Bundesgymnasium und Bundesrealgymnasium Amstetten Die Entkolonialisierung Algeriens Ursachen, Verlauf und Folgen eines unaufgearbeiteten Konflikts Vorgelegt bei Dr. Harald Tanzer im Fach Geschichte und Politische Bildung von Dominik Ivancic, 8c Amstetten, Schuljahr 2008/2009 1. Vorwort .........................................................................................................................................3 2. Historische Diskussion ..................................................................................................................4 2.1. Unterschiedliche Forschungszugänge ....................................................................................4 2.1.1. Französische Forschung ..................................................................................................4 2.1.2. Algerische Forschung ......................................................................................................5 2.1.3. Internationale Forschung – verwendete Literatur .........................................................6 2.1.4. Die Behandlung des Algerienkrieges in Schulbüchern ...................................................7 2.1.4.1. Frankreich.................................................................................................................7 2.1.4.2. Algerien .....................................................................................................................8 3. Kolonialherrschaft in Algerien .....................................................................................................9 3.1. Eroberung Algeriens ..............................................................................................................9 3.2. Die schrittweise Kolonialisierung Algeriens – das koloniale System .................................. 10 3.2.1. Anfängliche Agrar- und Siedlungspolitik ..................................................................... 10 3.2.2. Entwicklung des „Agrarkapitalismus“........................................................................... 13 3.2.3. Verflechtung zwischen Mutterland und Kolonie .......................................................... 14 3.2.4. Wirtschaftliche Interessen Frankreichs ........................................................................ 15 3.2.4.1. Die ungleiche Arbeitsteilung und einige Profiteure des Systems ........................... 15 3.2.5. Demographische Entwicklung und Berufsverteilung ................................................... 18 3.2.6. Veränderungen der algerischen Gesellschaft durch die Kolonialherren ..................... 20 3.2.6.1. Bildungswesen während der Kolonialzeit .............................................................. 21 3.2.6.2. Rassismus und Integrationsbemühungen ............................................................... 22 3.3. Das koloniale System und die Ursachen des Unabhängigkeitskrieges ................................ 23 4. Der Unabhängigkeitskrieg .......................................................................................................... 24 4.1. Die Geschichte des algerischen Nationalismus .................................................................... 25 4.2. Massaker von Sétif und Guelema ........................................................................................ 26 4.3. Der Krieg .............................................................................................................................. 28 4.3.1. Französische Wahrnehmung ......................................................................................... 30 4.3.2. Innenpolitik – Fall der 4. Republik ............................................................................... 33 4.3.3. Internationale Reaktion und Debatte ............................................................................ 34 4.3.4. Taktiken und Erfolge der FLN ..................................................................................... 37 4.3.5. Französische Reaktion ................................................................................................... 38 4.3.5.1. Repressionen ........................................................................................................... 38 4.3.5.1.1. Folter ................................................................................................................ 40 4.3.5.2. Wirtschaftliche Reformen....................................................................................... 41 4.4. Folgen des Krieges ................................................................................................................ 43 1 5. Die Unabhängigkeit Algeriens .................................................................................................... 44 5.1. Alleinherrschaft der FLN ..................................................................................................... 44 5.1.1. Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen .................................................................. 45 6. Fazit ............................................................................................................................................. 48 Quellen- und Literaturnachweis..................................................................................................... 51 2 1. Vorwort Das Massaker von Sétif. 40 000 Tote. Die Schlacht von Algier. Einsatz von Folter. Die Opfer des Algerienkrieges. 100 000, ja vielleicht sogar eine Million Tote. Und das alles nicht einmal ein Jahrzehnt nach dem 2. Weltkrieg. Ein demokratischer Staat, der sich zu den Freiheiten seiner Bürger bekannte, führte Krieg. Er führte Krieg auf einem Gebiet, welches – juristisch gesehen – zum Staatsgebiet gehörte. Er führte Krieg gegen einen Teil seiner Bevölkerung. Wie konnte der Staat Frankreich, nachdem er selbst für kurze Zeit unter Fremdherrschaft und Unterdrückung leiden musste und tausende Männer in den Weltkriegen verlor, selbst zum Unterdrücker mutieren? Diese Frage beschäftigte mich, als ich zum ersten Mal auf Wikipedia 1 mehr oder weniger zufällig einen Artikel über den Algerienkrieg entdeckte. Ich war schockiert von der hohen Opferbilanz, aber auch von der Dauer des Krieges und seinem Zeitpunkt. Außerdem waren mir nur wenige Aspekte des Konflikts bekannt. Im Prinzip wusste ich nur, dass ein Konflikt stattgefunden hatte. Vor allem aus diesem Grund habe ich den Algerienkrieg als Thema meiner Fachbereichsarbeit gewählt, da er für mich Neuland darstellte. Der Geschichteunterricht im Gymnasium beschäftigt sich aus Zeitgründen hauptsächlich mit der Geschichte Mitteleuropas, sowie mit den bekanntesten Themen der Weltgeschichte. Der Imperialismus findet natürlich als eine der Ursachen des 1. Weltkrieges einen Platz, doch werden nur selten Beispiele für Kolonien und die koloniale Situation genannt. Auch ist der algerische Unabhängigkeitskampf in Österreich nahezu unbekannt. Trotz seiner Unbekanntheit hat der Algerienkrieg noch immer Aktualitätsbezug, da viele innenpolitische Probleme Frankreichs auf ihn zurückzuführen sind und eine kritische Auseinandersetzung dem Krieg noch nicht gefolgt ist. Im Laufe der Erstellung meiner Fachbereichsarbeit kamen weitere Fragen hinzu und die meisten von ihnen konnten beantwortet werden. Das Ziel der nun vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit ist es, einen Überblick über den Algerienkrieg zu schaffen, aber auch auf einige wichtige Faktoren näher einzugehen. Zuletzt möchte ich mich noch bei meinem Betreuungslehrer Dr. Harald Tanzer, der mir mit Rat und Hilfe zur Seite stand, und bei meiner Familie, die mich motivierte und unterstützte, bedanken. 1 http://de.wikipedia.org Wikipedia ist ein frei zugängliches Lexikon mit einer Vielzahl an Artikeln, die von den Besuchern selbst gestaltet werden können. 3 2. Historische Diskussion Es gab zwar während des Algerienkrieges in Frankreich Auseinandersetzungen mit einzelnen Aspekten des Konflikts, doch gab es keine ausführliche gesellschaftliche Debatte – das Thema wurde vor allem längere Zeit verdrängt und zensuriert. So kam es erst in den letzten Jahrzehnten, vor allem um das Millennium, zu neuen Erkenntnissen über den Krieg und zu einer neuen Diskussion innerhalb Frankreichs. Im Gegensatz dazu wurde der Unabhängigkeitskrieg in Algerien als ein Befreiungskrieg gefeiert und er wurde ein propagandistisches Mittel, sowie eine Legitimierung der FLN2. Auch hier kam es nur begrenzt zu einer ausführlichen und kritischen Auseinandersetzung. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Sichtweisen des Algerienkrieges behandelt. 2.1. Unterschiedliche Forschungszugänge 2.1.1. Französische Forschung Wie schon in der Einleitung erwähnt wurde, kam es in den ersten Jahren nach dem Krieg zu keiner Debatte innerhalb der französischen Gesellschaft. Viel mehr wollte man den mehr als sieben Jahre dauernden Konflikt hinter sich lassen und nach vorne blicken. Die Archive waren öffentlich nicht zugänglich und Vertreter des Militärs und der Politik machten keine Aussagen über stattgefundene Kriegsverbrechen. Vielleicht lag es auch an der Brutalität und der eigenen Verantwortung, der sich Frankreich stellen musste, oder vielleicht musste man einfach Abstand gewinnen, um kritisch über diese Thematik zu diskutieren. Erst 1992 wurden die Archive des Militärs zugänglich gemacht – also 30 Jahre nach dem Friedensvertrag von Evian3. Trotzdem blieben gewisse Dokumente, die vor allem Kriegsverbrechen dokumentierten, für Historiker unzugänglich. Jedoch war dies ein erster Schritt zur Aufarbeitung der Geschehnisse, da nun endlich eine seriöse Forschung beginnen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es zwar eine Vielzahl an historischen Zeitungsberichten und einzelnen Arbeiten, jedoch keine ausführliche historische Auseinandersetzung. Dies sollte sich ab 1992 ändern, als das Thema von französischen Historikern „entdeckt wurde“. 1999 wurde auch vom französischen Parlament der Terminus „Algerienkrieg“ anerkannt, somit gab Frankreich nach 37 Jahren zu, dass es sich beim Konflikt in Nordafrika um einen Krieg gehandelt hatte und nicht nur um eine Operation der Armee. Dies war ein weiterer wichtiger Schritt – auch in den französischalgerischen Beziehungen. Außerdem wurde ab 2001 der Zugang zu den Archiven einfacher 2 Front de Libération Nationale – algerische Nationalbewegung und Befreiungsfront, die die Unabhängigkeit Algeriens erlangte und danach die Macht ergriff. 3 Friedensvertrag zwischen der FLN und Frankreich, der zur Unabhängigkeit Algeriens führte. (vgl. Kapitel 4.3.) 4 gestaltet, um Forschern die Möglichkeit einer Begutachtung zu geben. 4 2000 kam es zu einer medial geführten Kampagne gegen die Verbrechen der französischen Armee. Trotz dieser Aufarbeitung kann davon ausgegangen werden, dass Anklagen gegen Angehörige der Armee die Ausnahme bleiben werden. In den 60er Jahren gab es verschiedenste Amnestiegesetze, die die Operationen der Armee im Nachhinein straffrei machten. 5 Trotzdem kam es zu immer mehr Augenzeugenberichten – auch seitens der Folterer und Generäle – nachdem das Thema wieder publik wurde.6 Es war und ist also wichtig, über dieses Thema zu schreiben und sich mit diesem Thema zu beschäftigen, da es noch lange nicht vollständig aufgearbeitet ist und es sicher noch unzählige Ereignisse aufzudecken gilt. Dennoch kam es zu teilweise heftig geführten Diskussionen innerhalb der französischen Gesellschaft, wie die Geschichte und die Ereignisse des Algerienkrieges aufzufassen seien. Natürlich versuchten hier die ehemaligen Algerienfranzosen und rechte Kräfte die Armee zu schützen und die Massaker und Foltermethoden zu leugnen. Auf der anderen Seite gab es von Linken und Gegnern des Algerienkrieges Vorwürfe an die Generäle. Ein einheitliches Geschichtsbild zu finden, ist in diesem Konflikt nicht möglich. Viel mehr handelt es sich auch heute noch um kein homogenes Geschichtsbild, sondern um ein heterogenes. Diese Tatsache wurde durch die Diskussion um die Jahrtausendwende noch verstärkt.7 2.1.2. Algerische Forschung Die algerische Regierung versuchte die Geschichte des Algerienkrieges nicht zu verdrängen, wie es in Frankreich der Fall war, sondern wollte die Geschichte verzerrt wiedergeben. Der Krieg wurde als „algerische Revolution“ gepriesen und die FLN als der legitime Anführer des Volkes.8 Da die FLN nur durch den Unabhängigkeitskampf an die Macht kam, musste die Partei diese Legitimierung unterstreichen. Die Geschichte Algeriens wurde von der FLN benützt und abgeändert, um als Propaganda fungieren zu können. 9 Auch die Historiker wurden vom Staat an einer unabhängigen Geschichtsforschung gehindert. 10 Die Geschichte wurde von der FLN geschrieben. Am Anfang der Unabhängigkeit musste diese Propaganda noch 4 Vgl. Pervillé, Guy: Die Geschichtswissenschaft und die späte Erforschung des Algerienkrieges. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 66 -74. – Frankfurt/Main 2006. S. 68ff. 5 Vgl. ebd., S. 71 (Fußnote 15) 6 Vgl. Mauss-Copeaux, Claire: Die Geschichte des Algerienkrieges: Das Problem der Gewalt. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg . S. 75-83. – Frankfurt/Main 2006. S. 82 7 Vgl. Pervillé, Guy, S. 70ff. 8 Vgl. Meynier, Gilbert: Die „Revolution“ der FLN (1954-1962). In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 153-173. – Frankfurt/Main 2006. S. 153f. 9 Vgl. Remaoun, Hassan: Befreiungskrieg und Geschichtsunterricht in der Schule. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S.205-218. – Frankfurt/Main 2006. S. 207f. 10 Vgl. Djerbal, Daho: Der Algerienkrieg in Forschung und Lehre. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S.184-191. – Frankfurt/Main 2006. S. 189 5 sehr wirksam gewesen sein, doch mittlerweile war ein Großteil der algerischen Bevölkerung nach dem Krieg geboren worden.11 Diese jungen Menschen verband wohl kaum etwas mit dem Sieg der Befreiungsfront. So verlor die Einheitspartei immer mehr an Legitimation. Auch dies könnte ein Grund für die Unruhen ab den 80er Jahren sein, die im letzten Kapitel erwähnt werden. Genau durch diese Erhebungen der Bevölkerung musste die FLN einlenken und dem algerischen Volk – zumindest einige Jahre lang – mehr Rechte gewähren. 1988 konnte also mit der kritischen Forschung begonnen werden. Erstmals wurden Zeugenberichte geschrieben und veröffentlicht, die von Randgruppen, die von der FLN verdrängt wurden, stammten. So kamen Anhänger Messali Hadjs 12 zur Sprache, die gegen die Soldaten der Befreiungsfront gekämpft hatten. 13 Trotzdem gibt es noch sehr viel Nachholbedarf in der algerischen Forschung. Das Ziel muss eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Algerienkrieg sein. 2.1.3. Internationale Forschung – verwendete Literatur Interessant ist auch die internationale Erforschung des Algerienkrieges. Im Gegensatz zu den historischen Debatten in Algerien bzw. Frankreich, beschäftigten sich nur selten Historiker anderer Länder mit dem Unabhängigkeitskrieg. Dies liegt wohl vor allem daran, dass dieser Krieg ein interner Konflikt war, der – wie in dem Kapitel 4.3.2. näher erwähnt wird – nur am Rande zu einer internationalen Debatte führte und auch nicht von den beiden Großmächten UdSSR und USA für sich vereinnahmt wurde. Der Krieg hatte daher nur begrenzt Auswirkungen auf andere Länder. Es gibt zwar einige ausgezeichnete Arbeiten, wie „Frankreichs Algerienkrieg“ von Hartmut Elsenhans14, der sich ausführlich mit den Ursachen und Auswirkungen des Krieges beschäftigte, doch diese sind im Vergleich zu Werken über andere Konflikte dieser Größenordnung außerordentlich selten. Auch wenn man Bibliotheken, wie die Universitätsbibliothek der Universität Wien15, zu Recherchezwecken verwendet, findet man fast nur französische oder algerische Autoren, deren Bücher entweder übersetzt wurden oder gar nur in der Originalsprache vorliegen. Natürlich gibt es auch einige Diplomarbeiten über das Thema Algerienkrieg und vereinzelte Werke, doch diese beinhalten meist nur Teilaspekte des Krieges. Vor allem aus diesem Grund wird in den nachfolgenden Seiten oft „Frankreichs Algerienkrieg“ zitiert, da es eines der ausführlichsten deutschsprachigen Werke des Algerien11 2003 waren 33,9% der Bevölkerung unter 15 Jahre alt (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Algerien#Bev.C3.B6lkerung (Stand: 10.01.2009)) 12 Messali Hadj (1898-1974) war ein algerischer Nationalist, dessen Bewegung mit der FLN in Konflikt geriet. Es entstand ein regelrechter Kleinkrieg, der vor allem in Frankreich stattfand. 13 Vgl. Soufi, Fouad: Die Erinnerung befragen? In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 174183. – Frankfurt/Main 2006. S.178f. 14 Hartmut Elsenhans ist ein deutscher Politologe, der sich in seiner Dissertation „Frankreichs Algerienkrieg“ näher mit den Ursachen und dem Verlauf des Algerienkrieges beschäftigte. 15 Vgl. http://aleph.univie.ac.at/ (Stand 19.01.2009) 6 krieges ist und auch von anderen Autoren, wie Frank Renken16, dem Herausgeber des Buches „Trauma Algerienkrieg“, als Standardwerk über den Algerienkrieg bezeichnet wird. 17 Ein anderer Autor, der sich auch ausführlicher mit Algerien beschäftigte und beschäftigt, ist Bernhard Schmid18, dessen Werke „Algerien - Frontstaat im globalen Krieg?“ und „Das koloniale Algerien“ ebenfalls öfters zitiert werden. 2.1.4. Die Behandlung des Algerienkrieges in Schulbüchern 2.1.4.1. Frankreich Frankreichs Schulunterricht war bis in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts von einer kolonialen Propaganda geprägt. Diese beschrieb die Pflicht und die Überlegenheit des weißen Menschen. Die „Weißen“ mussten die einfachen Völker und Eingeborenen zuerst besiegen und ihr Land nehmen, um sie dann zivilisieren zu können. Man wies auch auf die „Tatsache“ hin, dass der weiße Mensch – im Falle Frankreichs der Franzose – den anderen Völkern überlegen sei und dass vor der Eroberung das Chaos geherrscht habe. Es wurde beim Unterricht über die Kolonialzeit vor allem Algerien als Musterbeispiel herausgepickt, da dieses Land die erste Kolonie war und auch zu einem Teil des Mutterlandes wurde. Hier lag der Akzent vor allem auf den positiven Aspekten der Kolonisierung, wie dem Aufbau einer Infrastruktur und verschiedenster Programme, die das „Wohl“ der Kolonie sichern sollten. Die Schattenseiten der Kolonialzeit wurden kaum bis gar nicht behandelt.19 Vor allem Aufstände kamen nicht zur Sprache, da laut den Schulbüchern die Eingeborenen glücklich unter der Kolonialherrschaft waren. 20 Für dieses einseitige Geschichtsbild war und ist auch heute noch das zentrale Bildungswesen verantwortlich, das die Möglichkeit bot und bietet, Unterrichtsbücher sowie den Lehrplan vollständig von „oben“ zu bestimmen und so den Lehrern keine Möglichkeit zu geben, einen eigenen, kritischeren Unterricht zu führen. Nach dem Algerienkrieg und dem Zerfall des französischen Kolonialreichs wurde vor allem der Unabhängigkeitskrieg nicht behandelt. Erst ab 1980 kam es zu einer Veränderung der Lehrpläne und Lehrbücher. Der Krieg wird zwar jetzt erwähnt, jedoch nur im kleinen Rahmen. Auch die Lehrer haben bis heute kaum Zeit, über den Algerienkrieg mit den Schülern zu sprechen, da der Lehrplan nicht mehr als 1 – 1 ½ Stunden für diesen Konflikt vorsieht. Das große Problem ist, dass in diesem straffen Programm meist auf die Ursachen keine Rücksicht genommen wird und so ein Wider16 Frank Renken ist Politik- und Sozialwissenschaftler, der gemeinsam mir Christiane Kohser-Spohn einen Sammelband zum Thema Algerienkrieg – „Trauma Algerienkrieg“ erstellte und herausgab. 17 Vgl. Kohser-Spohn, Christiane, Renken Frank: Trauma Algerienkrieg. – Frankfurt/Main 2006, S. 265 18 Bernhard Schmid ist ein deutscher Korrespondent und Autor verschiedener linker Zeitungen und Jurastudent. 19 Vgl. Lemaire, Sandrine: Der Algerienkrieg in den französischen Schulbüchern. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 123 -137. – Frankfurt/Main 2006. S. 126f. 20 Vgl. ebd., S. 129 7 spruch entsteht. Viele wissen nicht, wieso der Krieg ausgebrochen ist, da ja das koloniale Unternehmen der französischen Republik doch immer ein zivilisatorisches war und kein unterdrückendes – zumindest laut der französischen Geschichtsschreibung. Bis heute kam es weder zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialzeit noch mit dem Thema Algerienkrieg.21 Doch wäre ein solcher Unterricht für die Schüler wichtig, da auch aktuelle Probleme Frankreichs, wie das „Immigrantenproblem“ auf die Kolonialzeit und auf den Krieg gegen die FLN zurückführen.22 Es reicht nicht nur in öffentlichen Debatten auf die Vergangenheit aufmerksam zu machen – man muss den Algerienkrieg auch in den Geschichtsunterricht einbauen, damit spätere Generationen die Zusammenhänge besser erkennen können. 2.1.4.2. Algerien Der algerische Geschichtsunterricht ist heute, ebenso wie das allgemeine Geschichtsbild der algerischen Gesellschaft, stark von der Staatsdoktrin geprägt. Das Thema schlechthin ist der Algerienkrieg und die Rolle der FLN während des Kampfes. Dieses Gebiet nimmt einen Großteil der Unterrichtszeit in Anspruch und soll den Machtanspruch der Einheitspartei untermauern. 23 Bis auf den Algerienkrieg ist der Geschichtsunterricht relativ ausgedünnt.24 In den anderen Epochen findet Algerien fast keine Erwähnung, erst als es sich seiner Unabhängigkeit nähert. Der Krieg war der einzige nationalistische Moment des Maghreblandes und somit identitätsstiftend. 25 Auch reicht die Ausbildung der Lehrer nicht aus, um sich dem Krieg kritisch zu widmen. Hier sind die Historiker den Lehrern bereits voraus, da sie sich in eigenen Arbeiten mit der algerischen Geschichte auseinandersetzen. 26 Natürlich gab es seit den 80er Jahren gewisse Verbesserungen, doch der Geschichtsunterricht in Algerien bezieht sich noch immer auf den Mythos „Algerische Revolution“. 27 Das kritische Denken wird nicht gelehrt und so ist auch eine von Lehrern oder Schülern initiierte Auseinandersetzung mit den gebotenen Lehrinhalten nicht möglich. Ziel des Unterrichts ist es, die Legitimation aufrecht zu erhalten, nicht Kritik hervorzurufen. 28 Trotzdem konnte diese Schulpolitik zumindest in der jüngeren Vergangenheit nicht zu einer Stabilisierung der Lage führen, da die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu offensichtlich waren und auch der Islam im Unterricht eine verstärkte Rolle fand und findet. Diese Islamisierung war einer der Hauptgründe für den Bür21 Vgl. ebd., S. 131ff. Vgl. ebd., S. 136f. 23 Vgl. Remaoun, Hassan, S. 206 24 Vgl. Chenntouf, Tayeb: Die Geburt eines Schulfachs – Geschichte in Algerien. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 192-204. – Frankfurt/Main 2006., S. 201 25 Vgl. Remaoun, Hassan, S. 207f. 26 Vgl. Chenntouf, Tayeb, S. 202f. 27 Vgl. Remaoun, Hassan, S. 205 und S. 217f. 28 Vgl. ebd., S. 211ff. 22 8 gerkrieg des unabhängigen Algeriens.29 Um den Geschichtsunterricht wesentlich zu verbessern und kritische Denker zu „produzieren“, müsste man wohl die algerische Gesellschaft von ihren autoritären Strukturen befreien. 3. Kolonialherrschaft in Algerien 3.1. Eroberung Algeriens Um den Algerienkrieg, seine Ursachen, aber auch seine Intensität verstehen zu können, muss man bereits im Jahr 1830, also 124 Jahre vor Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges beginnen. In diesem Jahr wurde Algerien von Frankreich erobert und besetzt und bald darauf kolonialisiert. Beim Ausbruch des Eroberungskrieges sah wohl niemand den Beginn des sogenannten zweiten französischen Kolonialreichs vor, und erst 1834 wurde beschlossen, dass Frankreich in Algerien blieb. Napoleon hatte 34 Jahre zuvor in Algerien Getreide gekauft, wollte jedoch das Geld erst später zurückzahlen. Diese Schuld wurde aber nie ganz beglichen. Weder von Napoleon selbst, noch von seinen Nachfolgern. Als der Dey, der Statthalter des osmanischen Reiches, das Geld forderte, kam es zum diplomatischen Affront gegen Frankreich. Bei den heftigen Diskussionen mit dem französischen Konsul – der König weigerte sich, direkt mit dem osmanischen Statthalter in Verbindung zu treten – verlor der Dey die Beherrschung und schlug den Diplomaten mit seinem Fächer. Diese sogenannte „Fächeraffäre“, ein mehr oder weniger lächerlicher Vorfall, nahm Frankreich zum Anlass, das nordafrikanische Land zu erobern. Die dahinterliegenden Ursachen waren jedoch die Piratenflotten, die immer wieder westliche Handelsschiffe von ihren Stützpunkten an der algerischen Küste aus angriffen und innenpolitische Probleme. Der französische König wollte die rebellische Stimmung im Land durch eine Eroberung im Ausland mildern und seine Herrschaft absichern. Auch die Bourgeoisie in Marseille sah große Vorteile in dieser Eroberung, da sie auf Grund des Standortes vom Handel mit einem profranzösischen Algerien oder einer französischen Kolonie profitiert hätte. Der Statthalter bzw. die osmanische Herrscherschicht Algeriens regierte relativ autonom vom weit entfernten Istanbul. Nur Steuern wurden an das osmanische Reich gezahlt. Aus diesem Grund stieß Frankreich anfangs kaum auf Widerstand, und die osmanische Elite wurde rasch vertrieben. Ein kleiner Teil des Landes wurde schnell annektiert. In Westalgerien konnte sich 29 Vgl. Djerbal, Daho, S. 186f. 9 jedoch Abd el-Kader30, ein Stammesführer, der mehrere arabische Stämme vereinigen konnte und der später von den algerischen Nationalisten zum Volkshelden erhoben wurde, bis 1847 zur Wehr setzen. Er sowie seine Gefolgsleute und Soldaten mussten jedoch aufgeben, da Ab del-Kader seinen wichtigsten Unterstützer, den marokkanischen Sultan, verlor. 3.2. Die schrittweise Kolonialisierung Algeriens – das koloniale System In den darauffolgenden hundert Jahren kam es zu einer weitreichenden Änderung der algerischen Gesellschaft. Es muss gesagt werden, dass die Kolonialisierung keineswegs geplant war. Natürlich gab es Geschäftsmänner, die schon während des Krieges persönliche Pläne hatten, aber es gab niemals einen Generalplan, wie die Enteignungen stattfinden sollten. Mathias Dür schreibt jedoch in seiner Diplomarbeit „Islamismus und Algerienkonflikt“, dass nach dem Sieg über Abd el-Kader die französischen Vorstellungen, welche „gravierende[n] Folgen für Algerien“ hatten, umgesetzt werden konnten. 31 Es trifft wohl eher die Ansicht Jean-Paul Sartres32 zu, nach der die Kolonialherren auch nur ein Teil eines kolonialen Systems waren und nicht vollständig in der Lage waren, etwas zu ändern oder überhaupt das System zu lenken. Dieses koloniale System entstand erst durch das Eintreffen der ersten Siedler und wurde durch das französische Militär gefestigt. Später entwickelte es jedoch eine gewisse Eigendynamik, welche es dem französischen Staat unmöglich machte, während des Unabhängigkeitskrieges in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts problemlösend zu agieren. Dieses System wird anhand der folgenden Beispiele aufgezeigt. 3.2.1. Anfängliche Agrar- und Siedlungspolitik Schon während des Eroberungsfeldzuges kam es zu Enteignungen und Plünderungen, aber auch zu Massakern. Die ansässige Bevölkerung – mehrheitlich Araber, aber auch eine große Anzahl von Berbern – wurde von den Franzosen vom fruchtbaren Küstenstreifen33 vertrieben und bekam meist nicht einmal eine Entschädigung für diesen Landraub. Die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen wurden durch ein neues Konstrukt ersetzt. Unter osmanischer Herrschaft hatte es eine Art Kollektivbesitz gegeben – jedes Dorf hatte gemeinsam seine Felder bestellt.34 Jedoch wurde unter französischer Herrschaft das französische Recht, der Code Ci30 Es gibt verschiedene Schreibweisen dieses Namens und fast jede Literatur benützt eine andere Schreibweise. Es wird z.B. auch Abd al-Qadir verwendet. Wahrscheinlich ist dies auf die arabischen Schriftzeichen zurückzuführen, die keine einheitliche Übersetzung in lateinische Schrift zulassen. 31 Dür, Mathias: Islamismus und Algerienkonflikt – Wien 2000, S.84 32 Vgl. Sartre, Jean-Paul: Der Kolonialismus ist ein System. In: König, Traugott (Hrsg.): Wir sind alle Mörder. S. 15-31 – Hamburg 1988, S. 16ff. 33 Algerien hat trotz seiner Größe nur einen sehr dünnen Küstenstreifen, welcher wirklich fruchtbar ist. 34 Vgl. Schmid, Bernhard: Das koloniale Algerien – Münster 2006, S.08 10 vil35, übernommen – die Einheimischen sollten „zivilisiert“ werden –, was den Landraub nur noch einfacher gestaltete. Der Kollektivbesitz wurde zu Privatbesitz umgewandelt und konnte schneller und einfacher, aber auch billiger, gekauft werden. 36 Diese massenhafte Enteignung führte zu Hungersnöten und Unterernährung, da der Boden am Rand der Sahara unfruchtbar war – die ansässige Bevölkerung wurde auf diese Randgebiete durch die Enteignungen verdrängt – und es zu wenig Grund und dadurch zu wenig Nahrung für die autochthone Bevölkerung37 gab. Im Endeffekt verringerte sich die Bevölkerung in den ersten 23 Jahren um 200 000 Menschen, einerseits durch Hungersnöte, andererseits durch Vertreibung und Ermordung. 38 Wie man an den vorhergehenden Zahlen sieht, reichte der nach den Enteignungen übrig gebliebene Boden nicht einmal für Subsistenzwirtschaft und schon gar nicht für Exporte, denn die Anbaufläche der Europäer war verhältnismäßig wesentlich größer als die der Araber.39 Für Hartmut Elsenhans ist „Die Enteignung der muselmanischen Bevölkerung [ist] das historische Schlüsselerlebnis der algerischen Gesellschaft“ und es entwickelt sich dadurch ein „Agrarpatriotismus“.40 In Wirklichkeit gab es jedoch noch keine nationalistischen Strömungen in Algerien, diese entstanden erst später. Die kollektive Bestrafung der Moslems, der kollektive Landraub der Europäer, vereinigte die Algerier. Sie hatten einen gemeinsamen Feind. Dies ist zwar wie schon oben angeführt kein richtiger Nationalismus, aber zumindest eine Vorform.41 Trotz herrschender Hungersnöte konnten die europäischen Betriebe Rekordmengen Getreide nach Frankreich exportieren, denn sie erhielten „das beste Viertel der landwirtschaftlich nutzbaren Böden“42 und bekamen leichter Kredite von den französischen und algerischen Kreditinstituten als die einheimische Bevölkerung. Auch die staatlichen Subventionen – eigentlich als Hilfe für die arabische Bevölkerung gedacht – finanzierten hauptsächlich europäische Betriebe. 43 Hier wird die Ungerechtigkeit der kolonialen Wirtschaft deutlich. Auf der einen Sei35 Der Code Civil ist das französische Gesetzbuch, welches von Napoléon Bonaparte eingeführt wurde und eigentlich auch das Recht auf Freiheit beinhaltete. 36 Vgl. Sartre, Jean-Paul, S.19 37 Die autochthone Bevölkerung bezeichnet die einheimische und ursprüngliche Bevölkerung. 38 Vgl. Schmid, Bernhard, S. 19 39 Vgl. Elsenhans, Hartmut: Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962. Entkolonisierungsversuch einer kapitalistischen Metropole. Zum Zusammenbruch der Kolonialreiche – München 1974, S. 93 40 Der Begriff „Agrarpatriotismus“ bezieht sich auf die einzige nationale Gemeinsamkeit der Algerier. Sie waren alle vom Landraub der Siedler betroffen, und ihr einziger Wunsch war, ihre eigenen Agrarflächen zurückzubekommen. Diese verloren gegangenen Landflächen waren also ein Band, welches die Moslems zusammenhielt. Elsenhans, Hartmut, S. 90f. 41 Die algerische Bevölkerung war bis zum 20. Jahrhundert kein richtiges Volk. Viel mehr gab es einzelne Stämme. Die Algerier waren zwar durch die arabische Sprache und islamische Religion verbunden, doch das traf auch auf den Großteil der arabischen Welt zu. Ein von den anderen Moslems abgegrenztes Volk mit eigenem Nationalbewusstsein gab es nicht. Im Gegensatz zu den späteren nationalistischen Strömungen gab es damals keine Unabhängigkeitsforderungen – Algerien war auch vor der französischen Herrschaft nicht frei gewesen –, man wollte nur eine Verbesserung der Lage erreichen. 42 Ebd., S. 98 43 Vgl. ebd., S. 93f. 11 te stand der Moslem, der kaum überleben konnte, da er nur schlechte Böden besaß, und auf der anderen Seite der Europäer, der entweder Millionenbeträge erwirtschaftete oder zumindest Arbeit und genug Nahrung hatte. Die Hungersnöte erklären sich durch folgenden Umstand: Die europäischen Betriebe exportierten nur ins Mutterland, verkauften aber ihre Nahrungsmittel meist nicht an die autochthone Bevölkerung, und wenn sie in algerischen Märkten zu finden waren, dann nur zu hohen Preisen, die ein Araber oder Berber nicht bezahlen konnte. Daher gab es nur einen kleinen Binnenmarkt, der hauptsächlich aus Produkten der autochthonen Bevölkerung bestand. Auch kam es in Krisenzeiten zu keiner Solidarität mit der einheimischen Bevölkerung, da die Franzosen und die anderen Europäer rassistische Vorurteile hatten, auf die im Kapitel 3.2.6.2. näher eingegangen wird. Die Enteignungen hatten nur den Zweck, Siedlungsraum und Ackerland für Europäer zu schaffen, denn nach der Eroberung war das Land zunächst hauptsächlich als Siedlungskolonie gedacht. Algerien war ein rohstoffarmes Land, wo weder besondere Bodenschätze vorhanden waren, noch ein geeignetes Klima für eine Spezialisierung der Landwirtschaft. Also gab es nur die Möglichkeit, eine Siedlungskolonie zu bilden. Die überschüssige Bevölkerung – teils freiwillige Siedler, teils gezwungene Arbeitslose – sollte sich in dem nordafrikanischen Land ansiedeln. Diese waren meist kleine Bauern oder Knechte bei Großgrundbesitzern, die sich auch ansiedelten. Unter diesen Siedlern gab es eine hohe Sterblichkeitsrate, da viele die wüstenähnlichen Temperaturen im Norden nur schwer aushielten, aber auch durch Krankheiten starben. Bis 1866 wuchs die Zahl der europäischen Algerier trotzdem auf 218.000, wobei die Hälfte aus anderen Ländern als Frankreich kam. 44 Sie wohnten meist in den größeren Städten entlang der Küste, aus denen zuvor die Araber vertrieben worden waren. 45 Diese Siedler glichen also den Bevölkerungsrückgang der urbanen Gebiete Algeriens wieder aus und nahmen sich die besseren Böden. Am Anfang wurde diese Ansiedlung direkt vom Staat gesteuert und gefördert. Zum Beispiel regelte der Staat die Verteilung der Böden und half teilweise mit dem Militär bei der Enteignung und der Vertreibung der Moslems. Das große Problem dieser Agrar- und Siedlungspolitik war, dass es nicht genügend Land für Siedler und Einheimische gab. Im Gegensatz zu den früheren Kolonien in Nord- und Südamerika kam es nicht zu einer fast kompletten Auslöschung der autochthonen Bevölkerung, je- 44 45 Vgl. Schmid, Bernhard, S.19f.: hauptsächlich Spanier, Italiener und Malteser Vgl. ebd., S.16 12 doch wurde sie auf die schlechten Böden verdrängt. Deswegen und auch auf Grund der rigorosen Repressionen war das algerische Volk nie ganz zu „befrieden“. So kam es zum Beispiel 1871 zum Aufstand in der Kabylei 46, wo sich ein großer Teil der arabischen und berberischen Bevölkerung erhob, aber vom französischen Militär geschlagen werden konnte. Die Bestrafungen waren vielfältig. Einerseits wurden weitere 500.000 Hektar Land enteignet, andererseits mussten Reparationszahlungen 47 der einzelnen Stämme nach Frankreich geliefert werden. Doch die schlimmsten Vergeltungsaktionen waren die zahlreichen Morde. Es gab einen starken „Bevölkerungsrückgang“48 von bis zu 800.000 Menschen, wobei aber mindestens 500.000 durch direkte Folgen des Landraubs oder durch Ermordung starben. Nach diesen kollektiven Bestrafungen kam es Jahrzehnte lang nicht mehr zu einem Aufstand der Bevölkerung. 49 3.2.2. Entwicklung des „Agrarkapitalismus“50 Zunächst gab es eine Vielzahl an landwirtschaftlichen Kleinbetrieben. Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich einige wenige Großgrundbesitzer durchsetzen, die die anderen Bauernhöfeund Betriebe aufkauften. Dies führte zu einer weiteren Verdrängung der arabischen Landwirte, die sich gegen diese Großgrundbesitzer noch weniger durchsetzen konnten, als gegen einzelne, kleinere Bauern. Außerdem kam es zu einer weitgehenden Modernisierung der Landwirtschaft und dadurch zu einer Effizienzsteigerung, aber auch zu einem Rückgang des Bedarfs an Angestellten. Dies führte zu einer Veränderung der Berufsstruktur, die im Kapitel 3.2.5 beschrieben wird. Dieser Agrarkapitalismus entwickelte sich zu einer rein exportorientierten Wirtschaft. Das beste Beispiel für diese war wohl der Anbau von Wein. Der Weinbau wurde ab dem Ende des 19. Jahrhunderts forciert, da die Gewinne die der Getreideproduktion bei weitem übertrafen. Es konnte jedoch nicht vollständig auf Weinbau umgestellt werden, da der Bedarf in Frankreich schnell gedeckt war und Algerien bis nach dem 2. Weltkrieg Schwierigkeiten generell beim Export in andere Länder hatte, da sich die Länder durch Schutzzölle vor anderen Volkswirtschaften abschotteten. Eine Umstrukturierung der Flächen, die für Wein zu Verfügung gestellt wurden, hätte die Ernährungslage nicht gebessert, da auch Getreide exportiert 46 Die Kabylei ist eine Gebirgslandschaft im Norden Algeriens und wurde/wird hauptsächlich von den Kabylen bewohnt, einem Berberstamm. Sie war/ist eine der ärmsten Regionen Algeriens. 47 Reparationszahlungen sind Geldbeträge, die eine besiegte Macht oder Bevölkerung dem Sieger zu leisten hat und die als Entschädigungen für entstandene Kriegsschäden herangezogen werden. 48 Man muss hinzufügen, dass es keine genauen Statistiken über die Massaker und die Folgen des Landraubs gibt. Aus diesem Grund kann ein Massenmord kaum bewiesen werden, obwohl davon auszugehen ist, dass er stattfand. 49 Vgl. Schmid, Bernhard, S.24f. 50 Vor allem Hartmut Elsenhans benützt diesen Begriff in seinem Buch „Frankreichs Algerienkrieg“ 13 worden wäre. Es wäre „lediglich die Exportfähigkeit Algeriens beschränkt worden“. Ein eigener algerischer Markt war nicht mit der Orientierung des Agrarkapitalismus konform. 51 Der Anbau von Wein kann folglich nicht alleine für die damals vorherrschenden Hungersnöte verantwortlich gemacht werden. Er zeigt jedoch die absurde Situation, in der sich wohl ein arabischer oder berberischer Landarbeiter gesehen haben muss. Er und seine Mitarbeiter arbeiteten auf dem Land, das ihnen von den Franzosen genommen worden war und bauten zu Hungerlöhnen Wein an, den sie nicht tranken und der exportiert wurde. 52 3.2.3. Verflechtung zwischen Mutterland und Kolonie Die Beziehung zwischen Mutterland und Kolonie, Frankreich und Algerien war geprägt von einem Hin und Her zwischen Autonomiebestrebungen der europäischen Bevölkerung in Algerien und einer stärkeren Bindung zum Mutterland, was von diesem gewünscht wurde. Juristisch gesehen war Algerien ab 1848 keine Kolonie, sondern Teil des Mutterlandes. Jedoch galt das französische Recht nur für die Europäer, die Mehrheit der Bevölkerung hatte weder Wahl-, noch volle Bürgerrechte.53 Es wurden aber ab 1870 algerische Juden durch das „Décret Crémieux“ – ein Gesetz aus dem Mutterland – gleichberechtigt und somit auf den Stand der Europäer erhoben. Sie hatten aber mit Antisemitismus der europäischen Siedler und der Moslems zu kämpfen, da die Juden nun „auf der anderen Seite der Barrikade“ standen.54 Diese von der jüdischen Bevölkerung gar nicht geforderte Gleichberechtigung führte dazu, dass sie zum „Freund“ der Europäer und zum „Feind“ der Moslems wurden. 55 Die Angliederung an Frankreich bot natürlich Vorteile für den Handel in dieser frankophonen Zoll- und Währungsunion und vereinfachte viele Verwaltungsaufgaben. Trotz des Umstandes, dass Algerien eigentlich ein Teil des französischen Staatsgebietes war und rechtlich gesehen keine unterworfene Kolonie56, wollte die europäische Herrschaftsschicht im Land mehr Autonomie. Da Frankreich ein sehr zentralistischer Staat war, kam es also zu einem teilweise stark ausgeprägten Konflikt zwischen Metropole und Kolonie, der schon in den ersten Jahren der französischen Herrschaft begann und sehr deutlich während des Unabhängigkeitskrieges wurde. Diese Problematik war schließlich auch der Grund für das Scheitern französischer Reformen und die damit unausweichliche Unabhängigkeit Algeriens. 51 Elsenhans, Hartmut, S. 99 Zu diesem Thema muss hinzugefügt werden, dass Wein im arabischen Raum kaum getrunken wird, da dies nicht den islamischen Grundsätzen entspricht. 53 Vgl. Schmid, Bernhard, S.20 54 Ebd., S.23 55 Vgl. ebd., S.22 56 Algerien wird im Folgenden trotzdem als Kolonie bezeichnet, da es realpolitisch gesehen nicht einfach als erweiterter Teil Frankreichs angesehen werden kann. 52 14 Trotz dieses Gegensatzes erhielt die europäische Minderheit gewisse AutonomieZugeständnisse. So hatten sie weitgehende wirtschaftliche und soziale Vollmachten. 57 Auch die Verwaltung unterstand eher der europäischen Minderheit, die sich gegen die vom Mutterland eingesetzten Gouverneure fast immer durchsetzen konnte.58 Durch eine stark ausgeprägte Verwaltung gab es einen riesigen Apparat, der von Frankreich kaum kontrollierbar war und es kam somit zu einer „Unterverwaltung“ durch französische Organe, vor allem auf dem Land 59 – die Beamten, die meist der europäischen Bevölkerungsschicht angehörten, kümmerten sich selten um die Verwaltungsaufgaben außerhalb der Städte, in denen hauptsächlich Europäer lebten. Die unterste Beamtenform waren sogenannte „Caids“, muslimische Beamte, die sich auf Grund ihrer Stellung leicht an der restlichen autochthonen Bevölkerung bereichern konnten und hauptsächlich als Steuereintreiber fungierten. Also auch manche Einheimischen hatten Vorteile durch die Korruption während der Kolonialzeit.60 Durch diese Zugeständnisse des Mutterlandes hatten die Siedler eine gute Grundlage, um ihre rassistische Vormachtstellung in Algerien zu behalten, ohne Reformen von außen fürchten zu müssen. Im nächsten Großkapitel wird noch einmal näher auf diese Konfliktbeziehung eingegangen, da erst im 20. Jahrhundert, also am Ende der Kolonialzeit und während des Unabhängigkeitskrieges, einige wichtige Komponenten hinzukamen. 3.2.4. Wirtschaftliche Interessen Frankreichs 3.2.4.1. Die ungleiche Arbeitsteilung und einige Profiteure des Systems War während der Kolonialisierung Amerikas hauptsächlich das Ausbeuten der Rohstoffe wichtig, kam im Imperialismus ein weiterer, noch wichtigerer Aspekt hinzu. Alle westlichen Großmächte waren führende Industrienationen, doch waren ihre Handelsbeziehungen untereinander geprägt von Zöllen und Handelshemmnissen. Als durch moderne Maschinen die Produktionszahlen stiegen, musste nach neuen Absatzmärkten gesucht werden. Hier kamen die Kolonien gerade recht. Erstens konnte man dort billige Rohstoffe für die Industrie ausbeuten und importieren, und zweitens wurden europäische Fertigwaren in diese Länder exportiert. Hier spielte natürlich die Siedlungskolonie Algerien für Frankreich eine wichtige Rolle, 57 Im Folgenden wird vor allem Hartmut Elsenhans zitiert, da er in seinem Buch „Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962“ sehr viele Statistiken aufzählt und einen guten Überblick über die Kolonialzeit im 20. Jahrhundert schafft. Generell ist dieses Buch ein Standardwerk über die Kolonialzeit, sowie über den Krieg in Algerien Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 90 58 Vgl. ebd., S.121 59 Ebd., S.120 60 Vgl. ebd., S.119f. 15 denn die europäische Minderheit war wohlhabend genug, um Produkte aus dem Mutterland zu kaufen – die unterdrückten Moslems kamen meist nie in den Genuss europäischer Güter.61 Doch wie konnten sich die Siedler die teuren Fertigwaren leisten, wenn sie doch selbst nur billige Rohstoffe exportierten? Sie mussten die einheimische Bevölkerung ausbeuten. Wie schon oben angeführt, bemächtigten sie sich der Gründe der autochthonen Gemeinschaften und Stämme. Außerdem stellten sie manche Araber und Berber wieder als Feldarbeiter an und entlohnten diese schlecht. Sie konnten also trotz ihrer billigen Rohstoffe genügend Gewinne für Importe erzielen. Sie mussten weder Kapital für den Grund investieren, weil dieser ja einfach enteignet worden war, noch mussten sie den Knechten einen angemessenen Lohn zahlen, da es durch die militärische Präsenz Frankreichs kaum zu Aufständen kam. 62 Auf Grund der Exportinteressen der französischen Industrie kam es nie zu einer wirklichen Industrialisierung des Landes. Man wollte sich nicht eine Konkurrenz in Algerien schaffen. Also war die Kolonie abhängig von den Industriegütern Frankreichs. 63 Es wurde zwar während der Weltkriege versucht einen algerischen sekundären Sektor aufzubauen, da die Versorgung durch das Mutterland durch die Weltkriege verschlechtert wurde oder gar aufhörte. Dieser konnte aber nie wirklich konkurrenzfähig werden, da er sofort nach den Weltkriegen durch französische Konzerne, die billiger produzieren konnten, verdrängt wurde.64 Da Algerien ein energiearmes Land war, verteuerte sich die Produktion. Algerien blieb also weiterhin ein unterentwickeltes Land, dessen Stärken im exportorientierten primären Sektor lagen. Dieser Umstand lässt sich selbst heute noch in ehemaligen afrikanischen Kolonien feststellen. Nur wenige Länder konnten eine eigene Industrie aufbauen und sind bis zum heutigen Tag von den großen Industrienationen abhängig. Auch für das „junge Algerien“ war diese einseitige wirtschaftliche Entwicklung ein Hindernis für den wirtschaftlichen Aufschwung. Aber nicht nur die Industrie profitierte von der Kolonie in Nordafrika. Andere französische Unterstützer des kolonialen Systems waren z.B. die Transportfirmen, die vor allem um Marseille entstanden und ein Transportmonopol zwischen Frankreich und Algerien innehatten, die Zuckerproduzenten, die für den Weltmarkt zu teuer produzierten und ebenso die Textilindustrie, die einen fixen Absatzmarkt durch Algerien hatte.65 61 Vgl. Sartre, Jean-Paul, S. 18 Vgl. ebd., S.18f. 63 Vgl. ebd., S.19 64 Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 102 65 Vgl. ebd., S. 176f. 62 16 Nachdem, kurz nach Ausbruch des Algerienkrieges, Erdöl in der Sahara Algeriens entdeckt worden war, kam eine weitere Interessensgruppierung in Frankreich hinzu. Die französische Republik sah in den neuentdeckten Funden eine weitere Bestätigung ihrer Algerienpolitik, denn Erdöl wurde schon ab den 50er Jahren ein entscheidender wirtschaftlicher Faktor. Da Frankreich nach dem 2. Weltkrieg im Nahen Osten nahezu keinen politischen Einfluss hatte, war es weitgehend von den Entscheidungen des internationalen Erdölkartells ausgeschlossen.66 Daraufhin wurde verstärkt nach Vorkommen in den französischen Kolonien und Gebieten gesucht. Schon Ende der 40er Jahre wurden Erdölvorkommen in der Sahara vermutet, doch erst 1956 entdeckt. Diese Erdölfunde waren von so einem großen Ausmaß, dass Frankreich zu einem selbstversorgenden Erdölstaat hätte werden können. Außerdem erhoffte sich der Staat mehr Einfluss in der internationalen Erdölwirtschaft verschaffen zu können und seinen Großmachtanspruch zu festigen. 67 Bei der Suche nach Erdöl kooperierte der Staat, der die meisten Förderungen dafür bereithielt, mit der Privatwirtschaft, doch bald kam es zur Konkurrenz zwischen staatlichen Betrieben und den privaten Konzernen. 68 Aber die Suche nach Erdöl und der Aufbau eines neuen Wirtschaftszweiges waren zu kostspielig für Frankreich, das daraufhin viele Staatsbetriebe teilprivatisieren musste. Außerdem verschaffte sich Frankreich durch Finanzierungsgesellschaften noch mehr Geld. Internationale Konzerne hielten sich weitestgehend vom Saharaöl fern, da die französische Regierung strenge Auflagen vorsah und nur das Know-How dieser Kompanien wollte, jedoch nicht ihre Konkurrenz. Hartmut Elsenhans spricht deswegen von einer „nationalpetrolistischen Strategie“ 69 , die Frankreich im Energiesektor weitgehend autark gemacht hätte. Der Staat kooperierte also mit den französischen Konzernen um diese Strategie zu verwirklichen. Im Endeffekt konnte das Öl jedoch nur begrenzt genützt werden, weil einerseits die chemische Zusammensetzung des Erdöls nicht des Bedarfs der französischen Wirtschaft, die hauptsächlich nach Heizöl verlangte, entsprach und andererseits auch in Libyen Öl gefunden wurde, das näher an der Küste lag. Aus diesem Grund musste der Staat mit dem internationalen Kartell zusammenarbeiten, um das eigene Erdöl zu verkaufen. Nach dem Krieg wurde der neue Staat Algerien von Frankreich bei der Erdölproduktion unterstützt, bis dieser eine eigene Wirtschaft aufbauen konnte. Die Gasvorkommen konnten in den 50er Jahren nur schwierig transportiert werden und blieben deshalb fast unbedeutend. 66 Vgl. ebd., S. 202f. Vgl. ebd., S. 207f. 68 Vgl. ebd., S. 213 69 Ebd., S. 235f. Die nationalpetrolistische Strategie sah eine staatliche Förderung der Ölvorkommen mit Hilfe der französischen Privatwirtschaft vor. Ausländische Konzerne sollten wenn möglich nicht an der Ausbeutung teilnehmen. 67 17 3.2.5. Demographische Entwicklung und Berufsverteilung Ab dem späten 19. Jahrhundert und vor allem nach den Weltkriegen konnte sich die Modernisierung auch in Algerien durchsetzen. Durch neue Maschinen wurde die Agrarwirtschaft weniger arbeitsintensiv, und es konnte zugleich mehr produziert werden. So gab es zwischen 1954 und 1959 z.B. einen Rückgang der Arbeitsplätze im 1. Sektor um 300 000 Beschäftigte.70 Doch was sollte mit den Feldarbeitern geschehen? Es waren keine Fabriken vorhanden, um Arbeitslosen eine neue Arbeit zu geben. Aus diesem Grund kam es zu zwei Entwicklungen der algerischen Gesellschaft: einerseits einer europäischen und andererseits einer autochthonen Entwicklung. Die europäischen Siedler waren zum Großteil als Kleinbauern nach Afrika gekommen, ihre Höfe wurden aber bald aufgekauft. Einige wenige waren Großgrundbesitzer, die hohe Einnahmen erzielten. Kurze Zeit war der Rest der Europäer auch als Feldarbeiter tätig, doch schnell wurden die Einwanderer durch billigere, einheimische Arbeitskräfte ersetzt und diese durch Maschinen. Doch eine Industrie konnte, ja durfte gar nicht aufgebaut werden, um die koloniale Arbeitsteilung nicht zu ändern. Deswegen wurde ein überdimensional großer dritter Sektor aufgebaut und die Industrialisierung mehr oder weniger übersprungen, was üblich für ein Kolonialland war und was auch später in vielen Ländern der „Dritten Welt“ praktiziert wurde. Es wurden aber nicht so viele Dienstleistungen benötigt, wie vorhanden waren. Ab diesem Zeitpunkt wurde das Kolonialsystem für den Staat kostspielig. Die Arbeitsteilung konnte nur dann funktionieren, wenn es einen Absatzmarkt gab. Doch ohne Lohn, konnten selbst die Europäer keine französischen Waren mehr kaufen. Nun musste die Metropole eingreifen und die Verwaltung in Algerien teilweise vergrößern und vor allem mit Algerienfranzosen besetzen. Somit wurde eine rassistische Berufsverteilung aufgebaut. Frankreich und vor allem die europäische Herrschaftsschicht besetzten Posten im 3. Sektor hauptsächlich mit Europäern und machten es den Moslems fast unmöglich, Arbeit in öffentlichen Betrieben zu finden. Die Angestellten wurden daraufhin zur größten Gruppe der europäischen Erwerbstätigen in Algerien.71 Diese Tatsache führte auch zu verstärktem Rassismus der Siedler. Da ihre Arbeitsposten keine zu hohen Fähigkeiten voraussetzten, waren sie mehr oder weniger durch die Araber und Berber ersetzbar. Nur die koloniale Situation, nur die rassistische Trennung 70 71 Vgl. ebd., S. 109 Vgl. ebd., S. 112 18 zwischen Europäern und Moslems hielt die Siedler „oben“. Sie wurden somit Nutznießer des Systems – sie hatten Arbeit, ohne einen Konkurrenzkampf zu fürchten. Die zweite Entwicklung, die durch die Folgen der Modernisierung erkennbar wurde, war die Massenarbeitslosigkeit der autochthonen Bevölkerung, und die Entstehung eines Proletariats an den Rändern der Städte. So gab es 1955 eine Million Arbeitslose und die Stadtbevölkerung wuchs von 1900 bis 1959 fast um das 10-Fache an. 72 Diese Bevölkerungsgruppe waren nun weder Bauern noch Arbeiter und mussten somit meist als Tagelöhner ihr Geld verdienen. Natürlich gab es einige Aufsteiger, auch unter Moslems. Diese waren vor allem als Handwerker und Händler, die 1955 6% der erwerbstätigen Moslems darstellten73, beschäftigt. Trotzdem erreichten sie fast nie das Lohnniveau eines durchschnittlichen Siedlers. Die Unausgewogenheit zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten wird noch deutlicher, wenn man die Einkommensverteilung in Algerien betrachtet. In den 50er Jahren erhielten 10% der Siedler 34% des „algerischen Gesamteinkommens“.74 Ein großer Teil der Moslems blieb trotz der Landflucht Landarbeiter, doch konnten sie die durch eine Bevölkerungsexplosion stark steigende Masse nicht länger versorgen. So halbierte sich die Nahrungsversorgung zwischen 1871 und 1940 pro Kopf. 75 In weniger als 100 Jahren Kolonialherrschaft kam es zu einer Verdoppelung der algerischen Bevölkerung. Das Wachstum der autochthonen Bevölkerung lag drei Mal höher als das der europäischen Einwanderer, also bei mehr als 3%.76 Dies könnte ein weiterer Grund für den zunehmenden Rassismus der Siedler sein, da sie um ihre Existenz fürchteten.77 Diese Bevölkerungszunahme verschlechterte natürlich die Situation und verstärkte die Spannung bis zum Unabhängigkeitskrieg. Während des 1. Weltkrieges kam es zu einer dritten Entwicklung, die nicht mit der Modernisierung der Landwirtschaft zusammenhing. Es wurden Arbeitskräfte in der Metropole gebraucht, da die Arbeiter an der Front waren, die Kriegswirtschaft aber einen Ersatz brauchte. Also wurden verstärkt algerische Männer nach Frankreich geholt. Diese hatten stark mit den Vorurteilen der Franzosen zu kämpfen und vor allem mit den französischen Frauen, denn sie sahen die Moslems als Konkurrenz für ihre Männer an, die an der Front kämpften und nach dem Krieg keinen Platz mehr in der Industrie finden würden, da ja die Moslems diese Arbeit 72 Vgl. ebd., S. 111 Vgl. ebd., S. 113 74 Ebd., S. 114 75 Vgl. ebd., S. 107 76 Vgl. ebd., S. 93 77 Diese Existenzangst und dieser Rassismus werden im Kapitel 3.2.6.2. näher beschrieben. 73 19 bereits besetzt hätten. Trotzdem konnte sich im Mutterland eine erste organisierte algerische Arbeiterschaft samt Gewerkschaften bilden, die ein wichtiges Sprachrohr des Nationalismus war. Frankreich verabsäumte jedoch wieder die Gelegenheit, diese Arbeiter an sich zu binden, da sie wieder diskriminiert wurden und zum Beispiel vom Sozialsystem ausgeschlossen wurden. Deshalb blieben die algerischen Arbeiter weiterhin mit der Heimat solidarisch und schickten auch Geldbeträge nach Algerien, um ihre Verwandten zu unterstützen.78 3.2.6. Veränderungen der algerischen Gesellschaft durch die Kolonialherren Die selbstauferlegte „Aufgabe“ der französischen Kolonialherrschaft, nicht nur in Algerien, sondern auch in anderen Kolonien, war eine zivilisatorische. Denn „Frankreich kolonisiert[e] nicht, es zivilisiert[e]“79. Dieses Selbstverständnis zog sich durch das ganze zweite französische Kolonialreich. Zunächst klang solch ein Auftrag, zumindest wenn er erfüllt worden wäre, sicher viel harmloser als das ewige „Kolonisieren“, doch wenn man heute den verborgenen Rassismus hinter diesem Ausspruch erkennt, lässt sich das „Kolonisieren“ nicht mehr vom „Zivilisieren“ unterscheiden. „Man muss offen sagen, dass die überlegenen Rassen 80 ein Recht gegenüber den unterlegenen Rassen besitzen. (…) Denn sie haben eine Pflicht, jene, die unterlegenen Rassen zu zivilisieren.“81 Dieser Teil einer Rede vor dem französischen Parlament 1885 von Jules Ferry, einem bedeutenden Kolonialpolitiker der Dritten Republik, zeigt, wie das „Zivilisieren“ wirklich zu verstehen war. Man wollte keinen regen Kulturaustausch oder auch nicht versuchen, die autochthonen Bevölkerungsgruppen mit Bildung zu unterstützen. Nein, viel wichtiger war es diesen „unterlegenen Rassen“ ein französisches Weltbild, die französische Sprache aufzuzwingen. Doch dies ging nur, weil die französische Kultur der fremden, „niedrigeren“ Kultur weit „überlegen“ schien. Dieses chauvinistische Denken82 war aber kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in fast allen Ländern Europas vorhanden, die Zugang zu Kolonien hatten oder zumindest kleinere Völker unterdrückten. Es kam natürlich nicht zu systematischen Säuberungen im französischen Kolonialreich, aber trotzdem gab es Massaker auf Grund dieser rassistischen Haltung. Die nächsten Seiten werden die rassistischen Züge der französischen Kolonialherrschaft in Algerien näher erläutern. 78 Vgl. ebd., S. 127 Epting, K., 1952, zitiert nach Wohlt, Klaus: „Gloire à la plus grande France“. In: Praxis Geschichte.1/93 S.20 80 Der Ausdruck „Rasse“ wird bewusst nur in Anführungszeichen und als Zitat verwendet, da dieser Begriff historisch belastet ist und seine Verwendung deswegen nicht unterstützt wird. 81 Jules Ferry, 1885, zitiert nach Schmid Bernhard 2006, S.46f. 82 Chauvinismus beschreibt ein Überlegenheitsgefühl eines Volkes gegenüber einem anderen Volk. Das andere Volk wird als unterlegen, als „unzivilisiert“ angesehen und wird teilweise brutal unterdrückt. 79 20 3.2.6.1. Bildungswesen während der Kolonialzeit Als Algerien 1830 erobert wurde, waren die Araber zwar noch lange nicht so stark entwickelt wie die Franzosen, doch trotzdem konnte man nicht davon ausgehen, ein ungebildetes, ein unzivilisiertes Volk vorzufinden. Denn es gab schon weit verbreitet soziale Einrichtungen. Wohl eine der wichtigsten Einrichtungen eines Volkes, eines Staats war und ist das Bildungswesen. Auch in Algerien gab es bereits ein relativ gutes Bildungssystem. General Valazé bestätigte diese Tatsache 1834, also kurz nach den ersten Eroberungen, mit folgender Aussage. „Fast alle Araber können lesen und schreiben. In jedem Dorf gibt es zwei Schulen.“83 Ein kleiner Zeitsprung: 1954 besuchen nur 19% der Moslems die Grundschule. 84 Wie konnte sich das Bildungsniveau nach 120 Jahren so drastisch ins Negative wenden? Es wurden während der Kolonialherrschaft weiterhin Schulen gebaut, aber nicht für Araber. Die meisten Bildungseinrichtungen waren französische und wurden nur für Europäer in Ballungsräumen errichtet. In den islamischen Gebieten gab es kaum Infrastruktur und arabische Schulen wurden nur selten erlaubt, da Frankreich eine „politische Mobilisierung“ fürchtete.85 Außerdem wären die gebildeten Araber und Berber eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geworden, da zwischen Europäern und Algeriern kein arbeitsrelevanter Unterschied mehr gewesen wäre. Aus diesem Grund gab es natürlich kaum gebildete Moslems und es konnte sich keine prowestliche Elite bilden, die Frankreich unterstützt hätte. Ohne Schulen konnten die Araber, selbst wenn sie wollten, nicht „zivilisiert“ werden. Eine Anpassung, eine Milderung der Spannungen hätte vor allem im Bereich der Bildung stattfinden können, doch wurde diese Chance von Frankreich versäumt. Bernhard Schmid spricht zu Recht von einem „Volk der Analphabeten“86. Diese Verschlechterung des Bildungswesens führte auch zu einem Kulturverlust. Die eigene Sprache wurde, wenn man Zugang zur Bildung hatte, durch die französische ersetzt und die arabische Sprache verschwand fast vollkommen als Schriftsprache. Das algerische Volk musste sich entwurzelt, desillusioniert gefühlt haben. Die eigene Kultur wurde erstens durch eine fremde ersetzt und diese wurde zweitens kaum gelehrt. Dies war natürlich auch ein großes Problem für die FLN nach Erlangung der Unabhängigkeit, da keine ausgebildeten Fachkräfte vorhanden waren und man sich auf die französische Sprache als Schriftsprache meist stützen musste. 83 General Valazé, 1834, zitiert nach Hartmut Elsenhans, 1974 S.89 (vgl. Fußnote 15) Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 115 85 Ebd., S. 115 86 Schmid, Bernhard, S.29 84 21 3.2.6.2. Rassismus und Integrationsbemühungen Der rassistische Charakter der algerischen Gesellschaft war nicht geprägt von einer öffentlichen Abgrenzung, wie in den USA in den 50er Jahren. Muslime und Christen lebten meist friedlich als Nachbarn nebeneinander. Vor allem in der relativ ruhigen Phase nach dem großen Aufstand in der Kabylei gab es auf beiden Seiten kaum Übergriffe. Es gab weder eine räumliche Trennung – sie hatten meist in den Städten direkten Kontakt – noch eine erkennbare Abneigung gegenüber den Nachbarn. 87 Natürlich hatten die Europäer mit der Landbevölkerung wenig zu tun, weil sie hauptsächlich in den Städten wohnten, aber mit der Händlerschicht und den Tagelöhnern gab es einen regen Kontakt. Es kam auch selten zu Mischehen, diese waren aber nur bei den wenigen, assimilierten Arabern und Berbern möglich. 88 Der rassistische Charakter zeigte sich viel mehr in einer generellen Abneigung gegenüber der muslimischen Masse. Der Nachbar, die Muslime, die man wirklich kannte, waren gern gesehene Mitbürger. Doch hatten die Europäer auf Grund ihrer Position in der algerischen Gesellschaft Angst, von der autochthonen Masse verdrängt zu werden. So war der Rassismus ein wohl bewusster Schutzmechanismus der Siedler, um ihre Stellung zu wahren. Die Diskriminierung war aber nicht immer nur von den Siedlern initiiert. Es gab aber auch den „Code de l’indigénat“, ein Gesetz des Staates Frankreich, das in allen Kolonien galt. So wurden den Eingeborenen die letzten Bürgerrechte auch juristisch entzogen und ein Eingeborener konnte wegen Vorfällen bestraft werden, die ein Bürger Frankreichs gar nicht begehen hätte können. Bernhard Schmid gibt hier als Beispiel „die Verweigerung (…) von Zwangsdiensten“ an. Ein Bürger der Metropole konnte nicht zu Zwangsdiensten verpflichtet werden und somit diese auch nicht verweigern oder für solche Verweigerungen bestraft werden. 89 Die autochthone Bevölkerung wurde somit auch vor dem Gesetz mehr oder weniger zum „Mensch zweiter Klasse“ degradiert. Erst 1944 wurde dieses Gesetz von Charles de Gaulle 90 abgeschafft.91 Die einzige Möglichkeit, dieses rassistische Denken zu beseitigen, wäre eine schnelle Industrialisierung des Landes gewesen, wo es genug Arbeitsplätze für Moslems und Christen gegeben hätte. Da diese jedoch nie stattfand, war der Rassismus vorherrschend. Trotz oder vielleicht sogar wegen des französisch-europäischen Rassismus kam es zu Integrationsbemühungen seitens der autochthonen Bevölkerung. Doch diese Assimilation wurde zu87 Vgl. Elsenhans, Hartmut, S.123f. Vgl. ebd., S.125 89 Schmid, Bernhard, S.26 90 Charles de Gaulle war Führer des französischen Widerstandes im 2. Weltkrieg und war von 1944 - 1946 Chef der provisorischen Regierung Frankreichs. 1958 wurde er mit der Bildung einer Regierung beauftragt und war von 1959 bis 1969 Präsident Frankreichs. Er war außerdem Begründer der 5. Republik und beendete den Algerienkrieg. 91 Vgl. Naylor, Phillip C. (1994): „Code de L'Indigénat“. http://www.answers.com/topic/code-de-l-indig-nat (Stand: 16. 11. 2008) 88 22 allererst durch die mangelnde Schulbildung behindert, weil ja ein grundlegender Schritt Richtung Integration die Erlernung der neuen Sprache war. Auch viele Weltkriegsteilnehmer hätten durch die Waffenbrüderschaft mit den Franzosen ein gemeinsames Nationalgefühl entwickeln können, jedoch verpasste die französische Armee diese Chance, da versprochene Leistungen selten gehalten wurden.92 Die wenigen Algerier, die sich wirklich assimilieren konnten, wurden aber ebenso diskriminiert und z.B. in Berufen benachteiligt. Außerdem widersprechen sich die Ideale Frankreichs, wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, mit der Situation in Algerien und der Lage der Moslems. So blieben selbst die assimilierten Einheimischen mit der großen Masse der Bevölkerung solidarisch und wurden von Frankreich nicht an sich gebunden. 93 Die Metropole selbst wollte eigentlich eine Gleichstellung der einzelnen Bevölkerungsgruppen, aber die europäische Minderheit konnte sich erfolgreich gegen Beschlüsse aus dem Mutterland wehren, da sie in politischen Parteien Frankreichs teilweise starken Einfluss hatte.94 3.3. Das koloniale System und die Ursachen des Unabhängigkeitskrieges Durch die aufgezählten Beispiele lässt sich jetzt in den meisten Belangen Algeriens ein koloniales System entdecken, das nicht von einer „Partei“ – also zum Beispiel den Siedlern, Frankreich oder den Muslimen – beherrscht werden konnte, sondern viel mehr eine wechselseitige Beziehung zwischen den „Parteien“ widerspiegelte. Die Großgrundbesitzer, französische Industrielle, sowie die europäischen Siedler waren die Nutznießer dieses Systems. Die großen Verlierer dieser kolonialen Arbeitsteilung, also dass Algerien Rohstoffe exportierte und Industriegüter importierte, waren die Araber und Berber. Zu den Gewinnern und Verlierern zugleich zählte aber auch die jüdische Bevölkerung. 95 Trotz einiger Bemühungen des Mutterlandes, das teilweise versuchte die Lage in Algerien zu verbessern, änderte sich bis zum Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges fast nichts. Das koloniale System war also kaum veränderbar, außer durch eine komplette Umgestaltung der algerischen Gesellschaft, die mit riesigen finanziellen Mitteln hätte bezahlt werden müssen und deren Erfolg hätte bezweifelt werden müssen. Die Diskriminierungen und die algerischen Arbeiter in Frankreich, die mit den französischen Idealen in Verbindung kamen, führten zu einem algerischen Nationalismus. 92 Vgl. Elsenhans, Hartmut, S.129f. Vgl. ebd., S.131 94 Vgl. ebd., S.134 95 Obwohl sie mit starkem Antisemitismus zu kämpfen hatten, wurden sie zunächst trotzdem nicht ebenso vehement wie die restliche autochthone Bevölkerung unterdrückt. Erst durch das Vichy-Regime wurden sie verfolgt und ihre Vorteile, die sie durch das Décret Crémieux erhalten hatten, wieder rückgängig gemacht. Nach der Invasion der Alliierten in Afrika bekamen sie wieder die vollen Bürgerrechte. Auf die Zeit des faschistischen Vichy-Regimes wird jedoch in dieser Arbeit nicht näher eingegangen. Siehe Schmid, Bernhard: Das Koloniale Algerien – Münster 2006. S. 83ff 93 23 Es gab nur wenige mit Frankreich zufriedene Muslime, aber eine breite Front von wütenden Einheimischen. Die Verbundenheit des algerischen Volkes war nur durch die „gemeinsame Knechtschaft“ zu Stande gekommen. Sie waren „Menschen zweiter Klasse“, die auf ihren Menschenrechten beharren wollten. Diese Spannung, dieses Bestreben nach Gleichstellung sollte ab dem 20. Jahrhundert und bis in die 50er Jahre stetig ansteigen und sich dann im Unabhängigkeitskrieg entladen. 4. Der Unabhängigkeitskrieg Der Unabhängigkeitskrieg war eine logische Folge des Kolonialismus, seiner kolonialen Arbeitsteilung und des französischen Chauvinismus. Vor allem die Tatsache, dass europäische Siedler in Algerien lebten, führte zum Krieg. In anderen Bereichen des französischen Kolonialreichs, wo es nur eine sehr kleine europäische Bevölkerung gab, verlief die Entkolonialisierung schneller bzw. ganz friedlich. 96 Das wichtigste Bestreben der kolonialen Macht, also Frankreichs, war die Arbeitsteilung und gewisse militärische Rechte zu behalten. So war eine Unabhängigkeit teilweise für Frankreich sogar ökonomisch sinnvoller. Das koloniale System wurde durch den offenen Welthandel immer ineffizienter, da die Rohstoffe der Kolonien manchmal zu teuer waren und weil durch Abbau der Zölle kein eigener Absatzmarkt mehr benötigt wurde. Dieses koloniale System sollte durch einen „Neokapitalismus“ 97 ersetzt werden, der zwar die ökonomische und politische Vorherrschaft der ehemaligen Kolonien erhalten sollte, aber zugleich eine Souveränität der Länder erlaubte. Die Situation in Algerien ließ jedoch eine solche Änderung des kolonialen Systems nicht zu. So musste es leider zu einem Konflikt kommen, da die französischen Siedler, wie im Kapitel 3 schon beschrieben wurde, ihre gesellschaftliche Stellung nur durch den Rassismus aufrecht erhalten konnten und somit auf die politische Souveränität Frankreichs angewiesen waren. Außerdem konnte die durch den 2. Weltkrieg angeschlagene, französische Wirtschaft keine Industrialisierung Algeriens aufbauen, um genügend Arbeitsplätze für beide Bevölkerungsgruppen zu schaffen. Im Folgenden werden die algerische Unabhängigkeitsbewegung und der Krieg und seine Auswirkungen näher erläutert. 96 So verlief zum Beispiel die Entkolonialisierung in Marokko und Tunesien wesentlich schneller als in Algerien, wo die Unabhängigkeitsbewegung früher begann und später ihr Ziel erreichte. In Burkina Faso wurde die Unabhängigkeit über politische Reformen erreicht. 97 Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 355ff. 24 4.1. Die Geschichte des algerischen Nationalismus Der algerische Nationalismus entstand auf Grund der großen algerischen Minderheit in Frankreich, die ab dem 20. Jahrhundert durch Zuwanderung stetig wuchs. Diese Einwanderer waren einerseits mit Rassismus der Bevölkerung der Metropole, aber andererseits auch mit den französischen Idealen und Werten konfrontiert. Die nationalistischen Arbeiter, die sich ab 1923 formierten, wollten ein freies und unabhängiges Algerien. Unter den algerischen Nationalisten gab es jedoch verschiedene Meinungen. So vertraten die algerischen Immigranten in Frankreich radikalere Ansichten, als die algerische Bevölkerung. Die autochthone Bevölkerung wollte zunächst die aktuelle Situation verbessern und strebte nicht die sofortige Unabhängigkeit an. 98 Die Arbeiter in Frankreich formierten sich unter Messali Hadj, der ein Gründungsmitglied einiger kleinerer Parteien war, die jedoch meist wieder von der französischen Regierung verboten wurden. Er selbst wurde später auch festgenommen. 99 Ungefähr zur gleichen Zeit entstanden erste nationalistische Bewegungen in der Kolonie. Ferhat Abbas, ein gemäßigter Politiker, der aus der kleinen muslemischen Elite stammte, war einer der wichtigsten Vertreter dieser Bewegungen. Er war Mitbegründer der „Union Populaire Algérienne“ einer ersten größeren nationalen Partei, die jedoch nie zu einer Massenbewegung werden konnte. 100 Während des 2. Weltkrieges wurde die einheimische Bevölkerung zwar in der algerischen Versammlung leicht gestärkt, trotzdem waren sie proportional stark untervertreten. Gleichzeitig wurde der Code de l’indigénat, der im Kapitel 3.2.6.2. beschrieben wird, abgeschafft und rein juristisch gesehen gab es keine Unterschiede mehr zwischen der autochthonen Bevölkerung und den Algerienfranzosen. Die Lage konnte sich aber nicht bessern, da sich realpolitisch nichts geändert hatte und die Moslems noch immer in der Versammlung unterrepräsentiert waren. Aus diesem Grund schlossen sich fast alle nationalistischen Kräfte zusammen. Bei diesem „Bündnis“ konnte sich die von Messali Hadj gegründete „Parti du peuple algérien“(PPA), die die Unabhängigkeit forderte, gegen die gemäßigtere Linie Abbas durchsetzen.101 Durch die Eskalation der Lage in Sétif, die später noch näher beschrieben wird, hatte der Nationalismus verstärkten Zulauf. Beide Fronten, also die nationalistische und die kolonialistische, verhärteten sich nach diesem Konflikt. Die PPA begann daraufhin mit dem politischen Kampf gegen Frankreich. Zugleich bildete sich ein militärischer Flügel, der jedoch bald von der Polizei aufgedeckt wurde und dessen Führungsmitglieder verhaftet wurden. Die Par- 98 Vgl. ebd., S. 139 Vgl. ebd., S. 140 100 Vgl. Schmid, Bernhard, S. 42 101 Vgl. ebd., S. 88 99 25 tei zerfiel relativ schnell, da Messali Hadj einen zu autoritären Kurs führte, der von den restlichen Führungspersönlichkeiten nicht unterstützt wurde.102 Eine kleine Gruppe, die sich aus den Bruchstücken der PPA herausbildete, beschloss im Juni 1954 den bewaffneten Aufstand. Diese „22 Aktivisten“ tauften ihre Organisation am 23. Oktober 1954 Front de libération nationale (FLN) und begannen am 1. November 1954 den algerischen Unabhängigkeitskrieg. 103 Viele Autoren104 sprechen von einer Krise des Nationalismus in der „eine kleine Gruppe […] den Aufstand“105 begann. Die meisten der Mitglieder waren jung und entschlossen, mit Gewalt die Unabhängigkeit zu erlangen. Während des Algerienkrieges kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen nationalistischen Strömungen. Vor allem zwischen der FLN und den Anhängern Messali Hadjs kam es zu einem regelrechten Kleinkrieg innerhalb der Nationalisten. Beide Bewegungen sahen sich als rechtmäßige Vertreter des algerischen Volkes und kämpften um den Führungsanspruch. Nach französischen Angaben erforderte dieser Konflikt, der vor allem in Frankreich stattfand, ca. 4000 Tote.106 4.2. Massaker von Sétif und Guelema Das Massaker von Sétif war eine erste Eskalation der Lage in Algerien nach dem 2. Weltkrieg.107 Am 8. Mai 1945 kam es während Feiern zum Ende des 2. Weltkrieges zu Gewalttaten gegen muslemische Algerier. Bei einem Umzug zu Ehren der Soldaten des Krieges in Sétif108 wurden von Einheimischen Unabhängigkeitsparolen gerufen und auch die algerische Fahne wurde – ebenso wie die Fahnen der Alliierten – gezeigt und getragen. Die Polizei forderte die Entfernung des algerischen Nationalsymbols, aber die Nationalisten widersetzten sich. Die Demonstranten wehrten sich teilweise auch handgreiflich. Doch erst durch einen Schuss, der von einem Polizisten abgegeben wurde und der einen jungen Algerier tötete, spitzte sich die Situation zu. Die Masse der algerischen Teilnehmer der Demonstration wurde von der Polizei gehindert den Demonstrationszug fortzuführen und wurde mit Gewalt aufgelöst. Trotzdem entluden sich der aufgestaute Zorn und die Entrüstung der Menge an der europäischen Bevölkerung, verschiedenen Einrichtungen und Polizisten.109 Am gleichen Tag gab es auch in Guelema, einer östlich von Sétif gelegenen Stadt, einen Demonstrationszug. Hier 102 Vgl. ebd., S. 99ff. Vgl. ebd., S. 104 und S. 115 104 Hartmut Elsenhans, Frank Renken und Bernhard Schmid sind als solche Autoren zu nennen. 105 Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 142 106 Vgl. Schmid, Bernhard, S. 42 107 Das Ende des Zweiten Weltkriegs bezieht sich hier auf das europäische Kriegsende. 108 Sétif ist eine mittelgroße Stadt in Nordostalgerien. 109 Vgl. ebd., S. 90 103 26 wurden ebenfalls die Nationalisten aufgefordert die Fahnen zu entfernen, doch hier begann die Polizei noch schneller zu schießen als in Sétif. In Guelema kam kein Europäer ums Leben, da die Masse der Demonstranten schnell unter „Kontrolle“ gebracht werden konnte. 110 Es kam schnell zu rigorosen Vergeltungsmaßnahmen der Algerienfranzosen, die Milizen bildeten und teilweise sogar italienische und deutsche Kriegshäftlinge bewaffneten, um Massenerschießungen durchzuführen. 111 Selbstjustiz wurde toleriert und es wurden von der Miliz, dem Militär und der Polizei Sondergerichte eingeführt, die die gewalttätigen Ausschreitungen quasi „legalisierten“. 112 Als sich die autochthone Bevölkerung schließlich zu wehren begann, wurde auch die französische Armee herangezogen, die an den Racheakten der europäischen Bevölkerung teilnahm. 113 Es wurden Massengräber errichtet und Leichen verbrannt, um ein weltweites mediales Echo zu verhindern. Die stärksten Repressionen dauerten mehr als zwei Wochen, und selbst nach einigen Monaten gab es noch Gewaltakte gegen die muslimische Zivilbevölkerung. 114 Die algerischen Nationalisten waren noch nicht bereit, um sich geschlossen gegen die Kolonialmacht zu stellen und die Führungsmitglieder ihrer Parteien wurden entweder verbannt oder eingesperrt und die meisten nationalistischen Parteien wurden verboten, auch wenn sie keine revolutionären Meinungen vertraten und nur Reformen anstrebten. 115 Wahrscheinlich wurden bei den muslemischen Aufständen 102 Europäer getötet und ca. ebenso viele verletzt. Diese Zahl gilt als relativ gründlich bewiesen. Doch bei den Todeszahlen der algerischen Opfer waren sich französische, amerikanische und algerische Quellen „uneinig“. So sprachen offizielle französische Untersuchungskommissionen von ca. 1000 bis 1500 ermordeten autochthonen Algeriern. Algerische und amerikanische Berichte sprechen jedoch von 45000 Todesopfern während der Massaker nach dem 8. Mai. Wobei es hinzuzufügen gilt, dass letztere Zahlen wohl der Realität näher liegen als die französischen Angaben zu den Massakern. 116 Erst 2005 sprach ein offizieller französischer Repräsentant von einer „unentschuldbaren Tragödie“. 117 Bis jetzt wurde aber dieses Massaker, ebenso wie der Unabhängigkeitskrieg noch kaum verarbeitet. Weder in französischen Schulen noch in der Öffentlichkeit werden Franzosen mit diesem Teil ihrer Vergangenheit konfrontiert. 118 110 Vgl. ebd., S. 91f. Vgl. ebd., S. 95 / vgl. ebenfalls: Elsenhans, Hartmut, S. 142f. 112 Vgl. Schmid, Bernhard, S. 92ff. 113 Vgl. ebd., S. 95 114 Vgl. ebd., S. 93f. 115 Vgl. ebd., S. 98 116 Vgl. ebd., S. 96f. / vgl. ebenfalls: Elsenhans, Hartmut, S. 142 117 Colin Verdière, Hubert, 2005, zitiert nach Schmid, Bernhard: Das koloniale Algerien – Münster 2006. S. 98 118 Vgl. Lemaire, Sandrine: Der Algerienkrieg in den französischen Schulbüchern. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 123 -137. – Frankfurt/Main 2006. S. 129 111 27 4.3. Der Krieg Am 1. November 1954 begann mit einer Reihe von Anschlägen der FLN der Algerische Unabhängigkeitskrieg. Er sollte das Land in den folgenden acht Jahren stark destabilisieren, Frankreich aus Algerien vertreiben und Tausende von Opfern fordern. Einen speziellen Auslöser bzw. Anlass für diese Anschlagsserie gab es zwar nicht, doch eine Vielzahl an Ursachen, die in den vorhergehenden Kapiteln beschrieben wurden. Die FLN wollte die „Gunst der Stunde“ nützen und Frankreich während starker innenpolitischer Probleme und anderen Kolonialkriegen angreifen und destabilisieren. So war einige Monate zuvor der 1. Indochinakrieg mit dem Genfer Abkommen119 beendet worden. Hätte die FLN zu lange gewartet, hätte Frankreich sein gesamtes militärisches Potential in Algerien bündeln können. 120 Es kam am 1. November während der Anschläge auf verschiedene koloniale Einrichtungen bereits zu einigen Todesopfern. Trotz dieser, gemessen an der späteren Härte des Algerienkrieges, relativ kleinen Anschlagsserie wird dieser Tag als Beginn des Krieges gesehen. Militärisch hatte die FLN zumindest kaum Vorteile durch diesen Angriff erlangt,121 da das französische Militär kaum geschwächt wurde oder sonst irgendwelche strategischen Punkte vernichtet werden konnten. Am 10. Dezember wurden erste militärische Verstärkungen nach Algerien geschickt, um die Lage zu stabilisieren und die Unruhe im Keim zu ersticken. 122 Anfang 1955 bemühte sich die französische Regierung, die FLN politisch zu isolieren und mit anderen nationalistischen Parteien zu verhandeln, doch scheiterten diese Verhandlungen auf Grund der Unnachgiebigkeit der europäischen Siedler. 123 Aus diesem Grund und da die Repressionen der Kolonialmacht im Verlauf des Krieges immer stärker wurden, sahen viele gemäßigtere Nationalisten die Chance auf Unabhängigkeit nur mehr durch den Krieg der FLN.124 Bis Februar 1955 wurde die FLN fast besiegt, doch durch die Unterstützung des Volkes konnten die Unabhängigkeitskämpfer sich wieder organisieren und verstärkt zurückschlagen. 125 Am 1. oder 3. April 1955126 wurde vom Pariser Parlament die Notstandsgesetzgebung in Algerien beschlossen, um mit voller militärischer Härte durchgreifen zu können. Außerdem wurden erste Internierungslager geschaffen, um politische Häftlinge zu inhaftieren. 127 Am 20. August konterte die 119 Das Genfer Abkommen war ein Waffenstillstand zwischen den Rebellen und der französischen Regierung. Schmid, Bernhard, S. 115 121 Vgl. ebd., S. 116 122 Die folgenden Jahreszahlen beziehen sich auf „Chronology of events in Algeria (1954–1962)“, die auf dieser EU-Seite zu finden ist: http://www.ena.lu?lang=2&doc=3375 (Stand: 27. Dezember 2008) 123 Vgl. Schmid, Bernhard, S. 117 124 Vgl. ebd., S. 119ff. 125 Vgl. Renken, Frank: Kleine Geschichte des Algerienkrieges. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 25-50. – Frankfurt/Main 2006. S. 34 126 Bernhards Schmids angeführtes Datum entspricht nicht dem, der Seite http://www.ena.lu/. Bernhard Schmid datiert die Notstandsgesetzgebung auf den 3. April: vgl. Schmid, Bernhard: ebd., S. 117 127 Vgl. Schmid, Bernhard, S. 117 120 28 FLN bzw. ihr militärischer Flügel und ihre Armee ALN - Armée de Libération nationale – mit einem großangelegten Aufstand in der Region um Constantine. Bei diesem Aufstand wurde eine große Menge an Bauern mobilisiert, da die ALN selbst viel zu schwach war, um ein ernsthafter Gegner Frankreichs in diesem Gebiet zu sein. Generell konnte sich die FLN nur auf Grund der Unterstützung der autochthonen Bevölkerung durchsetzen. Bei diesem Aufstand wurden 71 Europäer getötet, darunter auch Kinder. Es wurde also nicht Rache an einzelnen Personen genommen, sondern blind an der europäischen Bevölkerung. Auch einige politische Gegner der FLN, die Algerier und keine Europäer waren, wurden getötet. 128 Die darauffolgenden Repressionen der Kolonialmacht übertrafen die Opferzahl dieses Aufstandes bei weitem. Laut französischen Angaben wurden über 1200 Menschen getötet. Die algerischen Quellen bezifferten aber eine 10-mal so hohe Zahl an Todesopfern.129 Diese unverhältnismäßig rigorosen Vergeltungsmaßnahmen führten bei der algerischen Zivilbevölkerung zu einer verstärkten Einheit und einem einheitlichen Zorn gegen die Kolonialmacht Frankreich. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine Ausgabe der kommunistischen Zeitung L’Humanité, die auf die Säuberungswellen der französischen Armee hinwies und die eine friedliche Lösung forderte, von den Behörden beschlagnahmt. So kam es auch zu ersten Erscheinungen einer stärkeren Zensur während des Krieges. 130 Ab September 1955 wurde die Algerienthematik auch auf Ebene der Vereinten Nationen diskutiert, jedoch kam es nie zu einer Verurteilung Frankreichs. 131 Nach 1955 wurde die FLN auch von den beiden anderen Maghrebländern132, die die Unabhängigkeit erlangten, stärker unterstützt und konnte somit nur mehr schwer von Frankreich besiegt werden. Ab 1956 wurde der Krieg auch in Städten geführt, also in Reichweite der europäischen Bevölkerung, die so in die Kämpfe involviert war und unter dem Terror der FLN zu leiden hatte. Die FLN wollte dadurch die Augen der Welt auf sich richten und auf die Lage in Algerien aufmerksam machen. Außerdem sollten die Siedler beunruhigt werden und so zum politischen Einlenken gebracht werden. Wahrscheinlich auch auf Grund dieser Kriegssituation wurde die französische Truppenstärke auf 400 000 Mann erhöht. Teilweise kämpften sogar 500 000 Soldaten in Algerien. 133 Militärisch gesehen konnte die FLN nie einen Sieg erlangen – zu stark waren Frankreich und seine Armee. Der Unabhängigkeitskrieg war also geprägt von einer Pattsituation. Die FLN konnte nur über die politische Debatte, die jedoch nur durch den Krieg in Gang gesetzt werden konnte, die Unabhängigkeit erlangen. Der 128 Vgl. ebd., S. 118 Vgl. ebd., S. 118 130 Vgl. ebd., S. 119 131 Vgl. http://www.ena.lu/ (Stand: 26. 12. 2008) 132 Der Maghreb – Bezeichnung aus dem Arabischen für „der Westen“ – besteht aus Marokko, Algerien und Tunesien und bezeichnet die Region dieser drei Länder. 133 Encarta Enzyklopädie Professional 2003 „Geschichte - Algerien“ 129 29 Algerienkrieg führte zu einer Staatskrise in Frankreich, die den Fall der 4. Republik und die Machtergreifung Charles de Gaulle zur Folge hatte.134 Trotz teils terroristischer Widerstände der Algerienfranzosen lenkte Charles de Gaulle ab 1959 ein und machte eine Beendigung des Konflikts und die Unabhängigkeit Algeriens möglich. Im Februar 1961 wurde die OAS – Organisation de l'armée secrète – gegründet, die eine terroristische Organisation darstellte, die sich für ein französisches Algerien einsetzte. Sie wurde zur dritten militärischen Partei des Algerienkrieges und griff sowohl muslimische Kräfte, als auch französische Staatsbürger an. Die OAS setzte sich aus Siedlern in Algerien und verschiedenen Angehörigen des französischen Militärs zusammen. Sie wollte Druck auf die französische Regierung ausüben, um die Politik Charles de Gaulles von der Kompromissbereitschaft wegzubewegen. Trotz mehrerer Anschläge konnte sie die Unabhängigkeit nicht mehr verhindern. Auch die Mehrheit der französischen Bevölkerung des Mutterlandes war für eine Loslösung von Algerien. So sprachen sich über 75 Prozent der Wähler bei einem Referendum für das Selbstbestimmungsrecht der Algerier aus. 135 Trotzdem konnte erst nach längeren Verhandlungen bei Evian am 18. März 1962 ein Waffenstillstand zwischen der französischen Regierung und der FLN ausgehandelt werden. In einem am 1. Juli 1962 stattfindenden Referendum sprach sich die algerische Bevölkerung für die Unabhängigkeit aus. Zwei Tage später akzeptierte Frankreich die Unabhängigkeit Algeriens. Am 5. Juli wurde offiziell die Unabhängigkeit erklärt. Dieser Tag ist seither ein Feiertag in Algerien. Der Unabhängigkeitskrieg forderte laut algerischen Quellen mehr als eine Million Menschenleben. Frankreich sprach jedoch „nur“ von 200 000 bis 300 000 Opfern auf algerischer Seite. Während des Krieges starben 24 000 französische Soldaten 136 und im letzten Kriegsjahr verließen fast alle europäischen Siedler Algerien, da sie Repressionen der FLN befürchteten. In den folgenden Unterkapiteln werden mehrere Teilaspekte des Krieges näher betrachtet.137 4.3.1. Französische Wahrnehmung In Frankreich war die öffentliche Meinung, aber auch die Politik über den Unabhängigkeitskrieg gespalten. Es gab die unterschiedlichsten Ansichten darüber, ob Reformen sinnvoll waren und wenn ja, wie sie auszusehen hatten. Der französische Staat musste die richtigen Entscheidungen treffen, um einerseits den „Willen“ des Volkes zu bestätigen und andererseits um die Kontrolle über Algerien zu behalten. 134 Vgl. Kapitel 4.3.2. Vgl. Renken, Frank, S. 45 136 Vgl. ebd., S. 29 137 Vgl. ebd., S. 48 135 30 Zunächst muss gesagt werden, dass Algerien – historisch gesehen – für Frankreich besonders bedeutend war. Algerien war zunächst Ausgangspunkt des 2. Kolonialreichs und gleichzeitig der Brückenkopf nach Schwarzafrika 138, wo die meisten der französischen Kolonien lagen. Das französische Kolonialbewusstsein war, wie im 3. Kapitel schon erwähnt wurde, ein zivilisatorisches Bewusstsein. Man sah sich als „Lehrer“, der einem „jungen Schüler“ etwas beibrachte. Außerdem fühlten sich die „Festlandfranzosen“ mit den algerischen Europäern verbunden. Ein weiterer wichtiger Punkt war das Großmachtdenken Frankreichs. Bis zum 2. Weltkrieg war Frankreich eine bedeutende Großmacht und nach dem 2. Weltkrieg nahm die internationale Bedeutung Frankreichs zu Gunsten der USA und der UdSSR ab. Für Frankreich waren die Kolonien einerseits eine Bestätigung der politischen Interventionsmöglichkeiten und des Großmachtstatus. Aus diesem Grund waren Kolonien wie Algerien wesentlich für Frankreich, da sie den Einfluss Frankreichs auf der Welt vergrößerten. Diese drei Faktoren waren der Grund, wieso Algerien nicht schnell fallengelassen wurde. Die Algerienfranzosen glaubten, die Moslems nur mit Gewalt unterdrücken zu können, denn „der Kolonisierte“ verstehe „nur die Gewalt“.139 Sie sahen sich als Beschützer der Ordnung, die die Pflicht hatten, Widerstände zu bekämpfen. Aus diesem Grund war die europäische Minderheit auch gegen jedes Zeichen der Schwäche und für sie waren Reformen ein solches Zeichen des Nachgebens.140 Natürlich kann man diese Sichtweise des Algerienkrieges auf die soziale Ordnung in der Kolonie zurückführen. Reformen hätten die Vorteile der europäischen Bevölkerung unterminiert und man konnte diese Bedrohung nur mit starker Repression abwenden. Die Algerienfranzosen hatten also keine andere Wahl, als an der alten Ordnung festzuhalten – ansonsten hätten sie sich selbst verneint. Die Armee sprach von einem „antisubversiven Krieg“141. Die Masse der algerischen Bevölkerung wurde von einer kleinen, revolutionären Minderheit „verführt“ und durch Gewalt und Propaganda gegen Frankreich aufgehetzt. Frankreich müsse nur geschickt diese kleine Gruppe ausschalten und mit Reformen die Bevölkerung für sich gewinnen. Laut dem Militär musste Vertrauen aufgebaut werden und die Armee sollte als Beschützer der Algerier auftreten, die 138 Schwarzafrika bezeichnete die Gebiete Afrikas südlich der Sahara. Algerien war für Frankreich die Landverbindung in dieses Gebiet und war somit ein „Brückenkopf“ für weitere koloniale Eroberungen gewesen. 139 Elsenhans, Hartmut, S. 322f. 140 Vgl. ebd., S. 325 ff. 141 Subversive Elemente in einem Staat sind Rebellen, die einen Umsturz planen. Ein antisubversiver Krieg ist also ein Krieg gegen die aufständischen Elemente im Staat. Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 328 ff. 31 sich vor Anschlägen der Rebellen fürchteten. Auch diese Sichtweise ist erklärbar, denn die Armee musste mehr oder weniger einen „Sinn“ für diesen Krieg und die Repressionen finden. Obwohl diese zwei Sichtweisen sicher wohl überlegt waren, trafen sie auf die eigentliche Situation nicht zu. Die algerische Bevölkerung war generell unzufrieden und nicht „betört“ von einer kleinen Minderheit, sie hätte sich auch aufgelehnt, wenn keine revolutionäre Minderheit vorhanden gewesen wäre. Große Teile der Bevölkerung des Mutterlandes und auch Teile der Politik kamen dem eigentlichen Bild schon näher. Sie gestanden gewisse Fehler in der Vergangenheit ein, doch diese waren laut ihnen auf private und lokale Interessen zurückzuführen – die eigentliche Kolonialherrschaft war nicht „völlig“ negativ zu beurteilen. Hier kam auch wieder der zivilisatorische Anspruch zur Geltung, denn Frankreich musste das Werk der Zivilisierung in Nordafrika fertigstellen und sah sich als Beschützer dieser Länder. Die französische Bevölkerung sprach sich also für Reformen aus, die langsam den Algeriern Autonomie gaben. 142 Doch muss gesagt werden, dass diese Ansichten bei vielen Franzosen zwar vertreten waren, es jedoch trotzdem viele verschiedene Variationen in der genaueren Ausführung dieser Punkte gab. Vor allem die realpolitische Auslegung der Reformen war ein Diskussionsthema.143 Generell sollte Algerien nach langsamer und jahrelanger Vorbereitung in die Unabhängigkeit entlassen werden. „Frankreich“ war „lediglich“ in der „Rolle eines Geburtshelfers“. Doch für die Hilfe der Kolonialmacht sollte Algerien mit Frankreich kooperieren. 144 JeanPaul Sartre sprach sich jedoch in seiner Rede „Der Kolonialismus ist ein System“ auch gegen diese Ansicht aus. Seiner Meinung nach gab es nie gerechte Kolonialherren und Reformen hätten nichts genützt. Nur eine vollkommene und schnelle Unabhängigkeit kam für ihn in Frage.145 Neben diesen „Hauptmeinungen“ gab es noch weitere Ansichten von kleineren Gruppen. So waren liberale Kräfte oft für einen schnellen Rückzug aus Algerien, da das koloniale Prinzip durch den Welthandel untergraben wurde und somit keine ökonomische Sinnhaftigkeit für den Krieg gewährleistet war. Doch dieser Rückzug musste auch Opfer mit sich bringen. Deswegen waren sie der Meinung, dass Frankreich die „Opferung eines Teils der Nation“146 in 142 Vgl. ebd., S. 343ff. Vgl. ebd., S. 349 144 Ebd., S. 353 145 Vgl. Sartre, Jean-Paul, S. 15f. 146 Elsenhans, Hartmut, S. 359 f. 143 32 Kauf nehmen musste. Sie sahen ein, dass man mit der Befreiungsfront verhandeln musste und sie unterstützten gemäßigtere Kräfte wie Ferhat Abbas. 147 Eine ähnliche Meinung hatten auch Kommunisten und Linke, doch stand hier nicht die ökonomische Sinnhaftigkeit im Mittelpunkt, sondern der antikolonialistische Gedanke. Sie solidarisierten sich mit der Unabhängigkeitsbewegung und wollten diese unterstützen. 148 Vereinzelt kam es sogar zu direkten Hilfslieferungen seitens der Linken. 149 Diese unterschiedlichen Blickwinkel der einzelnen Gruppen in Frankreich machten es natürlich für jede Regierung schwer eine Lösung für den Konflikt zu finden. 4.3.2. Innenpolitik – Fall der 4. Republik Die 4. Republik war nach dem 2. Weltkrieg gegründet worden. Das System war auf eine starke Legislative aufgebaut. Das große Problem der französischen Innenpolitik war ihre Instabilität. Die Regierungen wechselten oft und konnten auf Grund des Verhältniswahlrechts nur begrenzt ihre Macht ausüben, da die Parteienlandschaft stark inhomogen war und sich in vielen Bereichen nicht auf Kompromisse einigen konnte. Die vierte französische Republik war geprägt von kurzen Amtsperioden, Krisen und Niederlagen. Vor allem das Zusammenbrechen des Kolonialreiches war für viele ein Zeichen der Schwäche der 4. Republik. Es konnte nicht schnell genug auf akute Probleme wie den Algerienkrieg eingegangen werden, die die Stabilität der Republik gefährdeten. Die Eskalation des Algerienkrieges und die Unfähigkeit der französischen Regierung, den Konflikt zu lösen und die Lage zu stabilisieren, führten zu Unmut in hohen Kreisen des Militärs. Sie nahmen die Befehlsgewalt in Algerien in eigene Hände und übernahmen die Macht in Algier. Sie wollten die Regierung zum Einlenken zwingen. Durch den Druck der Armee und die instabile Lage der Republik wandte sich schließlich der Staatspräsident René Coty150 an Charles de Gaulle und forderte ihn auf, eine neue Regierung zu bilden. De Gaulle nahm die Aufforderung an und wurde schließlich am 1. Juni 1958 Ministerpräsident. Nun konnte er seine Macht in den folgenden Jahren stark ausbauen. Am 2. Juni wurden ihm von der Nationalversammlung durch ein neues Verfassungsgesetz Vollmachten übergeben, die ihn zu Verfassungsänderungen befugten. Am 28. September wurde die neue Verfassung verabschiedet und per Referendum durch das Volk bestätigt. Dies war zugleich das Ende der 4. Republik und der Anfang der 5. Republik. Die Regierung und der 147 Vgl. ebd., S. 362 Vgl. ebd., S. 362 ff. 149 Vgl. ebd., S. 365 150 René Coty war ein französischer Politiker der Nachkriegszeit, der von 1954 bis 1958 das Amt des Präsidenten der 4. Republik inne hatte. 148 33 Präsident waren durch diese Verfassung wesentlich gestärkt und handlungsfähiger geworden. Erst Charles de Gaulle und die von ihm geschaffene 5. Republik waren in der Lage, einen Weg aus der Krise zu finden.151 4.3.3. Internationale Reaktion und Debatte Mitte des 20. Jahrhundert war es für Frankreich unmöglich, einen solch vehementen Krieg vor den Augen der Welt zu bewahren. Aus diesem Grund kam es zu internationalen Debatten, die jedoch auf Grund des Kalten Krieges begrenzt wurden, Frankreich aber trotzdem in seiner Strategie beschränkten. Bei diesen Diskussionen versuchten beide Parteien, also Frankreich und die Befreiungsfront, Bündnispartner zu finden. Grundsätzlich kann man sagen, dass die blockfreien Staaten mit der FLN sympathisierten und solidarisch waren, da sie selbst eine antikoloniale Haltung auf Grund der eigenen Geschichte hatten.152 In dieser Gruppe waren vor allem die umliegenden Nachbarländer und die arabischen Staaten an einer Lösung des Konflikts interessiert. Sie beriefen sich auf die „arabische Solidarität“153, also auf ihre gemeinsame Kultur und Religion. Zunächst war Ägypten ein wichtiger Partner der FLN, da Gamal Abdel Nasser 154 selbst nach der Suezkrise155 einen antiwestlichen Kurs verfolgte.156 Ägypten wurde jedoch von Marokko und Tunesien als wichtigster Partner der Befreiungsfront 1956 abgelöst, da in diesem Jahr diese beiden Nachbarn Algeriens an der Nordküste Afrikas selbst die Unabhängigkeit erlangten. 157 Die Unabhängigkeitsbewegungen dieser Länder waren jedoch pro-westlich und wurden von Frankreich geduldet. Die zwei ehemaligen Kolonien wollten aus diesem Grund den gleichen Weg für Algerien „vorschlagen“ und versuchten zwischen der FLN und Frankreich zu vermitteln. 158 Algerien sollte ebenso unabhängig werden und mit Frankreich in engem Kontakt bleiben. Frankreich reagierte aber auf diese diplomatischen Versuche zu wenig und verpasste die Chance auf eine friedliche Lösung.159 Die Bevölkerung der zwei Maghrebstaaten sympathisierte mit den Kämpfern der FLN und lehnte den französischen Kurs ihrer Regierungen ab. Wegen dieses inneren Drucks 151 Vgl. Microsoft Encarta 2009: Frankreich – 7.23. Die Vierte Republik / vgl. ebenfalls: http://de.wikipedia.org/wiki/Vierte_Franz%C3%B6sische_Republik (Stand: 02.02.2009) und http://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%BCnfte_Franz%C3%B6sische_Republik (Stand: 02.02.2009), sowie Renken, Frank: ebd. S.41ff. 152 Sehr viele „Dritte Welt“-Länder sind ehemalige Kolonien. Vor allem in Afrika und Asien lösten sich Mitte des 20. Jahrhunderts die Kolonien von ihren Kolonialmächten ab. 153 Elsenhans, Hartmut, S. 20 154 Gamal Abdel Nasser war von 1954-1970 das Staatsoberhaupt Ägyptens und für den arabischen Raum sehr prägend. 155 Die Suezkrise war ein Konflikt zwischen Frankreich, England und Ägypten um die Vorherrschaft über den Suezkanal. 156 Vgl. ebd., S. 22 157 Vgl. ebd., S. 23 158 Vgl. ebd., S. 27f 159 Vgl. ebd., S. 35 34 wichen der König von Marokko und der Staatspräsident von Tunesien von ihrer prowestlichen Richtung ab und versuchten verstärkt, die algerische Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Vor allem Tunesien stärkte seinen Einfluss auf die FLN. So kam es zu militärischer Zusammenarbeit und zum Aufbau von algerischen Militärbasen in Tunesien. Frankreich antwortete darauf mit einer Verminung der Grenzen und Verfolgung der algerischen Kämpfer bis nach Tunesien, bis die USA sich gegen diese Kampfmethoden aussprach. Die algerischen Truppen in Tunesien wuchsen zu einer schlagkräftigen Armee heran und konnten selbst bei einer absoluten Niederlage der FLN in Algerien trotzdem den Krieg weiterführen.160 Die anderen arabischen Staaten lieferten zwar vereinzelt Hilfslieferungen, beschränkten sich aber meist auf die moralische Unterstützung, sowie auf diplomatische Hilfe. 161 Auch der Großteil der Dritten Welt half auf diese Art und Weise der FLN. Wie schon weiter oben erwähnt, waren sie auf Grund der eigenen kolonialen Vergangenheit mit Algerien solidarisch. Sie hatten jedoch weder die Mittel noch den politischen Einfluss, um entscheidend bei den Verhandlungen mitzuwirken oder große Hilfslieferungen zu senden. 162 Sie konnten aber Frankreich so weit zum Einlenken bewegen, dass die Kolonialmacht „wenigstens eine Politik der Entkolonialisierung [zu] betreiben“ musste.163 Frankreichs Bündnispartner waren natürlich die westlichen Industrienationen und hier das atlantische Bündnissystem. Frankreich hatte keine Intervention der Sowjetunion zu befürchten und bekam auch auf diplomatischem Weg teilweise Unterstützung. Doch musste die Kolonialmacht auch Kritik der USA hinnehmen, die eine anti-koloniale Politik betrieben und die die ehemaligen Kolonien unter amerikanischen Einfluss wissen wollten. Das wichtigste Ziel war jedoch natürlich die Interessen der UdSSR zu unterbinden. 164 Aus diesem Grund handelten die USA relativ eigenständig und versuchten, Tunesien durch Waffenlieferungen an sich zu binden. Außerdem wurde auch direkt Kontakt zur Befreiungsfront aufgenommen. 165 Im Laufe des Krieges verstärkten sich die Spannungen zwischen Frankreich und den USA. Die USA schränkten den Handlungsspielraum teilweise ein und wollten die Nachbarländer durch den Krieg nicht verlieren. Sie sollten weiterhin pro-westlich eingestellt bleiben.166 160 Vgl. ebd., S. 29ff. Vgl. ebd., S. 37 162 Vgl. ebd., S. 45ff. 163 Vgl. ebd., S. 49 164 Vgl. ebd., S. 50 165 Vgl. ebd., S. 51f. 166 Vgl. ebd., S. 55f. 161 35 Auch in Europa versuchte Frankreich Bündnispartner für sich zu gewinnen. Die Staaten der EWG167 unterstützten die Kolonialmacht zwar stärker, als die USA dies taten, trotzdem waren diese gegenüber den französischen Repressionen und Maßnahmen kritisch. 168 Generell war aber die Befreiungsfront in der öffentlichen Meinung des Westens wesentlich populärer, als das alte Kolonialreich Frankreich169 und auch die Regierungen der Industrieländer kritisierten Frankreich, da es eine veraltete Kolonialpolitik vertrat – die meisten anderen europäischen und nordamerikanischen Länder vertraten neokolonialistische Ansichten und versuchten die Souveränität einzelner Völker zu gewähren, sie aber wirtschaftlich an sich zu binden. Eine gesonderte Position in der internationalen Diskussion über den Algerienkrieg nahmen die kommunistischen Mächte ein. Die UdSSR war auf Grund der starken kommunistischen Partei Frankreichs nicht gewillt, die Befreiungsfront außerordentlich zu unterstützen, da Frankreich nicht verärgert werden sollte. Man erhoffte sich eine verbesserte Beziehung mit Frankreich, um im Falle eines diplomatischen Ost-West-Konfliktes zumindest Frankreich neutral zu „stimmen“. Zugleich sollten aber die amerikanischen Interessen behindert werden, und je mehr sich die USA in den Konflikt einmischten, desto mehr involvierte sich auch die UdSSR. 170 Im Gegensatz dazu unterstützte China, das im Ost-Block eine verstärkte Rolle spielen wollte, die Befreiungsfront durch zahlreiche Waffenlieferungen. Über diese Unterstützungen kam es jedoch nicht hinaus. 171 Allgemein lässt sich folgendes zusammenfassen. Beide Parteien erhielten eine gewisse diplomatische und teilweise auch finanzielle und militärische Hilfe. Zu einer ausartenden Internationalisierung des Konflikts kam es jedoch nie, da beide Parteien sich nicht einer der großen Mächte USA oder UdSSR unterordnen wollten. Frankreich wollte seinen eigenen Einfluss in Afrika wahren, um nicht in Konkurrenz zur USA stehen zu müssen. Die FLN wollte sich auch nicht an die UdSSR direkt wenden, da sonst die Gefahr einer bestimmenden Rolle des kommunistischen Landes vorhanden gewesen wäre. Die FLN wollte sich nicht einem der beiden Blöcke zuordnen. Gewisse Kontakte, vor allem zu den Nachbarländern Marokko und 167 Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war ein Zusammenschluss europäischer Staaten, der als Vorläufer der Europäischen Union betrachtet werden kann. Wie der Name schon sagt waren die Verträge der EWG hauptsächlich wirtschaftliche. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft existierte von 1957 bis 1993 und wurde 1993 in Europäische Gemeinschaft umbenannt. Zur Zeit des Algerienkrieges waren folgende Länder Mitglieder der EWG: Frankreich, Belgien, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland, die auch gleichzeitig die Gründerstaaten der Vereinigung waren. 168 Vgl. ebd., S. 56f. 169 Vgl. ebd., S. 60 170 Vgl. ebd., S. 67f. 171 Vgl. ebd., S. 70 36 Tunesien, waren für die algerische Befreiungsfront außerordentlich wichtig. Diese teilweise stattfindende Internationalisierung schadete jedoch Frankreich, da es in seinem Handlungsfreiraum eingeschränkt wurde, und stärkte die Befreiungsfront, die auch in der UNO Unterstützung fand. Zu Sanktionen gegen Frankreich durch andere Staaten kam es jedoch kaum. 172 4.3.4. Taktiken und Erfolge der FLN Die Strategie der FLN war eine Mischung aus Politik und gewaltsamem Druck. Die Gewalt war nur ein Mittel, um Frankreich politisch zum Einlenken zu bringen. Politisch gesehen hatte die FLN kein wirkliches Reformprogramm, sondern war nur eine populistische Partei, die die Kolonialherrschaft besiegen und zerstören wollte. 173 Doch dieses einfache Parteiprogramm reichte, um die meist ländliche, muslimische Bevölkerung gegen Frankreich aufzubringen, da sie sowieso unzufrieden mit der Situation und mit der Kolonialmacht war. Die Mängel des eigentlichen Programms wurden erst nach der Unabhängigkeit offensichtlich. Diese werden im nächsten Großkapitel näher erläutert. Die eigentliche Macht der FLN bestand darin, die großen Massen durch ihre populistischen Parolen und Aussagen zu mobilisieren. Doch dieser reine „Volkszorn“ war nicht genug. Die FLN brauchte auch Geld und Versorgung. Dies stellten die Bauern zur Verfügung – so gab es zum Beispiel eine eigene „Revolutionssteuer“, die die FLN von den Bauern, aber auch von den Großgrundbesitzern – teils durch Gewaltandrohung – erhielt. Im Gegenzug baute die FLN noch während des Krieges eine Infrastruktur für die Bevölkerung auf, um sie an sich zu binden. Natürlich konnten die Bauern nicht die ganzen Kosten für den Krieg aufbringen. Es gab hohe Zahlungen aus der Metropole von algerischen Emigranten und auch Unterstützung mancher arabischer Staaten, die jedoch nur erahnt werden kann. 174 Der Krieg selbst wurde äußert brutal geführt. Es gab keine wirklichen Feldschlachten, der Krieg spielte sich in kleineren Scharmützeln und Gefechten ab. Immer wieder kam es zu Hinterhalten der FLN, die versuchte, mit Guerilla-Taktiken175 den Feind zu verängstigen und dadurch radikale Repressionsmaßnahmen provozierte. Wurden in einem Dorf während eines Hinterhaltes der FLN französische Soldaten getötet, kam es schnell zu Racheakten gegen die Zivilbevölkerung und da die Soldaten der FLN „unsichtbar“ waren, konnte man diese nie völlig auslöschen. Diese Repressionen wiederum führten dazu, dass die Bevölkerung den Kurs der FLN noch stärker unterstützte – die FLN profitierte also von den Rache172 Vgl. ebd., S. 77ff. Vgl. Meynier, Gilbert: Die „Revolution“ der FLN (1954-1962). In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 153-173. – Frankfurt/Main 2006. S. 157f. 174 Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 383, S. 37 175 Als Guerilla wird eine paramilitärische Einheit bezeichnet, die gegen die Regierungen ihres Landes kämpfen. Diese Einheiten sind äußert mobil und werden in kleine Truppen unterteilt. Hinterhalte und kurze Überraschungsangriffe sind ihre Angriffsmethoden und sie werden oft von der lokalen Bevölkerung unterstützt. 173 37 akten der französischen Armee viel mehr als diese selbst. Außerdem versuchte die FLN die Bevölkerung zu Aufständen zu animieren oder zumindest zu Massendemonstrationen gegen die französische Herrschaft. So gab es mehrere Streiks und auch an den Universitäten gab es einen Streik von muslimischen Lehrkräften und Studenten, die mit der FLN solidarisch waren. Diese Massenaktionen wurden hauptsächlich in der Anfangsphase des Krieges gestartet und oft von den kolonialen Ordnungskräften – auch mit Gewalt – zerschlagen.176 Nicht nur die französischen Soldaten wurden von der FLN attackiert. Auch feindlich gesinnte Moslems, wie die sogenannten „Harkis“177 - Söldner, sowie Gehilfen der französischen Armee – oder die Anhänger Messali Hadjs, wurden bekämpft. Außerdem töteten die Mitglieder der ALN 178 auch Zivilisten, die sich passiv verhielten und die FLN weder mit Versorgung noch mit Geld unterstützten. Die FLN wollte mit diesem Terror gegen die eigene Bevölkerung, dieser keine andere Wahl mehr lassen, als sich der FLN zu beugen und sie zu unterstützen. Es kam während des Krieges vor allem in Städten zu Bombenserien, die keine auf spezielle Personen oder Soldaten gezielten Attentate waren, sondern nur auf europäische Einrichtungen und Zivilisten gerichtet waren. Hartmut Elsenhans spricht sogar von einem „Bombenkrieg in Algier“, in dem beide Seiten versuchten, mit Bomben in den feindlichen Vierteln den Gegner zu verängstigen und zu töten.179 Ein anderes wichtiges Element der Taktik der FLN war die Tatsache, dass eine Armee in Tunesien ausgebildet wurde, die das Blatt jederzeit umdrehen hätte können, falls es zu einer Niederlage der Truppen in Algerien käme. Mit ihrer Strategie verfolgte die Unabhängigkeitsbewegung, wie oben schon angeführt, nicht einen militärischen Sieg gegen Frankreich, sondern ein stärkeres Gewicht bei den Verhandlungen. Diese Strategie war im Endeffekt erfolgreich. Die FLN wurde zunächst als einziger Verhandlungspartner und Repräsentant des algerischen Volkes anerkannt, und es kam ab den 60er Jahren zu Verhandlungen und schließlich 1962 zur Unabhängigkeit. 4.3.5. Französische Reaktion 4.3.5.1. Repressionen Einige Beispiele der französischen Repressionen wurden bereits in den letzten Unterkapiteln aufgezählt. Die Bestrafungen unterschieden sich kaum von denen, die während der früheren Kolonialzeit auf Grund von Aufständen angewendet worden waren. So wurden auch ganze Dörfer vernichtet und es wurde die kollektive Bestrafung – nachdem sie nach dem 2. Welt176 Vgl. ebd., S.386ff. Als Harkis wurden alle Moslems Algeriens bezeichnet, die gegen eine Unabhängigkeit Algeriens waren und sich weiterhin für Frankreich einsetzten. So dienten sie vor allem in französischen Armeen und stellten mehr oder weniger Söldner dar. 178 Siehe 4.3. Der Krieg 179 Ebd., S. 386 177 38 krieg zumindest theoretisch verboten worden war – wieder eingeführt. Doch wurden diese Repressionen noch stärker, da neue Waffen und Taktiken zum Einsatz kamen. Einerseits verwendete Frankreich Helikopter und verstärkt Bomber, um die Guerillas auch aus der Luft angreifen zu können und um ganze Landstriche, sowie Dörfer zu bombardieren. Andererseits wurden auch die Wehrpflichtigen eingesetzt – diese wurden zum Beispiel beim Indochinakrieg noch nicht einberufen. Außerdem kam es zu mehreren Hinrichtungen – die Todesstrafe wurde erst 1981 in Frankreich abgeschafft –, sowie zum Übergang zu Militärgerichten, die schnellere, aber staatsrechtlich wesentlich bedenklichere Verfahren vollzogen. So wollte man die „nötigen“ Abschreckungen für die Bevölkerung beschleunigen und verstärken. 180 Eine weitere Antwort auf die Taktiken der FLN war die Einrichtung von militärischen Schutzzonen, aus denen die Bevölkerung ausgesiedelt wurde. Sie wurde in andere Gebiete oder in „Umgruppierungslager“ gebracht. Alle Menschen, die in solchen Zonen aufgefunden wurden und nicht französische Soldaten waren, wurden einfach erschossen. Insgesamt wurden zwei Millionen Algerier während des Krieges umgesiedelt.181 So konnte zumindest zeitweise die FLN zurückgedrängt werden, doch ein kompletter Sieg wurde nicht möglich, da der Hass der Bevölkerung gegen die Kolonialmacht zu tief saß.182 Im Endeffekt waren diese militärischen Repressionen sinnlos, wenn nicht politische Reformen eingeleitet wurden oder die Unabhängigkeit gewährt worden wäre – sonst hätte sich das Feuer dieses Konflikts immer wieder durch den Hass selbst entfacht. Außerdem muss auf den Zustand der französischen Armee hingewiesen werden, der – selbst wenn ein vollständiger Sieg möglich gewesen wäre – das Militär große Anstrengungen kostete und einen Sieg rein militärisch gesehen schwer möglich machte. Die französische Armee war auf den Kriegsschauplatz Wüste gänzlich unvorbereitet und hatte zu wenige Helikopter und mobile Einheiten.183 Die Taktiken der französischen Armee sahen offene Feldschlachten vor und außerdem gab es nur unzureichend ausgebildete Streitkräfte. So gab es viele Todesopfer auf Grund von Feuer befreundeter Einheiten, da viele Soldaten einfach zu Infanteristen umgewandelt wurden, obwohl dies nicht ihrer Waffengattung entsprach. Ein weiteres Problem waren die überalterten Kader, die ihre Truppen nur mehr selten in den Kampf führen konnten. 184 Diese Probleme konnten erst im Laufe des Krieges gelöst werden, vor allem durch eine Verbesserung der Ausrüstung, sowie eine Umstellung der eigenen Taktiken auf den Guerillakrieg. So konnte das militärische Potential effizienter 180 Vgl. ebd., S. 424ff. Vgl. ebd., S. 441f. 182 Vgl. Renken, Frank, S.43 183 Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 408ff. 184 Vgl. ebd., S. 400ff. 181 39 genützt werden. Trotzdem führten diese Verbesserungen der Armee nicht zum gewünschten Ergebnis und Algerien erlangte auf politischem Weg die Unabhängigkeit.185 4.3.5.1.1. Folter Ein weiterer Faktor waren die Kriegsverbrechen der französischen Armee in Algerien. Der Krieg wurde mit äußerster Härte geführt, auch von algerischer Seite, trotzdem waren die französischen Maßnahmen für eine staatliche Armee inakzeptabel. Doch warum wurden Folterungen durchgeführt? Das große Problem war, dass sich die französischen Streitkräfte keiner regulären Armee gegenüber sahen, sondern kleinen Einheiten, die immer wieder, „plötzlich“ auftauchten und schnell wieder verschwanden. Man sah kein anderes Mittel mehr, den Feind zu besiegen, als härtere Methoden anzuwenden. So kam es zu systematischer Folter, wenige Jahre nach dem 2. Weltkrieg, in dem selbst französische Staatsbürger gefoltert wurden. Es wurden eigene Internierungslager eingerichtet, in denen politische Häftlinge und Kriegsgefangene inhaftiert wurden. In manchen dieser Lager wurden auch Foltermethoden angewandt, um die Feinde „umzuerziehen“ oder wichtige Informationen zu erhalten. 186 Man wollte so den Vorteil der FLN, Informationen über die Bevölkerung zu erhalten, wieder ausgleichen. Was jedoch fast wichtiger war als die Beschaffung von Informationen, war das Brechen der Moral und des Widerstandes. 187 In der Anfangsphase des Krieges wurde die Folter zunächst von der Polizei als Repressionsmaßnahme eingesetzt. Erst 1957 ging auch die Armee zur Folter über.188 Vor allem in der Schlacht von Algier 189 1957, in der die FLN erheblich geschwächt wurde, setzte die französische Armee Foltermethoden ein. Diese systematische Folter wurde von Paris, also den Regierungen, die zu dieser Zeit im Amt waren, nicht verurteilt, sondern meist stillschweigend akzeptiert. Zwar versuchte man die Folter teilweise einzuschränken, doch konnten sich die Politiker nicht durchsetzen. 190 Die Zerschlagung der FLN war für Frankreich viel wichtiger, als die Einhaltung der Menschenrechte. Diese Zerschlagung war nur durch die systematische Folter möglich geworden. Ohne diese Praxis wären die Führungskräfte nie aus dem Verkehr gezogen worden. Im Zuge der Folterungen kam es auch zur Ermordung von einzelnen Häftlingen, die entweder durch die Folter ums Leben kamen, oder später auf Grund von Verwischung von Beweisen einfach ermordet wurden. Die Folter war keine Randerscheinung des Algerienkrieges, sondern ebenso wie die Anschläge der FLN an 185 Vgl. ebd., S. 404 Vgl. ebd., S. 437 187 Vgl. Sartre, Jean-Paul: Ein Sieg. In: König, Traugott (Hrsg.), S. 49-61 – Hamburg 1988 S. 58ff. 188 Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 450f. 189 Die Schlacht von Algier stellte keine „typische“ Schlacht dar, sondern war viel mehr eine Auseinandersetzung, die sich hauptsächlich über Anschläge und Repressionsmaßnahmen, wie die Folter, abspielte. 190 Vgl. ebd., S. 454, S. 456 186 40 der Tagesordnung. 191 Die Systematik der Folter und ihre Brutalität verselbständigten sich während des Krieges – so kam es zum Einsatz von Folter oder zu Tötungen, um Platz in den Hubschraubern zu schaffen und um die Gefangenen loszuwerden. 192 Außerdem entwickelten sich mehrere spezielle militärische Organisationen, die sich nur mit der Folter beschäftigten und eigene Folterzentren unterhielten. Diese Organisationen gewannen immer mehr an Selbständigkeit und konnten teilweise nicht mehr von „oben“ kontrolliert werden. 193 Die Folter musste natürlich negative Reaktionen der aufgeklärten französischen Bevölkerung hervorrufen. Zunächst kamen nur wenige Berichte über Folter in die Medien. Erst mit der Schlacht von Algier, in der Folter massiv betrieben wurde, kam es zu einer Auseinandersetzung mit den Praktiken der Armee. Dies dürfte auch einen Prozess der Willensbildung hervorgerufen haben, wobei die französische Öffentlichkeit immer weniger an einem französischen Algerien interessiert war und den Krieg ablehnte. 194 Vor allem setzte sich die politische Linke gegen die Folter ein, so auch der Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre, der sich in mehreren Aufsätzen mit dem Thema Algerienkrieg, aber auch mit dem Thema Folter durch die Armee befasste.195 Trotz medialen Echos auf die Gräueltaten der Armee wurden diese fortgeführt und konnten erst mit Abschluss des Waffenstillstandes beendet werden. Die kolonialen „Lügen“, also dass Frankreich zivilisatorische Arbeit in seinen Kolonien geleistet hatte, wurde durch den Einsatz der Folter widerlegt. 4.3.5.2. Wirtschaftliche Reformen Natürlich sah man auch seitens Frankreichs ein, dass wirtschaftliche Reformen notwendig waren, um die Bevölkerung Algeriens an sich zu binden und um den Krieg zu beenden. Diese Reformen mussten zunächst die unmittelbaren Probleme der Moslems lösen. Die Massenarbeitslosigkeit und die große Armut der Algerier waren die wirtschaftlichen Tatsachen, mit denen Frankreich konfrontiert war. Außerdem musste man der autochthonen Bevölkerung Zugang zum Sozial- und Bildungswesen verschaffen. Auch die von den Nationalisten geforderten politischen Mitspracherechte mussten ihnen gewährt werden. Erst wenn diese „Grundbedürfnisse“ befriedigt gewesen wären, hätte Frankreich eine gewisse Vertrauensbasis in der Bevölkerung erhalten und mit weiteren politischen, sowie sozialen und wirtschaftlichen Programmen den Konflikt vielleicht lösen können und das koloniale Gebiet Algeriens unter französischer Souveränität halten können. 191 Vgl. ebd., S. 458 ff. Vgl. ebd., S. 460 193 Vgl. ebd., S. 463f. 194 Vgl. ebd., S. 468 195 Vgl. hier den Sammelband Jean-Paul Sartre „Wir sind alle Mörder“ - herausgegeben von Traugott König 192 41 Auf landwirtschaftlicher Ebene waren Änderungen der angebauten Produkte geplant. Die autochthonen Bauern sollten von der Subsistenzwirtschaft abgehen und verstärkt Lebensmittel anbauen, die höhere Erträge erzielten. Doch konnte dieser Plan nie realisiert werden, da den Kleinbauern schlicht die Mittel fehlten und sie kaum Kredite aufnehmen konnten, da sie zu wenige Absicherungen hatten.196 Außerdem konnte man bei der Landwirtschaft nur auf langfristige Erfolge hoffen, da die Umstellung auf neue Anbauprodukte Zeit brauchte. Eine weitreichende Industrialisierung wäre nötig gewesen, um die Zahl der Arbeitslosen zu verringern, sowie den Lebensstandard der autochthonen Bevölkerung zu erhöhen. Doch ebenso wie die landwirtschaftlichen Reformen benötigte eine Industrialisierung Zeit, aber vor allem Geld. Generell darf zwar nicht am Willen der französischen Regierung zu einer Änderung der Situation der autochthonen Bevölkerung gezweifelt werden, doch kamen die Reformversuche viel zu spät und wurden nicht gründlich genug ausgeführt. Ein weiteres Problem war die Kritik der europäischen Siedler, die sich gegen die Eingriffe in die algerische Gesellschaft gewehrt hatten und der Geldmangel Frankreichs. Der Algerienkrieg allein war schon eine große finanzielle Belastung für den – nach dem 2. Weltkrieg angeschlagenen – französischen Staat. Wahrscheinlich wären die nötigen – sehr kostspieligen – Änderungen während des Algerienkrieges sinnlos gewesen, da der Ausgang des Krieges ungewiss war und somit jede Investition in Algerien als Risikoinvestition angesehen werden konnte. So kam es auch selten zu privaten Investitionen und im Laufe des Krieges nahm der Kapitalexport zu.197 Die wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die schließlich umgesetzt wurden, waren nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein und konnten die Lage nicht beruhigen. Frankreich hätte wohl die komplette gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation ändern müssen und, was wahrscheinlich noch wichtiger gewesen wäre, für politische Gleichberechtigung der einzelnen algerischen Bürger sorgen müssen. Ohne eine solche Gleichberechtigung war eine Lösung des Konflikts nicht möglich, da sich die autochthone Bevölkerung und die Nationalisten bevormundet fühlten. Doch die europäischen Siedler waren durch das koloniale System an ihre Stellung gebunden und mussten ihre Vorrechte verteidigen. Auch aus diesem Grund wurden oft Reformen im politischen und wirtschaftlichen Bereich durch sie verzögert oder verhindert. 196 197 Vgl. Elsenhans, Hartmut, S. 550ff. Vgl. ebd., S. 167 42 4.4. Folgen des Krieges Der Krieg hatte sowohl in Frankreich, als auch in Algerien eine Vielzahl an Folgen. Der Algerienkrieg wurde vor allem in Frankreich einer starken Zensur unterworfen, die erst in den letzten Jahren aufgebrochen wurde und nun aufgearbeitet wird. Vor allem das Thema Folter spielt in diesem Bereich der Aufarbeitung noch immer eine sehr große Rolle.198 Auf die Verarbeitung in Algerien und Frankreich, vor allem auf Ebene der Schulen, wurde im 2. Kapitel bereits näher eingegangen. Doch es gab nicht nur Probleme mit der Diskussion über den Algerienkrieg. Die Mehrheit der europäischen Siedler in Algerien floh nach dem Krieg und musste von der Metropole aufgenommen werden. Dies war natürlich eine außerordentliche Belastung und führte zur Abneigung gegenüber den Algerienfranzosen199, die ja mehr oder weniger für den Krieg verantwortlich gemacht wurden. Eine weitere Folge des Krieges – und für den Staat Frankreich wohl eine sehr einschneidende – war der Verlust eines Großteils des Kolonialreichs. Während des Algerienkrieges verlor die einstige Großmacht fast alle Überseegebiete. Frankreich hatte nach dem Krieg endgültig seinen Großmachtstatus verloren: Militärisch, wirtschaftlich und nach dem Algerienkrieg auch weltpolitisch gesehen. Frankreich verlor durch den Zerfall seines Kolonialreichs vor allem an Einfluss in den heutigen „DritteWelt-Ländern“. Außerdem führten die wirtschaftlichen Probleme Algeriens kurz nach der Unabhängigkeit zu einer massiven Auswanderung von Moslems nach Frankreich. Diese Migration führte zu innenpolitischen Spannungen Frankreichs, die bis heute noch nicht überwunden werden konnten. Die ehemaligen Algerier konnten nicht integriert werden und sammelten sich vor allem in den Banlieues 200 rund um die Städte, wo soziale Probleme auf der Tagesordnung standen und stehen. Die jüngsten Folgen dieser Probleme waren die Ausschreitungen von Jugendlichen 2005 und das Anzünden von Synagogen201 als Reaktion auf die militärischen Aktionen Israels, die von den algerischen Muslimen verurteilt wurden. Trotzdem dürfen diese Ausschreitungen und Demonstrationen nicht als algerisches Problem angesehen werden, sondern allgemein als ein in der arabischen Welt vorkommender Antisemitismus, der vor allem mit dem Sympathisieren der Muslime mit den Palästinensern zusammenhängt. Die schlimmsten Folgen des Krieges waren jedoch nicht die Veränderungen des politischen Status Frankreichs und der sozialen Situation in Frankreich oder die Verdrängung des Konflikts, sondern die Vielzahl an Opfern und die Zerstörung, die dieser Krieg forderte. Millionen 198 Vgl. Mauss-Copeaux, Claire: Die Geschichte des Algerienkrieges: Das Problem der Gewalt. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 75-83. – Frankfurt/Main 2006. S.77ff. 199 Vgl. Floch, Jacques: Von Algerien nach Algerien. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 55-65. – Frankfurt/Main 2006. S.60 200 Eine „banlieue“ bezeichnet den vorstädtischen Bereich rund um eine Stadt. 201 Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/327/455006/text/ (Stand: 19.01.2009) 43 Menschen wurden vertrieben, ermordet oder gefoltert. Nichts kann diesen „Verbrauch“ an Menschenleben rechtfertigen, weder der Ungehorsam der Rebellen noch die Unterdrückung der Kolonialmacht. Der Krieg war jedoch auf Grund des kolonialen Systems nicht mehr zu verhindern gewesen. Frankreich hätte zumindest früher politisch einlenken müssen, um diesen Konflikt zu begrenzen und dem algerischen Volk das Leid dieses Krieges zu ersparen. 5. Die Unabhängigkeit Algeriens Die Unabhängigkeit stellte die FLN vor riesige Herausforderungen. Durch den sehr langen Krieg war das Land teilweise zerstört worden. Hundertausende, wenn nicht sogar mehr als eine Million Menschen wurden während des Konflikts getötet und die französischen Siedler, die früher Fachkräfte gewesen waren und auch Führungspositionen eingenommen hatten, zogen zum Großteil weg. Es fehlte also an Geld und an ausgebildetem Personal. Außerdem mussten weitreichende Reformen eingeleitet werden, um das Elend der Bevölkerung zu lindern und die Strukturen der Kolonialzeit zu überwinden. Diese Veränderungen der Gesellschaft und die Folgen der Herrschaft der FLN werden in diesem Kapitel beschrieben. 5.1. Alleinherrschaft der FLN Die FLN hatte während des Krieges die meisten anderen Parteien entweder verdrängt oder in sich integriert. Nach dem Unabhängigkeitskrieg wurden weitere Parteien, wie die Kommunistische Partei – Parti communiste algérien, verboten. 202 Vor allem innerhalb der FLN gab es verschiedenste Meinungen, da die Partei ja eine „Front“ gegen den Kolonialismus und keine homogene Bewegung gewesen war. Trotzdem konnte sich eine Einheitspartei entwickeln, die bis in die Gegenwart Algerien beherrschen sollte. Der erste Staatspräsident wurde Ben Bella203, der ein Gründungsmitglied der Partei war. Er wurde zunächst auch vom militärischen Arm der Partei geduldet und erhielt von ihm Unterstützung. Doch der damalige Verteidigungsminister, Houari Boumedienne 204, war mit seinem Führungsstil nicht einverstanden und wollte wieder Ordnung ins Land bringen, da es wirtschaftliche und soziale Probleme unter Ben Bella gab. Er putschte mit Hilfe der Armee und war jahrelang Präsident. 205 Unter Boumedienne, der ein sehr autoritärer Herrscher war, wurden weitreichende Reformen eingeleitet, die jedoch, wie im Kapitel 5.1.1. näher beschrieben wird, scheiterten. Er war trotzdem unan202 Vgl. Schmid, Bernhard: Algerien – Frontstaat im globalen Krieg? – Münster 2005, S.68 Ben Bella war ein algerischer Nationalist, der jedoch als eine der Führungspersönlichkeiten der FLN bereits 1956 verhaftet wurde. Nach der Unabhängigkeit wurde er freigelassen und Ben Bella wurde erster Präsident Algeriens. 204 Houari Boumedienne (1925-1978) war algerischer Nationalist, der sich der FLN anschloss und rasch beim militärischen Arm der Partei aufstieg. Er wurde nach der Unabhängigkeit Verteidigungsminister. 205 Vgl. Schmid, Bernhard, S. 51 203 44 getasteter Herrscher „seines“ Volkes und vom Großteil der Bevölkerung akzeptiert und „geliebt“. Dies lag wahrscheinlich an seinem Charisma und den weitreichenden Reformen, die ihn beliebt machten. 206 Er verfolgte jeden Widerstand und konnte die kritische Gewerkschaft und die kommunistischen Studentenverbände auflösen und verdrängen. Nach seinem Tod und den aufkommenden wirtschaftlichen Problemen wackelte das Machtmonopol der FLN und wurde sogar zeitweise aufgehoben. Vor allem der aufkommende Islamismus bedrängte die Einheitspartei und führte zu einem Bürgerkrieg, der jedoch mit Hilfe der Armee zurückgeschlagen werden konnte. 5.1.1. Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen Die FLN bezeichnete sich als eine sozialistische Partei, die jedoch, im Gegensatz zum sowjetischen Kommunismus, keine atheistische Linie verfolgte, sondern sich auf die Werte des Islams und die arabische Kultur berief. Sie sprach von einem eigenen islamischen Sozialismus.207 Der Anspruch der FLN, eine sozialistische Partei zu sein, war ein rein populistischer. Zwar gab es linke Kräfte in der Partei, doch diese konnten sich nicht durchsetzen. Anstatt die von den Algerienfranzosen verlassenen Betriebe und Grundstücke den Arbeitern und Bauern zu geben oder in sinnvollen Wirtschaftsreformen kollektiv zu betreiben, wurden die meisten nur verstaatlicht und dann zu niedrigen Preisen wieder an Mitglieder der FLN verkauft. 208 Es entstand somit eine von Korruption geprägte wirtschaftliche Ordnung, die von der FLNStaatsmacht kontrolliert wurde. Wenn man bei der FLN war oder zumindest gute Verbindungen zur Partei hatte, konnte man sich einige Vorteile erhoffen. Die eigentliche Wirtschaft war jedoch selbst einige Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg vom kolonialen Import-/Exportsystem geprägt. Man musste mit Frankreich handeln, da die ganze Wirtschaft exportorientiert war.209 Außerdem erwarb sich Frankreich bei den Friedensverhandlungen von Evian einige wirtschaftliche und politische Vorteile, die sich für Algerien am Anfang der Unabhängigkeit als sehr nachteilig herausstellten. Frankreich übernahm fast die vollständige Kontrolle über die Förderung der Öl- und Gasvorkommen Algeriens und konnte so seinen eigenen Firmen billigen Zugang zu eigenen Förderstätten liefern. Außerdem behielt die französische Regierung ein kleines Testgebiet in der Sahara für nukleare und chemische Waffen. 210 Erst 1965 konnte Algerien einen neuen Vertrag aushandeln, der zumindest auf Ebene der Öl- und Gasförderungen die meisten Vorteile Frankreichs rückgängig mach206 Vgl. Schmid, Bernhard, S. 70f. Vgl. ebd., S.44 208 Vgl. ebd., S.45ff. 209 Vgl. ebd., S. 38f. 210 Vgl. ebd., S.40f. 207 45 te.211 1971 wurden die Erdölvorkommen endgültig nationalisiert und Algerien erhielt noch mehr Bestimmungsrechte gegenüber den französischen Erdölkonzernen. Durch diese Nationalisierung wurde versucht, Kapital für neue staatliche Investition zu generieren. 212 Gérard Destanne de Bernis, ein französischer Ökonom, prägte den Begriff „industrialisierende Industrien“213. Diese Industrien waren so aufgebaut, dass sie neue Firmen und Industriezweige schufen und somit als Motor für die gesamte Wirtschaft dienen sollten. Algerien wollte genau dieses Entwicklungsmodell für seine eigene Wirtschaft anwenden. Die Schwerindustrie sollte zum Grundstein der algerischen Wirtschaft werden. In den 70er-Jahren konnte Algerien einige Erfolge verzeichnen, aber nicht auf Grund der neuen Industrie, sondern da der Ölpreis stieg. Die Ölindustrie war die einzige erfolgreiche Industrie im unabhängigen Algerien, denn „… in allen anderen Sparten zeigte sich schon bald die technische und wirtschaftliche Fehlplanung“.214 Die Anlagen waren viel zu groß geplant und ineffizient ausgenützt. Auch führten diese neuen Industrien zu einer nur geringfügig höheren Beschäftigungszahl. So entstand eine überdimensionierte Verwaltung, um Arbeitslose aufzunehmen. 215 Das Geld der Ölförderungen reichte nicht, um die sozialen Probleme zu beseitigen, deswegen musste die algerische Regierung Kredite im Ausland aufnehmen, um Nahrungsmittel importieren zu können. Vor allem auf den landwirtschaftlichen Sektor wurde seitens des Staates verzichtet – es kam kaum zu Investitionen und die Schwerindustrie in Küstennähe führte zur Verschlechterung der Nahrungsmittelproduktion. Dies bewirkte einen erhöhten Bedarf an Lebensmittelimporten. Nachdem die Preise für Rohöl und Erdgas in den 80er Jahren einbrachen, verschlechterte sich die Situation der Bevölkerung weiter, da auf wichtige Importe verzichtet werden musste. Eine ungeheure Inflation verstärkte die Krise Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre. So gab es zwischen 1989 und 1994 einen Anstieg der Verbraucherpreise um 400% und das Bruttosozialprodukt sank 1992 um 22%. Die Weltbank 216 intervenierte und Algerien musste Souveränitätsrechte abtreten und Staatssubventionen aufgeben. Daraufhin musste die Bevölkerung noch teurere Lebensmittel in Kauf nehmen. 217 211 Vgl. ebd., S.50 Vgl. ebd., S.55 213 Gérard Destanne de Bernis, 1969, zitiert nach Dür Mathias 2000, S.85 214 Dür, Mathias: Islamismus und Algerienkonflikt – Wien 2000, S.86 215 Vgl. ebd., S.87 216 Die Weltbank vergibt Kredite für Förderprojekte – vor allem in Entwicklungsländern. Diese Kredite zeichnen sich durch ihre niedrigen Zinsen aus und sollen als Entwicklungshilfe dienen. Die Weltbank wird jedoch oft auf Grund ihrer Praktiken kritisiert, da sie fragwürdige Projekte unterstützt, die meist den Konzernen der Industrieländer mehr nützen, als den Entwicklungsländern. 217 Vgl. ebd., S.88 ff. 212 46 Heute ist Algerien vollständig von den Erdöl- und Erdgasexporten abhängig und muss sich nach den Schwankungen des Ölpreises ausrichten. Mittlerweile machen diese Exporte zwischen 97 und 98 Prozent des Gesamtwertes der Exportwirtschaft aus. 218 Die Landflucht nahm in Algerien nach der Unabhängigkeit weiter zu und 2000 waren weniger als 50% der Bevölkerung Landbewohner. Dies führte zur Entstehung von Slums, da die Einwohner in den Städten keine Wohnungen mehr fanden und es zu einer Massenarbeitslosigkeit kam. So waren 2000 ca. 25% Arbeitslose zu verzeichnen. 219 Auch die Situation an den Schulen hatte sich nach der langen Kolonialherrschaft nur unzureichend verändert. Französisch war noch immer notwendig, um in höhere Positionen aufzusteigen. Es wurde aber nur Arabisch in den öffentlichen Schulen gelehrt – Französisch konnte man nur in Privatschulen erlernen, die jedoch für den Großteil der Bevölkerung zu teuer waren. Außerdem war das „Hocharabisch“, welches an den Schulen gelehrt wurde, fremd für die Schüler, da es während der Kolonialzeit kaum arabischen Unterricht gegeben hatte und somit die Eltern nur mehr den algerischen Dialekt sprachen. 220 Ein weiterer Frustrationsgrund für Schüler und Studenten war, dass selbst eine Hochschulausbildung keinen Arbeitsplatz garantierte, da man Beziehungen zur Partei haben musste, um Arbeit zu finden. 221 Diese wirtschaftliche und soziale Lage musste schließlich in einem Konflikt zwischen Bevölkerung, die von Islamisten aufgeheizt wurde, und Regierung münden, da die Algerier keine Hoffnung auf Besserung mehr hatten. Ende der 80er kam es zu einem regelrechten Bürgerkrieg, der von islamistischen Kräften – vor allem der Front Islamique du Salut (FIS), einer islamistischen Partei, die sich gegen die Regierung wandte – eingeleitet wurde, die jedoch den Kampf nicht für sich entscheiden konnten. Auch nach diesem Krieg verbesserte sich die Situation nur bedingt und es kam zu einem erneuten Aufkommen des Islamismus. Doch nun nützte die al-Qaida222 die islamistischen Strömungen aus und konnte in Algerien Fuß fassen. Auf Grund der Aktivitäten der al-Qaida kam es wieder vermehrt zu Anschlägen und Auseinandersetzungen mit der Regierung.223 Bis heute konnte dieses Problem nicht gelöst werden, und es trägt weiterhin zur Instabilität des nordafrikanischen Landes bei. 218 Vgl. Schmid, Bernhard, S.58 Vgl. Dür, Mathias, S.92 220 Vgl. ebd., S.93f. 221 Vgl. Thielmann, Jörn (2006): „Nationalismus und Entwicklung in Algerien“. http://www.ifeas.unimainz.de/workingpapers/AP71.pdf (Stand: 06.01.2009) 222 al-Quaida ist eine terroristische Organisation, die weltweit agiert und einen Dschihad („heiligen Krieg“) gegen den Westen führt. 223 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Salafisten-Gruppe_f%C3%BCr_Predigt_und_Kampf (Stand: 14.01.2009) 219 47 Die Unabhängigkeit Algeriens führte zu einer Parteiendiktatur, die sich zunächst auf weite Teile des Volkes stützen konnte. Erst als die wirtschaftlichen Probleme des Landes deutlich wurden, kam es zum Widerstand innerhalb der Bevölkerung, der Algerien in einen Bürgerkrieg führen sollte. Der Unabhängigkeitskrieg war womöglich ein Auslöser dieser Entwicklungen, da die FLN während des Krieges ihre Opposition ausschalten konnte und durch den Sieg Prestige gewinnen konnte. Außerdem war das Land gezeichnet von den fast acht Jahren Krieg und musste wieder aufgebaut werden. Die Situation nach der Kolonialzeit und nach dem Krieg war angespannt. Die Strukturen, die Frankreich ab 1830 aufgebaut hatte, behinderten die FLN zusätzlich, sinnvolle Reformprogramme zu starten. Man kann jedoch nicht alleine Frankreich für die jetzige Misere der algerischen Bevölkerung verantwortlich machen, da die FLN eine korrupte Einheitspartei war, die auf Grund ihrer – oft sinnlosen – Reformen, die Lage der Menschen nicht bessern konnte. 6. Fazit Es fällt nicht leicht, einen solch großen Krieg zu resümieren, da es eine Vielzahl an Standpunkten zu beachten gilt. Trotzdem lässt sich mit Gewissheit sagen, dass der Algerienkrieg weitreichende Auswirkungen hatte, die teilweise sogar heute noch zu spüren sind. In Frankreich sind die Immigrationsprobleme und in Algerien die Religionsprobleme als solche aktuellen Folgen zu nennen. Der Konflikt und seine Auswirkungen blieben jedoch stets in einem regionalen Bereich und es kam kaum zu einer Internationalisierung des Unabhängigkeitskrieges. Diese Einschränkung machte ihn für lange Zeit auch so unbekannt im Bewusstsein der einzelnen Europäer. Nur eine kleine Minderheit wird in Europa – außer natürlich in Frankreich, wo in den letzten Jahren durch Medienkampagnen bereits manches aufgearbeitet wurde – den Algerienkrieg und seinen Verlauf genauer kennen. Auch deshalb ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema wichtig, damit man die Geschichte Frankreichs und Algeriens als „Außenstehender“ besser verstehen kann. Diese Fachbereichsarbeit soll dem Leser zumindest einen kleinen Überblick über die algerische Kolonialzeit, die Ursache für den Konflikt war, den Krieg und die Unabhängigkeit Algeriens bieten. Trotzdem sollte man sich noch näher mit den Krisen der FLN-Alleinherrschaft auseinandersetzen, die jedoch bereits in der Kolonialzeit ihren Ursprung finden. Als ich mich am Anfang für das Thema Algerienkrieg entschied, war diese Entscheidung mehr eine spontane, als eine lang überlegte gewesen. Ich hatte zuvor eine Vielzahl anderer Ideen für FBA-Themen, doch ich wollte einen für mich völlig unbekannten Konflikt als Ge48 genstand meiner Arbeit wählen. Ich habe durch diese Fachbereichsarbeit sehr viel über den Maghreb und im speziellen über Algerien und die jüngere französische Geschichte gelernt. Auch wenn die Recherche und das Niederschreiben, sowie das Überarbeiten dieser Arbeit viel Zeit in Anspruch genommen haben, waren sie diese wert. Außerdem hat diese Arbeit mein Interesse an der kolonialen Vergangenheit Afrikas geweckt. Hinzu kommt, dass ich des Öfteren geradezu überrascht war von manchen Fakten, die ich während meiner Recherche entdeckte. Ein Beispiel wäre das Ausmaß der Korruption im unabhängigen Algerien, auf das ich jedoch in meiner Arbeit schließlich nicht weiter eingegangen bin, oder der Einsatz von Folter im Algerienkrieg. Ich werde mich sicher weiterhin mit dem Algerienkonflikt beschäftigen, da ich noch einzelne Punkte zunächst als Kapitel eingeplant hatte, auf die jedoch aus Platz- und Zeitgründen nicht näher eingegangen wurde. So gäbe es noch eine Vielzahl an Konflikten in der jüngeren Geschichte Algeriens zu entdecken, wie die genauen Auswirkungen des Bürgerkrieges oder den autoritären Führungsstil der FLN. Zuletzt muss ich auch sagen, dass das Erstellen dieser wissenschaftlichen Arbeit lehrreich war und mich hoffentlich gut auf die Arbeiten, die im späteren Studium noch auf mich warten werden, vorbereitet hat. 49 This war cannot be summed up easily because of the various viewpoints and opinions, although the aftermath is clear and still exists today. The Algerian War of Independence caused a huge number of casualties, but there was never an internationalisation of the conflict. This is also the reason why many European people are so unfamiliar with the war. Therefore a discussion about this subject has to be one of the priorities of the European historians. This research paper should offer an overview of this conflict, its reasons and the independence of Algeria. 50 Quellen- und Literaturnachweis Quellen aus Büchern und Sammelbänden Chenntouf, Tayeb: Die Geburt eines Schulfachs – Geschichte in Algerien. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 192-204. – Frankfurt/Main 2006 Djerbal, Daho: Der Algerienkrieg in Forschung und Lehre. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S.184-191. – Frankfurt/Main 2006 Dür, Mathias: Islamismus und Algerienkonflikt. – Wien 2000 Elsenhans, Hartmut: Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962. Entkolonisierungsversuch einer kapitalistischen Metropole. Zum Zusammenbruch der Kolonialreiche. – München 1974 Floch, Jacques: Von Algerien nach Algerien. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 55-65. – Frankfurt/Main 2006 Kohser-Spohn, Christiane, Renken Frank: Trauma Algerienkrieg. – Frankfurt/Main 2006 Lemaire, Sandrine: Der Algerienkrieg in den französischen Schulbüchern: Eine Zäsur in der Nationalgeschichte? In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 123 -137. – Frankfurt/Main 2006 Mauss-Copeaux, Claire: Die Geschichte des Algerienkrieges: Das Problem der Gewalt. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 75-83. – Frankfurt/Main 2006 Meynier, Gilbert: Die « Revolution » der FLN (1954-1962). In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 153-173. – Frankfurt/Main 2006 Pervillé, Guy: Die Geschichtswissenschaft und die späte Erforschung des Algerienkrieges: Von einem konfliktbeladenen Gedenken zur historiografischen Versöhnung? In: KohserSpohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 66 -74. – Frankfurt/Main 2006 51 Remaoun, Hassan: Nationaler Befreiungskrieg und Geschichtsunterricht in der Schule. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S.205-218. – Frankfurt/Main 2006 Renken, Frank: Kleine Geschichte des Algerienkrieges. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 25-50. – Frankfurt/Main 2006 Sartre, Jean-Paul: Der Kolonialismus ist ein System. In: König, Traugott (Hrsg.): Wir sind alle Mörder. S. 15-31 – Hamburg 1988 Sartre, Jean-Paul: Ein Sieg. In: König, Traugott (Hrsg.): Wir sind alle Mörder S. 49-61 – Hamburg 1988 Schmid, Bernhard: Algerien – Frontstaat im globalen Krieg? – Münster 2005 Schmid, Bernhard: Das koloniale Algerien. – Münster 2006 Soufi, Fouad: Die Erinnerung befragen? Die Geschichte des nationalen Befreiungskrieges zwischen Pflicht zur Erinnerung und Anspruch der Geschichte. In: Kohser-Spohn, Christiane, Renken, Frank: Trauma Algerienkrieg. S. 174-183. – Frankfurt/Main 2006 Wohlt, Klaus: „Gloire à la plus grande France“. In: Praxis Geschichte 1/93 S. 20-21. – Freiburg 1993 Internet – und Softwarequellen „Algerien – Bevölkerung“. http://de.wikipedia.org/wiki/Algerien#Bev.C3.B6lkerung (Stand: 10.01.2009) „Al-Qaida im islamischen Maghreb“. http://de.wikipedia.org/wiki/Salafisten- Gruppe_für_Predigt_und_Kampf (Stand: 14.01.2009) „Chronology of events in Algeria (1954–1962)“. http://www.ena.lu?lang=2&doc=3375 (Stand: 27. Dezember 2008) 52 „Europaweite Proteste – Brandanschlag auf Synagoge, Gewalt bei Kundgebungen“. http://www.sueddeutsche.de/politik/327/455006/text/ (Stand: 19.01.2009) „Frankreich – 7.23. Die Vierte Republik“. In: Microsoft Encarta 2009 „Fünfte Französische Republik“. http://de.wikipedia.org/wiki/Fünfte_Französische_Republik (Stand: 02.02.2009) „Geschichte - Algerien“. In: Encarta Enzyklopädie Professional 2003 Thielmann, Jörn (2006): „Nationalismus und Entwicklung in Algerien“. http://www.ifeas.unimainz.de/workingpapers/AP71.pdf (Stand: 06.01.2009) Naylor, Phillip C. (1994): „Code de L'Indigénat“. http://www.answers.com/topic/code-de-lindig-nat (Stand: 16. 11. 2008) „Vierte Französische Republik“. http://de.wikipedia.org/wiki/Vierte_Französische_Republik (Stand: 02.02.2009) 53 Ich erkläre, dass ich diese Fachbereichsarbeit ausschließlich selbst und ohne Gebrauch unerlaubter Hilfsmittel oder Hilfen verfasst habe. 54