgang mit Schmerz und Leiden? Welche Rolle spielen diese Erfahrungen für unser Verständnis eines guten Sterbens? Fragen, auf die das vorliegende Buch
lesenswerte Antworten gibt.
Fazit: Empfehlenswert.
pd
Giovanni Maio / Claudia Bozzaro / Tobias Eichinger
(Hrsg.): Leid und Schmerz. Konzeptionelle Annäherungen und medizinethische Implikationen.
Karl Alber Verlag, Freiburg im Breisgau 2016. 576 Seiten. Gebunden. 49,99 EUR.
LebensForum 120
H
elga Rohra, ehemalige Konferenzdolmetscherin und heutige
Demenz-Aktivistin, erhielt im
Alter von 54 Jahren die Diagnose Lewy-Body-Demenz. Damit zählt
sie zu den Jungbetroffenen. Auch sonst konterkariert Rohra das Bild, das
viele Menschen von Demenz und den von ihr betroffenen Menschen entwickelt haben. Sie ist weder hilflos noch
verwirrt. Sie hält Vorträge und schreibt
Bücher.
In dem vorliegenden wehrt sie sich gegen eine allein negative Sicht auf Demenz.
Rohra möchte die Angst, die in vielen
Menschen beim Stichwort Demenz aufsteigt, abbauen und ihr ihre eigene Sichtweise entgegenhalten. Eine, die das Leben als Herausforderung begreift. Eine,
der man sich mutig
stellen sollte.
»Ich möchte Sie
berühren und nicht
nur informieren.« So
beginnt Rohra meist
ihre Vorträge. Und
auch ihr Buch »Ja zum
Leben trotz Demenz!
– Warum ich kämpfe« ist ganz ähnlich
angelegt. Auch wenn
der Leser – gewissermaßen nebenbei –
viele wichtige Informationen über Demenz erhält, verhindern, dass Helga Rohra ihn darüber hinaus
auch berührt, das kann
er nicht. Und das ist
gut so.
Denn noch wichtiger, als zu wissen, was
Demenz ist, ist es für Menschen, die gegen
eine solche Krankheit nicht das Geringste ausrichten können, zu wissen, wie sich
die Menschen fühlen, die an ihr erkrankt
sind. Die Autorin dieses Buches geht das
aktiv an und auf die Menschen zu. So verrät sie zum Beispiel: »Da man mir meine
Einschränkungen nicht sofort anmerkt,
erzähle ich den Menschen davon: dass es
schon kompliziert ist, die Toilette in einem anderen Waggon aufzusuchen, in den
Speisewagen zu gehen oder gar umzusteigen. Oft wird mir dann spontan Hilfe angeboten. Der Mitreisende will mehr über
das Thema Demenz wissen. Dadurch, dass
ich mit einer gewissen Leichtigkeit an das
Thema herangehe, mache ich die Demenz
quasi salonfähig.«
Dabei gilt es nicht selten, Vorurteile auszuräumen: »Oft räume ich mit dem Vorurteil auf, dass ›Demente‹ wie Kinder sind.
Dieser Vergleich liegt für mich nicht nahe. Kinder stehen am Anfang ihres Lebens. Wir Älteren hingegen haben ein
Leben und eine Biografie.
Was man den Kindern beibringt, halten sie fest und
entwickeln sich daran weiter.« Demente hingegen ließen, so Rohra,
nur »das angehäufte Wissen los«. Es gebe
aber auch Gemeinsamkeiten: »Beide sprechen spontan die Wahrheit aus, haben das
Herz auf der Zunge. Außerdem sind sowohl Kinder als auch Menschen mit Einschränkungen schutzbedürftig.«
Es gibt auch eine verletzende Art der
Hilfe: »Uns wird auch manchmal geholfen, weil die Gesunden es nicht ertragen, wenn wir uns
ungeschickt anstellen.
Fremdbeschämt nehmen sie uns dann, ohne zu fragen, Aufgaben ab und bringen
diese schnell zu Ende.
Die peinliche Situation ist für sie vorüber.
Mir aber wurde die
Chance genommen,
die Schwierigkeit auf
meine Art und in meinem Tempo zu bewältigen. Zurück bleibt
ein Gefühl von Misserfolg. Für den Gesunden ist alles wieder
in Ordnung, doch ich
habe wieder einmal
erfahren, wie dämlich
und lästig ich bin.«
Auf diese und ähnliche Weise erfährt
der Leser auf 120 Seiten, wie es Helga
Rohra mit ihrer Krankheit und den Reaktionen ihrer Umwelt geht. Ein lesenswertes Buch, dessen Prosa immer wieder von
Lyrik unterbrochen wird, die die Autorin
ebenfalls verfasst hat und mit der sie dem
Leser einen anderen Blick in ihr Innenleben gestattet. Mit »Ja zum Leben trotz
Demenz« ist Helga Rohra ein wertvolles
Buch gelungen, dem weite Verbreitung zu
finden gewünscht werden darf.
Leben mit
Demenz
Eckhard Meister
Helga Rohra: Ja zum Leben trotz Demenz! Warum
ich kämpfe. Medhochzwei Verlag, Heidelberg 2016.
120 Seiten. 18,99 EUR.
31
KURZ VOR SC H LU S S
Expressis verbis
»
»
Neue Schlacht des Kulturkampfes«
Waclaw Depo, Erzbischof von Tschenstochau,
laut der katholischen Nachrichtenagentur KNA
über die Abtreibungsdebatte in Polen
Die PiS hat sich vor den Frauen erschrocken, die auf die Straße gegangen sind.«
Polens Ex-Ministerpräsidentin Ewa Kopacz von
der liberalkonservativen Bürgerplattform PO
»
Ich bin auch weiterhin dafür, Leben zu
schützen.«
»
»
»
Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo von
der nationalkonservativen Partei »Recht und
Gerechtigkeit« (PiS)
Ob so gezeugte Kinder langfristig gesund
wären, ist ungewiss. Darüber hinaus stellt
sich die Frage, ob man diese Entwicklung
als Befreiung von den uns durch die Natur
auferlegten Grenzen der Fortpflanzung begründen soll oder ob die Familienplanung
dadurch nicht zum Spielball sozialer Zwänge würde.«
Joachim Boldt, Stellv. Direktor des Instituts für
Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg, zum Erfolg japanischer Forscher,
die aus Mäusehautzellen Eizellen gezüchtet haben, zur Frage der Übertragbarkeit der Experimente auf den Menschen
Diese Arbeit ist ein signifikanter Fortschritt
für die Keimzellbiologie. Es ist anzunehmen, dass mit ähnlichen Methoden auch
menschliche Eizellen im Reagenzglas produziert werden können.«
Tops & Flops
»Die Schutzwürdigkeit des
ungeborenen Lebens gerät
unter großen Druck, wenn
Krankenkassen die Informationsbeschaffung über mögliche ›genetische Defekte‹ als Regelleistung übernehmen, weil die
Erfahrung mit der
Schwangerschaftsberatung gezeigt hat,
dass das Wissen um
potentielle Schädigungen unmittelbar
den Ruf nach Abbruch der Schwangerschaft nach sich Anton Losinger
zieht.« Das erklärte der Augsburger Weihbischof Anton
Losinger bei einer Begegnung mit den
SPD-Politikern Hans-Jochen Vogel und
Robert Antretter im Bildungszentrum Irsee, an der auch dessen Leiter Stefan Raueiser teilnahm. Bei dem Gespräch ging es
unter anderem um die Auswirkungen einer
ausufernden Präimplantations- und Pränatal-Diagnostik, der Stammzell-Produktion sowie um die an Wahrscheinlichkeit
zunehmende Möglichkeit, das Genom eines Embryos zu verändern. Alle vier Gesprächsteilnehmer stimmten darin überein, dass hier Grundfragen des Menschseins berührt werden. Es gehe darum, dass
der Mensch auch künftig gezeugt und
nicht wie ein Produkt erzeugt werde. reh
»Ich freue mich, dass Niedersachsen als weiteres Bundesland nun auch unverheiratete
Paare bei der Kinderwunschbehandlung unterstützt. Ein unerfüllter
Kinderwunsch ist eine große Belastung für
Paare – medizinische Unterstützung darf da nicht
vom Trauschein
abhängen. Unverheiratete Paare, die sich Kinder wünschen, zu
benachteiligen, ist
nicht zeitgemäß«, Manuela Schwesig
erklärte Mitte Oktober Bundesfamilienministerin Manuela
Schwesig (SPD). Als wäre das der Punkt.
Es mag zwar tatsächlich »zeitgemäß« sein,
dass immer mehr Paare die Erfüllung ihrer Kinderwünsche so lang herauszögern,
bis es dafür auf natürlichem Weg zu spät
ist. Das ändert aber nichts daran, dass Reproduktionsmediziner von zehn künstlich
im Labor befruchteten Embryonen – statistisch betrachtet – neun sehenden Auges
in den Tod schicken. Bei einer Baby-TakeHome-Rate von 15 Prozent braucht man
nicht einmal das Lebensrecht bemühen.
Wer würde eine staatliche Hausbauförderung befürworten, wenn – statistisch – am
Ende nur jedes zehnte Haus bewohnbar
wäre?
reh
..
und was darf ich als grund fur ihren suizidwunsch eintragen? privatinsolvenz, auto
kaputt, liebeskummer, katze entlaufen ...
Der Stammzellforscher Rudolf Jaenisch vom
Whitehead Institute for Biomedical Research
der Universität Cambridge zum selben Thema
Der siebte Euthanasie-Bericht in Belgien
zeigt, dass es, wenn wir die Tür zur Tötung
auf Verlangen öffnen, keinen logischen
Endpunkt gibt.«
Sophia Kuby, Director of EU Advocacy bei ADF
International
32
LebensForum 120
Aus der Bibliothek
Grundlegung der Ethik
»(...) Die Selbsttötung (...) Gemessen
an dem Ziel der Natur, das der Mensch
vernünftigerweise erreichen und bewahren soll, erweist sich die freiwillige Negation des eigenen Seins als widersprüchlich
und widersinnig. Auch derjenige, der sich
selbst töten will, unterliegt in seinem Streben dem Gesetz seiner natürlichen Neigung; er strebt
nicht nach dem Nicht-Sein
oder dem Übel des Todes
als solchem, sondern nach
der Befreiung von einem als
unerträglich empfundenen
Zustand und insofern nach
einer Verbesserung seines
Seins. Bereits Augustinus hat
in einer scharfsinnigen Analyse die innere Widersprüchlichkeit der Suizidhandlung
aufgezeigt: Der Wunsch zum
eigenen Nicht-Sein ist eine
illusionäre Täuschung, die
der Suizidant als fiktive Annahme übernimmt, während sein eigentliches Wollen
auf etwas anderes gerichtet ist: auf die Ruhe, die seiner Bedrängnis ein Ende setzt
und deshalb nicht Minderung, sondern
Steigerung des Seins meint: ›Das ganze
Verlangen des Todeswillens richtet sich
also nicht darauf, sterbend nicht mehr
zu sein, sondern Ruhe zu finden. Während man irrtümlich nicht mehr zu sein
glaubt, sehnt sich die Natur danach, ruhig, das heißt aber, noch mehr zu sein‹.
(...) Ethisch erlaubt kann die Selbsttötung
unter den Voraussetzungen einer christlichen Ethik nur dann sein, wenn sie als
Ausdruck der Liebe zu Gott
und den Menschen begriffen werden kann und im Gehorsam gegen Gottes Gebot geschieht. Wenn überhaupt, so können ihr Sinn
und ihr verborgenes Motiv nur eine letzte Form der
dem Mensch in allem Handeln und Unterlassen aufgetragenen Hingabe seines
Lebens sein. (...) Wenn ein
in die Hände des Feindes gefallener Soldat sich selbst tötet, weil er befürchten muss,
unter der Folter Informationen preiszugeben, die seine Kameraden
gefährden, verdient sein Handeln demnach keine moralische Missbilligung. (...) «
(zit. nach 1. Aufl. 2007).
Eberhard Schockenhoff: Grundlegung der Ethik. Ein
theologischer Entwurf. Herder-Verlag,Freiburg im Breisgau 2014. 2. Überarbeitete Auflage. 792 Seiten. 35,00 EUR.
»Die Welt. Die von morgen« (32)
In der Welt von morgen basteln
Menschen nicht mehr nur Computer
zusammen, sondern auch Computer
Menschen. Eingesetzt in Reproduktionsfabriken, reprogrammieren hypofeinsensorische Roboter aus den Hautzellen von Menschen Eizellen, die sie
dann mit aus Hautzellen reprogrammierten Samenzellen desselben Menschen befruchten. In der Welt von morgen finden viele Menschen diese Form
der Reproduktion ziemlich praktisch
und effizient. Endlich können sie sich
fortpflanzen, ohne Zeit damit zu verschwenden, in den virtuellen Welten
von Tinder 6.0 Partner suchen und womöglich gar umwerben zu müssen. Außerdem hat sich in der Welt von morgen die Ansicht durchgesetzt, dass man
von »eigenen Kindern« erst dann reLebensForum 120
den könne, wenn diese 100 und nicht
bloß 50 Prozent des eigenen Genoms
besäßen. Nicht einmal das Klon-Verbot – ein Relikt aus der Spätphase der
Welt von heute – musste dafür aufgehoben werden. Der Grund: Zwar besitzen
die so erzeugten Menschen in Summe
die gleichen Gene wie der Hautzellspender, dennoch werden diese auch
im Zuge der künstlichen Befruchtung
neu und anders verteilt. Wer die anschließenden Qualitätskontrollen übersteht, reift in einer künstlichen Gebärmutter heran und durchläuft dann 17
Jahre lang Ganztagskrippen und -schulen. Vor dem 18. Geburtstag muss der
Hautzellspender entschieden haben,
welchen Weg der Nachwuchs einschlagen soll: Den des Erben oder den des
Organspenders.
Stefan Rehder
KURZ & BÜNDIG
HFEA erlaubt Samenspender-App
London (ALfA). Die Londoner Samenbank
hat eine App für Mobiltelefone entwickelt,
die es Frauen ermöglicht, einen Katalog mit
Samenspendern zu durchsuchen und bei
Gefallen deren Offerte auch direkt kostenpflichtig zu bestellen. Das berichtet das
Online-Portal netzfrauen.org. Frauen, die auf
der Suche nach einem Samenspender sind,
können demnach über die App – ähnlich wie
bei Dating-Portalen – auf Profile zugreifen,
die eine Biografie des Samenspenders sowie
Angaben zu seiner
ethnischen Zugehörigkeit, körperlichen Merkmalen,
Bildungsstand und
Beruf enthalten.
Eine Bestellung soll
umgerechnet 1.087
Euro kosten. Wie
das Portal schreibt,
betonte der wissenschaftliche Leiter
Sperma per App
der Sperma-Bank,
Dr. Kamal Ahuja, dass die britische Kontrollbehörde HFEA (Human Fertilisation & Embryology Authority) die neue App zugelassen
habe.
reh
Orthodoxe für Abtreibungsverbot
Moskau (ALfA). In Russland fordert die
orthodoxe Kirche ein striktes Abtreibungsverbot. Der russisch-orthodoxe Patriarch
Kyrill I. unterzeichnete kürzlich eine Petition
gegen die »legale Ermordung von Kindern vor
der Geburt«. Das berichtet die evangelische
Nachrichtenagentur Idea. Anlass war ein
Treffen mit Unterstützern der Bewegung »Für
das Leben« und der Organisation »Orthodoxe
Freiwillige« nahe Moskau. Beide Organisationen sammeln mit Hilfe der russisch-orthodoxen Kirche Unterschriften für ein Abtreibungsverbot und eine bessere Unterstützung
Schwangerer. Russischen Medienberichten
zufolge haben bereits 300.000 Bürger die
Petition unterzeichnet. Staatlichen Statistiken zufolge werden in Russland jährlich rund
eine Million Abtreibungen registriert. Auf
100 Geburten kommen demnach etwa 50
vorgeburtliche Kindstötungen. Lebensrechtler
gehen von noch weit höheren Zahlen aus,
da nur die staatlichen Kliniken Abtreibungen
meldeten. Seit 2012 sind vorgeburtliche
Kindstötungen in Russland grundsätzlich
»nur« noch in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen erlaubt. Zudem schreibt das
Gesetz eine Bedenkzeit der Schwangeren vor.
Diese Vorschrift wird jedoch häufig missachtet.
reh
33
LESERFORUM
Herzlichen Dank
für die Zusammenstellung der Zitate von
Mutter Teresa zur
Abtreibung, die ich als
sehr hilfreich empfunden habe.
Roman Schneider, Düsseldorf
Dass die AfD gegen den Schutz geborener Flüchtlinge sei, wie Weihbischof
Koch behauptet, ist – mit Verlaub – völliger Unfug und ein unkritisches Zitieren regierungsfreundlicher Medien. Es
geht nicht um die Frage ob, sondern um
die Frage wie wirklichen Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten am besten
geholfen werden kann. Hier hat die AfD
andere Vorschläge als die übrigen Parteien, die aber keineswegs gegen die Prinzipien des Lebensrechts verstoßen. Im Gegenteil kann man mit Fug und Recht die
Frage stellen, ob es dem Lebensschutz
dient, wenn sich Millionen Menschen
auf eine gefährliche Reise begeben, die
zehntausende mit dem Leben bezahlen,
weil ihnen vor Ort in ihrer Heimat niemand hilft.
Michael Frisch, MdL,
Vorsitzender ALfA-RV Trier
Parteipolitische
Neutralität betont
In der letzten Ausgabe des »LebensForums« findet sich ein ausführlicher
Bericht über den diesjährigen »Marsch
für das Leben« in Berlin. Dabei setzt
sich der Autor deutlich von der AfD ab
und betont die parteipolitische Neutralität dieser Veranstaltung. Die Teilnahme der AfD-Europaabgeordneten Beatrix von Storch im Jahr 2015 wird kritisch
kommentiert. Gleichzeitig erwähnt er jedoch die Rede des CDU-Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe sowie die Grußworte der CDU-Landesvorsitzenden Julia Klöckner und des CSU-Landtagsabgeordneten Klaus Holetschek.
Als langjähriger Vorsitzender des ALfA-Regionalverbandes Trier und jetziger
Landtagsabgeordneter der AfD in Rheinland-Pfalz halte ich eine solche Unterscheidung für ausgesprochen problematisch. Die AfD ist eine bürgerlich-konservative Partei, für die der Lebensschutz einen hohen Stellenwert besitzt. Das sieht
man nicht nur an den klaren Aussagen zur
Abtreibung in ihrem Parteiprogramm,
sondern auch daran, dass zahlreiche ProLifer mittlerweile dort engagiert sind. Außerdem gibt es bei den Themen Familie
und Gender große Übereinstimmungen
zwischen der AfD und vielen wertkonservativen Lebensrechtlern, die sich in
diesen Fragen von den Unionsparteien
längst nicht mehr vertreten fühlen. Ich
sehe daher hier ein erheblich größeres
Potential für tatsächliche Verbesserungen beim Lebensschutz auf politischer
Ebene als bei den sogenannten christlichen Parteien. Wer immer noch glaubt,
34
mit CDU und CSU könne man einen effektiven Lebensschutz organisieren, der
erliegt einer trügerischen Illusion. Fast
30 Jahre Arbeit in der ALfA, einige Jahre davon auch im Bundesvorstand, haben
mich dieser Illusionen gründlich beraubt.
Wenn die Union wirklich etwas für den
Lebensschutz tun wollte, hätte sie dazu in
jahrzehntelanger Regierungsverantwortung in Bund und Ländern mehr als genug Gelegenheit gehabt. Stattdessen hat
sich die Situation zunehmend verschlechtert, wie auch das »LebensForum« immer wieder festgestellt hat. Es wäre daher ein schwerer Fehler, wenn sich die
Lebensrechtsbewegung jetzt einer Kooperation mit der AfD grundsätzlich verweigern würde.
INFO
Anm. der Redaktion: Die Leserbriefseite gehört den Lesern. Solange sich
diese nicht beleidigend äußern, ist hier
alles erlaubt. Auch müssen hier geäußerte Meinungen nicht den Tatsachen
entsprechen. Kürzungen behalten wir
uns vor, eine Zensur findet nicht statt.
Wir weisen allerdings darauf hin, dass
von uns selbstverständlich nur Politiker zitiert werden können, die bei der
jeweiligen Veranstaltung auch zugegen waren oder aber ein Grußwort geschickt hatten.
ANZEIGE
LebensForum 120
IMPRESSUM
IMPRESSUM
LEBENSFORUM
Ausgabe Nr. 120, 4. Quartal 2016
ISSN 0945-4586
Verlag
Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V.
Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07
www.alfa-ev.de, E-Mail: [email protected]
Herausgeber
Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Alexandra Maria Linder M. A. (V. i. S. d. P.)
Kooperation
Ärzte für das Leben e.V. – Geschäftsstelle
z.H. Dr. med. Karl Renner
Sudetenstraße 15, 87616 Marktoberdorf
Tel.: 0 83 42 / 74 22, E-Mail: [email protected]
www.aerzte-fuer-das-leben.de
Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e. V.
Fehrbelliner Straße 99, 10119 Berlin
Tel.: 030 / 521 399 39, Fax 030 / 440 588 67 Fax
Internet: www.tclrg.de · E-Mail: [email protected]
Redaktionsleitung
Stefan Rehder, M.A.
Redaktion
Alexandra Maria Linder M. A., Dr. med. Maria Overdick-Gulden,
Prof. Dr. med. Paul Cullen (Ärzte für das Leben e.V.)
E-Mail: [email protected]
Anzeigenverwaltung
Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V.
Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07
www.alfa-ev.de, E-Mail: [email protected]
Bankverbindung
Augusta-Bank eG
IBAN: DE85 7209 0000 0005 0409 90
BIC: GENODEF1AUB
Spenden erwünscht
Druck
Reiner Winters GmbH
Wiesenstraße 11, 57537 Wissen
www.rewi.de
Satz / Layout
Rehder Medienagentur, Würzburg
www.rehder-agentur.de
Titelbild
Dipl.-Des. Daniel Rennen / Rehder Medienagentur
www.rehder-agentur.de
Auflage
6.500 Exemplare
Das LebensForum ist auf umweltfreundlichem chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
Anzeigen
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 7 vom 7.10.2014.
Mit vollem Namen gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder der ALfA wieder und stehen in der Verantwortung des jeweiligen Autors.
Erscheinungsweise
»LebensForum« 121 erscheint am 9.03.2017
Redaktionsschluss ist der 28.01.2017
Jahresbezugspreis
16,– EUR (für ordentliche Mitglieder der ALfA und der Ärzte für
das Leben im Beitrag enthalten)
Fotomechanische Wiedergabe und Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangt eingesandte Beiträge können wir keine Haftung übernehmen. Unverlangt eingesandte Rezensionsexemplare werden nicht zurückgesandt. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
Helfen Sie Leben retten!
Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V.
Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
Telefon (08 21) 51 20 31,Fax (08 21) 156407, http://www.alfa-ev.de
Spendenkonto: Augusta-Bank eG, IBAN: DE85 7209 0000 0005 0409 90, BIC: GENODEF1AUB
c Ja, ich abonniere die Zeitschrift LebensForum für 16,– E pro Jahr.
Herzlich laden wir Sie ein, unsere ALfA-Arbeit durch Ihre Mitgliedschaft zu unterstützen.
c Ja, ich unterstütze die Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V. als ordentliches Mitglied mit einem festen Monatsbeitrag. Der Bezug des LebensForums ist im Beitrag schon enthalten. Die Höhe des Beitrages, die ich leisten möchte, habe ich angekreuzt:
c 12,– E jährlich für Schüler, Studenten und Arbeitslose
c 24,– E jährlich Mindestbeitrag
c _________ E jährlich freiwilliger Beitrag.
Mitgliedsbeiträge und Spenden sind steuerlich abzugsfähig!
Meine Adresse
Freiwillige Angaben
Name
Geboren am
Straße, Nr.
Telefon
PLZ, Ort
Religion
Beruf
c Um Verwaltungskosten zu sparen und weil es für mich bequemer ist, bitte ich Sie, meine Beiträge jährlich von meinem Konto einzuziehen:
Institut
IBAN
BIC/SWIFT
Datum, Unterschrift
LebensForum 120
35
LETZTE SEITE
Schöne
neue Welt
Forscher aus Japan
haben erstmals Eizellen
im Labor gezüchtet
Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt
Deutsche Post AG (DPAG)
Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg
Von Stefan Rehder
I
36
Die Ausbeute des Experiments der
Wissenschaftler war allerdings gering.
Insgesamt benötigten die Forscher um
Hikabe und Hayshi 3.000 Eizellen, um
316 Embryonen zu erhalten, aus denen
sie elf gesunde Mäuse züchteten. Das entspricht einer Erfolgsquote von 3,5 Prozent. Wie die Forscher schreiben, war eine Vielzahl der aus den reprogrammierten
Mäuse-Hautzellen gezüchteten Eizellen
len aus dem Eierstockgewebe von Mäusen hinzugeben.
Dennoch werteten viele Wissenschaftler das Experiment nun als sensationellen Erfolg oder gar als Revolution. Einige halten die Ergebnisse aus den Versuchen mit Mäusen auch für übertragbar
auf Menschen. »Wir stehen kurz davor,
komplette Kontrolle über unsere Keimbahn zu erlangen«, erklärte etwa der
BILLIONPHOTOS.COM/FOTOLIA.COM
n Aldous Huxley‘s dystopischem Roman »Schöne Neue Welt«, der eine
Gesellschaft der Zukunft beschreibt,
die der Autor im Jahre 2540 nach Chr.
ansiedelte, erläutert der Direktor der
»Brut- und Normzentrale Berlin-Dahlem« einer Gruppe Studenten, die seine
Fortpflanzungsfabrik besucht, das »Bokanowskyverfahren«: »›Bokanowskyverfahren‹, wiederholte der Direktor, und
die Studenten unterstrichen das Wort
in ihren Heftchen. Ein Ei – ein Embryo
– ein erwachsener Mensch: das Natürliche. Ein bokanowskysiertes Ei dagegen
knospt und sprosst und teilt sich. Acht
bis sechsundneunzig Knospen und jede
Knospe entwickelt sich zu einem vollständigen Menschen. Sechsundneunzig
Menschenleben entstehen zu lassen, wo
früher nur eines entstand: Fortschritt.«
Einen »Fortschritt« in nicht ganz unähnlicher Weise im wirklichen Leben ermöglicht zu haben, wird jetzt japanischen
Wissenschaftlern unterstellt. In Tierversuchen soll es einem Forscherteam um die
Entwicklungsbiologen Orie Hikabe und
Katsuhiko Hayashi von der Kyushu Universität in Fukuoka gelungen sein, aus reprogrammierten Hautzellen erstmals funktionsfähige Eizellen – außerhalb eines Organismus – im Labor zu entwickeln. Das
berichteten die Forscher Mitte Oktober
im Wissenschaftsmagazin »Nature«.
Demnach haben die Forscher zunächst
aus dem Schwanz von bis zu zehn Wochen alten Mäuseweibchen Hautzellen
entnommen und diese durch Reprogrammierung in sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (IPS-Zellen) verwandelt. In einem weiteren Schritt haben
sie aus diesen IPS-Zellen dann Mäuse-Eizellen gezüchtet und in der Petrischale
befruchtet. Anschließend transferierten
sie die befruchteten Mäuse-Eizellen in
die Gebärmutter eines Weibchens, wo
sie zu gesunden Jungtieren heranreiften, die sich später auf natürlichem Wege selbst fortpflanzen konnten.
Die Maus gilt vielen als Modellorganismus für den Menschen
fehlprogrammiert. Eine besondere Herausforderung bestand für die Forscher
offenbar darin, die diploiden Hautzellen
(doppelter Chromosomensatz) in eine haploide Eizelle (einfacher Chromosomensatz) zu verwandeln.
Lange hätten sie experimentiert, um die
passende »Umgebung« zu finden, in der
sich die Zellen in die gewünschte Richtung entwickeln ließen. Die Suche nach
dem richtigen »Cocktail« aus Nährmedien und Wachstumsfaktoren war demnach
alles andere als einfach und funktionierte weitgehend nach dem Prinzip »Versuch und Irrtum«. Um das gewünschte
Ergebnis zu erhalten, mussten die Forscher dem Kulturmedium zudem Zel-
Stammzellforscher Thomas Zwaka von
der Icahn School of Medicine at Mount
Sinai in New York.
Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, befürchtet in Ländern mit liberaler Gesetzgebung einen
»großflächigen« Einsatz der Präimplantationsdiagnostik, die eine genetische Auslese von Embryonen gestattet, wenn diese
Technik auch beim Menschen funktioniere. »Das ist ein Designer-Baby-Szenario«,
zitiert die Süddeutsche Zeitung Dabrock.
Derzeit seien die »begrenzte Verfügbarkeit von Eizellen und die gesundheitlichen Risiken bei ihrer Gewinnung« noch
»ein entscheidender limitierender Faktor
in der Fortpflanzungsmedizin«.
LebensForum 120
Herunterladen