Die Entkolonialisierung Algeriens

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Bundesgymnasium
und Bundesrealgymnasium Amstetten
Die Entkolonialisierung Algeriens
Ursachen, Verlauf und Folgen
eines unaufgearbeiteten Konflikts
Vorgelegt bei
Dr. Harald Tanzer
im Fach
Geschichte und Politische Bildung

von
Dominik Ivancic, 8c
Amstetten, Schuljahr 2008/2009
1. Vorwort .........................................................................................................................................3
2. Historische Diskussion ..................................................................................................................4
2.1. Unterschiedliche Forschungszugänge ....................................................................................4
2.1.1. Französische Forschung ..................................................................................................4
2.1.2. Algerische Forschung ......................................................................................................5
2.1.3. Internationale Forschung – verwendete Literatur .........................................................6
2.1.4. Die Behandlung des Algerienkrieges in Schulbüchern ...................................................7
2.1.4.1. Frankreich.................................................................................................................7
2.1.4.2. Algerien .....................................................................................................................8
3. Kolonialherrschaft in Algerien .....................................................................................................9
3.1. Eroberung Algeriens ..............................................................................................................9
3.2. Die schrittweise Kolonialisierung Algeriens – das koloniale System .................................. 10
3.2.1. Anfängliche Agrar- und Siedlungspolitik ..................................................................... 10
3.2.2. Entwicklung des „Agrarkapitalismus“........................................................................... 13
3.2.3. Verflechtung zwischen Mutterland und Kolonie .......................................................... 14
3.2.4. Wirtschaftliche Interessen Frankreichs ........................................................................ 15
3.2.4.1. Die ungleiche Arbeitsteilung und einige Profiteure des Systems ........................... 15
3.2.5. Demographische Entwicklung und Berufsverteilung ................................................... 18
3.2.6. Veränderungen der algerischen Gesellschaft durch die Kolonialherren ..................... 20
3.2.6.1. Bildungswesen während der Kolonialzeit .............................................................. 21
3.2.6.2. Rassismus und Integrationsbemühungen ............................................................... 22
3.3. Das koloniale System und die Ursachen des Unabhängigkeitskrieges ................................ 23
4. Der Unabhängigkeitskrieg .......................................................................................................... 24
4.1. Die Geschichte des algerischen Nationalismus .................................................................... 25
4.2. Massaker von Sétif und Guelema ........................................................................................ 26
4.3. Der Krieg .............................................................................................................................. 28
4.3.1. Französische Wahrnehmung ......................................................................................... 30
4.3.2. Innenpolitik – Fall der 4. Republik ............................................................................... 33
4.3.3. Internationale Reaktion und Debatte ............................................................................ 34
4.3.4. Taktiken und Erfolge der FLN ..................................................................................... 37
4.3.5. Französische Reaktion ................................................................................................... 38
4.3.5.1. Repressionen ........................................................................................................... 38
4.3.5.1.1. Folter ................................................................................................................ 40
4.3.5.2. Wirtschaftliche Reformen....................................................................................... 41
4.4. Folgen des Krieges ................................................................................................................ 43
1
5. Die Unabhängigkeit Algeriens .................................................................................................... 44
5.1. Alleinherrschaft der FLN ..................................................................................................... 44
5.1.1. Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen .................................................................. 45
6. Fazit ............................................................................................................................................. 48
Quellen- und Literaturnachweis..................................................................................................... 51
2
1. Vorwort
Das Massaker von Sétif. 40 000 Tote. Die Schlacht von Algier. Einsatz von Folter. Die Opfer
des Algerienkrieges. 100 000, ja vielleicht sogar eine Million Tote. Und das alles nicht einmal
ein Jahrzehnt nach dem 2. Weltkrieg. Ein demokratischer Staat, der sich zu den Freiheiten
seiner Bürger bekannte, führte Krieg. Er führte Krieg auf einem Gebiet, welches – juristisch
gesehen – zum Staatsgebiet gehörte. Er führte Krieg gegen einen Teil seiner Bevölkerung.
Wie konnte der Staat Frankreich, nachdem er selbst für kurze Zeit unter Fremdherrschaft und
Unterdrückung leiden musste und tausende Männer in den Weltkriegen verlor, selbst zum
Unterdrücker mutieren? Diese Frage beschäftigte mich, als ich zum ersten Mal auf Wikipedia 1
mehr oder weniger zufällig einen Artikel über den Algerienkrieg entdeckte. Ich war schockiert von der hohen Opferbilanz, aber auch von der Dauer des Krieges und seinem Zeitpunkt.
Außerdem waren mir nur wenige Aspekte des Konflikts bekannt. Im Prinzip wusste ich nur,
dass ein Konflikt stattgefunden hatte. Vor allem aus diesem Grund habe ich den Algerienkrieg
als Thema meiner Fachbereichsarbeit gewählt, da er für mich Neuland darstellte. Der Geschichteunterricht im Gymnasium beschäftigt sich aus Zeitgründen hauptsächlich mit der Geschichte Mitteleuropas, sowie mit den bekanntesten Themen der Weltgeschichte. Der Imperialismus findet natürlich als eine der Ursachen des 1. Weltkrieges einen Platz, doch werden
nur selten Beispiele für Kolonien und die koloniale Situation genannt. Auch ist der algerische
Unabhängigkeitskampf in Österreich nahezu unbekannt.
Trotz seiner Unbekanntheit hat der Algerienkrieg noch immer Aktualitätsbezug, da viele innenpolitische Probleme Frankreichs auf ihn zurückzuführen sind und eine kritische Auseinandersetzung dem Krieg noch nicht gefolgt ist.
Im Laufe der Erstellung meiner Fachbereichsarbeit kamen weitere Fragen hinzu und die meisten von ihnen konnten beantwortet werden. Das Ziel der nun vorliegenden wissenschaftlichen
Arbeit ist es, einen Überblick über den Algerienkrieg zu schaffen, aber auch auf einige wichtige Faktoren näher einzugehen.
Zuletzt möchte ich mich noch bei meinem Betreuungslehrer Dr. Harald Tanzer, der mir mit
Rat und Hilfe zur Seite stand, und bei meiner Familie, die mich motivierte und unterstützte,
bedanken.
1
http://de.wikipedia.org Wikipedia ist ein frei zugängliches Lexikon mit einer Vielzahl an Artikeln, die von den Besuchern
selbst gestaltet werden können.
3
2. Historische Diskussion
Es gab zwar während des Algerienkrieges in Frankreich Auseinandersetzungen mit einzelnen
Aspekten des Konflikts, doch gab es keine ausführliche gesellschaftliche Debatte – das Thema wurde vor allem längere Zeit verdrängt und zensuriert. So kam es erst in den letzten Jahrzehnten, vor allem um das Millennium, zu neuen Erkenntnissen über den Krieg und zu einer
neuen Diskussion innerhalb Frankreichs. Im Gegensatz dazu wurde der Unabhängigkeitskrieg
in Algerien als ein Befreiungskrieg gefeiert und er wurde ein propagandistisches Mittel, sowie
eine Legitimierung der FLN2. Auch hier kam es nur begrenzt zu einer ausführlichen und kritischen Auseinandersetzung.
Im Folgenden werden die unterschiedlichen Sichtweisen des Algerienkrieges behandelt.
2.1. Unterschiedliche Forschungszugänge
2.1.1. Französische Forschung
Wie schon in der Einleitung erwähnt wurde, kam es in den ersten Jahren nach dem Krieg zu
keiner Debatte innerhalb der französischen Gesellschaft. Viel mehr wollte man den mehr als
sieben Jahre dauernden Konflikt hinter sich lassen und nach vorne blicken. Die Archive waren öffentlich nicht zugänglich und Vertreter des Militärs und der Politik machten keine Aussagen über stattgefundene Kriegsverbrechen. Vielleicht lag es auch an der Brutalität und der
eigenen Verantwortung, der sich Frankreich stellen musste, oder vielleicht musste man einfach Abstand gewinnen, um kritisch über diese Thematik zu diskutieren. Erst 1992 wurden
die Archive des Militärs zugänglich gemacht – also 30 Jahre nach dem Friedensvertrag von
Evian3. Trotzdem blieben gewisse Dokumente, die vor allem Kriegsverbrechen dokumentierten, für Historiker unzugänglich. Jedoch war dies ein erster Schritt zur Aufarbeitung der Geschehnisse, da nun endlich eine seriöse Forschung beginnen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt
gab es zwar eine Vielzahl an historischen Zeitungsberichten und einzelnen Arbeiten, jedoch
keine ausführliche historische Auseinandersetzung. Dies sollte sich ab 1992 ändern, als das
Thema von französischen Historikern „entdeckt wurde“. 1999 wurde auch vom französischen
Parlament der Terminus „Algerienkrieg“ anerkannt, somit gab Frankreich nach 37 Jahren zu,
dass es sich beim Konflikt in Nordafrika um einen Krieg gehandelt hatte und nicht nur um
eine Operation der Armee. Dies war ein weiterer wichtiger Schritt – auch in den französischalgerischen Beziehungen. Außerdem wurde ab 2001 der Zugang zu den Archiven einfacher
2
Front de Libération Nationale – algerische Nationalbewegung und Befreiungsfront, die die Unabhängigkeit Algeriens erlangte und danach die Macht ergriff.
3
Friedensvertrag zwischen der FLN und Frankreich, der zur Unabhängigkeit Algeriens führte. (vgl. Kapitel 4.3.)
4
gestaltet, um Forschern die Möglichkeit einer Begutachtung zu geben. 4 2000 kam es zu einer
medial geführten Kampagne gegen die Verbrechen der französischen Armee. Trotz dieser
Aufarbeitung kann davon ausgegangen werden, dass Anklagen gegen Angehörige der Armee
die Ausnahme bleiben werden. In den 60er Jahren gab es verschiedenste Amnestiegesetze, die
die Operationen der Armee im Nachhinein straffrei machten. 5 Trotzdem kam es zu immer
mehr Augenzeugenberichten – auch seitens der Folterer und Generäle – nachdem das Thema
wieder publik wurde.6 Es war und ist also wichtig, über dieses Thema zu schreiben und sich
mit diesem Thema zu beschäftigen, da es noch lange nicht vollständig aufgearbeitet ist und es
sicher noch unzählige Ereignisse aufzudecken gilt. Dennoch kam es zu teilweise heftig geführten Diskussionen innerhalb der französischen Gesellschaft, wie die Geschichte und die
Ereignisse des Algerienkrieges aufzufassen seien. Natürlich versuchten hier die ehemaligen
Algerienfranzosen und rechte Kräfte die Armee zu schützen und die Massaker und Foltermethoden zu leugnen. Auf der anderen Seite gab es von Linken und Gegnern des Algerienkrieges Vorwürfe an die Generäle. Ein einheitliches Geschichtsbild zu finden, ist in diesem Konflikt nicht möglich. Viel mehr handelt es sich auch heute noch um kein homogenes Geschichtsbild, sondern um ein heterogenes. Diese Tatsache wurde durch die Diskussion um die
Jahrtausendwende noch verstärkt.7
2.1.2. Algerische Forschung
Die algerische Regierung versuchte die Geschichte des Algerienkrieges nicht zu verdrängen,
wie es in Frankreich der Fall war, sondern wollte die Geschichte verzerrt wiedergeben. Der
Krieg wurde als „algerische Revolution“ gepriesen und die FLN als der legitime Anführer des
Volkes.8 Da die FLN nur durch den Unabhängigkeitskampf an die Macht kam, musste die
Partei diese Legitimierung unterstreichen. Die Geschichte Algeriens wurde von der FLN benützt und abgeändert, um als Propaganda fungieren zu können. 9 Auch die Historiker wurden
vom Staat an einer unabhängigen Geschichtsforschung gehindert. 10 Die Geschichte wurde
von der FLN geschrieben. Am Anfang der Unabhängigkeit musste diese Propaganda noch
4
Vgl. Pervillé, Guy: Die Geschichtswissenschaft und die späte Erforschung des Algerienkrieges. In: Kohser-Spohn, Christiane,
Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 66 -74. – Frankfurt/Main 2006. S. 68ff.
5
Vgl. ebd., S. 71 (Fußnote 15)
6
Vgl. Mauss-Copeaux, Claire: Die Geschichte des Algerienkrieges: Das Problem der Gewalt. In: Kohser-Spohn, Christiane,
Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg . S. 75-83. – Frankfurt/Main 2006. S. 82
7
Vgl. Pervillé, Guy, S. 70ff.
8
Vgl. Meynier, Gilbert: Die „Revolution“ der FLN (1954-1962). In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 153-173. – Frankfurt/Main 2006. S. 153f.
9
Vgl. Remaoun, Hassan: Befreiungskrieg und Geschichtsunterricht in der Schule. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken,
Frank: Trauma Algerienkrieg. S.205-218. – Frankfurt/Main 2006. S. 207f.
10
Vgl. Djerbal, Daho: Der Algerienkrieg in Forschung und Lehre. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S.184-191. – Frankfurt/Main 2006. S. 189
5
sehr wirksam gewesen sein, doch mittlerweile war ein Großteil der algerischen Bevölkerung
nach dem Krieg geboren worden.11 Diese jungen Menschen verband wohl kaum etwas mit
dem Sieg der Befreiungsfront. So verlor die Einheitspartei immer mehr an Legitimation. Auch
dies könnte ein Grund für die Unruhen ab den 80er Jahren sein, die im letzten Kapitel erwähnt
werden. Genau durch diese Erhebungen der Bevölkerung musste die FLN einlenken und dem
algerischen Volk – zumindest einige Jahre lang – mehr Rechte gewähren. 1988 konnte also
mit der kritischen Forschung begonnen werden. Erstmals wurden Zeugenberichte geschrieben
und veröffentlicht, die von Randgruppen, die von der FLN verdrängt wurden, stammten. So
kamen Anhänger Messali Hadjs 12 zur Sprache, die gegen die Soldaten der Befreiungsfront
gekämpft hatten. 13 Trotzdem gibt es noch sehr viel Nachholbedarf in der algerischen Forschung. Das Ziel muss eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Algerienkrieg sein.
2.1.3. Internationale Forschung – verwendete Literatur
Interessant ist auch die internationale Erforschung des Algerienkrieges. Im Gegensatz zu den
historischen Debatten in Algerien bzw. Frankreich, beschäftigten sich nur selten Historiker
anderer Länder mit dem Unabhängigkeitskrieg. Dies liegt wohl vor allem daran, dass dieser
Krieg ein interner Konflikt war, der – wie in dem Kapitel 4.3.2. näher erwähnt wird – nur am
Rande zu einer internationalen Debatte führte und auch nicht von den beiden Großmächten
UdSSR und USA für sich vereinnahmt wurde. Der Krieg hatte daher nur begrenzt Auswirkungen auf andere Länder. Es gibt zwar einige ausgezeichnete Arbeiten, wie „Frankreichs
Algerienkrieg“ von Hartmut Elsenhans14, der sich ausführlich mit den Ursachen und Auswirkungen des Krieges beschäftigte, doch diese sind im Vergleich zu Werken über andere Konflikte dieser Größenordnung außerordentlich selten. Auch wenn man Bibliotheken, wie die
Universitätsbibliothek der Universität Wien15, zu Recherchezwecken verwendet, findet man
fast nur französische oder algerische Autoren, deren Bücher entweder übersetzt wurden oder
gar nur in der Originalsprache vorliegen. Natürlich gibt es auch einige Diplomarbeiten über
das Thema Algerienkrieg und vereinzelte Werke, doch diese beinhalten meist nur Teilaspekte
des Krieges. Vor allem aus diesem Grund wird in den nachfolgenden Seiten oft „Frankreichs
Algerienkrieg“ zitiert, da es eines der ausführlichsten deutschsprachigen Werke des Algerien11
2003 waren 33,9% der Bevölkerung unter 15 Jahre alt (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Algerien#Bev.C3.B6lkerung
(Stand: 10.01.2009))
12
Messali Hadj (1898-1974) war ein algerischer Nationalist, dessen Bewegung mit der FLN in Konflikt geriet. Es entstand ein
regelrechter Kleinkrieg, der vor allem in Frankreich stattfand.
13
Vgl. Soufi, Fouad: Die Erinnerung befragen? In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 174183. – Frankfurt/Main 2006. S.178f.
14
Hartmut Elsenhans ist ein deutscher Politologe, der sich in seiner Dissertation „Frankreichs Algerienkrieg“ näher mit den
Ursachen und dem Verlauf des Algerienkrieges beschäftigte.
15
Vgl. http://aleph.univie.ac.at/ (Stand 19.01.2009)
6
krieges ist und auch von anderen Autoren, wie Frank Renken16, dem Herausgeber des Buches
„Trauma Algerienkrieg“, als Standardwerk über den Algerienkrieg bezeichnet wird. 17 Ein
anderer Autor, der sich auch ausführlicher mit Algerien beschäftigte und beschäftigt, ist
Bernhard Schmid18, dessen Werke „Algerien - Frontstaat im globalen Krieg?“ und „Das koloniale Algerien“ ebenfalls öfters zitiert werden.
2.1.4. Die Behandlung des Algerienkrieges in Schulbüchern
2.1.4.1. Frankreich
Frankreichs Schulunterricht war bis in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts von einer kolonialen Propaganda geprägt. Diese beschrieb die Pflicht und die Überlegenheit des weißen
Menschen. Die „Weißen“ mussten die einfachen Völker und Eingeborenen zuerst besiegen
und ihr Land nehmen, um sie dann zivilisieren zu können. Man wies auch auf die „Tatsache“
hin, dass der weiße Mensch – im Falle Frankreichs der Franzose – den anderen Völkern überlegen sei und dass vor der Eroberung das Chaos geherrscht habe. Es wurde beim Unterricht
über die Kolonialzeit vor allem Algerien als Musterbeispiel herausgepickt, da dieses Land die
erste Kolonie war und auch zu einem Teil des Mutterlandes wurde. Hier lag der Akzent vor
allem auf den positiven Aspekten der Kolonisierung, wie dem Aufbau einer Infrastruktur und
verschiedenster Programme, die das „Wohl“ der Kolonie sichern sollten. Die Schattenseiten
der Kolonialzeit wurden kaum bis gar nicht behandelt.19 Vor allem Aufstände kamen nicht zur
Sprache, da laut den Schulbüchern die Eingeborenen glücklich unter der Kolonialherrschaft
waren. 20 Für dieses einseitige Geschichtsbild war und ist auch heute noch das zentrale Bildungswesen verantwortlich, das die Möglichkeit bot und bietet, Unterrichtsbücher sowie den
Lehrplan vollständig von „oben“ zu bestimmen und so den Lehrern keine Möglichkeit zu geben, einen eigenen, kritischeren Unterricht zu führen. Nach dem Algerienkrieg und dem Zerfall des französischen Kolonialreichs wurde vor allem der Unabhängigkeitskrieg nicht behandelt. Erst ab 1980 kam es zu einer Veränderung der Lehrpläne und Lehrbücher. Der Krieg
wird zwar jetzt erwähnt, jedoch nur im kleinen Rahmen. Auch die Lehrer haben bis heute
kaum Zeit, über den Algerienkrieg mit den Schülern zu sprechen, da der Lehrplan nicht mehr
als 1 – 1 ½ Stunden für diesen Konflikt vorsieht. Das große Problem ist, dass in diesem straffen Programm meist auf die Ursachen keine Rücksicht genommen wird und so ein Wider16
Frank Renken ist Politik- und Sozialwissenschaftler, der gemeinsam mir Christiane Kohser-Spohn einen Sammelband zum
Thema Algerienkrieg – „Trauma Algerienkrieg“ erstellte und herausgab.
17
Vgl. Kohser-Spohn, Christiane, Renken Frank: Trauma Algerienkrieg. – Frankfurt/Main 2006, S. 265
18
Bernhard Schmid ist ein deutscher Korrespondent und Autor verschiedener linker Zeitungen und Jurastudent.
19
Vgl. Lemaire, Sandrine: Der Algerienkrieg in den französischen Schulbüchern. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank:
Trauma Algerienkrieg. S. 123 -137. – Frankfurt/Main 2006. S. 126f.
20
Vgl. ebd., S. 129
7
spruch entsteht. Viele wissen nicht, wieso der Krieg ausgebrochen ist, da ja das koloniale Unternehmen der französischen Republik doch immer ein zivilisatorisches war und kein unterdrückendes – zumindest laut der französischen Geschichtsschreibung. Bis heute kam es weder
zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialzeit noch mit dem Thema
Algerienkrieg.21 Doch wäre ein solcher Unterricht für die Schüler wichtig, da auch aktuelle
Probleme Frankreichs, wie das „Immigrantenproblem“ auf die Kolonialzeit und auf den Krieg
gegen die FLN zurückführen.22 Es reicht nicht nur in öffentlichen Debatten auf die Vergangenheit aufmerksam zu machen – man muss den Algerienkrieg auch in den Geschichtsunterricht einbauen, damit spätere Generationen die Zusammenhänge besser erkennen können.
2.1.4.2. Algerien
Der algerische Geschichtsunterricht ist heute, ebenso wie das allgemeine Geschichtsbild der
algerischen Gesellschaft, stark von der Staatsdoktrin geprägt. Das Thema schlechthin ist der
Algerienkrieg und die Rolle der FLN während des Kampfes. Dieses Gebiet nimmt einen
Großteil der Unterrichtszeit in Anspruch und soll den Machtanspruch der Einheitspartei untermauern. 23 Bis auf den Algerienkrieg ist der Geschichtsunterricht relativ ausgedünnt.24 In
den anderen Epochen findet Algerien fast keine Erwähnung, erst als es sich seiner Unabhängigkeit nähert. Der Krieg war der einzige nationalistische Moment des Maghreblandes und
somit identitätsstiftend. 25 Auch reicht die Ausbildung der Lehrer nicht aus, um sich dem
Krieg kritisch zu widmen. Hier sind die Historiker den Lehrern bereits voraus, da sie sich in
eigenen Arbeiten mit der algerischen Geschichte auseinandersetzen. 26 Natürlich gab es seit
den 80er Jahren gewisse Verbesserungen, doch der Geschichtsunterricht in Algerien bezieht
sich noch immer auf den Mythos „Algerische Revolution“. 27 Das kritische Denken wird nicht
gelehrt und so ist auch eine von Lehrern oder Schülern initiierte Auseinandersetzung mit den
gebotenen Lehrinhalten nicht möglich. Ziel des Unterrichts ist es, die Legitimation aufrecht
zu erhalten, nicht Kritik hervorzurufen. 28 Trotzdem konnte diese Schulpolitik zumindest in
der jüngeren Vergangenheit nicht zu einer Stabilisierung der Lage führen, da die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu offensichtlich waren und auch der Islam im Unterricht eine
verstärkte Rolle fand und findet. Diese Islamisierung war einer der Hauptgründe für den Bür21
Vgl. ebd., S. 131ff.
Vgl. ebd., S. 136f.
23
Vgl. Remaoun, Hassan, S. 206
24
Vgl. Chenntouf, Tayeb: Die Geburt eines Schulfachs – Geschichte in Algerien. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank:
Trauma Algerienkrieg. S. 192-204. – Frankfurt/Main 2006., S. 201
25
Vgl. Remaoun, Hassan, S. 207f.
26
Vgl. Chenntouf, Tayeb, S. 202f.
27
Vgl. Remaoun, Hassan, S. 205 und S. 217f.
28
Vgl. ebd., S. 211ff.
22
8
gerkrieg des unabhängigen Algeriens.29 Um den Geschichtsunterricht wesentlich zu verbessern und kritische Denker zu „produzieren“, müsste man wohl die algerische Gesellschaft von
ihren autoritären Strukturen befreien.
3. Kolonialherrschaft in Algerien
3.1. Eroberung Algeriens
Um den Algerienkrieg, seine Ursachen, aber auch seine Intensität verstehen zu können, muss
man bereits im Jahr 1830, also 124 Jahre vor Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges beginnen.
In diesem Jahr wurde Algerien von Frankreich erobert und besetzt und bald darauf kolonialisiert.
Beim Ausbruch des Eroberungskrieges sah wohl niemand den Beginn des sogenannten zweiten französischen Kolonialreichs vor, und erst 1834 wurde beschlossen, dass Frankreich in
Algerien blieb.
Napoleon hatte 34 Jahre zuvor in Algerien Getreide gekauft, wollte jedoch das Geld erst später zurückzahlen. Diese Schuld wurde aber nie ganz beglichen. Weder von Napoleon selbst,
noch von seinen Nachfolgern. Als der Dey, der Statthalter des osmanischen Reiches, das Geld
forderte, kam es zum diplomatischen Affront gegen Frankreich. Bei den heftigen Diskussionen mit dem französischen Konsul – der König weigerte sich, direkt mit dem osmanischen
Statthalter in Verbindung zu treten – verlor der Dey die Beherrschung und schlug den Diplomaten mit seinem Fächer. Diese sogenannte „Fächeraffäre“, ein mehr oder weniger lächerlicher Vorfall, nahm Frankreich zum Anlass, das nordafrikanische Land zu erobern.
Die dahinterliegenden Ursachen waren jedoch die Piratenflotten, die immer wieder westliche
Handelsschiffe von ihren Stützpunkten an der algerischen Küste aus angriffen und innenpolitische Probleme. Der französische König wollte die rebellische Stimmung im Land durch eine
Eroberung im Ausland mildern und seine Herrschaft absichern. Auch die Bourgeoisie in Marseille sah große Vorteile in dieser Eroberung, da sie auf Grund des Standortes vom Handel
mit einem profranzösischen Algerien oder einer französischen Kolonie profitiert hätte.
Der Statthalter bzw. die osmanische Herrscherschicht Algeriens regierte relativ autonom vom
weit entfernten Istanbul. Nur Steuern wurden an das osmanische Reich gezahlt. Aus diesem
Grund stieß Frankreich anfangs kaum auf Widerstand, und die osmanische Elite wurde rasch
vertrieben. Ein kleiner Teil des Landes wurde schnell annektiert. In Westalgerien konnte sich
29
Vgl. Djerbal, Daho, S. 186f.
9
jedoch Abd el-Kader30, ein Stammesführer, der mehrere arabische Stämme vereinigen konnte
und der später von den algerischen Nationalisten zum Volkshelden erhoben wurde, bis 1847
zur Wehr setzen. Er sowie seine Gefolgsleute und Soldaten mussten jedoch aufgeben, da Ab
del-Kader seinen wichtigsten Unterstützer, den marokkanischen Sultan, verlor.
3.2. Die schrittweise Kolonialisierung Algeriens – das koloniale System
In den darauffolgenden hundert Jahren kam es zu einer weitreichenden Änderung der algerischen Gesellschaft. Es muss gesagt werden, dass die Kolonialisierung keineswegs geplant
war. Natürlich gab es Geschäftsmänner, die schon während des Krieges persönliche Pläne
hatten, aber es gab niemals einen Generalplan, wie die Enteignungen stattfinden sollten. Mathias Dür schreibt jedoch in seiner Diplomarbeit „Islamismus und Algerienkonflikt“, dass
nach dem Sieg über Abd el-Kader die französischen Vorstellungen, welche „gravierende[n]
Folgen für Algerien“ hatten, umgesetzt werden konnten. 31 Es trifft wohl eher die Ansicht
Jean-Paul Sartres32 zu, nach der die Kolonialherren auch nur ein Teil eines kolonialen Systems waren und nicht vollständig in der Lage waren, etwas zu ändern oder überhaupt das System zu lenken. Dieses koloniale System entstand erst durch das Eintreffen der ersten Siedler
und wurde durch das französische Militär gefestigt. Später entwickelte es jedoch eine gewisse
Eigendynamik, welche es dem französischen Staat unmöglich machte, während des Unabhängigkeitskrieges in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts problemlösend zu agieren. Dieses
System wird anhand der folgenden Beispiele aufgezeigt.
3.2.1. Anfängliche Agrar- und Siedlungspolitik
Schon während des Eroberungsfeldzuges kam es zu Enteignungen und Plünderungen, aber
auch zu Massakern. Die ansässige Bevölkerung – mehrheitlich Araber, aber auch eine große
Anzahl von Berbern – wurde von den Franzosen vom fruchtbaren Küstenstreifen33 vertrieben
und bekam meist nicht einmal eine Entschädigung für diesen Landraub. Die wirtschaftlichen
und sozialen Strukturen wurden durch ein neues Konstrukt ersetzt. Unter osmanischer Herrschaft hatte es eine Art Kollektivbesitz gegeben – jedes Dorf hatte gemeinsam seine Felder
bestellt.34 Jedoch wurde unter französischer Herrschaft das französische Recht, der Code Ci30
Es gibt verschiedene Schreibweisen dieses Namens und fast jede Literatur benützt eine andere Schreibweise. Es wird z.B.
auch Abd al-Qadir verwendet. Wahrscheinlich ist dies auf die arabischen Schriftzeichen zurückzuführen, die keine einheitliche Übersetzung in lateinische Schrift zulassen.
31
Dür, Mathias: Islamismus und Algerienkonflikt – Wien 2000, S.84
32
Vgl. Sartre, Jean-Paul: Der Kolonialismus ist ein System. In: König, Traugott (Hrsg.): Wir sind alle Mörder. S. 15-31 – Hamburg 1988, S. 16ff.
33
Algerien hat trotz seiner Größe nur einen sehr dünnen Küstenstreifen, welcher wirklich fruchtbar ist.
34
Vgl. Schmid, Bernhard: Das koloniale Algerien – Münster 2006, S.08
10
vil35, übernommen – die Einheimischen sollten „zivilisiert“ werden –, was den Landraub nur
noch einfacher gestaltete. Der Kollektivbesitz wurde zu Privatbesitz umgewandelt und konnte
schneller und einfacher, aber auch billiger, gekauft werden. 36 Diese massenhafte Enteignung
führte zu Hungersnöten und Unterernährung, da der Boden am Rand der Sahara unfruchtbar
war – die ansässige Bevölkerung wurde auf diese Randgebiete durch die Enteignungen verdrängt – und es zu wenig Grund und dadurch zu wenig Nahrung für die autochthone Bevölkerung37 gab. Im Endeffekt verringerte sich die Bevölkerung in den ersten 23 Jahren um 200
000 Menschen, einerseits durch Hungersnöte, andererseits durch Vertreibung und Ermordung. 38 Wie man an den vorhergehenden Zahlen sieht, reichte der nach den Enteignungen
übrig gebliebene Boden nicht einmal für Subsistenzwirtschaft und schon gar nicht für Exporte, denn die Anbaufläche der Europäer war verhältnismäßig wesentlich größer als die der
Araber.39 Für Hartmut Elsenhans ist „Die Enteignung der muselmanischen Bevölkerung [ist]
das historische Schlüsselerlebnis der algerischen Gesellschaft“ und es entwickelt sich dadurch ein „Agrarpatriotismus“.40 In Wirklichkeit gab es jedoch noch keine nationalistischen
Strömungen in Algerien, diese entstanden erst später. Die kollektive Bestrafung der Moslems,
der kollektive Landraub der Europäer, vereinigte die Algerier. Sie hatten einen gemeinsamen
Feind. Dies ist zwar wie schon oben angeführt kein richtiger Nationalismus, aber zumindest
eine Vorform.41
Trotz herrschender Hungersnöte konnten die europäischen Betriebe Rekordmengen Getreide
nach Frankreich exportieren, denn sie erhielten „das beste Viertel der landwirtschaftlich nutzbaren Böden“42 und bekamen leichter Kredite von den französischen und algerischen Kreditinstituten als die einheimische Bevölkerung. Auch die staatlichen Subventionen – eigentlich
als Hilfe für die arabische Bevölkerung gedacht – finanzierten hauptsächlich europäische Betriebe. 43 Hier wird die Ungerechtigkeit der kolonialen Wirtschaft deutlich. Auf der einen Sei35
Der Code Civil ist das französische Gesetzbuch, welches von Napoléon Bonaparte eingeführt wurde und eigentlich auch
das Recht auf Freiheit beinhaltete.
36
Vgl. Sartre, Jean-Paul, S.19
37
Die autochthone Bevölkerung bezeichnet die einheimische und ursprüngliche Bevölkerung.
38
Vgl. Schmid, Bernhard, S. 19
39
Vgl. Elsenhans, Hartmut: Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962. Entkolonisierungsversuch einer kapitalistischen Metropole. Zum Zusammenbruch der Kolonialreiche – München 1974, S. 93
40
Der Begriff „Agrarpatriotismus“ bezieht sich auf die einzige nationale Gemeinsamkeit der Algerier. Sie waren alle vom
Landraub der Siedler betroffen, und ihr einziger Wunsch war, ihre eigenen Agrarflächen zurückzubekommen. Diese verloren gegangenen Landflächen waren also ein Band, welches die Moslems zusammenhielt.
Elsenhans, Hartmut, S. 90f.
41
Die algerische Bevölkerung war bis zum 20. Jahrhundert kein richtiges Volk. Viel mehr gab es einzelne Stämme. Die Algerier waren zwar durch die arabische Sprache und islamische Religion verbunden, doch das traf auch auf den Großteil der
arabischen Welt zu. Ein von den anderen Moslems abgegrenztes Volk mit eigenem Nationalbewusstsein gab es nicht. Im
Gegensatz zu den späteren nationalistischen Strömungen gab es damals keine Unabhängigkeitsforderungen – Algerien war
auch vor der französischen Herrschaft nicht frei gewesen –, man wollte nur eine Verbesserung der Lage erreichen.
42
Ebd., S. 98
43
Vgl. ebd., S. 93f.
11
te stand der Moslem, der kaum überleben konnte, da er nur schlechte Böden besaß, und auf
der anderen Seite der Europäer, der entweder Millionenbeträge erwirtschaftete oder zumindest
Arbeit und genug Nahrung hatte. Die Hungersnöte erklären sich durch folgenden Umstand:
Die europäischen Betriebe exportierten nur ins Mutterland, verkauften aber ihre Nahrungsmittel meist nicht an die autochthone Bevölkerung, und wenn sie in algerischen Märkten zu finden waren, dann nur zu hohen Preisen, die ein Araber oder Berber nicht bezahlen konnte. Daher gab es nur einen kleinen Binnenmarkt, der hauptsächlich aus Produkten der autochthonen
Bevölkerung bestand. Auch kam es in Krisenzeiten zu keiner Solidarität mit der einheimischen Bevölkerung, da die Franzosen und die anderen Europäer rassistische Vorurteile hatten,
auf die im Kapitel 3.2.6.2. näher eingegangen wird.
Die Enteignungen hatten nur den Zweck, Siedlungsraum und Ackerland für Europäer zu
schaffen, denn nach der Eroberung war das Land zunächst hauptsächlich als Siedlungskolonie
gedacht. Algerien war ein rohstoffarmes Land, wo weder besondere Bodenschätze vorhanden
waren, noch ein geeignetes Klima für eine Spezialisierung der Landwirtschaft. Also gab es
nur die Möglichkeit, eine Siedlungskolonie zu bilden. Die überschüssige Bevölkerung – teils
freiwillige Siedler, teils gezwungene Arbeitslose – sollte sich in dem nordafrikanischen Land
ansiedeln. Diese waren meist kleine Bauern oder Knechte bei Großgrundbesitzern, die sich
auch ansiedelten. Unter diesen Siedlern gab es eine hohe Sterblichkeitsrate, da viele die wüstenähnlichen Temperaturen im Norden nur schwer aushielten, aber auch durch Krankheiten
starben. Bis 1866 wuchs die Zahl der europäischen Algerier trotzdem auf 218.000, wobei die
Hälfte aus anderen Ländern als Frankreich kam. 44 Sie wohnten meist in den größeren Städten
entlang der Küste, aus denen zuvor die Araber vertrieben worden waren. 45 Diese Siedler glichen also den Bevölkerungsrückgang der urbanen Gebiete Algeriens wieder aus und nahmen
sich die besseren Böden.
Am Anfang wurde diese Ansiedlung direkt vom Staat gesteuert und gefördert. Zum Beispiel
regelte der Staat die Verteilung der Böden und half teilweise mit dem Militär bei der Enteignung und der Vertreibung der Moslems.
Das große Problem dieser Agrar- und Siedlungspolitik war, dass es nicht genügend Land für
Siedler und Einheimische gab. Im Gegensatz zu den früheren Kolonien in Nord- und Südamerika kam es nicht zu einer fast kompletten Auslöschung der autochthonen Bevölkerung, je-
44
45
Vgl. Schmid, Bernhard, S.19f.: hauptsächlich Spanier, Italiener und Malteser
Vgl. ebd., S.16
12
doch wurde sie auf die schlechten Böden verdrängt. Deswegen und auch auf Grund der rigorosen Repressionen war das algerische Volk nie ganz zu „befrieden“.
So kam es zum Beispiel 1871 zum Aufstand in der Kabylei 46, wo sich ein großer Teil der arabischen und berberischen Bevölkerung erhob, aber vom französischen Militär geschlagen
werden konnte. Die Bestrafungen waren vielfältig. Einerseits wurden weitere 500.000 Hektar
Land enteignet, andererseits mussten Reparationszahlungen 47 der einzelnen Stämme nach
Frankreich geliefert werden. Doch die schlimmsten Vergeltungsaktionen waren die zahlreichen Morde. Es gab einen starken „Bevölkerungsrückgang“48 von bis zu 800.000 Menschen,
wobei aber mindestens 500.000 durch direkte Folgen des Landraubs oder durch Ermordung
starben. Nach diesen kollektiven Bestrafungen kam es Jahrzehnte lang nicht mehr zu einem
Aufstand der Bevölkerung. 49
3.2.2. Entwicklung des „Agrarkapitalismus“50
Zunächst gab es eine Vielzahl an landwirtschaftlichen Kleinbetrieben. Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich einige wenige Großgrundbesitzer durchsetzen, die die anderen Bauernhöfeund Betriebe aufkauften. Dies führte zu einer weiteren Verdrängung der arabischen Landwirte, die sich gegen diese Großgrundbesitzer noch weniger durchsetzen konnten, als gegen einzelne, kleinere Bauern. Außerdem kam es zu einer weitgehenden Modernisierung der Landwirtschaft und dadurch zu einer Effizienzsteigerung, aber auch zu einem Rückgang des Bedarfs an Angestellten. Dies führte zu einer Veränderung der Berufsstruktur, die im Kapitel
3.2.5 beschrieben wird.
Dieser Agrarkapitalismus entwickelte sich zu einer rein exportorientierten Wirtschaft. Das
beste Beispiel für diese war wohl der Anbau von Wein. Der Weinbau wurde ab dem Ende des
19. Jahrhunderts forciert, da die Gewinne die der Getreideproduktion bei weitem übertrafen.
Es konnte jedoch nicht vollständig auf Weinbau umgestellt werden, da der Bedarf in Frankreich schnell gedeckt war und Algerien bis nach dem 2. Weltkrieg Schwierigkeiten generell
beim Export in andere Länder hatte, da sich die Länder durch Schutzzölle vor anderen
Volkswirtschaften abschotteten. Eine Umstrukturierung der Flächen, die für Wein zu Verfügung gestellt wurden, hätte die Ernährungslage nicht gebessert, da auch Getreide exportiert
46
Die Kabylei ist eine Gebirgslandschaft im Norden Algeriens und wurde/wird hauptsächlich von den Kabylen bewohnt,
einem Berberstamm. Sie war/ist eine der ärmsten Regionen Algeriens.
47
Reparationszahlungen sind Geldbeträge, die eine besiegte Macht oder Bevölkerung dem Sieger zu leisten hat und die als
Entschädigungen für entstandene Kriegsschäden herangezogen werden.
48
Man muss hinzufügen, dass es keine genauen Statistiken über die Massaker und die Folgen des Landraubs gibt. Aus diesem Grund kann ein Massenmord kaum bewiesen werden, obwohl davon auszugehen ist, dass er stattfand.
49
Vgl. Schmid, Bernhard, S.24f.
50
Vor allem Hartmut Elsenhans benützt diesen Begriff in seinem Buch „Frankreichs Algerienkrieg“
13
worden wäre. Es wäre „lediglich die Exportfähigkeit Algeriens beschränkt worden“. Ein eigener algerischer Markt war nicht mit der Orientierung des Agrarkapitalismus konform. 51 Der
Anbau von Wein kann folglich nicht alleine für die damals vorherrschenden Hungersnöte
verantwortlich gemacht werden. Er zeigt jedoch die absurde Situation, in der sich wohl ein
arabischer oder berberischer Landarbeiter gesehen haben muss. Er und seine Mitarbeiter arbeiteten auf dem Land, das ihnen von den Franzosen genommen worden war und bauten zu
Hungerlöhnen Wein an, den sie nicht tranken und der exportiert wurde. 52
3.2.3. Verflechtung zwischen Mutterland und Kolonie
Die Beziehung zwischen Mutterland und Kolonie, Frankreich und Algerien war geprägt von
einem Hin und Her zwischen Autonomiebestrebungen der europäischen Bevölkerung in Algerien und einer stärkeren Bindung zum Mutterland, was von diesem gewünscht wurde.
Juristisch gesehen war Algerien ab 1848 keine Kolonie, sondern Teil des Mutterlandes.
Jedoch galt das französische Recht nur für die Europäer, die Mehrheit der Bevölkerung hatte
weder Wahl-, noch volle Bürgerrechte.53 Es wurden aber ab 1870 algerische Juden durch das
„Décret Crémieux“ – ein Gesetz aus dem Mutterland – gleichberechtigt und somit auf den
Stand der Europäer erhoben. Sie hatten aber mit Antisemitismus der europäischen Siedler und
der Moslems zu kämpfen, da die Juden nun „auf der anderen Seite der Barrikade“ standen.54
Diese von der jüdischen Bevölkerung gar nicht geforderte Gleichberechtigung führte dazu,
dass sie zum „Freund“ der Europäer und zum „Feind“ der Moslems wurden. 55
Die Angliederung an Frankreich bot natürlich Vorteile für den Handel in dieser frankophonen
Zoll- und Währungsunion und vereinfachte viele Verwaltungsaufgaben. Trotz des Umstandes,
dass Algerien eigentlich ein Teil des französischen Staatsgebietes war und rechtlich gesehen
keine unterworfene Kolonie56, wollte die europäische Herrschaftsschicht im Land mehr Autonomie. Da Frankreich ein sehr zentralistischer Staat war, kam es also zu einem teilweise stark
ausgeprägten Konflikt zwischen Metropole und Kolonie, der schon in den ersten Jahren der
französischen Herrschaft begann und sehr deutlich während des Unabhängigkeitskrieges wurde. Diese Problematik war schließlich auch der Grund für das Scheitern französischer Reformen und die damit unausweichliche Unabhängigkeit Algeriens.
51
Elsenhans, Hartmut, S. 99
Zu diesem Thema muss hinzugefügt werden, dass Wein im arabischen Raum kaum getrunken wird, da dies nicht den
islamischen Grundsätzen entspricht.
53
Vgl. Schmid, Bernhard, S.20
54
Ebd., S.23
55
Vgl. ebd., S.22
56
Algerien wird im Folgenden trotzdem als Kolonie bezeichnet, da es realpolitisch gesehen nicht einfach als erweiterter Teil
Frankreichs angesehen werden kann.
52
14
Trotz dieses Gegensatzes erhielt die europäische Minderheit gewisse AutonomieZugeständnisse. So hatten sie weitgehende wirtschaftliche und soziale Vollmachten. 57
Auch die Verwaltung unterstand eher der europäischen Minderheit, die sich gegen die vom
Mutterland eingesetzten Gouverneure fast immer durchsetzen konnte.58 Durch eine stark ausgeprägte Verwaltung gab es einen riesigen Apparat, der von Frankreich kaum kontrollierbar
war und es kam somit zu einer „Unterverwaltung“ durch französische Organe, vor allem auf
dem Land 59 – die Beamten, die meist der europäischen Bevölkerungsschicht angehörten,
kümmerten sich selten um die Verwaltungsaufgaben außerhalb der Städte, in denen hauptsächlich Europäer lebten. Die unterste Beamtenform waren sogenannte „Caids“, muslimische
Beamte, die sich auf Grund ihrer Stellung leicht an der restlichen autochthonen Bevölkerung
bereichern konnten und hauptsächlich als Steuereintreiber fungierten. Also auch manche Einheimischen hatten Vorteile durch die Korruption während der Kolonialzeit.60
Durch diese Zugeständnisse des Mutterlandes hatten die Siedler eine gute Grundlage, um ihre
rassistische Vormachtstellung in Algerien zu behalten, ohne Reformen von außen fürchten zu
müssen.
Im nächsten Großkapitel wird noch einmal näher auf diese Konfliktbeziehung eingegangen,
da erst im 20. Jahrhundert, also am Ende der Kolonialzeit und während des Unabhängigkeitskrieges, einige wichtige Komponenten hinzukamen.
3.2.4. Wirtschaftliche Interessen Frankreichs
3.2.4.1. Die ungleiche Arbeitsteilung und einige Profiteure des Systems
War während der Kolonialisierung Amerikas hauptsächlich das Ausbeuten der Rohstoffe
wichtig, kam im Imperialismus ein weiterer, noch wichtigerer Aspekt hinzu. Alle westlichen
Großmächte waren führende Industrienationen, doch waren ihre Handelsbeziehungen untereinander geprägt von Zöllen und Handelshemmnissen. Als durch moderne Maschinen die
Produktionszahlen stiegen, musste nach neuen Absatzmärkten gesucht werden. Hier kamen
die Kolonien gerade recht. Erstens konnte man dort billige Rohstoffe für die Industrie ausbeuten und importieren, und zweitens wurden europäische Fertigwaren in diese Länder exportiert. Hier spielte natürlich die Siedlungskolonie Algerien für Frankreich eine wichtige Rolle,
57
Im Folgenden wird vor allem Hartmut Elsenhans zitiert, da er in seinem Buch „Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962“ sehr
viele Statistiken aufzählt und einen guten Überblick über die Kolonialzeit im 20. Jahrhundert schafft. Generell ist dieses
Buch ein Standardwerk über die Kolonialzeit, sowie über den Krieg in Algerien
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 90
58
Vgl. ebd., S.121
59
Ebd., S.120
60
Vgl. ebd., S.119f.
15
denn die europäische Minderheit war wohlhabend genug, um Produkte aus dem Mutterland
zu kaufen – die unterdrückten Moslems kamen meist nie in den Genuss europäischer Güter.61
Doch wie konnten sich die Siedler die teuren Fertigwaren leisten, wenn sie doch selbst nur
billige Rohstoffe exportierten?
Sie mussten die einheimische Bevölkerung ausbeuten. Wie schon oben angeführt, bemächtigten sie sich der Gründe der autochthonen Gemeinschaften und Stämme. Außerdem stellten sie
manche Araber und Berber wieder als Feldarbeiter an und entlohnten diese schlecht. Sie
konnten also trotz ihrer billigen Rohstoffe genügend Gewinne für Importe erzielen. Sie mussten weder Kapital für den Grund investieren, weil dieser ja einfach enteignet worden war,
noch mussten sie den Knechten einen angemessenen Lohn zahlen, da es durch die militärische
Präsenz Frankreichs kaum zu Aufständen kam. 62
Auf Grund der Exportinteressen der französischen Industrie kam es nie zu einer wirklichen
Industrialisierung des Landes. Man wollte sich nicht eine Konkurrenz in Algerien schaffen.
Also war die Kolonie abhängig von den Industriegütern Frankreichs. 63 Es wurde zwar während der Weltkriege versucht einen algerischen sekundären Sektor aufzubauen, da die Versorgung durch das Mutterland durch die Weltkriege verschlechtert wurde oder gar aufhörte. Dieser konnte aber nie wirklich konkurrenzfähig werden, da er sofort nach den Weltkriegen
durch französische Konzerne, die billiger produzieren konnten, verdrängt wurde.64 Da Algerien ein energiearmes Land war, verteuerte sich die Produktion.
Algerien blieb also weiterhin ein unterentwickeltes Land, dessen Stärken im exportorientierten primären Sektor lagen. Dieser Umstand lässt sich selbst heute noch in ehemaligen afrikanischen Kolonien feststellen. Nur wenige Länder konnten eine eigene Industrie aufbauen und
sind bis zum heutigen Tag von den großen Industrienationen abhängig. Auch für das „junge
Algerien“ war diese einseitige wirtschaftliche Entwicklung ein Hindernis für den wirtschaftlichen Aufschwung.
Aber nicht nur die Industrie profitierte von der Kolonie in Nordafrika. Andere französische
Unterstützer des kolonialen Systems waren z.B. die Transportfirmen, die vor allem um Marseille entstanden und ein Transportmonopol zwischen Frankreich und Algerien innehatten, die
Zuckerproduzenten, die für den Weltmarkt zu teuer produzierten und ebenso die Textilindustrie, die einen fixen Absatzmarkt durch Algerien hatte.65
61
Vgl. Sartre, Jean-Paul, S. 18
Vgl. ebd., S.18f.
63
Vgl. ebd., S.19
64
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 102
65
Vgl. ebd., S. 176f.
62
16
Nachdem, kurz nach Ausbruch des Algerienkrieges, Erdöl in der Sahara Algeriens entdeckt
worden war, kam eine weitere Interessensgruppierung in Frankreich hinzu. Die französische
Republik sah in den neuentdeckten Funden eine weitere Bestätigung ihrer Algerienpolitik,
denn Erdöl wurde schon ab den 50er Jahren ein entscheidender wirtschaftlicher Faktor. Da
Frankreich nach dem 2. Weltkrieg im Nahen Osten nahezu keinen politischen Einfluss hatte,
war es weitgehend von den Entscheidungen des internationalen Erdölkartells ausgeschlossen.66 Daraufhin wurde verstärkt nach Vorkommen in den französischen Kolonien und Gebieten gesucht. Schon Ende der 40er Jahre wurden Erdölvorkommen in der Sahara vermutet,
doch erst 1956 entdeckt. Diese Erdölfunde waren von so einem großen Ausmaß, dass Frankreich zu einem selbstversorgenden Erdölstaat hätte werden können. Außerdem erhoffte sich
der Staat mehr Einfluss in der internationalen Erdölwirtschaft verschaffen zu können und seinen Großmachtanspruch zu festigen. 67 Bei der Suche nach Erdöl kooperierte der Staat, der die
meisten Förderungen dafür bereithielt, mit der Privatwirtschaft, doch bald kam es zur Konkurrenz zwischen staatlichen Betrieben und den privaten Konzernen. 68 Aber die Suche nach Erdöl und der Aufbau eines neuen Wirtschaftszweiges waren zu kostspielig für Frankreich, das
daraufhin viele Staatsbetriebe teilprivatisieren musste. Außerdem verschaffte sich Frankreich
durch Finanzierungsgesellschaften noch mehr Geld. Internationale Konzerne hielten sich weitestgehend vom Saharaöl fern, da die französische Regierung strenge Auflagen vorsah und
nur das Know-How dieser Kompanien wollte, jedoch nicht ihre Konkurrenz. Hartmut Elsenhans spricht deswegen von einer „nationalpetrolistischen Strategie“ 69 , die Frankreich im
Energiesektor weitgehend autark gemacht hätte. Der Staat kooperierte also mit den französischen Konzernen um diese Strategie zu verwirklichen. Im Endeffekt konnte das Öl jedoch nur
begrenzt genützt werden, weil einerseits die chemische Zusammensetzung des Erdöls nicht
des Bedarfs der französischen Wirtschaft, die hauptsächlich nach Heizöl verlangte, entsprach
und andererseits auch in Libyen Öl gefunden wurde, das näher an der Küste lag. Aus diesem
Grund musste der Staat mit dem internationalen Kartell zusammenarbeiten, um das eigene
Erdöl zu verkaufen.
Nach dem Krieg wurde der neue Staat Algerien von Frankreich bei der Erdölproduktion unterstützt, bis dieser eine eigene Wirtschaft aufbauen konnte. Die Gasvorkommen konnten in
den 50er Jahren nur schwierig transportiert werden und blieben deshalb fast unbedeutend.
66
Vgl. ebd., S. 202f.
Vgl. ebd., S. 207f.
68
Vgl. ebd., S. 213
69
Ebd., S. 235f.
Die nationalpetrolistische Strategie sah eine staatliche Förderung der Ölvorkommen mit Hilfe der französischen Privatwirtschaft vor. Ausländische Konzerne sollten wenn möglich nicht an der Ausbeutung teilnehmen.
67
17
3.2.5. Demographische Entwicklung und Berufsverteilung
Ab dem späten 19. Jahrhundert und vor allem nach den Weltkriegen konnte sich die Modernisierung auch in Algerien durchsetzen. Durch neue Maschinen wurde die Agrarwirtschaft weniger arbeitsintensiv, und es konnte zugleich mehr produziert werden. So gab es zwischen
1954 und 1959 z.B. einen Rückgang der Arbeitsplätze im 1. Sektor um 300 000 Beschäftigte.70 Doch was sollte mit den Feldarbeitern geschehen? Es waren keine Fabriken vorhanden,
um Arbeitslosen eine neue Arbeit zu geben. Aus diesem Grund kam es zu zwei Entwicklungen der algerischen Gesellschaft: einerseits einer europäischen und andererseits einer autochthonen Entwicklung.
Die europäischen Siedler waren zum Großteil als Kleinbauern nach Afrika gekommen, ihre
Höfe wurden aber bald aufgekauft. Einige wenige waren Großgrundbesitzer, die hohe Einnahmen erzielten. Kurze Zeit war der Rest der Europäer auch als Feldarbeiter tätig, doch
schnell wurden die Einwanderer durch billigere, einheimische Arbeitskräfte ersetzt und diese
durch Maschinen. Doch eine Industrie konnte, ja durfte gar nicht aufgebaut werden, um die
koloniale Arbeitsteilung nicht zu ändern. Deswegen wurde ein überdimensional großer dritter
Sektor aufgebaut und die Industrialisierung mehr oder weniger übersprungen, was üblich für
ein Kolonialland war und was auch später in vielen Ländern der „Dritten Welt“ praktiziert
wurde. Es wurden aber nicht so viele Dienstleistungen benötigt, wie vorhanden waren. Ab
diesem Zeitpunkt wurde das Kolonialsystem für den Staat kostspielig. Die Arbeitsteilung
konnte nur dann funktionieren, wenn es einen Absatzmarkt gab. Doch ohne Lohn, konnten
selbst die Europäer keine französischen Waren mehr kaufen. Nun musste die Metropole eingreifen und die Verwaltung in Algerien teilweise vergrößern und vor allem mit Algerienfranzosen besetzen. Somit wurde eine rassistische Berufsverteilung aufgebaut. Frankreich und vor
allem die europäische Herrschaftsschicht besetzten Posten im 3. Sektor hauptsächlich mit
Europäern und machten es den Moslems fast unmöglich, Arbeit in öffentlichen Betrieben zu
finden. Die Angestellten wurden daraufhin zur größten Gruppe der europäischen Erwerbstätigen in Algerien.71 Diese Tatsache führte auch zu verstärktem Rassismus der Siedler. Da ihre
Arbeitsposten keine zu hohen Fähigkeiten voraussetzten, waren sie mehr oder weniger durch
die Araber und Berber ersetzbar. Nur die koloniale Situation, nur die rassistische Trennung
70
71
Vgl. ebd., S. 109
Vgl. ebd., S. 112
18
zwischen Europäern und Moslems hielt die Siedler „oben“. Sie wurden somit Nutznießer des
Systems – sie hatten Arbeit, ohne einen Konkurrenzkampf zu fürchten.
Die zweite Entwicklung, die durch die Folgen der Modernisierung erkennbar wurde, war die
Massenarbeitslosigkeit der autochthonen Bevölkerung, und die Entstehung eines Proletariats
an den Rändern der Städte. So gab es 1955 eine Million Arbeitslose und die Stadtbevölkerung
wuchs von 1900 bis 1959 fast um das 10-Fache an. 72 Diese Bevölkerungsgruppe waren nun
weder Bauern noch Arbeiter und mussten somit meist als Tagelöhner ihr Geld verdienen. Natürlich gab es einige Aufsteiger, auch unter Moslems. Diese waren vor allem als Handwerker
und Händler, die 1955 6% der erwerbstätigen Moslems darstellten73, beschäftigt. Trotzdem
erreichten sie fast nie das Lohnniveau eines durchschnittlichen Siedlers.
Die Unausgewogenheit zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten wird noch deutlicher,
wenn man die Einkommensverteilung in Algerien betrachtet. In den 50er Jahren erhielten
10% der Siedler 34% des „algerischen Gesamteinkommens“.74
Ein großer Teil der Moslems blieb trotz der Landflucht Landarbeiter, doch konnten sie die
durch eine Bevölkerungsexplosion stark steigende Masse nicht länger versorgen. So halbierte
sich die Nahrungsversorgung zwischen 1871 und 1940 pro Kopf. 75 In weniger als 100 Jahren
Kolonialherrschaft kam es zu einer Verdoppelung der algerischen Bevölkerung. Das Wachstum der autochthonen Bevölkerung lag drei Mal höher als das der europäischen Einwanderer,
also bei mehr als 3%.76 Dies könnte ein weiterer Grund für den zunehmenden Rassismus der
Siedler sein, da sie um ihre Existenz fürchteten.77 Diese Bevölkerungszunahme verschlechterte natürlich die Situation und verstärkte die Spannung bis zum Unabhängigkeitskrieg.
Während des 1. Weltkrieges kam es zu einer dritten Entwicklung, die nicht mit der Modernisierung der Landwirtschaft zusammenhing. Es wurden Arbeitskräfte in der Metropole gebraucht, da die Arbeiter an der Front waren, die Kriegswirtschaft aber einen Ersatz brauchte.
Also wurden verstärkt algerische Männer nach Frankreich geholt. Diese hatten stark mit den
Vorurteilen der Franzosen zu kämpfen und vor allem mit den französischen Frauen, denn sie
sahen die Moslems als Konkurrenz für ihre Männer an, die an der Front kämpften und nach
dem Krieg keinen Platz mehr in der Industrie finden würden, da ja die Moslems diese Arbeit
72
Vgl. ebd., S. 111
Vgl. ebd., S. 113
74
Ebd., S. 114
75
Vgl. ebd., S. 107
76
Vgl. ebd., S. 93
77
Diese Existenzangst und dieser Rassismus werden im Kapitel 3.2.6.2. näher beschrieben.
73
19
bereits besetzt hätten. Trotzdem konnte sich im Mutterland eine erste organisierte algerische
Arbeiterschaft samt Gewerkschaften bilden, die ein wichtiges Sprachrohr des Nationalismus
war. Frankreich verabsäumte jedoch wieder die Gelegenheit, diese Arbeiter an sich zu binden,
da sie wieder diskriminiert wurden und zum Beispiel vom Sozialsystem ausgeschlossen wurden. Deshalb blieben die algerischen Arbeiter weiterhin mit der Heimat solidarisch und
schickten auch Geldbeträge nach Algerien, um ihre Verwandten zu unterstützen.78
3.2.6. Veränderungen der algerischen Gesellschaft durch die Kolonialherren
Die selbstauferlegte „Aufgabe“ der französischen Kolonialherrschaft, nicht nur in Algerien,
sondern auch in anderen Kolonien, war eine zivilisatorische. Denn „Frankreich kolonisiert[e]
nicht, es zivilisiert[e]“79. Dieses Selbstverständnis zog sich durch das ganze zweite französische Kolonialreich. Zunächst klang solch ein Auftrag, zumindest wenn er erfüllt worden wäre, sicher viel harmloser als das ewige „Kolonisieren“, doch wenn man heute den verborgenen
Rassismus hinter diesem Ausspruch erkennt, lässt sich das „Kolonisieren“ nicht mehr vom
„Zivilisieren“ unterscheiden. „Man muss offen sagen, dass die überlegenen Rassen 80 ein
Recht gegenüber den unterlegenen Rassen besitzen. (…) Denn sie haben eine Pflicht, jene, die
unterlegenen Rassen zu zivilisieren.“81 Dieser Teil einer Rede vor dem französischen Parlament 1885 von Jules Ferry, einem bedeutenden Kolonialpolitiker der Dritten Republik, zeigt,
wie das „Zivilisieren“ wirklich zu verstehen war. Man wollte keinen regen Kulturaustausch
oder auch nicht versuchen, die autochthonen Bevölkerungsgruppen mit Bildung zu unterstützen. Nein, viel wichtiger war es diesen „unterlegenen Rassen“ ein französisches Weltbild, die
französische Sprache aufzuzwingen. Doch dies ging nur, weil die französische Kultur der
fremden, „niedrigeren“ Kultur weit „überlegen“ schien. Dieses chauvinistische Denken82 war
aber kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in fast allen Ländern Europas vorhanden, die
Zugang zu Kolonien hatten oder zumindest kleinere Völker unterdrückten. Es kam natürlich
nicht zu systematischen Säuberungen im französischen Kolonialreich, aber trotzdem gab es
Massaker auf Grund dieser rassistischen Haltung.
Die nächsten Seiten werden die rassistischen Züge der französischen Kolonialherrschaft in
Algerien näher erläutern.
78
Vgl. ebd., S. 127
Epting, K., 1952, zitiert nach Wohlt, Klaus: „Gloire à la plus grande France“. In: Praxis Geschichte.1/93 S.20
80
Der Ausdruck „Rasse“ wird bewusst nur in Anführungszeichen und als Zitat verwendet, da dieser Begriff historisch belastet ist und seine Verwendung deswegen nicht unterstützt wird.
81
Jules Ferry, 1885, zitiert nach Schmid Bernhard 2006, S.46f.
82
Chauvinismus beschreibt ein Überlegenheitsgefühl eines Volkes gegenüber einem anderen Volk. Das andere Volk wird als
unterlegen, als „unzivilisiert“ angesehen und wird teilweise brutal unterdrückt.
79
20
3.2.6.1. Bildungswesen während der Kolonialzeit
Als Algerien 1830 erobert wurde, waren die Araber zwar noch lange nicht so stark entwickelt
wie die Franzosen, doch trotzdem konnte man nicht davon ausgehen, ein ungebildetes, ein
unzivilisiertes Volk vorzufinden. Denn es gab schon weit verbreitet soziale Einrichtungen.
Wohl eine der wichtigsten Einrichtungen eines Volkes, eines Staats war und ist das Bildungswesen. Auch in Algerien gab es bereits ein relativ gutes Bildungssystem. General Valazé bestätigte diese Tatsache 1834, also kurz nach den ersten Eroberungen, mit folgender Aussage. „Fast alle Araber können lesen und schreiben. In jedem Dorf gibt es zwei Schulen.“83
Ein kleiner Zeitsprung: 1954 besuchen nur 19% der Moslems die Grundschule. 84 Wie konnte
sich das Bildungsniveau nach 120 Jahren so drastisch ins Negative wenden? Es wurden während der Kolonialherrschaft weiterhin Schulen gebaut, aber nicht für Araber. Die meisten Bildungseinrichtungen waren französische und wurden nur für Europäer in Ballungsräumen errichtet. In den islamischen Gebieten gab es kaum Infrastruktur und arabische Schulen wurden
nur selten erlaubt, da Frankreich eine „politische Mobilisierung“ fürchtete.85 Außerdem wären
die gebildeten Araber und Berber eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geworden, da zwischen Europäern und Algeriern kein arbeitsrelevanter Unterschied mehr gewesen wäre. Aus
diesem Grund gab es natürlich kaum gebildete Moslems und es konnte sich keine prowestliche Elite bilden, die Frankreich unterstützt hätte. Ohne Schulen konnten die Araber,
selbst wenn sie wollten, nicht „zivilisiert“ werden. Eine Anpassung, eine Milderung der
Spannungen hätte vor allem im Bereich der Bildung stattfinden können, doch wurde diese
Chance von Frankreich versäumt. Bernhard Schmid spricht zu Recht von einem „Volk der
Analphabeten“86.
Diese Verschlechterung des Bildungswesens führte auch zu einem Kulturverlust. Die eigene
Sprache wurde, wenn man Zugang zur Bildung hatte, durch die französische ersetzt und die
arabische Sprache verschwand fast vollkommen als Schriftsprache. Das algerische Volk
musste sich entwurzelt, desillusioniert gefühlt haben. Die eigene Kultur wurde erstens durch
eine fremde ersetzt und diese wurde zweitens kaum gelehrt. Dies war natürlich auch ein großes Problem für die FLN nach Erlangung der Unabhängigkeit, da keine ausgebildeten Fachkräfte vorhanden waren und man sich auf die französische Sprache als Schriftsprache meist
stützen musste.
83
General Valazé, 1834, zitiert nach Hartmut Elsenhans, 1974 S.89 (vgl. Fußnote 15)
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 115
85
Ebd., S. 115
86
Schmid, Bernhard, S.29
84
21
3.2.6.2. Rassismus und Integrationsbemühungen
Der rassistische Charakter der algerischen Gesellschaft war nicht geprägt von einer öffentlichen Abgrenzung, wie in den USA in den 50er Jahren. Muslime und Christen lebten meist
friedlich als Nachbarn nebeneinander. Vor allem in der relativ ruhigen Phase nach dem großen Aufstand in der Kabylei gab es auf beiden Seiten kaum Übergriffe. Es gab weder eine
räumliche Trennung – sie hatten meist in den Städten direkten Kontakt – noch eine erkennbare Abneigung gegenüber den Nachbarn. 87 Natürlich hatten die Europäer mit der Landbevölkerung wenig zu tun, weil sie hauptsächlich in den Städten wohnten, aber mit der Händlerschicht und den Tagelöhnern gab es einen regen Kontakt. Es kam auch selten zu Mischehen,
diese waren aber nur bei den wenigen, assimilierten Arabern und Berbern möglich. 88 Der rassistische Charakter zeigte sich viel mehr in einer generellen Abneigung gegenüber der muslimischen Masse. Der Nachbar, die Muslime, die man wirklich kannte, waren gern gesehene
Mitbürger. Doch hatten die Europäer auf Grund ihrer Position in der algerischen Gesellschaft
Angst, von der autochthonen Masse verdrängt zu werden. So war der Rassismus ein wohl
bewusster Schutzmechanismus der Siedler, um ihre Stellung zu wahren. Die Diskriminierung
war aber nicht immer nur von den Siedlern initiiert. Es gab aber auch den „Code de
l’indigénat“, ein Gesetz des Staates Frankreich, das in allen Kolonien galt. So wurden den
Eingeborenen die letzten Bürgerrechte auch juristisch entzogen und ein Eingeborener konnte
wegen Vorfällen bestraft werden, die ein Bürger Frankreichs gar nicht begehen hätte können.
Bernhard Schmid gibt hier als Beispiel „die Verweigerung (…) von Zwangsdiensten“ an. Ein
Bürger der Metropole konnte nicht zu Zwangsdiensten verpflichtet werden und somit diese
auch nicht verweigern oder für solche Verweigerungen bestraft werden. 89 Die autochthone
Bevölkerung wurde somit auch vor dem Gesetz mehr oder weniger zum „Mensch zweiter
Klasse“ degradiert. Erst 1944 wurde dieses Gesetz von Charles de Gaulle 90 abgeschafft.91
Die einzige Möglichkeit, dieses rassistische Denken zu beseitigen, wäre eine schnelle Industrialisierung des Landes gewesen, wo es genug Arbeitsplätze für Moslems und Christen gegeben hätte. Da diese jedoch nie stattfand, war der Rassismus vorherrschend.
Trotz oder vielleicht sogar wegen des französisch-europäischen Rassismus kam es zu Integrationsbemühungen seitens der autochthonen Bevölkerung. Doch diese Assimilation wurde zu87
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S.123f.
Vgl. ebd., S.125
89
Schmid, Bernhard, S.26
90
Charles de Gaulle war Führer des französischen Widerstandes im 2. Weltkrieg und war von 1944 - 1946 Chef der provisorischen Regierung Frankreichs. 1958 wurde er mit der Bildung einer Regierung beauftragt und war von 1959 bis 1969 Präsident Frankreichs. Er war außerdem Begründer der 5. Republik und beendete den Algerienkrieg.
91
Vgl. Naylor, Phillip C. (1994): „Code de L'Indigénat“. http://www.answers.com/topic/code-de-l-indig-nat (Stand: 16. 11.
2008)
88
22
allererst durch die mangelnde Schulbildung behindert, weil ja ein grundlegender Schritt Richtung Integration die Erlernung der neuen Sprache war. Auch viele Weltkriegsteilnehmer hätten durch die Waffenbrüderschaft mit den Franzosen ein gemeinsames Nationalgefühl entwickeln können, jedoch verpasste die französische Armee diese Chance, da versprochene Leistungen selten gehalten wurden.92 Die wenigen Algerier, die sich wirklich assimilieren konnten, wurden aber ebenso diskriminiert und z.B. in Berufen benachteiligt. Außerdem widersprechen sich die Ideale Frankreichs, wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, mit der Situation in Algerien und der Lage der Moslems. So blieben selbst die assimilierten Einheimischen
mit der großen Masse der Bevölkerung solidarisch und wurden von Frankreich nicht an sich
gebunden. 93
Die Metropole selbst wollte eigentlich eine Gleichstellung der einzelnen Bevölkerungsgruppen, aber die europäische Minderheit konnte sich erfolgreich gegen Beschlüsse aus dem Mutterland wehren, da sie in politischen Parteien Frankreichs teilweise starken Einfluss hatte.94
3.3. Das koloniale System und die Ursachen des Unabhängigkeitskrieges
Durch die aufgezählten Beispiele lässt sich jetzt in den meisten Belangen Algeriens ein koloniales System entdecken, das nicht von einer „Partei“ – also zum Beispiel den Siedlern,
Frankreich oder den Muslimen – beherrscht werden konnte, sondern viel mehr eine wechselseitige Beziehung zwischen den „Parteien“ widerspiegelte. Die Großgrundbesitzer, französische Industrielle, sowie die europäischen Siedler waren die Nutznießer dieses Systems. Die
großen Verlierer dieser kolonialen Arbeitsteilung, also dass Algerien Rohstoffe exportierte
und Industriegüter importierte, waren die Araber und Berber. Zu den Gewinnern und Verlierern zugleich zählte aber auch die jüdische Bevölkerung. 95 Trotz einiger Bemühungen des
Mutterlandes, das teilweise versuchte die Lage in Algerien zu verbessern, änderte sich bis
zum Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges fast nichts. Das koloniale System war also kaum
veränderbar, außer durch eine komplette Umgestaltung der algerischen Gesellschaft, die mit
riesigen finanziellen Mitteln hätte bezahlt werden müssen und deren Erfolg hätte bezweifelt
werden müssen. Die Diskriminierungen und die algerischen Arbeiter in Frankreich, die mit
den französischen Idealen in Verbindung kamen, führten zu einem algerischen Nationalismus.
92
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S.129f.
Vgl. ebd., S.131
94
Vgl. ebd., S.134
95
Obwohl sie mit starkem Antisemitismus zu kämpfen hatten, wurden sie zunächst trotzdem nicht ebenso vehement wie
die restliche autochthone Bevölkerung unterdrückt. Erst durch das Vichy-Regime wurden sie verfolgt und ihre Vorteile, die
sie durch das Décret Crémieux erhalten hatten, wieder rückgängig gemacht. Nach der Invasion der Alliierten in Afrika bekamen sie wieder die vollen Bürgerrechte. Auf die Zeit des faschistischen Vichy-Regimes wird jedoch in dieser Arbeit nicht
näher eingegangen. Siehe Schmid, Bernhard: Das Koloniale Algerien – Münster 2006. S. 83ff
93
23
Es gab nur wenige mit Frankreich zufriedene Muslime, aber eine breite Front von wütenden
Einheimischen. Die Verbundenheit des algerischen Volkes war nur durch die „gemeinsame
Knechtschaft“ zu Stande gekommen. Sie waren „Menschen zweiter Klasse“, die auf ihren
Menschenrechten beharren wollten. Diese Spannung, dieses Bestreben nach Gleichstellung
sollte ab dem 20. Jahrhundert und bis in die 50er Jahre stetig ansteigen und sich dann im Unabhängigkeitskrieg entladen.
4. Der Unabhängigkeitskrieg
Der Unabhängigkeitskrieg war eine logische Folge des Kolonialismus, seiner kolonialen Arbeitsteilung und des französischen Chauvinismus. Vor allem die Tatsache, dass europäische
Siedler in Algerien lebten, führte zum Krieg. In anderen Bereichen des französischen Kolonialreichs, wo es nur eine sehr kleine europäische Bevölkerung gab, verlief die Entkolonialisierung schneller bzw. ganz friedlich. 96 Das wichtigste Bestreben der kolonialen Macht, also
Frankreichs, war die Arbeitsteilung und gewisse militärische Rechte zu behalten. So war eine
Unabhängigkeit teilweise für Frankreich sogar ökonomisch sinnvoller. Das koloniale System
wurde durch den offenen Welthandel immer ineffizienter, da die Rohstoffe der Kolonien
manchmal zu teuer waren und weil durch Abbau der Zölle kein eigener Absatzmarkt mehr
benötigt wurde. Dieses koloniale System sollte durch einen „Neokapitalismus“ 97 ersetzt werden, der zwar die ökonomische und politische Vorherrschaft der ehemaligen Kolonien erhalten sollte, aber zugleich eine Souveränität der Länder erlaubte. Die Situation in Algerien ließ
jedoch eine solche Änderung des kolonialen Systems nicht zu. So musste es leider zu einem
Konflikt kommen, da die französischen Siedler, wie im Kapitel 3 schon beschrieben wurde,
ihre gesellschaftliche Stellung nur durch den Rassismus aufrecht erhalten konnten und somit
auf die politische Souveränität Frankreichs angewiesen waren. Außerdem konnte die durch
den 2. Weltkrieg angeschlagene, französische Wirtschaft keine Industrialisierung Algeriens
aufbauen, um genügend Arbeitsplätze für beide Bevölkerungsgruppen zu schaffen. Im Folgenden werden die algerische Unabhängigkeitsbewegung und der Krieg und seine Auswirkungen näher erläutert.
96
So verlief zum Beispiel die Entkolonialisierung in Marokko und Tunesien wesentlich schneller als in Algerien, wo die Unabhängigkeitsbewegung früher begann und später ihr Ziel erreichte. In Burkina Faso wurde die Unabhängigkeit über politische Reformen erreicht.
97
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 355ff.
24
4.1. Die Geschichte des algerischen Nationalismus
Der algerische Nationalismus entstand auf Grund der großen algerischen Minderheit in Frankreich, die ab dem 20. Jahrhundert durch Zuwanderung stetig wuchs. Diese Einwanderer waren
einerseits mit Rassismus der Bevölkerung der Metropole, aber andererseits auch mit den französischen Idealen und Werten konfrontiert. Die nationalistischen Arbeiter, die sich ab 1923
formierten, wollten ein freies und unabhängiges Algerien. Unter den algerischen Nationalisten
gab es jedoch verschiedene Meinungen. So vertraten die algerischen Immigranten in Frankreich radikalere Ansichten, als die algerische Bevölkerung. Die autochthone Bevölkerung
wollte zunächst die aktuelle Situation verbessern und strebte nicht die sofortige Unabhängigkeit an. 98 Die Arbeiter in Frankreich formierten sich unter Messali Hadj, der ein Gründungsmitglied einiger kleinerer Parteien war, die jedoch meist wieder von der französischen Regierung verboten wurden. Er selbst wurde später auch festgenommen. 99 Ungefähr zur gleichen
Zeit entstanden erste nationalistische Bewegungen in der Kolonie. Ferhat Abbas, ein gemäßigter Politiker, der aus der kleinen muslemischen Elite stammte, war einer der wichtigsten
Vertreter dieser Bewegungen. Er war Mitbegründer der „Union Populaire Algérienne“ einer
ersten größeren nationalen Partei, die jedoch nie zu einer Massenbewegung werden konnte. 100
Während des 2. Weltkrieges wurde die einheimische Bevölkerung zwar in der algerischen
Versammlung leicht gestärkt, trotzdem waren sie proportional stark untervertreten. Gleichzeitig wurde der Code de l’indigénat, der im Kapitel 3.2.6.2. beschrieben wird, abgeschafft und
rein juristisch gesehen gab es keine Unterschiede mehr zwischen der autochthonen Bevölkerung und den Algerienfranzosen. Die Lage konnte sich aber nicht bessern, da sich realpolitisch nichts geändert hatte und die Moslems noch immer in der Versammlung unterrepräsentiert waren. Aus diesem Grund schlossen sich fast alle nationalistischen Kräfte zusammen.
Bei diesem „Bündnis“ konnte sich die von Messali Hadj gegründete „Parti du peuple algérien“(PPA), die die Unabhängigkeit forderte, gegen die gemäßigtere Linie Abbas durchsetzen.101 Durch die Eskalation der Lage in Sétif, die später noch näher beschrieben wird, hatte
der Nationalismus verstärkten Zulauf. Beide Fronten, also die nationalistische und die kolonialistische, verhärteten sich nach diesem Konflikt. Die PPA begann daraufhin mit dem politischen Kampf gegen Frankreich. Zugleich bildete sich ein militärischer Flügel, der jedoch bald
von der Polizei aufgedeckt wurde und dessen Führungsmitglieder verhaftet wurden. Die Par-
98
Vgl. ebd., S. 139
Vgl. ebd., S. 140
100
Vgl. Schmid, Bernhard, S. 42
101
Vgl. ebd., S. 88
99
25
tei zerfiel relativ schnell, da Messali Hadj einen zu autoritären Kurs führte, der von den restlichen Führungspersönlichkeiten nicht unterstützt wurde.102
Eine kleine Gruppe, die sich aus den Bruchstücken der PPA herausbildete, beschloss im Juni
1954 den bewaffneten Aufstand. Diese „22 Aktivisten“ tauften ihre Organisation am 23. Oktober 1954 Front de libération nationale (FLN) und begannen am 1. November 1954 den algerischen Unabhängigkeitskrieg. 103 Viele Autoren104 sprechen von einer Krise des Nationalismus in der „eine kleine Gruppe […] den Aufstand“105 begann. Die meisten der Mitglieder
waren jung und entschlossen, mit Gewalt die Unabhängigkeit zu erlangen.
Während des Algerienkrieges kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den
verschiedenen nationalistischen Strömungen. Vor allem zwischen der FLN und den Anhängern Messali Hadjs kam es zu einem regelrechten Kleinkrieg innerhalb der Nationalisten.
Beide Bewegungen sahen sich als rechtmäßige Vertreter des algerischen Volkes und kämpften um den Führungsanspruch. Nach französischen Angaben erforderte dieser Konflikt, der
vor allem in Frankreich stattfand, ca. 4000 Tote.106
4.2. Massaker von Sétif und Guelema
Das Massaker von Sétif war eine erste Eskalation der Lage in Algerien nach dem 2. Weltkrieg.107 Am 8. Mai 1945 kam es während Feiern zum Ende des 2. Weltkrieges zu Gewalttaten gegen muslemische Algerier. Bei einem Umzug zu Ehren der Soldaten des Krieges in
Sétif108 wurden von Einheimischen Unabhängigkeitsparolen gerufen und auch die algerische
Fahne wurde – ebenso wie die Fahnen der Alliierten – gezeigt und getragen. Die Polizei forderte die Entfernung des algerischen Nationalsymbols, aber die Nationalisten widersetzten
sich. Die Demonstranten wehrten sich teilweise auch handgreiflich. Doch erst durch einen
Schuss, der von einem Polizisten abgegeben wurde und der einen jungen Algerier tötete,
spitzte sich die Situation zu. Die Masse der algerischen Teilnehmer der Demonstration wurde
von der Polizei gehindert den Demonstrationszug fortzuführen und wurde mit Gewalt aufgelöst. Trotzdem entluden sich der aufgestaute Zorn und die Entrüstung der Menge an der europäischen Bevölkerung, verschiedenen Einrichtungen und Polizisten.109 Am gleichen Tag gab
es auch in Guelema, einer östlich von Sétif gelegenen Stadt, einen Demonstrationszug. Hier
102
Vgl. ebd., S. 99ff.
Vgl. ebd., S. 104 und S. 115
104
Hartmut Elsenhans, Frank Renken und Bernhard Schmid sind als solche Autoren zu nennen.
105
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 142
106
Vgl. Schmid, Bernhard, S. 42
107
Das Ende des Zweiten Weltkriegs bezieht sich hier auf das europäische Kriegsende.
108
Sétif ist eine mittelgroße Stadt in Nordostalgerien.
109
Vgl. ebd., S. 90
103
26
wurden ebenfalls die Nationalisten aufgefordert die Fahnen zu entfernen, doch hier begann
die Polizei noch schneller zu schießen als in Sétif. In Guelema kam kein Europäer ums Leben,
da die Masse der Demonstranten schnell unter „Kontrolle“ gebracht werden konnte. 110 Es
kam schnell zu rigorosen Vergeltungsmaßnahmen der Algerienfranzosen, die Milizen bildeten
und teilweise sogar italienische und deutsche Kriegshäftlinge bewaffneten, um Massenerschießungen durchzuführen. 111 Selbstjustiz wurde toleriert und es wurden von der Miliz, dem
Militär und der Polizei Sondergerichte eingeführt, die die gewalttätigen Ausschreitungen quasi „legalisierten“. 112 Als sich die autochthone Bevölkerung schließlich zu wehren begann,
wurde auch die französische Armee herangezogen, die an den Racheakten der europäischen
Bevölkerung teilnahm. 113 Es wurden Massengräber errichtet und Leichen verbrannt, um ein
weltweites mediales Echo zu verhindern. Die stärksten Repressionen dauerten mehr als zwei
Wochen, und selbst nach einigen Monaten gab es noch Gewaltakte gegen die muslimische
Zivilbevölkerung. 114 Die algerischen Nationalisten waren noch nicht bereit, um sich geschlossen gegen die Kolonialmacht zu stellen und die Führungsmitglieder ihrer Parteien wurden
entweder verbannt oder eingesperrt und die meisten nationalistischen Parteien wurden verboten, auch wenn sie keine revolutionären Meinungen vertraten und nur Reformen anstrebten. 115
Wahrscheinlich wurden bei den muslemischen Aufständen 102 Europäer getötet und ca.
ebenso viele verletzt. Diese Zahl gilt als relativ gründlich bewiesen. Doch bei den Todeszahlen der algerischen Opfer waren sich französische, amerikanische und algerische Quellen
„uneinig“. So sprachen offizielle französische Untersuchungskommissionen von ca. 1000 bis
1500 ermordeten autochthonen Algeriern. Algerische und amerikanische Berichte sprechen
jedoch von 45000 Todesopfern während der Massaker nach dem 8. Mai. Wobei es hinzuzufügen gilt, dass letztere Zahlen wohl der Realität näher liegen als die französischen Angaben zu
den Massakern. 116 Erst 2005 sprach ein offizieller französischer Repräsentant von einer „unentschuldbaren Tragödie“. 117 Bis jetzt wurde aber dieses Massaker, ebenso wie der Unabhängigkeitskrieg noch kaum verarbeitet. Weder in französischen Schulen noch in der Öffentlichkeit werden Franzosen mit diesem Teil ihrer Vergangenheit konfrontiert. 118
110
Vgl. ebd., S. 91f.
Vgl. ebd., S. 95 / vgl. ebenfalls: Elsenhans, Hartmut, S. 142f.
112
Vgl. Schmid, Bernhard, S. 92ff.
113
Vgl. ebd., S. 95
114
Vgl. ebd., S. 93f.
115
Vgl. ebd., S. 98
116
Vgl. ebd., S. 96f. / vgl. ebenfalls: Elsenhans, Hartmut, S. 142
117
Colin Verdière, Hubert, 2005, zitiert nach Schmid, Bernhard: Das koloniale Algerien – Münster 2006. S. 98
118
Vgl. Lemaire, Sandrine: Der Algerienkrieg in den französischen Schulbüchern. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken,
Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 123 -137. – Frankfurt/Main 2006. S. 129
111
27
4.3. Der Krieg
Am 1. November 1954 begann mit einer Reihe von Anschlägen der FLN der Algerische Unabhängigkeitskrieg. Er sollte das Land in den folgenden acht Jahren stark destabilisieren,
Frankreich aus Algerien vertreiben und Tausende von Opfern fordern. Einen speziellen Auslöser bzw. Anlass für diese Anschlagsserie gab es zwar nicht, doch eine Vielzahl an Ursachen, die in den vorhergehenden Kapiteln beschrieben wurden. Die FLN wollte die „Gunst
der Stunde“ nützen und Frankreich während starker innenpolitischer Probleme und anderen
Kolonialkriegen angreifen und destabilisieren. So war einige Monate zuvor der 1. Indochinakrieg mit dem Genfer Abkommen119 beendet worden. Hätte die FLN zu lange gewartet, hätte
Frankreich sein gesamtes militärisches Potential in Algerien bündeln können. 120 Es kam am 1.
November während der Anschläge auf verschiedene koloniale Einrichtungen bereits zu einigen Todesopfern. Trotz dieser, gemessen an der späteren Härte des Algerienkrieges, relativ
kleinen Anschlagsserie wird dieser Tag als Beginn des Krieges gesehen. Militärisch hatte die
FLN zumindest kaum Vorteile durch diesen Angriff erlangt,121 da das französische Militär
kaum geschwächt wurde oder sonst irgendwelche strategischen Punkte vernichtet werden
konnten. Am 10. Dezember wurden erste militärische Verstärkungen nach Algerien geschickt,
um die Lage zu stabilisieren und die Unruhe im Keim zu ersticken. 122 Anfang 1955 bemühte
sich die französische Regierung, die FLN politisch zu isolieren und mit anderen nationalistischen Parteien zu verhandeln, doch scheiterten diese Verhandlungen auf Grund der Unnachgiebigkeit der europäischen Siedler. 123 Aus diesem Grund und da die Repressionen der Kolonialmacht im Verlauf des Krieges immer stärker wurden, sahen viele gemäßigtere Nationalisten die Chance auf Unabhängigkeit nur mehr durch den Krieg der FLN.124 Bis Februar 1955
wurde die FLN fast besiegt, doch durch die Unterstützung des Volkes konnten die Unabhängigkeitskämpfer sich wieder organisieren und verstärkt zurückschlagen. 125 Am 1. oder 3. April 1955126 wurde vom Pariser Parlament die Notstandsgesetzgebung in Algerien beschlossen,
um mit voller militärischer Härte durchgreifen zu können. Außerdem wurden erste Internierungslager geschaffen, um politische Häftlinge zu inhaftieren. 127 Am 20. August konterte die
119
Das Genfer Abkommen war ein Waffenstillstand zwischen den Rebellen und der französischen Regierung.
Schmid, Bernhard, S. 115
121
Vgl. ebd., S. 116
122
Die folgenden Jahreszahlen beziehen sich auf „Chronology of events in Algeria (1954–1962)“, die auf dieser EU-Seite zu
finden ist: http://www.ena.lu?lang=2&doc=3375 (Stand: 27. Dezember 2008)
123
Vgl. Schmid, Bernhard, S. 117
124
Vgl. ebd., S. 119ff.
125
Vgl. Renken, Frank: Kleine Geschichte des Algerienkrieges. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 25-50. – Frankfurt/Main 2006. S. 34
126
Bernhards Schmids angeführtes Datum entspricht nicht dem, der Seite http://www.ena.lu/. Bernhard Schmid datiert die
Notstandsgesetzgebung auf den 3. April: vgl. Schmid, Bernhard: ebd., S. 117
127
Vgl. Schmid, Bernhard, S. 117
120
28
FLN bzw. ihr militärischer Flügel und ihre Armee ALN - Armée de Libération nationale – mit
einem großangelegten Aufstand in der Region um Constantine. Bei diesem Aufstand wurde
eine große Menge an Bauern mobilisiert, da die ALN selbst viel zu schwach war, um ein
ernsthafter Gegner Frankreichs in diesem Gebiet zu sein. Generell konnte sich die FLN nur
auf Grund der Unterstützung der autochthonen Bevölkerung durchsetzen. Bei diesem Aufstand wurden 71 Europäer getötet, darunter auch Kinder. Es wurde also nicht Rache an einzelnen Personen genommen, sondern blind an der europäischen Bevölkerung. Auch einige
politische Gegner der FLN, die Algerier und keine Europäer waren, wurden getötet. 128 Die
darauffolgenden Repressionen der Kolonialmacht übertrafen die Opferzahl dieses Aufstandes
bei weitem. Laut französischen Angaben wurden über 1200 Menschen getötet. Die algerischen Quellen bezifferten aber eine 10-mal so hohe Zahl an Todesopfern.129 Diese unverhältnismäßig rigorosen Vergeltungsmaßnahmen führten bei der algerischen Zivilbevölkerung zu
einer verstärkten Einheit und einem einheitlichen Zorn gegen die Kolonialmacht Frankreich.
Zu diesem Zeitpunkt wurde eine Ausgabe der kommunistischen Zeitung L’Humanité, die auf
die Säuberungswellen der französischen Armee hinwies und die eine friedliche Lösung forderte, von den Behörden beschlagnahmt. So kam es auch zu ersten Erscheinungen einer stärkeren Zensur während des Krieges. 130 Ab September 1955 wurde die Algerienthematik auch
auf Ebene der Vereinten Nationen diskutiert, jedoch kam es nie zu einer Verurteilung Frankreichs. 131 Nach 1955 wurde die FLN auch von den beiden anderen Maghrebländern132, die die
Unabhängigkeit erlangten, stärker unterstützt und konnte somit nur mehr schwer von Frankreich besiegt werden. Ab 1956 wurde der Krieg auch in Städten geführt, also in Reichweite
der europäischen Bevölkerung, die so in die Kämpfe involviert war und unter dem Terror der
FLN zu leiden hatte. Die FLN wollte dadurch die Augen der Welt auf sich richten und auf die
Lage in Algerien aufmerksam machen. Außerdem sollten die Siedler beunruhigt werden und
so zum politischen Einlenken gebracht werden. Wahrscheinlich auch auf Grund dieser
Kriegssituation wurde die französische Truppenstärke auf 400 000 Mann erhöht. Teilweise
kämpften sogar 500 000 Soldaten in Algerien. 133 Militärisch gesehen konnte die FLN nie einen Sieg erlangen – zu stark waren Frankreich und seine Armee. Der Unabhängigkeitskrieg
war also geprägt von einer Pattsituation. Die FLN konnte nur über die politische Debatte, die
jedoch nur durch den Krieg in Gang gesetzt werden konnte, die Unabhängigkeit erlangen. Der
128
Vgl. ebd., S. 118
Vgl. ebd., S. 118
130
Vgl. ebd., S. 119
131
Vgl. http://www.ena.lu/ (Stand: 26. 12. 2008)
132
Der Maghreb – Bezeichnung aus dem Arabischen für „der Westen“ – besteht aus Marokko, Algerien und Tunesien und
bezeichnet die Region dieser drei Länder.
133
Encarta Enzyklopädie Professional 2003 „Geschichte - Algerien“
129
29
Algerienkrieg führte zu einer Staatskrise in Frankreich, die den Fall der 4. Republik und die
Machtergreifung Charles de Gaulle zur Folge hatte.134 Trotz teils terroristischer Widerstände
der Algerienfranzosen lenkte Charles de Gaulle ab 1959 ein und machte eine Beendigung des
Konflikts und die Unabhängigkeit Algeriens möglich. Im Februar 1961 wurde die OAS – Organisation de l'armée secrète – gegründet, die eine terroristische Organisation darstellte, die
sich für ein französisches Algerien einsetzte. Sie wurde zur dritten militärischen Partei des
Algerienkrieges und griff sowohl muslimische Kräfte, als auch französische Staatsbürger an.
Die OAS setzte sich aus Siedlern in Algerien und verschiedenen Angehörigen des französischen Militärs zusammen. Sie wollte Druck auf die französische Regierung ausüben, um die
Politik Charles de Gaulles von der Kompromissbereitschaft wegzubewegen. Trotz mehrerer
Anschläge konnte sie die Unabhängigkeit nicht mehr verhindern. Auch die Mehrheit der französischen Bevölkerung des Mutterlandes war für eine Loslösung von Algerien. So sprachen
sich über 75 Prozent der Wähler bei einem Referendum für das Selbstbestimmungsrecht der
Algerier aus. 135 Trotzdem konnte erst nach längeren Verhandlungen bei Evian am 18. März
1962 ein Waffenstillstand zwischen der französischen Regierung und der FLN ausgehandelt
werden. In einem am 1. Juli 1962 stattfindenden Referendum sprach sich die algerische Bevölkerung für die Unabhängigkeit aus. Zwei Tage später akzeptierte Frankreich die Unabhängigkeit Algeriens. Am 5. Juli wurde offiziell die Unabhängigkeit erklärt. Dieser Tag ist seither
ein Feiertag in Algerien. Der Unabhängigkeitskrieg forderte laut algerischen Quellen mehr als
eine Million Menschenleben. Frankreich sprach jedoch „nur“ von 200 000 bis 300 000 Opfern
auf algerischer Seite. Während des Krieges starben 24 000 französische Soldaten 136 und im
letzten Kriegsjahr verließen fast alle europäischen Siedler Algerien, da sie Repressionen der
FLN befürchteten. In den folgenden Unterkapiteln werden mehrere Teilaspekte des Krieges
näher betrachtet.137
4.3.1. Französische Wahrnehmung
In Frankreich war die öffentliche Meinung, aber auch die Politik über den Unabhängigkeitskrieg gespalten. Es gab die unterschiedlichsten Ansichten darüber, ob Reformen sinnvoll waren und wenn ja, wie sie auszusehen hatten. Der französische Staat musste die richtigen Entscheidungen treffen, um einerseits den „Willen“ des Volkes zu bestätigen und andererseits um
die Kontrolle über Algerien zu behalten.
134
Vgl. Kapitel 4.3.2.
Vgl. Renken, Frank, S. 45
136
Vgl. ebd., S. 29
137
Vgl. ebd., S. 48
135
30
Zunächst muss gesagt werden, dass Algerien – historisch gesehen – für Frankreich besonders
bedeutend war. Algerien war zunächst Ausgangspunkt des 2. Kolonialreichs und gleichzeitig
der Brückenkopf nach Schwarzafrika 138, wo die meisten der französischen Kolonien lagen.
Das französische Kolonialbewusstsein war, wie im 3. Kapitel schon erwähnt wurde, ein zivilisatorisches Bewusstsein. Man sah sich als „Lehrer“, der einem „jungen Schüler“ etwas beibrachte. Außerdem fühlten sich die „Festlandfranzosen“ mit den algerischen Europäern verbunden. Ein weiterer wichtiger Punkt war das Großmachtdenken Frankreichs. Bis zum 2.
Weltkrieg war Frankreich eine bedeutende Großmacht und nach dem 2. Weltkrieg nahm die
internationale Bedeutung Frankreichs zu Gunsten der USA und der UdSSR ab. Für Frankreich waren die Kolonien einerseits eine Bestätigung der politischen Interventionsmöglichkeiten und des Großmachtstatus. Aus diesem Grund waren Kolonien wie Algerien wesentlich für
Frankreich, da sie den Einfluss Frankreichs auf der Welt vergrößerten. Diese drei Faktoren
waren der Grund, wieso Algerien nicht schnell fallengelassen wurde.
Die Algerienfranzosen glaubten, die Moslems nur mit Gewalt unterdrücken zu können, denn
„der Kolonisierte“ verstehe „nur die Gewalt“.139 Sie sahen sich als Beschützer der Ordnung,
die die Pflicht hatten, Widerstände zu bekämpfen. Aus diesem Grund war die europäische
Minderheit auch gegen jedes Zeichen der Schwäche und für sie waren Reformen ein solches
Zeichen des Nachgebens.140 Natürlich kann man diese Sichtweise des Algerienkrieges auf die
soziale Ordnung in der Kolonie zurückführen. Reformen hätten die Vorteile der europäischen
Bevölkerung unterminiert und man konnte diese Bedrohung nur mit starker Repression abwenden. Die Algerienfranzosen hatten also keine andere Wahl, als an der alten Ordnung festzuhalten – ansonsten hätten sie sich selbst verneint.
Die Armee sprach von einem „antisubversiven Krieg“141. Die Masse der algerischen Bevölkerung wurde von einer kleinen, revolutionären Minderheit „verführt“ und durch Gewalt und
Propaganda gegen Frankreich aufgehetzt. Frankreich müsse nur geschickt diese kleine Gruppe ausschalten und mit Reformen die Bevölkerung für sich gewinnen. Laut dem Militär musste Vertrauen aufgebaut werden und die Armee sollte als Beschützer der Algerier auftreten, die
138
Schwarzafrika bezeichnete die Gebiete Afrikas südlich der Sahara. Algerien war für Frankreich die Landverbindung in
dieses Gebiet und war somit ein „Brückenkopf“ für weitere koloniale Eroberungen gewesen.
139
Elsenhans, Hartmut, S. 322f.
140
Vgl. ebd., S. 325 ff.
141
Subversive Elemente in einem Staat sind Rebellen, die einen Umsturz planen. Ein antisubversiver Krieg ist also ein Krieg
gegen die aufständischen Elemente im Staat. Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 328 ff.
31
sich vor Anschlägen der Rebellen fürchteten. Auch diese Sichtweise ist erklärbar, denn die
Armee musste mehr oder weniger einen „Sinn“ für diesen Krieg und die Repressionen finden.
Obwohl diese zwei Sichtweisen sicher wohl überlegt waren, trafen sie auf die eigentliche Situation nicht zu. Die algerische Bevölkerung war generell unzufrieden und nicht „betört“ von
einer kleinen Minderheit, sie hätte sich auch aufgelehnt, wenn keine revolutionäre Minderheit
vorhanden gewesen wäre. Große Teile der Bevölkerung des Mutterlandes und auch Teile der
Politik kamen dem eigentlichen Bild schon näher. Sie gestanden gewisse Fehler in der Vergangenheit ein, doch diese waren laut ihnen auf private und lokale Interessen zurückzuführen
– die eigentliche Kolonialherrschaft war nicht „völlig“ negativ zu beurteilen. Hier kam auch
wieder der zivilisatorische Anspruch zur Geltung, denn Frankreich musste das Werk der Zivilisierung in Nordafrika fertigstellen und sah sich als Beschützer dieser Länder. Die französische Bevölkerung sprach sich also für Reformen aus, die langsam den Algeriern Autonomie
gaben. 142 Doch muss gesagt werden, dass diese Ansichten bei vielen Franzosen zwar vertreten
waren, es jedoch trotzdem viele verschiedene Variationen in der genaueren Ausführung dieser
Punkte gab. Vor allem die realpolitische Auslegung der Reformen war ein Diskussionsthema.143 Generell sollte Algerien nach langsamer und jahrelanger Vorbereitung in die Unabhängigkeit entlassen werden. „Frankreich“ war „lediglich“ in der „Rolle eines Geburtshelfers“.
Doch für die Hilfe der Kolonialmacht sollte Algerien mit Frankreich kooperieren. 144 JeanPaul Sartre sprach sich jedoch in seiner Rede „Der Kolonialismus ist ein System“ auch gegen
diese Ansicht aus. Seiner Meinung nach gab es nie gerechte Kolonialherren und Reformen
hätten nichts genützt. Nur eine vollkommene und schnelle Unabhängigkeit kam für ihn in
Frage.145
Neben diesen „Hauptmeinungen“ gab es noch weitere Ansichten von kleineren Gruppen. So
waren liberale Kräfte oft für einen schnellen Rückzug aus Algerien, da das koloniale Prinzip
durch den Welthandel untergraben wurde und somit keine ökonomische Sinnhaftigkeit für
den Krieg gewährleistet war. Doch dieser Rückzug musste auch Opfer mit sich bringen. Deswegen waren sie der Meinung, dass Frankreich die „Opferung eines Teils der Nation“146 in
142
Vgl. ebd., S. 343ff.
Vgl. ebd., S. 349
144
Ebd., S. 353
145
Vgl. Sartre, Jean-Paul, S. 15f.
146
Elsenhans, Hartmut, S. 359 f.
143
32
Kauf nehmen musste. Sie sahen ein, dass man mit der Befreiungsfront verhandeln musste und
sie unterstützten gemäßigtere Kräfte wie Ferhat Abbas. 147
Eine ähnliche Meinung hatten auch Kommunisten und Linke, doch stand hier nicht die ökonomische Sinnhaftigkeit im Mittelpunkt, sondern der antikolonialistische Gedanke. Sie solidarisierten sich mit der Unabhängigkeitsbewegung und wollten diese unterstützen. 148 Vereinzelt kam es sogar zu direkten Hilfslieferungen seitens der Linken. 149
Diese unterschiedlichen Blickwinkel der einzelnen Gruppen in Frankreich machten es natürlich für jede Regierung schwer eine Lösung für den Konflikt zu finden.
4.3.2. Innenpolitik – Fall der 4. Republik
Die 4. Republik war nach dem 2. Weltkrieg gegründet worden. Das System war auf eine starke Legislative aufgebaut. Das große Problem der französischen Innenpolitik war ihre Instabilität. Die Regierungen wechselten oft und konnten auf Grund des Verhältniswahlrechts nur
begrenzt ihre Macht ausüben, da die Parteienlandschaft stark inhomogen war und sich in vielen Bereichen nicht auf Kompromisse einigen konnte. Die vierte französische Republik war
geprägt von kurzen Amtsperioden, Krisen und Niederlagen. Vor allem das Zusammenbrechen
des Kolonialreiches war für viele ein Zeichen der Schwäche der 4. Republik. Es konnte nicht
schnell genug auf akute Probleme wie den Algerienkrieg eingegangen werden, die die Stabilität der Republik gefährdeten. Die Eskalation des Algerienkrieges und die Unfähigkeit der
französischen Regierung, den Konflikt zu lösen und die Lage zu stabilisieren, führten zu Unmut in hohen Kreisen des Militärs. Sie nahmen die Befehlsgewalt in Algerien in eigene Hände und übernahmen die Macht in Algier. Sie wollten die Regierung zum Einlenken zwingen.
Durch den Druck der Armee und die instabile Lage der Republik wandte sich schließlich der
Staatspräsident René Coty150 an Charles de Gaulle und forderte ihn auf, eine neue Regierung
zu bilden. De Gaulle nahm die Aufforderung an und wurde schließlich am 1. Juni 1958 Ministerpräsident. Nun konnte er seine Macht in den folgenden Jahren stark ausbauen. Am 2.
Juni wurden ihm von der Nationalversammlung durch ein neues Verfassungsgesetz Vollmachten übergeben, die ihn zu Verfassungsänderungen befugten. Am 28. September wurde
die neue Verfassung verabschiedet und per Referendum durch das Volk bestätigt. Dies war
zugleich das Ende der 4. Republik und der Anfang der 5. Republik. Die Regierung und der
147
Vgl. ebd., S. 362
Vgl. ebd., S. 362 ff.
149
Vgl. ebd., S. 365
150
René Coty war ein französischer Politiker der Nachkriegszeit, der von 1954 bis 1958 das Amt des Präsidenten der 4.
Republik inne hatte.
148
33
Präsident waren durch diese Verfassung wesentlich gestärkt und handlungsfähiger geworden.
Erst Charles de Gaulle und die von ihm geschaffene 5. Republik waren in der Lage, einen
Weg aus der Krise zu finden.151
4.3.3. Internationale Reaktion und Debatte
Mitte des 20. Jahrhundert war es für Frankreich unmöglich, einen solch vehementen Krieg
vor den Augen der Welt zu bewahren. Aus diesem Grund kam es zu internationalen Debatten,
die jedoch auf Grund des Kalten Krieges begrenzt wurden, Frankreich aber trotzdem in seiner
Strategie beschränkten. Bei diesen Diskussionen versuchten beide Parteien, also Frankreich
und die Befreiungsfront, Bündnispartner zu finden.
Grundsätzlich kann man sagen, dass die blockfreien Staaten mit der FLN sympathisierten und
solidarisch waren, da sie selbst eine antikoloniale Haltung auf Grund der eigenen Geschichte
hatten.152
In dieser Gruppe waren vor allem die umliegenden Nachbarländer und die arabischen Staaten
an einer Lösung des Konflikts interessiert. Sie beriefen sich auf die „arabische Solidarität“153,
also auf ihre gemeinsame Kultur und Religion. Zunächst war Ägypten ein wichtiger Partner
der FLN, da Gamal Abdel Nasser 154 selbst nach der Suezkrise155 einen antiwestlichen Kurs
verfolgte.156 Ägypten wurde jedoch von Marokko und Tunesien als wichtigster Partner der
Befreiungsfront 1956 abgelöst, da in diesem Jahr diese beiden Nachbarn Algeriens an der
Nordküste Afrikas selbst die Unabhängigkeit erlangten. 157 Die Unabhängigkeitsbewegungen
dieser Länder waren jedoch pro-westlich und wurden von Frankreich geduldet. Die zwei
ehemaligen Kolonien wollten aus diesem Grund den gleichen Weg für Algerien „vorschlagen“ und versuchten zwischen der FLN und Frankreich zu vermitteln. 158 Algerien sollte ebenso unabhängig werden und mit Frankreich in engem Kontakt bleiben. Frankreich reagierte
aber auf diese diplomatischen Versuche zu wenig und verpasste die Chance auf eine friedliche
Lösung.159 Die Bevölkerung der zwei Maghrebstaaten sympathisierte mit den Kämpfern der
FLN und lehnte den französischen Kurs ihrer Regierungen ab. Wegen dieses inneren Drucks
151
Vgl. Microsoft Encarta 2009: Frankreich – 7.23. Die Vierte Republik / vgl. ebenfalls:
http://de.wikipedia.org/wiki/Vierte_Franz%C3%B6sische_Republik (Stand: 02.02.2009) und
http://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%BCnfte_Franz%C3%B6sische_Republik (Stand: 02.02.2009), sowie Renken, Frank: ebd.
S.41ff.
152
Sehr viele „Dritte Welt“-Länder sind ehemalige Kolonien. Vor allem in Afrika und Asien lösten sich Mitte des 20. Jahrhunderts die Kolonien von ihren Kolonialmächten ab.
153
Elsenhans, Hartmut, S. 20
154
Gamal Abdel Nasser war von 1954-1970 das Staatsoberhaupt Ägyptens und für den arabischen Raum sehr prägend.
155
Die Suezkrise war ein Konflikt zwischen Frankreich, England und Ägypten um die Vorherrschaft über den Suezkanal.
156
Vgl. ebd., S. 22
157
Vgl. ebd., S. 23
158
Vgl. ebd., S. 27f
159
Vgl. ebd., S. 35
34
wichen der König von Marokko und der Staatspräsident von Tunesien von ihrer prowestlichen Richtung ab und versuchten verstärkt, die algerische Unabhängigkeitsbewegung
zu unterstützen. Vor allem Tunesien stärkte seinen Einfluss auf die FLN. So kam es zu militärischer Zusammenarbeit und zum Aufbau von algerischen Militärbasen in Tunesien. Frankreich antwortete darauf mit einer Verminung der Grenzen und Verfolgung der algerischen
Kämpfer bis nach Tunesien, bis die USA sich gegen diese Kampfmethoden aussprach. Die
algerischen Truppen in Tunesien wuchsen zu einer schlagkräftigen Armee heran und konnten
selbst bei einer absoluten Niederlage der FLN in Algerien trotzdem den Krieg weiterführen.160
Die anderen arabischen Staaten lieferten zwar vereinzelt Hilfslieferungen, beschränkten sich
aber meist auf die moralische Unterstützung, sowie auf diplomatische Hilfe. 161 Auch der
Großteil der Dritten Welt half auf diese Art und Weise der FLN. Wie schon weiter oben erwähnt, waren sie auf Grund der eigenen kolonialen Vergangenheit mit Algerien solidarisch.
Sie hatten jedoch weder die Mittel noch den politischen Einfluss, um entscheidend bei den
Verhandlungen mitzuwirken oder große Hilfslieferungen zu senden. 162 Sie konnten aber
Frankreich so weit zum Einlenken bewegen, dass die Kolonialmacht „wenigstens eine Politik
der Entkolonialisierung [zu] betreiben“ musste.163
Frankreichs Bündnispartner waren natürlich die westlichen Industrienationen und hier das
atlantische Bündnissystem. Frankreich hatte keine Intervention der Sowjetunion zu befürchten
und bekam auch auf diplomatischem Weg teilweise Unterstützung. Doch musste die Kolonialmacht auch Kritik der USA hinnehmen, die eine anti-koloniale Politik betrieben und die die
ehemaligen Kolonien unter amerikanischen Einfluss wissen wollten. Das wichtigste Ziel war
jedoch natürlich die Interessen der UdSSR zu unterbinden. 164 Aus diesem Grund handelten
die USA relativ eigenständig und versuchten, Tunesien durch Waffenlieferungen an sich zu
binden. Außerdem wurde auch direkt Kontakt zur Befreiungsfront aufgenommen. 165 Im Laufe
des Krieges verstärkten sich die Spannungen zwischen Frankreich und den USA. Die USA
schränkten den Handlungsspielraum teilweise ein und wollten die Nachbarländer durch den
Krieg nicht verlieren. Sie sollten weiterhin pro-westlich eingestellt bleiben.166
160
Vgl. ebd., S. 29ff.
Vgl. ebd., S. 37
162
Vgl. ebd., S. 45ff.
163
Vgl. ebd., S. 49
164
Vgl. ebd., S. 50
165
Vgl. ebd., S. 51f.
166
Vgl. ebd., S. 55f.
161
35
Auch in Europa versuchte Frankreich Bündnispartner für sich zu gewinnen. Die Staaten der
EWG167 unterstützten die Kolonialmacht zwar stärker, als die USA dies taten, trotzdem waren
diese gegenüber den französischen Repressionen und Maßnahmen kritisch. 168 Generell war
aber die Befreiungsfront in der öffentlichen Meinung des Westens wesentlich populärer, als
das alte Kolonialreich Frankreich169 und auch die Regierungen der Industrieländer kritisierten
Frankreich, da es eine veraltete Kolonialpolitik vertrat – die meisten anderen europäischen
und nordamerikanischen Länder vertraten neokolonialistische Ansichten und versuchten die
Souveränität einzelner Völker zu gewähren, sie aber wirtschaftlich an sich zu binden.
Eine gesonderte Position in der internationalen Diskussion über den Algerienkrieg nahmen
die kommunistischen Mächte ein. Die UdSSR war auf Grund der starken kommunistischen
Partei Frankreichs nicht gewillt, die Befreiungsfront außerordentlich zu unterstützen, da
Frankreich nicht verärgert werden sollte. Man erhoffte sich eine verbesserte Beziehung mit
Frankreich, um im Falle eines diplomatischen Ost-West-Konfliktes zumindest Frankreich
neutral zu „stimmen“. Zugleich sollten aber die amerikanischen Interessen behindert werden,
und je mehr sich die USA in den Konflikt einmischten, desto mehr involvierte sich auch die
UdSSR. 170 Im Gegensatz dazu unterstützte China, das im Ost-Block eine verstärkte Rolle
spielen wollte, die Befreiungsfront durch zahlreiche Waffenlieferungen. Über diese Unterstützungen kam es jedoch nicht hinaus. 171
Allgemein lässt sich folgendes zusammenfassen. Beide Parteien erhielten eine gewisse diplomatische und teilweise auch finanzielle und militärische Hilfe. Zu einer ausartenden Internationalisierung des Konflikts kam es jedoch nie, da beide Parteien sich nicht einer der großen Mächte USA oder UdSSR unterordnen wollten. Frankreich wollte seinen eigenen Einfluss in Afrika wahren, um nicht in Konkurrenz zur USA stehen zu müssen. Die FLN wollte
sich auch nicht an die UdSSR direkt wenden, da sonst die Gefahr einer bestimmenden Rolle
des kommunistischen Landes vorhanden gewesen wäre. Die FLN wollte sich nicht einem der
beiden Blöcke zuordnen. Gewisse Kontakte, vor allem zu den Nachbarländern Marokko und
167
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war ein Zusammenschluss europäischer Staaten, der als Vorläufer der
Europäischen Union betrachtet werden kann. Wie der Name schon sagt waren die Verträge der EWG hauptsächlich wirtschaftliche. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft existierte von 1957 bis 1993 und wurde 1993 in Europäische Gemeinschaft umbenannt. Zur Zeit des Algerienkrieges waren folgende Länder Mitglieder der EWG: Frankreich, Belgien, Italien,
Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland, die auch gleichzeitig die Gründerstaaten der Vereinigung
waren.
168
Vgl. ebd., S. 56f.
169
Vgl. ebd., S. 60
170
Vgl. ebd., S. 67f.
171
Vgl. ebd., S. 70
36
Tunesien, waren für die algerische Befreiungsfront außerordentlich wichtig. Diese teilweise
stattfindende Internationalisierung schadete jedoch Frankreich, da es in seinem Handlungsfreiraum eingeschränkt wurde, und stärkte die Befreiungsfront, die auch in der UNO Unterstützung fand. Zu Sanktionen gegen Frankreich durch andere Staaten kam es jedoch kaum. 172
4.3.4. Taktiken und Erfolge der FLN
Die Strategie der FLN war eine Mischung aus Politik und gewaltsamem Druck. Die Gewalt
war nur ein Mittel, um Frankreich politisch zum Einlenken zu bringen. Politisch gesehen hatte
die FLN kein wirkliches Reformprogramm, sondern war nur eine populistische Partei, die die
Kolonialherrschaft besiegen und zerstören wollte. 173 Doch dieses einfache Parteiprogramm
reichte, um die meist ländliche, muslimische Bevölkerung gegen Frankreich aufzubringen, da
sie sowieso unzufrieden mit der Situation und mit der Kolonialmacht war. Die Mängel des
eigentlichen Programms wurden erst nach der Unabhängigkeit offensichtlich. Diese werden
im nächsten Großkapitel näher erläutert. Die eigentliche Macht der FLN bestand darin, die
großen Massen durch ihre populistischen Parolen und Aussagen zu mobilisieren. Doch dieser
reine „Volkszorn“ war nicht genug. Die FLN brauchte auch Geld und Versorgung. Dies stellten die Bauern zur Verfügung – so gab es zum Beispiel eine eigene „Revolutionssteuer“, die
die FLN von den Bauern, aber auch von den Großgrundbesitzern – teils durch Gewaltandrohung – erhielt. Im Gegenzug baute die FLN noch während des Krieges eine Infrastruktur für
die Bevölkerung auf, um sie an sich zu binden. Natürlich konnten die Bauern nicht die ganzen
Kosten für den Krieg aufbringen. Es gab hohe Zahlungen aus der Metropole von algerischen
Emigranten und auch Unterstützung mancher arabischer Staaten, die jedoch nur erahnt werden kann. 174 Der Krieg selbst wurde äußert brutal geführt. Es gab keine wirklichen Feldschlachten, der Krieg spielte sich in kleineren Scharmützeln und Gefechten ab. Immer wieder
kam es zu Hinterhalten der FLN, die versuchte, mit Guerilla-Taktiken175 den Feind zu verängstigen und dadurch radikale Repressionsmaßnahmen provozierte. Wurden in einem Dorf
während eines Hinterhaltes der FLN französische Soldaten getötet, kam es schnell zu Racheakten gegen die Zivilbevölkerung und da die Soldaten der FLN „unsichtbar“ waren, konnte
man diese nie völlig auslöschen. Diese Repressionen wiederum führten dazu, dass die Bevölkerung den Kurs der FLN noch stärker unterstützte – die FLN profitierte also von den Rache172
Vgl. ebd., S. 77ff.
Vgl. Meynier, Gilbert: Die „Revolution“ der FLN (1954-1962). In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 153-173. – Frankfurt/Main 2006. S. 157f.
174
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 383, S. 37
175
Als Guerilla wird eine paramilitärische Einheit bezeichnet, die gegen die Regierungen ihres Landes kämpfen. Diese Einheiten sind äußert mobil und werden in kleine Truppen unterteilt. Hinterhalte und kurze Überraschungsangriffe sind ihre
Angriffsmethoden und sie werden oft von der lokalen Bevölkerung unterstützt.
173
37
akten der französischen Armee viel mehr als diese selbst. Außerdem versuchte die FLN die
Bevölkerung zu Aufständen zu animieren oder zumindest zu Massendemonstrationen gegen
die französische Herrschaft. So gab es mehrere Streiks und auch an den Universitäten gab es
einen Streik von muslimischen Lehrkräften und Studenten, die mit der FLN solidarisch waren. Diese Massenaktionen wurden hauptsächlich in der Anfangsphase des Krieges gestartet
und oft von den kolonialen Ordnungskräften – auch mit Gewalt – zerschlagen.176 Nicht nur
die französischen Soldaten wurden von der FLN attackiert. Auch feindlich gesinnte Moslems,
wie die sogenannten „Harkis“177 - Söldner, sowie Gehilfen der französischen Armee – oder
die Anhänger Messali Hadjs, wurden bekämpft. Außerdem töteten die Mitglieder der ALN 178
auch Zivilisten, die sich passiv verhielten und die FLN weder mit Versorgung noch mit Geld
unterstützten. Die FLN wollte mit diesem Terror gegen die eigene Bevölkerung, dieser keine
andere Wahl mehr lassen, als sich der FLN zu beugen und sie zu unterstützen. Es kam während des Krieges vor allem in Städten zu Bombenserien, die keine auf spezielle Personen oder
Soldaten gezielten Attentate waren, sondern nur auf europäische Einrichtungen und Zivilisten
gerichtet waren. Hartmut Elsenhans spricht sogar von einem „Bombenkrieg in Algier“, in dem
beide Seiten versuchten, mit Bomben in den feindlichen Vierteln den Gegner zu verängstigen
und zu töten.179 Ein anderes wichtiges Element der Taktik der FLN war die Tatsache, dass
eine Armee in Tunesien ausgebildet wurde, die das Blatt jederzeit umdrehen hätte können,
falls es zu einer Niederlage der Truppen in Algerien käme. Mit ihrer Strategie verfolgte die
Unabhängigkeitsbewegung, wie oben schon angeführt, nicht einen militärischen Sieg gegen
Frankreich, sondern ein stärkeres Gewicht bei den Verhandlungen. Diese Strategie war im
Endeffekt erfolgreich. Die FLN wurde zunächst als einziger Verhandlungspartner und Repräsentant des algerischen Volkes anerkannt, und es kam ab den 60er Jahren zu Verhandlungen
und schließlich 1962 zur Unabhängigkeit.
4.3.5. Französische Reaktion
4.3.5.1. Repressionen
Einige Beispiele der französischen Repressionen wurden bereits in den letzten Unterkapiteln
aufgezählt. Die Bestrafungen unterschieden sich kaum von denen, die während der früheren
Kolonialzeit auf Grund von Aufständen angewendet worden waren. So wurden auch ganze
Dörfer vernichtet und es wurde die kollektive Bestrafung – nachdem sie nach dem 2. Welt176
Vgl. ebd., S.386ff.
Als Harkis wurden alle Moslems Algeriens bezeichnet, die gegen eine Unabhängigkeit Algeriens waren und sich weiterhin
für Frankreich einsetzten. So dienten sie vor allem in französischen Armeen und stellten mehr oder weniger Söldner dar.
178
Siehe 4.3. Der Krieg
179
Ebd., S. 386
177
38
krieg zumindest theoretisch verboten worden war – wieder eingeführt. Doch wurden diese
Repressionen noch stärker, da neue Waffen und Taktiken zum Einsatz kamen. Einerseits verwendete Frankreich Helikopter und verstärkt Bomber, um die Guerillas auch aus der Luft
angreifen zu können und um ganze Landstriche, sowie Dörfer zu bombardieren. Andererseits
wurden auch die Wehrpflichtigen eingesetzt – diese wurden zum Beispiel beim Indochinakrieg noch nicht einberufen. Außerdem kam es zu mehreren Hinrichtungen – die Todesstrafe
wurde erst 1981 in Frankreich abgeschafft –, sowie zum Übergang zu Militärgerichten, die
schnellere, aber staatsrechtlich wesentlich bedenklichere Verfahren vollzogen. So wollte man
die „nötigen“ Abschreckungen für die Bevölkerung beschleunigen und verstärken. 180 Eine
weitere Antwort auf die Taktiken der FLN war die Einrichtung von militärischen Schutzzonen, aus denen die Bevölkerung ausgesiedelt wurde. Sie wurde in andere Gebiete oder in
„Umgruppierungslager“ gebracht. Alle Menschen, die in solchen Zonen aufgefunden wurden
und nicht französische Soldaten waren, wurden einfach erschossen. Insgesamt wurden zwei
Millionen Algerier während des Krieges umgesiedelt.181 So konnte zumindest zeitweise die
FLN zurückgedrängt werden, doch ein kompletter Sieg wurde nicht möglich, da der Hass der
Bevölkerung gegen die Kolonialmacht zu tief saß.182 Im Endeffekt waren diese militärischen
Repressionen sinnlos, wenn nicht politische Reformen eingeleitet wurden oder die Unabhängigkeit gewährt worden wäre – sonst hätte sich das Feuer dieses Konflikts immer wieder
durch den Hass selbst entfacht. Außerdem muss auf den Zustand der französischen Armee
hingewiesen werden, der – selbst wenn ein vollständiger Sieg möglich gewesen wäre – das
Militär große Anstrengungen kostete und einen Sieg rein militärisch gesehen schwer möglich
machte. Die französische Armee war auf den Kriegsschauplatz Wüste gänzlich unvorbereitet
und hatte zu wenige Helikopter und mobile Einheiten.183 Die Taktiken der französischen Armee sahen offene Feldschlachten vor und außerdem gab es nur unzureichend ausgebildete
Streitkräfte. So gab es viele Todesopfer auf Grund von Feuer befreundeter Einheiten, da viele
Soldaten einfach zu Infanteristen umgewandelt wurden, obwohl dies nicht ihrer Waffengattung entsprach. Ein weiteres Problem waren die überalterten Kader, die ihre Truppen nur
mehr selten in den Kampf führen konnten. 184 Diese Probleme konnten erst im Laufe des Krieges gelöst werden, vor allem durch eine Verbesserung der Ausrüstung, sowie eine Umstellung
der eigenen Taktiken auf den Guerillakrieg. So konnte das militärische Potential effizienter
180
Vgl. ebd., S. 424ff.
Vgl. ebd., S. 441f.
182
Vgl. Renken, Frank, S.43
183
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 408ff.
184
Vgl. ebd., S. 400ff.
181
39
genützt werden. Trotzdem führten diese Verbesserungen der Armee nicht zum gewünschten
Ergebnis und Algerien erlangte auf politischem Weg die Unabhängigkeit.185
4.3.5.1.1. Folter
Ein weiterer Faktor waren die Kriegsverbrechen der französischen Armee in Algerien. Der
Krieg wurde mit äußerster Härte geführt, auch von algerischer Seite, trotzdem waren die französischen Maßnahmen für eine staatliche Armee inakzeptabel. Doch warum wurden Folterungen durchgeführt? Das große Problem war, dass sich die französischen Streitkräfte keiner
regulären Armee gegenüber sahen, sondern kleinen Einheiten, die immer wieder, „plötzlich“
auftauchten und schnell wieder verschwanden. Man sah kein anderes Mittel mehr, den Feind
zu besiegen, als härtere Methoden anzuwenden. So kam es zu systematischer Folter, wenige
Jahre nach dem 2. Weltkrieg, in dem selbst französische Staatsbürger gefoltert wurden. Es
wurden eigene Internierungslager eingerichtet, in denen politische Häftlinge und Kriegsgefangene inhaftiert wurden. In manchen dieser Lager wurden auch Foltermethoden angewandt,
um die Feinde „umzuerziehen“ oder wichtige Informationen zu erhalten. 186 Man wollte so den
Vorteil der FLN, Informationen über die Bevölkerung zu erhalten, wieder ausgleichen. Was
jedoch fast wichtiger war als die Beschaffung von Informationen, war das Brechen der Moral
und des Widerstandes. 187 In der Anfangsphase des Krieges wurde die Folter zunächst von der
Polizei als Repressionsmaßnahme eingesetzt. Erst 1957 ging auch die Armee zur Folter
über.188 Vor allem in der Schlacht von Algier 189 1957, in der die FLN erheblich geschwächt
wurde, setzte die französische Armee Foltermethoden ein. Diese systematische Folter wurde
von Paris, also den Regierungen, die zu dieser Zeit im Amt waren, nicht verurteilt, sondern
meist stillschweigend akzeptiert. Zwar versuchte man die Folter teilweise einzuschränken,
doch konnten sich die Politiker nicht durchsetzen. 190 Die Zerschlagung der FLN war für
Frankreich viel wichtiger, als die Einhaltung der Menschenrechte. Diese Zerschlagung war
nur durch die systematische Folter möglich geworden. Ohne diese Praxis wären die Führungskräfte nie aus dem Verkehr gezogen worden. Im Zuge der Folterungen kam es auch zur
Ermordung von einzelnen Häftlingen, die entweder durch die Folter ums Leben kamen, oder
später auf Grund von Verwischung von Beweisen einfach ermordet wurden. Die Folter war
keine Randerscheinung des Algerienkrieges, sondern ebenso wie die Anschläge der FLN an
185
Vgl. ebd., S. 404
Vgl. ebd., S. 437
187
Vgl. Sartre, Jean-Paul: Ein Sieg. In: König, Traugott (Hrsg.), S. 49-61 – Hamburg 1988 S. 58ff.
188
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 450f.
189
Die Schlacht von Algier stellte keine „typische“ Schlacht dar, sondern war viel mehr eine Auseinandersetzung, die sich
hauptsächlich über Anschläge und Repressionsmaßnahmen, wie die Folter, abspielte.
190
Vgl. ebd., S. 454, S. 456
186
40
der Tagesordnung. 191 Die Systematik der Folter und ihre Brutalität verselbständigten sich
während des Krieges – so kam es zum Einsatz von Folter oder zu Tötungen, um Platz in den
Hubschraubern zu schaffen und um die Gefangenen loszuwerden. 192 Außerdem entwickelten
sich mehrere spezielle militärische Organisationen, die sich nur mit der Folter beschäftigten
und eigene Folterzentren unterhielten. Diese Organisationen gewannen immer mehr an Selbständigkeit und konnten teilweise nicht mehr von „oben“ kontrolliert werden. 193 Die Folter
musste natürlich negative Reaktionen der aufgeklärten französischen Bevölkerung hervorrufen. Zunächst kamen nur wenige Berichte über Folter in die Medien. Erst mit der Schlacht
von Algier, in der Folter massiv betrieben wurde, kam es zu einer Auseinandersetzung mit
den Praktiken der Armee. Dies dürfte auch einen Prozess der Willensbildung hervorgerufen
haben, wobei die französische Öffentlichkeit immer weniger an einem französischen Algerien
interessiert war und den Krieg ablehnte. 194 Vor allem setzte sich die politische Linke gegen
die Folter ein, so auch der Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre, der sich in mehreren
Aufsätzen mit dem Thema Algerienkrieg, aber auch mit dem Thema Folter durch die Armee
befasste.195 Trotz medialen Echos auf die Gräueltaten der Armee wurden diese fortgeführt und
konnten erst mit Abschluss des Waffenstillstandes beendet werden. Die kolonialen „Lügen“,
also dass Frankreich zivilisatorische Arbeit in seinen Kolonien geleistet hatte, wurde durch
den Einsatz der Folter widerlegt.
4.3.5.2. Wirtschaftliche Reformen
Natürlich sah man auch seitens Frankreichs ein, dass wirtschaftliche Reformen notwendig
waren, um die Bevölkerung Algeriens an sich zu binden und um den Krieg zu beenden. Diese
Reformen mussten zunächst die unmittelbaren Probleme der Moslems lösen. Die Massenarbeitslosigkeit und die große Armut der Algerier waren die wirtschaftlichen Tatsachen, mit
denen Frankreich konfrontiert war. Außerdem musste man der autochthonen Bevölkerung
Zugang zum Sozial- und Bildungswesen verschaffen. Auch die von den Nationalisten geforderten politischen Mitspracherechte mussten ihnen gewährt werden. Erst wenn diese „Grundbedürfnisse“ befriedigt gewesen wären, hätte Frankreich eine gewisse Vertrauensbasis in der
Bevölkerung erhalten und mit weiteren politischen, sowie sozialen und wirtschaftlichen Programmen den Konflikt vielleicht lösen können und das koloniale Gebiet Algeriens unter französischer Souveränität halten können.
191
Vgl. ebd., S. 458 ff.
Vgl. ebd., S. 460
193
Vgl. ebd., S. 463f.
194
Vgl. ebd., S. 468
195
Vgl. hier den Sammelband Jean-Paul Sartre „Wir sind alle Mörder“ - herausgegeben von Traugott König
192
41
Auf landwirtschaftlicher Ebene waren Änderungen der angebauten Produkte geplant. Die autochthonen Bauern sollten von der Subsistenzwirtschaft abgehen und verstärkt Lebensmittel
anbauen, die höhere Erträge erzielten. Doch konnte dieser Plan nie realisiert werden, da den
Kleinbauern schlicht die Mittel fehlten und sie kaum Kredite aufnehmen konnten, da sie zu
wenige Absicherungen hatten.196 Außerdem konnte man bei der Landwirtschaft nur auf langfristige Erfolge hoffen, da die Umstellung auf neue Anbauprodukte Zeit brauchte.
Eine weitreichende Industrialisierung wäre nötig gewesen, um die Zahl der Arbeitslosen zu
verringern, sowie den Lebensstandard der autochthonen Bevölkerung zu erhöhen. Doch ebenso wie die landwirtschaftlichen Reformen benötigte eine Industrialisierung Zeit, aber vor allem Geld.
Generell darf zwar nicht am Willen der französischen Regierung zu einer Änderung der Situation der autochthonen Bevölkerung gezweifelt werden, doch kamen die Reformversuche viel
zu spät und wurden nicht gründlich genug ausgeführt. Ein weiteres Problem war die Kritik
der europäischen Siedler, die sich gegen die Eingriffe in die algerische Gesellschaft gewehrt
hatten und der Geldmangel Frankreichs. Der Algerienkrieg allein war schon eine große finanzielle Belastung für den – nach dem 2. Weltkrieg angeschlagenen – französischen Staat.
Wahrscheinlich wären die nötigen – sehr kostspieligen – Änderungen während des Algerienkrieges sinnlos gewesen, da der Ausgang des Krieges ungewiss war und somit jede Investition
in Algerien als Risikoinvestition angesehen werden konnte. So kam es auch selten zu privaten
Investitionen und im Laufe des Krieges nahm der Kapitalexport zu.197 Die wirtschaftlichen
und sozialen Reformen, die schließlich umgesetzt wurden, waren nicht mehr als ein Tropfen
auf dem heißen Stein und konnten die Lage nicht beruhigen. Frankreich hätte wohl die komplette gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation ändern müssen und, was wahrscheinlich
noch wichtiger gewesen wäre, für politische Gleichberechtigung der einzelnen algerischen
Bürger sorgen müssen. Ohne eine solche Gleichberechtigung war eine Lösung des Konflikts
nicht möglich, da sich die autochthone Bevölkerung und die Nationalisten bevormundet fühlten. Doch die europäischen Siedler waren durch das koloniale System an ihre Stellung gebunden und mussten ihre Vorrechte verteidigen. Auch aus diesem Grund wurden oft Reformen
im politischen und wirtschaftlichen Bereich durch sie verzögert oder verhindert.
196
197
Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 550ff.
Vgl. ebd., S. 167
42
4.4. Folgen des Krieges
Der Krieg hatte sowohl in Frankreich, als auch in Algerien eine Vielzahl an Folgen. Der Algerienkrieg wurde vor allem in Frankreich einer starken Zensur unterworfen, die erst in den
letzten Jahren aufgebrochen wurde und nun aufgearbeitet wird. Vor allem das Thema Folter
spielt in diesem Bereich der Aufarbeitung noch immer eine sehr große Rolle.198 Auf die Verarbeitung in Algerien und Frankreich, vor allem auf Ebene der Schulen, wurde im 2. Kapitel
bereits näher eingegangen. Doch es gab nicht nur Probleme mit der Diskussion über den Algerienkrieg. Die Mehrheit der europäischen Siedler in Algerien floh nach dem Krieg und
musste von der Metropole aufgenommen werden. Dies war natürlich eine außerordentliche
Belastung und führte zur Abneigung gegenüber den Algerienfranzosen199, die ja mehr oder
weniger für den Krieg verantwortlich gemacht wurden. Eine weitere Folge des Krieges – und
für den Staat Frankreich wohl eine sehr einschneidende – war der Verlust eines Großteils des
Kolonialreichs. Während des Algerienkrieges verlor die einstige Großmacht fast alle Überseegebiete. Frankreich hatte nach dem Krieg endgültig seinen Großmachtstatus verloren: Militärisch, wirtschaftlich und nach dem Algerienkrieg auch weltpolitisch gesehen. Frankreich
verlor durch den Zerfall seines Kolonialreichs vor allem an Einfluss in den heutigen „DritteWelt-Ländern“. Außerdem führten die wirtschaftlichen Probleme Algeriens kurz nach der
Unabhängigkeit zu einer massiven Auswanderung von Moslems nach Frankreich. Diese Migration führte zu innenpolitischen Spannungen Frankreichs, die bis heute noch nicht überwunden werden konnten. Die ehemaligen Algerier konnten nicht integriert werden und sammelten
sich vor allem in den Banlieues 200 rund um die Städte, wo soziale Probleme auf der Tagesordnung standen und stehen. Die jüngsten Folgen dieser Probleme waren die Ausschreitungen
von Jugendlichen 2005 und das Anzünden von Synagogen201 als Reaktion auf die militärischen Aktionen Israels, die von den algerischen Muslimen verurteilt wurden. Trotzdem dürfen diese Ausschreitungen und Demonstrationen nicht als algerisches Problem angesehen
werden, sondern allgemein als ein in der arabischen Welt vorkommender Antisemitismus, der
vor allem mit dem Sympathisieren der Muslime mit den Palästinensern zusammenhängt.
Die schlimmsten Folgen des Krieges waren jedoch nicht die Veränderungen des politischen
Status Frankreichs und der sozialen Situation in Frankreich oder die Verdrängung des Konflikts, sondern die Vielzahl an Opfern und die Zerstörung, die dieser Krieg forderte. Millionen
198
Vgl. Mauss-Copeaux, Claire: Die Geschichte des Algerienkrieges: Das Problem der Gewalt. In: Kohser-Spohn, Christiane,
Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 75-83. – Frankfurt/Main 2006. S.77ff.
199
Vgl. Floch, Jacques: Von Algerien nach Algerien. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S.
55-65. – Frankfurt/Main 2006. S.60
200
Eine „banlieue“ bezeichnet den vorstädtischen Bereich rund um eine Stadt.
201
Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/327/455006/text/ (Stand: 19.01.2009)
43
Menschen wurden vertrieben, ermordet oder gefoltert. Nichts kann diesen „Verbrauch“ an
Menschenleben rechtfertigen, weder der Ungehorsam der Rebellen noch die Unterdrückung
der Kolonialmacht. Der Krieg war jedoch auf Grund des kolonialen Systems nicht mehr zu
verhindern gewesen. Frankreich hätte zumindest früher politisch einlenken müssen, um diesen
Konflikt zu begrenzen und dem algerischen Volk das Leid dieses Krieges zu ersparen.
5. Die Unabhängigkeit Algeriens
Die Unabhängigkeit stellte die FLN vor riesige Herausforderungen. Durch den sehr langen
Krieg war das Land teilweise zerstört worden. Hundertausende, wenn nicht sogar mehr als
eine Million Menschen wurden während des Konflikts getötet und die französischen Siedler,
die früher Fachkräfte gewesen waren und auch Führungspositionen eingenommen hatten, zogen zum Großteil weg. Es fehlte also an Geld und an ausgebildetem Personal. Außerdem
mussten weitreichende Reformen eingeleitet werden, um das Elend der Bevölkerung zu lindern und die Strukturen der Kolonialzeit zu überwinden. Diese Veränderungen der Gesellschaft und die Folgen der Herrschaft der FLN werden in diesem Kapitel beschrieben.
5.1. Alleinherrschaft der FLN
Die FLN hatte während des Krieges die meisten anderen Parteien entweder verdrängt oder in
sich integriert. Nach dem Unabhängigkeitskrieg wurden weitere Parteien, wie die Kommunistische Partei – Parti communiste algérien, verboten. 202 Vor allem innerhalb der FLN gab es
verschiedenste Meinungen, da die Partei ja eine „Front“ gegen den Kolonialismus und keine
homogene Bewegung gewesen war. Trotzdem konnte sich eine Einheitspartei entwickeln, die
bis in die Gegenwart Algerien beherrschen sollte. Der erste Staatspräsident wurde Ben Bella203, der ein Gründungsmitglied der Partei war. Er wurde zunächst auch vom militärischen
Arm der Partei geduldet und erhielt von ihm Unterstützung. Doch der damalige Verteidigungsminister, Houari Boumedienne 204, war mit seinem Führungsstil nicht einverstanden und
wollte wieder Ordnung ins Land bringen, da es wirtschaftliche und soziale Probleme unter
Ben Bella gab. Er putschte mit Hilfe der Armee und war jahrelang Präsident. 205 Unter Boumedienne, der ein sehr autoritärer Herrscher war, wurden weitreichende Reformen eingeleitet,
die jedoch, wie im Kapitel 5.1.1. näher beschrieben wird, scheiterten. Er war trotzdem unan202
Vgl. Schmid, Bernhard: Algerien – Frontstaat im globalen Krieg? – Münster 2005, S.68
Ben Bella war ein algerischer Nationalist, der jedoch als eine der Führungspersönlichkeiten der FLN bereits 1956 verhaftet wurde. Nach der Unabhängigkeit wurde er freigelassen und Ben Bella wurde erster Präsident Algeriens.
204
Houari Boumedienne (1925-1978) war algerischer Nationalist, der sich der FLN anschloss und rasch beim militärischen
Arm der Partei aufstieg. Er wurde nach der Unabhängigkeit Verteidigungsminister.
205
Vgl. Schmid, Bernhard, S. 51
203
44
getasteter Herrscher „seines“ Volkes und vom Großteil der Bevölkerung akzeptiert und „geliebt“. Dies lag wahrscheinlich an seinem Charisma und den weitreichenden Reformen, die
ihn beliebt machten. 206 Er verfolgte jeden Widerstand und konnte die kritische Gewerkschaft
und die kommunistischen Studentenverbände auflösen und verdrängen. Nach seinem Tod und
den aufkommenden wirtschaftlichen Problemen wackelte das Machtmonopol der FLN und
wurde sogar zeitweise aufgehoben. Vor allem der aufkommende Islamismus bedrängte die
Einheitspartei und führte zu einem Bürgerkrieg, der jedoch mit Hilfe der Armee zurückgeschlagen werden konnte.
5.1.1. Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen
Die FLN bezeichnete sich als eine sozialistische Partei, die jedoch, im Gegensatz zum sowjetischen Kommunismus, keine atheistische Linie verfolgte, sondern sich auf die Werte des
Islams und die arabische Kultur berief. Sie sprach von einem eigenen islamischen Sozialismus.207 Der Anspruch der FLN, eine sozialistische Partei zu sein, war ein rein populistischer.
Zwar gab es linke Kräfte in der Partei, doch diese konnten sich nicht durchsetzen. Anstatt die
von den Algerienfranzosen verlassenen Betriebe und Grundstücke den Arbeitern und Bauern
zu geben oder in sinnvollen Wirtschaftsreformen kollektiv zu betreiben, wurden die meisten
nur verstaatlicht und dann zu niedrigen Preisen wieder an Mitglieder der FLN verkauft. 208 Es
entstand somit eine von Korruption geprägte wirtschaftliche Ordnung, die von der FLNStaatsmacht kontrolliert wurde. Wenn man bei der FLN war oder zumindest gute Verbindungen zur Partei hatte, konnte man sich einige Vorteile erhoffen.
Die eigentliche Wirtschaft war jedoch selbst einige Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg
vom kolonialen Import-/Exportsystem geprägt. Man musste mit Frankreich handeln, da die
ganze Wirtschaft exportorientiert war.209 Außerdem erwarb sich Frankreich bei den Friedensverhandlungen von Evian einige wirtschaftliche und politische Vorteile, die sich für Algerien
am Anfang der Unabhängigkeit als sehr nachteilig herausstellten. Frankreich übernahm fast
die vollständige Kontrolle über die Förderung der Öl- und Gasvorkommen Algeriens und
konnte so seinen eigenen Firmen billigen Zugang zu eigenen Förderstätten liefern. Außerdem
behielt die französische Regierung ein kleines Testgebiet in der Sahara für nukleare und chemische Waffen. 210 Erst 1965 konnte Algerien einen neuen Vertrag aushandeln, der zumindest
auf Ebene der Öl- und Gasförderungen die meisten Vorteile Frankreichs rückgängig mach206
Vgl. Schmid, Bernhard, S. 70f.
Vgl. ebd., S.44
208
Vgl. ebd., S.45ff.
209
Vgl. ebd., S. 38f.
210
Vgl. ebd., S.40f.
207
45
te.211 1971 wurden die Erdölvorkommen endgültig nationalisiert und Algerien erhielt noch
mehr Bestimmungsrechte gegenüber den französischen Erdölkonzernen. Durch diese Nationalisierung wurde versucht, Kapital für neue staatliche Investition zu generieren. 212 Gérard
Destanne de Bernis, ein französischer Ökonom, prägte den Begriff „industrialisierende Industrien“213. Diese Industrien waren so aufgebaut, dass sie neue Firmen und Industriezweige
schufen und somit als Motor für die gesamte Wirtschaft dienen sollten. Algerien wollte genau
dieses Entwicklungsmodell für seine eigene Wirtschaft anwenden. Die Schwerindustrie sollte
zum Grundstein der algerischen Wirtschaft werden. In den 70er-Jahren konnte Algerien einige Erfolge verzeichnen, aber nicht auf Grund der neuen Industrie, sondern da der Ölpreis
stieg. Die Ölindustrie war die einzige erfolgreiche Industrie im unabhängigen Algerien, denn
„… in allen anderen Sparten zeigte sich schon bald die technische und wirtschaftliche Fehlplanung“.214 Die Anlagen waren viel zu groß geplant und ineffizient ausgenützt. Auch führten
diese neuen Industrien zu einer nur geringfügig höheren Beschäftigungszahl. So entstand eine
überdimensionierte Verwaltung, um Arbeitslose aufzunehmen. 215
Das Geld der Ölförderungen reichte nicht, um die sozialen Probleme zu beseitigen, deswegen
musste die algerische Regierung Kredite im Ausland aufnehmen, um Nahrungsmittel importieren zu können. Vor allem auf den landwirtschaftlichen Sektor wurde seitens des Staates
verzichtet – es kam kaum zu Investitionen und die Schwerindustrie in Küstennähe führte zur
Verschlechterung der Nahrungsmittelproduktion. Dies bewirkte einen erhöhten Bedarf an
Lebensmittelimporten. Nachdem die Preise für Rohöl und Erdgas in den 80er Jahren einbrachen, verschlechterte sich die Situation der Bevölkerung weiter, da auf wichtige Importe verzichtet werden musste. Eine ungeheure Inflation verstärkte die Krise Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre. So gab es zwischen 1989 und 1994 einen Anstieg der Verbraucherpreise
um 400% und das Bruttosozialprodukt sank 1992 um 22%. Die Weltbank 216 intervenierte und
Algerien musste Souveränitätsrechte abtreten und Staatssubventionen aufgeben. Daraufhin
musste die Bevölkerung noch teurere Lebensmittel in Kauf nehmen. 217
211
Vgl. ebd., S.50
Vgl. ebd., S.55
213
Gérard Destanne de Bernis, 1969, zitiert nach Dür Mathias 2000, S.85
214
Dür, Mathias: Islamismus und Algerienkonflikt – Wien 2000, S.86
215
Vgl. ebd., S.87
216
Die Weltbank vergibt Kredite für Förderprojekte – vor allem in Entwicklungsländern. Diese Kredite zeichnen sich durch
ihre niedrigen Zinsen aus und sollen als Entwicklungshilfe dienen. Die Weltbank wird jedoch oft auf Grund ihrer Praktiken
kritisiert, da sie fragwürdige Projekte unterstützt, die meist den Konzernen der Industrieländer mehr nützen, als den Entwicklungsländern.
217
Vgl. ebd., S.88 ff.
212
46
Heute ist Algerien vollständig von den Erdöl- und Erdgasexporten abhängig und muss sich
nach den Schwankungen des Ölpreises ausrichten. Mittlerweile machen diese Exporte zwischen 97 und 98 Prozent des Gesamtwertes der Exportwirtschaft aus. 218
Die Landflucht nahm in Algerien nach der Unabhängigkeit weiter zu und 2000 waren weniger
als 50% der Bevölkerung Landbewohner. Dies führte zur Entstehung von Slums, da die Einwohner in den Städten keine Wohnungen mehr fanden und es zu einer Massenarbeitslosigkeit
kam. So waren 2000 ca. 25% Arbeitslose zu verzeichnen. 219
Auch die Situation an den Schulen hatte sich nach der langen Kolonialherrschaft nur unzureichend verändert. Französisch war noch immer notwendig, um in höhere Positionen aufzusteigen. Es wurde aber nur Arabisch in den öffentlichen Schulen gelehrt – Französisch konnte
man nur in Privatschulen erlernen, die jedoch für den Großteil der Bevölkerung zu teuer waren. Außerdem war das „Hocharabisch“, welches an den Schulen gelehrt wurde, fremd für die
Schüler, da es während der Kolonialzeit kaum arabischen Unterricht gegeben hatte und somit
die Eltern nur mehr den algerischen Dialekt sprachen. 220 Ein weiterer Frustrationsgrund für
Schüler und Studenten war, dass selbst eine Hochschulausbildung keinen Arbeitsplatz garantierte, da man Beziehungen zur Partei haben musste, um Arbeit zu finden. 221
Diese wirtschaftliche und soziale Lage musste schließlich in einem Konflikt zwischen Bevölkerung, die von Islamisten aufgeheizt wurde, und Regierung münden, da die Algerier keine
Hoffnung auf Besserung mehr hatten. Ende der 80er kam es zu einem regelrechten Bürgerkrieg, der von islamistischen Kräften – vor allem der Front Islamique du Salut (FIS), einer
islamistischen Partei, die sich gegen die Regierung wandte – eingeleitet wurde, die jedoch den
Kampf nicht für sich entscheiden konnten. Auch nach diesem Krieg verbesserte sich die Situation nur bedingt und es kam zu einem erneuten Aufkommen des Islamismus. Doch nun nützte die al-Qaida222 die islamistischen Strömungen aus und konnte in Algerien Fuß fassen. Auf
Grund der Aktivitäten der al-Qaida kam es wieder vermehrt zu Anschlägen und Auseinandersetzungen mit der Regierung.223 Bis heute konnte dieses Problem nicht gelöst werden, und es
trägt weiterhin zur Instabilität des nordafrikanischen Landes bei.
218
Vgl. Schmid, Bernhard, S.58
Vgl. Dür, Mathias, S.92
220
Vgl. ebd., S.93f.
221
Vgl. Thielmann, Jörn (2006): „Nationalismus und Entwicklung in Algerien“. http://www.ifeas.unimainz.de/workingpapers/AP71.pdf (Stand: 06.01.2009)
222
al-Quaida ist eine terroristische Organisation, die weltweit agiert und einen Dschihad („heiligen Krieg“) gegen den Westen führt.
223
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Salafisten-Gruppe_f%C3%BCr_Predigt_und_Kampf (Stand: 14.01.2009)
219
47
Die Unabhängigkeit Algeriens führte zu einer Parteiendiktatur, die sich zunächst auf weite
Teile des Volkes stützen konnte. Erst als die wirtschaftlichen Probleme des Landes deutlich
wurden, kam es zum Widerstand innerhalb der Bevölkerung, der Algerien in einen Bürgerkrieg führen sollte. Der Unabhängigkeitskrieg war womöglich ein Auslöser dieser Entwicklungen, da die FLN während des Krieges ihre Opposition ausschalten konnte und durch den
Sieg Prestige gewinnen konnte. Außerdem war das Land gezeichnet von den fast acht Jahren
Krieg und musste wieder aufgebaut werden. Die Situation nach der Kolonialzeit und nach
dem Krieg war angespannt. Die Strukturen, die Frankreich ab 1830 aufgebaut hatte, behinderten die FLN zusätzlich, sinnvolle Reformprogramme zu starten. Man kann jedoch nicht alleine Frankreich für die jetzige Misere der algerischen Bevölkerung verantwortlich machen, da
die FLN eine korrupte Einheitspartei war, die auf Grund ihrer – oft sinnlosen – Reformen, die
Lage der Menschen nicht bessern konnte.
6. Fazit
Es fällt nicht leicht, einen solch großen Krieg zu resümieren, da es eine Vielzahl an Standpunkten zu beachten gilt. Trotzdem lässt sich mit Gewissheit sagen, dass der Algerienkrieg
weitreichende Auswirkungen hatte, die teilweise sogar heute noch zu spüren sind. In Frankreich sind die Immigrationsprobleme und in Algerien die Religionsprobleme als solche aktuellen Folgen zu nennen. Der Konflikt und seine Auswirkungen blieben jedoch stets in einem
regionalen Bereich und es kam kaum zu einer Internationalisierung des Unabhängigkeitskrieges. Diese Einschränkung machte ihn für lange Zeit auch so unbekannt im Bewusstsein der
einzelnen Europäer. Nur eine kleine Minderheit wird in Europa – außer natürlich in Frankreich, wo in den letzten Jahren durch Medienkampagnen bereits manches aufgearbeitet wurde
– den Algerienkrieg und seinen Verlauf genauer kennen. Auch deshalb ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema wichtig, damit man die Geschichte Frankreichs und Algeriens als
„Außenstehender“ besser verstehen kann. Diese Fachbereichsarbeit soll dem Leser zumindest
einen kleinen Überblick über die algerische Kolonialzeit, die Ursache für den Konflikt war,
den Krieg und die Unabhängigkeit Algeriens bieten. Trotzdem sollte man sich noch näher mit
den Krisen der FLN-Alleinherrschaft auseinandersetzen, die jedoch bereits in der Kolonialzeit
ihren Ursprung finden.
Als ich mich am Anfang für das Thema Algerienkrieg entschied, war diese Entscheidung
mehr eine spontane, als eine lang überlegte gewesen. Ich hatte zuvor eine Vielzahl anderer
Ideen für FBA-Themen, doch ich wollte einen für mich völlig unbekannten Konflikt als Ge48
genstand meiner Arbeit wählen. Ich habe durch diese Fachbereichsarbeit sehr viel über den
Maghreb und im speziellen über Algerien und die jüngere französische Geschichte gelernt.
Auch wenn die Recherche und das Niederschreiben, sowie das Überarbeiten dieser Arbeit viel
Zeit in Anspruch genommen haben, waren sie diese wert. Außerdem hat diese Arbeit mein
Interesse an der kolonialen Vergangenheit Afrikas geweckt. Hinzu kommt, dass ich des Öfteren geradezu überrascht war von manchen Fakten, die ich während meiner Recherche entdeckte. Ein Beispiel wäre das Ausmaß der Korruption im unabhängigen Algerien, auf das ich
jedoch in meiner Arbeit schließlich nicht weiter eingegangen bin, oder der Einsatz von Folter
im Algerienkrieg. Ich werde mich sicher weiterhin mit dem Algerienkonflikt beschäftigen, da
ich noch einzelne Punkte zunächst als Kapitel eingeplant hatte, auf die jedoch aus Platz- und
Zeitgründen nicht näher eingegangen wurde. So gäbe es noch eine Vielzahl an Konflikten in
der jüngeren Geschichte Algeriens zu entdecken, wie die genauen Auswirkungen des Bürgerkrieges oder den autoritären Führungsstil der FLN. Zuletzt muss ich auch sagen, dass das
Erstellen dieser wissenschaftlichen Arbeit lehrreich war und mich hoffentlich gut auf die Arbeiten, die im späteren Studium noch auf mich warten werden, vorbereitet hat.
49
This war cannot be summed up easily because of the various viewpoints and opinions, although the aftermath is clear and still exists today. The Algerian War of Independence caused
a huge number of casualties, but there was never an internationalisation of the conflict. This is
also the reason why many European people are so unfamiliar with the war. Therefore a discussion about this subject has to be one of the priorities of the European historians. This research paper should offer an overview of this conflict, its reasons and the independence of
Algeria.
50
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Ich erkläre, dass ich diese Fachbereichsarbeit ausschließlich selbst und ohne Gebrauch unerlaubter Hilfsmittel oder Hilfen verfasst habe.
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