LWL-Klinik Münster Wenn sich die Traurigkeit versteckt Die Besonderheiten der Depression im Alter Dr. med. Tilman Fey Akademie Franz Hitze Haus Donnerstag, 18. Mai 2013 LWL-Klinik Münster LWL-Klinik Münster Prävalenz psychischer Erkrankungen Älterer in Deutschland Berliner Altersstudie: Altersgruppe der 70- bis über 100-Jährigen • 13,9% Demenzen • 9,1% Depressive Störungen • 1,9% Angststörungen • 0,7% Schizophrenie oder wahnhafte Störungen • 0,6% Organisch bedingte wahnhafte Störungen oder Halluzinosen • 0,6% Organisch bedingte Persönlichkeitsstörungen Helmchen et al. 1996 LWL-Klinik Münster Häufigkeit von Depressionen im Alter Berliner Altersstudie (BASE) Depressionshäufigkeit und Lebensalter (Brief-Assessment-Interview, Welz 1994) % der Altersgruppe 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 65-69 70-74 75-79 Berliner Altersstudie 1990-1993 (http://www.base-berlin.mpg.de) >80 LWL-Klinik Münster Depression im Alter Laienpresse Message: Depressionen im Alter 1. sind häufig 2. manifestieren sich anders als in jungen Jahren 3. sind daher schwer zu erkennen 4. werden daher oft nicht ausreichend behandelt Westfälische Nachrichten 11.3.2008 LWL-Klinik Münster Depression Eine altersassoziierte Erkrankung? • Häufigkeit von Depressionen beim älteren Menschen sehr stark von Umfeld abhängig – In der Gemeinde <3% – In Pflegeheimen 9-38% – In amb. oder stationärer medizinischer Behandlung 10-42%) Nelson JC: Treatment of major depression. Geriatric Psychopharmakology (1998) • Häufigkeit untypischer Depressionen 11-30% Copeland 1987, Livingston 1990 LWL-Klinik Münster Depressive Störung Begriffsklärung und differentialdiagnostische Abgrenzung • Depressive Episode F32 • Rezid. depressive Störung F33 • Bipolare affektive Störung F31 Depressive Störung • Dysthymia F34.1 • Anpassungsstörung F43 • „Burn out“ • Depressive Persönlichkeit(sstörung) LWL-Klinik Münster Diagnosekriterien der depressiven Episode nach ICD-10 Mindestens 2 Kriterien müssen erfüllt sein 1. Depressive Stimmung mit einem für den Betroffenen deutlich ungewöhnlichen Ausmaß, die meiste Zeit des Tages, fast jeden Tag, im Wesentlichen unbeeinflusst von den Umständen 2. Verlust von Interessen und Freude an Aktivitäten, die normalerweise angenehm waren 3. Verminderter Antrieb oder gesteigerte Müdigkeit Leichte depressive Episode bei 1-2 Kriterien, mittelgradige Episode bei 3-4 Kriterien,schwere depressive Episode bei mindestens 5 C-Kriterien und allen 3 B-Kriterien • Verlust des Selbstvertrauens oder des Selbstwertgefühls • Unbegründete Selbstvorwürfe oder ausgeprägte, unangemessene Schuldgefühle • Wiederkehrende Gedanken an den Tod oder an Suizid, suizidales Verhalten • Vermindertes Denk- oder Konzentrationsvermögens, • Psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung (subjektiv oder objektiv) • Schlafstörungen jeder Art • Appetitverlust oder gesteigerter Appetit mit entsprechender Gewichtsveränderung LWL-Klinik Münster Depression im Alter Typisches klinisches Bild • Körperliche Symptome (Schmerzen, Schlafstörungen, gastrointestinale Symptome) • Kognitive Symptome (insbesondere Klagen über Gedächtnisstörungen) • Angst (klagsamer, dysphorischer Affekt) • Somatoforme Befürchtungen Nach Hautzinger, M. (2000): Depression im Alter LWL-Klinik Münster Beispiele somatischer Symptome einer depressiven Episode nach ICD-10 • Früherwachen (2 Std. oder mehr vor der gewohnten Zeit) • Morgentief • Deutlicher Appetitverlust • Gewichtsverlust (5% oder mehr des Körpergewichts im vergangenen Monat) • Deutlicher Libidoverlust Nach Niklewski, G.: Depressive Erkrankungen, in Förstl, H. (Hrsg.): Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie LWL-Klinik Münster Geriatric Depression Scale (GDS) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. Sind sie grundsätzlich mit ihrem Leben zufrieden? Haben sie viele von ihren Tätigkeiten / Interessen aufgegeben? Haben sie das Gefühl, ihr Leben sei leer? Ist ihnen oft langweilig? Sind sie meistens guter Laune? Befürchten sie, dass ihnen etwa Schlimmes zustoßen wird? Sind sie meistens zufrieden? Fühlen sie sich oft hilflos? Sind sie lieber zu Hause, anstatt etwa zu unternehmen? Glauben sie, dass sie mehr Gedächtnisprobleme haben als andere? Finden sie, es sei schön, jetzt zu leben? Fühlen sie sich, so wie sie sind eher wertlos? Glauben sie, dass es denn meisten ihres Alters besser geht als ihnen? Finden sie, dass ihre Lage hoffnungslos ist? Fühlen sie sich kraftvoll? Gezählt wird die Anzahl depressiv getönter Aussagen. (< 6 - keine Depression, >10 - schwere Depression) LWL-Klinik Münster Depression Was kann sich dahinter verbergen? LWL-Klinik Münster Organisch bedingte depressive Syndrome • Demenz vom Alzheimertyp 30-60% • Vit. B12 bzw. Folsäuremangel 60-80% • Hypothyreose 5-15% • M. Parkinson 30-50% • ... Mod. nach Müller-Spahn, F.: Depression im höheren Lebensalter. In: Gaebel W, Müller-Spahn F (Hrsg): Diagnostik und Therapie psychische Störungen. Kohlhamer Stuttgart 2002: 448-463 LWL-Klinik Münster Gedächtnis –Störungsformen Demenz vers. Depression • • Störung der Einspeicherung (Alzheimerdemenz) führt zu anterograder Amnesie bzw. Lerndefizit Störung des Abrufs (Depression) führt zu retrograder Amnesie bzw. Vergesslichkeit LWL-Klinik Münster Diff.-diagnose Demenz/Depression bzgl. kognitiver Beeinträchtigung Demenz Depression Beginn Schleichend Relativ plötzlich Kognitive Defizite für Bezugspersonen im Vordergrund nicht im Vodergrund Beschwerdeschilderung Bagatellisiernd Aggravierend, detailliert Tagesschwankungen Leistungstief abends Leistungstief morgens Nächtliche Zunahme Ja Nein Bemühen um Kompensation Ja Nein Schlafentzugseffekt Verschlecherung Verbesserung Alltagskompetenz Eingeschränkt Erhalten LWL-Klinik Münster Kognitive Veränderungen im Alter: Was ist “normal”? Verarbeitungsgeschwindigkeit (“Prozessorgeschwindigkeit) , linear ab 20.Lj. Arbeitsgedächtnisleistung (z.B. Irrelevante Informationen zu unterdrücken) Multitasking Verhaltensinitierung und Inhibition Merkfähigkeit V. a. strategisches Vormerken Behalten von Kontextinformationen. LWL-Klinik Münster Depression – was kann noch dahinter stecken? Herzmuskelschwäche (Herzinsuffizienz) Nierenausscheidungsschwäche (Niereninsuffizienz) Medikamente (z.B. ß-Blocker und viele andere) … Angststörungen Suchterkrankungen LWL-Klinik Münster Benzodiazepine im Alter LWL-Klinik Münster Benzodiazepingebrauch und –abhängigkeit im Alter Frauen überwiegen deutlich Heimbewohner erhalten häufiger und regelmäßiger Benzodiazepine Hochdosisabhängigkeit ist im Alter sehr selten Typisch im Alter: Low-dose-dependency Bei > 85jährigen BZD-Verordnung bei 40,7 % (dement: 47,4 % nichtdement: 35,1 %) (Lövheim et al. 2008 Pharmacoepidemiol Drug Saf) LWL-Klinik Münster Folgen von Benzodiazepingebrauch im Alter Reduktion des Tiefschlafs in der zweiten Nachthälfte Reduktion der REM-Schlafphasen Besondere Risiken im Alter: Kumulation (der Mehrzahl der Benzodiazepine) Erhöhte Delirrate Sturz-/ Verletzungsgefahr Kognitive Störungen LWL-Klinik Münster Depression im Alter – Erkennung und Behandlung l Erkennungsrate von Depressionen in der Hausarztpraxis 59 %. (Jacobi et al., Nervenarzt 2002; 73: 651-658) l Nur 10,9 % der depressiven alten Menschen erhielten ein Antidepressivum, davon 59,6 % unterdosiert. 26,7 % erhielten Benzodiazepine. (Wilson et al., Br J Psychiatry 1999; 175: 439-443) l Nur 35,7 % der depressiven alten Menschen erhielten ein Antidepressivum. 27,4 % erhielten Benzodiazepine. (Steffens et al., Arch Gen Psychiatry 2000; 57: 601-607) LWL-Klinik Münster Depression im Alter –diagnostische Probleme l l l l l l Bagatellisierung der depressiven Gefühle Verstärkte Präsentation von bzw. Konzentration auf somatische Symptome (Pat. und Ärzte) Fehleinschätzung „körperliche Krankheit“ Fehleinschätzung „Demenz“(kognitive Einbußen) Fehleinschätzung „Parkinson“ (Antriebsmangel, Bewegungsarmut) Fehleinschätzung „Alter an sich“ (negatives Altersstereotyp –„Ageism“) Depression im Alter LWL-Klinik Münster Empfohlene Labor- und apparative Untersuchungen Untersuchung erste Episode erneute Episode DD-Blutbild, Harnstoff, Elyte + + Leberfunktion + ggf. bei C2-Abusus Schilddrüsenfunktion + bei mehr als 12 Monaten Abstand Vit B12 + bei mehr als 24 Monaten Abstand Folsäure + falls klinisch indiziert Lues-Serologie + falls noch nicht bekannt bei neurol. Indikation bei neurol. Indikation Laborwerte Apparative Untersuchungen CT oder MRT Nach Niklewski, G.: Depressive Erkrankungen, in Förstl, H. (Hrsg.): Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie LWL-Klinik Münster Depression im Alter Mögliche ursächliche Faktoren l l l l l l Abschiednehmen (-müssen) von Lebenskonzepten (Berentung), narzistische Kränkung Objektive materielle Probleme Angst vor Altsein und Pflegebedürftigkeit (Autonomieverlust) Umgebungsveränderung (Umzug ins Heim) Verlust von Verlassenwerden (Tod) von Bezugspersonen und damit innere und äußere Vereinsamung Nachlassen körperlicher Funktionstüchtigkeit mod. nach „Psychodynamische Überlegungen“, in Wolfersdorf, M. u. Schlüter, M. (Hrsg): Depressionen im Alter, 2005 LWL-Klinik Münster Häufigkeit von Suiziden und Siuzidversuchen nach Alter Suizide Häufigkeit Suizidversuche 15 70 J Alter mod. nach Wächtler, C., 2003 LWL-Klinik Münster Anzahl der Suizide in Deutschland nach Alter und Geschlecht im Jahr 2000 Statistisches Bundesamt LWL-Klinik Münster Sterbeziffer für Suizid pro 100000 Personen nach Alter in verschiedenen EU-Ländern (2005) 85 Jahre und älter http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/ (Homepage der Europäischen Kommission) LWL-Klinik Münster Suizidalität - Begriffsbestimmung Suizidalität ist die Summe all derjenigen Denk- und Verhaltensweisen eines Menschen, die selbstdestruktiven Charakter haben können und das eigene Versterben direkt oder indirekt in Kauf nehmen sowie aktiv oder durch Unterlassung anstreben. LWL-Klinik Münster Ausprägung von Suizidalität • Ruhewünsche Aktuell oder in der Zukunft, ohne eigene aktive Handlung, ohne Handlungsdruck • Todeswünsche Aktuell oder in der Zukunft, ohne eigene aktive Handlung, ohne Handlungsdruck • Suizidideen Mehr oder minder konkret als mögliche Handlungsweise gedacht; häufig Ausdruck von Ambivalenz, jedoch ohne konkreten Handlungsdruck, eher passiv • Suizidabsichten Suizidideen mit konkreter Planung und Absicht(-serklärung) zur Durchführung, deutlich als Drang erlebter Handlungsdruck, akute suizidale Gefährdung • Suizidversuch suizidale Handlung, die überlebt wird. Eine deutliche Todesintention und der Glaube, mit der angewandten Methode das Ziel zu erreichen, sind oder waren vorhanden • Suizid suizidale Handlung, die mit dem Tod des Durchführenden endet LWL-Klinik Münster Suizidalität und Suizidprävention: Spezifika im Alter • Im Alter häufiger Zusammenhang mit einer Depression (in ca. 80% der Fälle) als im jüngeren Lebensalter. • Ältere Menschen werden auch bei Suizidalität seltener von einem Spezialisten behandelt als jüngere. • Tendenz, Suizidalität im Alter als verständlich bzw. rational zu interpretieren. • Bei Nahrungsverweigerung im Alter sollte überprüft werden, ab ein Nihilismus oder ein hypochondrischer Wahn im Rahmen einer Depression die Entscheidung begründet. Cave falsche Einschätzung “Bilanzsuizid” • Suizidgedanken werden nahezu nie vom Patienten thematisiert. Deshalb muß der Therapeut das Thema Suizidalität ansprechen. Anders als die weit verbreitete Befürchtung wird dadurch keine Suizidalität induziert! LWL-Klinik Münster Depression im Alter Psychotherapeutische Aspekte l l l l Erhebliche Vorbehalte in der älteren Generation ggü. Psychotherapie Spannungsverhältnis: alter Patient - junger Therapeut bei gleichzeitiger Rollenumkehr. Unterwerfung oder aktiver Widerstand oder passive Verweigerung Heranrücken des eigenen Lebensendes, verbleibende Lebensspanne als Qual Abwehrstrategien bei Patient und Therapeut („Wozu das alles noch?“) Beziehung - zu Kindern und Partner: jahrzehntelang nicht ausgesprochene Vorwürfe, „alte Rechnungen“, LWL-Klinik Münster Ambulante Psychotherapie l l l l Von ambulant psychotherapeutisch behandelten Patienten waren 5 % 50-59 Jahre, knapp 1 % 60 Jahre und älter (DGPPT Praxisstudie 1989) Stichprobenuntersuchung von Anträgen für VT-Langenzeittherapie: 0,2 % der Pat. waren über 65 Jahre (Linden et al. 1993, Linden 1999) Untersuchung von 40 psychotherapeutischen Praxen 1994: Anteil 56-65 Jahre 2,9 %, über 65 Jahre 0,3 %. (Scheidt et al. 1998) Erhebung zur Erstuntersuchung in psychotherapeutischen Universitätsambulanzen: 6,1 bzw. 5,7 % der Pat. über 55 Jahre. (Rudolf et al. 1988, Heuft et al. 1992) Aus: Heuft/Kruse/Radebold (2000): Lehrbuch der Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie LWL-Klinik Münster Resilienz • Fähigkeit, Krisen durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern • Stärke eines Menschen, Lebenskrisen wie schwere Krankheiten, lange Arbeitslosigkeit, Verlust von nahestehenden Menschen oder ähnliches ohne anhaltende Beeinträchtigung durchzustehen LWL-Klinik Münster aus: Wächtler, C. (2007): Depression und Suizidalität im Alter, DNP, 22-25 LWL-Klinik Münster LWL-Klinik Münster Pharmakologische antidepressive Therapie Besondere Anforderungen an AD im Alter • Gute Wirksamkeit, auch auf somatisches Syndrom • Nebenwirkungsprofil alterskompartibel • Wenig Interaktionen • Mit den veränderten pharmakokinetischen Bedingungen im Alter kompatibel LWL-Klinik Münster Antidepressiva im Alter Cave! Anticholinerge NW v.a. bei klassischen AD (TZA) “Anticholinerges Syndrom”: Miktionsstörungen Obstipation Glaukomanfall Kardiale NW Verschlechterung der Kognition Delir LWL-Klinik Münster aus: Wächtler, C. (2007): Depression und Suizidalität im Alter, DNP, 22-25 LWL-Klinik Münster Praxis der Verordnung von Psychopharmaka in Altenheimen • 1922 Bewohner in 20 Mannheimer Altenheimen • 40,7% der Bewohner 5 oder mehr Diagnosen • Anteil der Bewohner mit psychiatrischen Diagnosen 64,7% • 42,6% der Bewohner nahmen 5 oder mehr Medikamente ein • Am häufigsten verordnet wurden psychotrope Substanzen (37,4% Neuroleptika, 12,7% Antidepressiva, 10,8% Tranquilizer, 8,0% Hypnotika) • 93,2% in hausärztlicher Betreuung (Allgemeinmed. oder Internist) • 13,6% von Psychiater behandelt aus: Anna Kolusch (2004), Diss., Erkrankungen und medizinische Behandlung in Alten- und Altenpflegeheimen: eine repräsentative Studie in Mannheim. Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim (ZI) LWL-Klinik Münster Depression Überweisung zum niedergelassenen Facharzt? ja, wenn folgende Kriterien initial oder auch im Verlauf erfüllt sind: • (fragliche) Suizidalität • differentialdiagnostische Unsicherheit • wahnhafte Störungen, bipolare Störungen, schizoaffektive Störung • die erste Behandlung “greift”nicht bzw.: • innerhalb von zwei Monaten Verlauf bzw. Behandlung hat sich kein Erfolg bzw. keine Besserung abgezeichnet LWL-Klinik Münster Stationäre Einweisung? ja, wenn folgende Kriterien initial oder auch im Verlauf erfüllt sind: • akute Suizidgefahr erfordert immer eine stationäre Einweisung! • Fehlenden Entlastungs- und Hilfsmöglichkeiten zu Hause • gravierende Begleiterkrankungen • Schwere depressive Syndromen ohne Ansprechen auf ambulante Therapien