Allgemeine Psychologie A - Alpen-Adria

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http://www.uni-klu.ac.at/psy/cognition/
Lernunterlage zur Vorlesung
Allgemeine Psychologie A
(STEP, 160.600)
an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
Univ.-Prof. Dr. Oliver Vitouch
Aktualisierter Auszug aus: E. Vanecek, U. Kastner-Koller, P. Deimann & M. Toyfl (Hrsg.) (2002), Psychologie als Wissenschaft.
Skriptum zur Eingangsphase für das Studium der Psychologie
(3. Aufl., S. 25-46). Wien: Institut für Psychologie der Univ. Wien.
NB: Diese Lernunterlage deckt nur einen Teil des Vorlesungsstoffes
(„Einführungsblock“) ab. Die Lektüre ersetzt nicht den Besuch der
Vorlesung. Prüfungsstoff ist der gesamte Vorlesungsstoff zuzüglich der vereinbarten Prüfungsliteratur!
ALLGEMEINE PSYCHOLOGIE
Oliver Vitouch, Gerhard Benetka & Christian Korunka1
1. Definition
Die Allgemeine Psychologie ist eines der grundlegenden Fächer der Psychologie. Sie behandelt „allgemeine“ Gesetzmäßigkeiten aus den Gebieten der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und Lernens, des Denkens und Problemlösens, der Sprache, der Emotion und Motivation, des Bewusstseins sowie der Handlungskontrolle und Psychomotorik. Ihre
Erkenntnisse zählen zum Kernbestand psychologischen Wissens. Darüber hinaus gibt sie eine
Einführung in psychologische Modellvorstellungen und in die grundlegende Methodologie.
2. Teilgebiete der Allgemeinen Psychologie
• Wahrnehmung und Aufmerksamkeit: Die Beschäftigung mit Phänomenen der Wahrnehmung ist einer der ältesten Bereiche der wissenschaftlichen Psychologie. Die ältere psychophysische Forschungstradition untersucht Beziehungen zwischen physikalischen Reizen und dem Wahrnehmungserleben; eine neuere kognitiv orientierte widmet sich „höheren“ Wahrnehmungsfunktionen, z. B. dem Einfluss von Kontextinformation und Vorerfahrung auf das Erkennen von Objekten. Die Aufmerksamkeitsforschung behandelt Prozesse
der Selektion, Filterung und Fokussierung im Verlauf des Wahrnehmungsprozesses.
• Gedächtnis: Die Gedächtnispsychologie befasst sich mit Fragen der Enkodierung, der
Speicherung und des Abrufes von Informationen. Sie wird in diesem Kapitel noch ausführlich dargestellt.
• Lernen: Die Gesetzmäßigkeiten des Lernens bilden insgesamt einen der großen Forschungsbereiche der Psychologie. Historisch und konzeptionell lassen sich dabei die klassische Konditionierung, die operante Konditionierung (Verstärkungslernen) und das Beobachtungslernen sowie Formen des kognitiven Lernens unterscheiden.
• Denken und Problemlösen: Hierunter werden diverse sog. „höhere kognitive Prozesse“
subsumiert. Der Bereich befasst sich u.a. mit logischem Schließen, Konzeptbildung, Problemlösestrategien, Urteils- und Entscheidungsprozessen sowie mit allgemeinen Modellen
menschlicher Rationalität.
• Sprache: Dieses Feld ist in die Bereiche Sprachproduktion und Sprachrezeption gegliedert.
Neben den Grundlagen von Sprache (Syntax, Semantik) umfasst es Aspekte des Sprachgebrauchs (Pragmatik, Interaktionslogik, Kommunikation).
• Emotion: Die Emotionspsychologie beschäftigt sich mit dem Erleben, dem körperlichen
(mimischen) Ausdruck und den physiologischen Begleiterscheinungen von Emotionen.
Dabei steht einerseits die Universalität von Basisemotionen (evolutionärer Ansatz), andererseits die Interaktion mit kognitiven Prozessen (Bewertungs-/Appraisal-Theorien; Kultureinflüsse) im Vordergrund.
• Motivation: Die Motivationspsychologie befasst sich mit den Ursachen und Auslösern von
Verhalten. Historisch betrachtet lassen sich willenspsychologische (volitionale), Erwartungs-Wert-Modelle, Trieb- und Anreiz-Modelle sowie neuere kognitive Ansätze unterscheiden.
• Bewusstsein: Die Bewusstseinsforschung behandelt Fragen des subjektiven Erlebens, unserer „inneren Stimme“ und des (vermeintlichen?) freien Willens. Dabei werden Aspekte wie
1
Teile dieses Kapitels beruhen auf dem Beitrag von Ch. Korunka zur vorhergehenden Auflage.
Ich-, Körper-, Handlungs- und Wachbewusstsein unterschieden. Essentiell ungelöst ist das
Leib-Seele-Problem („Interaktion“ von Geist und Gehirn).
• Handlungskontrolle und Psychomotorik: Dieser Bereich untersucht die internen Steuerungsmechanismen von Verhalten. Im Mittelpunkt stehen Handlungs- und Bewegungskoordination, Zusammenhänge von Wahrnehmung und Aktion und interne Repräsentationen
von Handlungsprozessen.
3. Modelle der wissenschaftlichen Psychologie
Der wissenschaftlichen Psychologie liegen bestimmte Modellvorstellungen zugrunde. Als
zentral können folgende – teils rivalisierende – Ansätze gelten:
3.1 Das biopsychologische Modell
Menschliches Verhalten wird vor dem Hintergrund seiner biologisch-physiologischen Grundlagen betrachtet. Psychologische Phänomene wie Verhalten, Erleben und Bewusstsein sollen
aufgrund physikalisch-biochemischer Prozesse verstanden werden. Ein Postulat des biopsychologischen Modells ist der Reduktionismus: Komplexere Phänomene werden durch Reduktion auf die „kleineren“, naturwissenschaftlich erfassbaren Phänomene tiefergelegener Ebenen
zu erklären versucht. Es wird davon ausgegangen, dass unser Verhalten durch (ursprünglich
ererbte) physiologische Strukturen bestimmt wird. Durch Erfahrung kann das Verhalten verändert werden, indem die zugrunde liegenden biologischen Prozesse modifiziert werden.
3.2 Das behavioristische Modell
Das behavioristische Modell befasst sich mit dem sichtbaren Verhalten und seiner Auslösung
durch Umweltreize. Der streng behavioristisch orientierte Psychologe akzeptiert als Daten
lediglich „offene“ Verhaltensreaktionen, die auch messbar sind (z. B. den Lidschlagreflex, das
Drücken eines Hebels etc.). Ziel der behavioristischen Analyse ist es, abzuklären, in welcher
Form spezifische Stimuli bestimmte Reaktionen auslösen. Dieses Untersuchungsdesign lässt
sich im Englischen gut als „ABC der Psychologie“ ausdrücken:
Antecedent conditions that precede the behavior,
the Behavioral response, and the Consequences that follow it.
Der klassische Behaviorismus geht von der Annahme aus, dass das Verhalten vollständig
durch Umweltbedingungen und Lernprozesse determiniert ist und nicht von Vererbung bestimmt wird (empiristisches tabula rasa-Modell). Menschen sind demnach von Natur aus
weder gut noch böse, sondern reagieren schlicht auf Umweltgegebenheiten, die spezifische
Färbungen in die eine oder andere Richtung bedingen.
Das aus den USA stammende behavioristische Modell (wesentliche Protagonisten waren J. B. Watson und F. B. Skinner) hat die angelsächsische Psychologie etwa von 1920-1960
dominiert. Im deutschsprachigen Raum gewann der Behaviorismus erst nach dem 2. Weltkrieg an Einfluss und galt in den 60er und 70er Jahren als vorherrschendes Forschungsparadigma, bis er durch die kognitive Wende abgelöst wurde. Auch wenn der „radikale Behaviorismus“ nur mehr wenige Vertreter hat, haben seine theoretischen und methodischen Prinzipien doch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, der immer noch spürbar ist.
3.3 Das kognitive Modell
Die „kognitive Wende“ brachte eine Abwendung von der jahrzehntelang währenden Dominanz des später als „Psychologie ohne Seele“ gescholtenen Behaviorismus. Dem kognitiven
Modell zufolge stellen Kognitionen (lat. cogito ... ich erkenne) den primären Gegenstand der
Psychologie dar. Der Begriff der Kognition umfasst all jene Bereiche, die als „geistig“ be3
trachtet werden, wie z. B. Prozesse des Wahrnehmens, Erinnerns, Denkens und Entscheidens
oder Begriffe, Bewertungen und Einstellungen.
Das kognitive Modell geht davon aus, dass Informationsverarbeitungsprozesse für das
menschliche Verhalten verantwortlich und bestimmend sind. Obwohl die Verarbeitung die
Aufnahme von Information voraussetzt, wird das menschliche Handeln nicht als direkte Reaktion auf diesen Input angesehen. Hier ist der aktive Prozess der Kognition bzw. Informationsverarbeitung zwischengeschaltet, in der das Individuum z. B. die Umwelt aktiv nach jenen Informationen absucht, die für eine bestimmte Entscheidung benötigt werden. Menschen
reagieren nicht auf die objektiv beschreibbare materielle Welt (Realität), sondern darauf, wie
sie sich ihnen als subjektive Realität darstellt. Das Individuum konstruiert eigene Interpretationen der Welt, die nicht mit ihrer objektiven Beschreibung übereinstimmen müssen. Diese
subjektive Konstruktion ist der „proximale“ Input für die Handlungsentscheidungen und
-exekutionen, also den Output des informationsverarbeitenden Systems; sie ist zwischen die
Handlung und die aus der Umwelt wirkenden „distalen“ Stimuli geschaltet. Die zwischen
Reiz und Reaktion geschaltete black box der internen psychischen Prozesse wird (wieder)
zum Gegenstand psychologischer Forschung.
Im kognitiven Modell werden Gedanken sowohl als Ergebnisse als auch als Ursachen
offen beobachtbarer Handlungen betrachtet. Z. B. ist das Gefühl der Reue, nachdem man jemand anderen verletzt hat, Ausdruck dafür, dass eine Kognition als Handlungsergebnis auftritt. Reue, die zu einer Entschuldigung führt, ist ein Beispiel für eine Kognition, die Handeln
verursacht. Kognitionspsychologen erforschen geistige Prozesse auf der molekularen und der
molaren Ebene. Sie untersuchen beispielsweise die Geschwindigkeit, mit der unterschiedliche
Arten von Sätzen verstanden werden (molekulare Ebene) oder die Erinnerungen an ein Ereignis aus der frühen Kindheit (molare Ebene).
3.3 Das evolutionäre Modell
Die zunehmend einflussreiche Strömung der Evolutionspsychologie betrachtet unsere Psyche
aus Sicht der darwinistischen Evolutionstheorie. Ihr Schwerpunkt liegt auf Adaptationen, also
auf genetisch codierten Anpassungen an die Umwelt, die sich über die Mechanismen der Variation, Selektion und Reproduktion im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung (Phylogenese) herausgebildet haben. Solche Adaptationen sind nicht nur im anatomisch-morphologischen und physiologischen Bereich, sondern auch im kognitiven und Verhaltensbereich
zu finden. Zu unterscheiden sind Anpassungen im Rahmen der natürlichen Selektion („Kampf
ums Überleben“) und der sexuellen Selektion (Paarungs- und Fortpflanzungswettbewerb). Da
sich das Genom des Homo sapiens in den letzten 10.000 Jahren nicht mehr wesentlich verändert hat, sei Aufschluss über die kognitive Architektur des Menschen am ehesten durch den
„Blick zurück“ auf die Lebensbedingungen und Überlebensprobleme unserer Vorfahren in
prähistorischen Jäger- und Sammlergesellschaften zu gewinnen (z. B. Probleme der Jagd, der
Partnerwahl und der Aufzucht von Nachkommen). Ein Beispiel für eine kognitive Adaptation
wäre die Fähigkeit des Menschen, soziale Kooperationen und Allianzen einzugehen und Verstöße gegen soziale Verträge („Wenn Du mir heute das gibst, gebe ich Dir dafür morgen jenes“) zu identifizieren.
Obwohl das evolutionäre Modell verhaltenszentriert ist (da Selektionsmechanismen
nur auf Basis des Verhaltens operieren können) und in deutlicher Nähe zu Ethologie (Verhaltenswissenschaft), komparativer Zoologie und Soziobiologie steht, nimmt es klare Opposition
gegenüber dem Behaviorismus ein: Dieser geht von hoher Verhaltensplastizität und universellen Lernmechanismen (z. B. Verstärkungslernen) aus, während die Evolutionspsychologie die
Rolle prädeterminierender Anpassungen und bereichsspezifischer Lernprozesse – je nach
evolutionärer Bedeutsamkeit – betont. Einen Überblick zu diesem Forschungsansatz geben
Hoffrage & Vitouch (2008).
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4. Methodik
Der „Klassiker“ im Methodenrepertoire der wissenschaftlichen Psychologie ist das psychologische Experiment. Die Experimentalpsychologie ist keine eigenständige Disziplin, sondern
ein in verschiedenen Bereichen eingesetztes Instrument mit dem Ziel der systematischen Prüfung psychologischer Fragestellungen. Der überwiegende Teil des Wissensstandes der Allgemeinen Psychologie beruht auf experimentellen Befunden. Das Wesen des Experiments
besteht darin, bestimmte Variablen (unabhängige Variablen, Wirkfaktoren) planvoll und kontrolliert zu verändern, um die daraus resultierende Wirkung auf bestimmte andere Variablen
(abhängige Variablen, Messvariablen) zu beobachten. Ursprünglich eifert der experimentalpsychologische Ansatz dem naturwissenschaftlichen Ideal der „Leitwissenschaft“ Physik
nach; indes unter wesentlich schwierigeren Bedingungen (z. B. hinsichtlich Ergebnisvariabilität und -replizierbarkeit). Obgleich das Primat des experimentellen Zugangs oft kritisiert wurde und seiner Adäquatheit Grenzen gesetzt sind, handelt es sich nach wie vor um das zentrale
Forschungsinstrument der Allgemeinen Psychologie.
5. Thematisches Exempel: „Gedächtnis“
Ein exzellentes Beispiel für allgemeinpsychologische Forschung ist der Bereich des Gedächtnisses. Im Anschluss an den Grobüberblick wollen wir uns exemplarisch diesem Teilgebiet
widmen. Hieraus wird deutlich, dass sich die Allgemeine Psychologie mit Themen befasst,
die einerseits von allgemeiner und grundlegender Bedeutung sind – Gedächtnisprozesse sind
unverzichtbarere Bestandteile unseres psychischen Lebens und damit in der Psychologie omnipräsent – und zugleich einen hohen „Allgemeinheitsgrad“ beanspruchen können (die interindividuellen Unterschiede treten vor den allen Menschen gemeinsamen Eigenschaften der
Gedächtnissysteme in den Hintergrund). Ohne Gedächtnis ist Denken und Verhalten undenkbar: Alles, was wir planen, tun oder reflektieren, macht irgendwie Gebrauch von Dingen, die
wir bereits wissen und an die wir uns erinnern. Beispielsweise sind Sie beim Lesen und Verstehen dieses Textes ganz essentiell auf Gedächtnisprozesse (u. a. den lexikalischen Zugriff)
angewiesen. Darüber hinaus ist die Tatsache, dass „wir“ überhaupt als subjektiv erlebtes „Ich“
existieren, eine Funktion unseres Gedächtnisses: Das sogenannte autobiographische Gedächtnis, auf das wir abschliessend eingehen werden, sorgt dafür, dass die Identität der eigenen Person entsteht, bestehen bleibt und sich entwickelt, dass wir über ein „Ich“ mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfügen.
5.1 Anfänge der psychologischen Gedächtnisforschung
Nicht nur Individuen, auch soziale Verbände (Gruppen, Institutionen, Kulturen, Gesellschaften etc.) „haben“, oder besser: „machen“ sich ein Gedächtnis. Der französische Soziologie
Maurice Halbwachs (1877-1945) hatte dafür den Begriff der memoire collective entwickelt.
Das Wissen, das sich bestimmte Menschen im Laufe ihres Lebens angeeignet haben, geht
nicht vollständig verloren, wenn sie sterben – und zwar dann nicht, wenn sie es zu Lebzeiten
an andere weiter gegeben haben. Solange das Medium dieser sozialen Tradierung von Wissen
die mündliche Überlieferung ist, bleibt sie jedoch an das individuelle Gedächtnis gebunden.
Daraus lässt sich ermessen, welchen gewaltigen kulturellen Entwicklungsschub die Erfindung
der Schrift bedeutet hat. Sie friert gleichsam ein, was zuvor fließend gewesen war, sie übersetzt flüchtige akustische Signale in dauerhaft sichtbare Objekte, die von Zeitgenossen und
nachfolgenden Generationen nachvollzogen werden können. Die Dominanz schriftlicher –
allgemeiner: symbolischer – Speichermedien wurde erst gegen Ende des 19. Jhdts. durch das
Aufkommen analoger Speichermedien wie Phono- und Photographie gebrochen. Es lässt sich
zeigen, dass solche technischen Neuerungen in der Sphäre des kollektiven Gedächtnisses stets
auch zu einer Revolution des wissenschaftlichen Nachdenkens über die Funktionsweise des
individuellen Gedächtnisses führten: Die jeweils modernen Techniken für das Speichern von
Bedeutungen oder Ereignissen geben die Metaphern ab, mit deren Hilfe sich die Forschung
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Gedächtnisprozesse zu erklären versucht (Draaisma, 1999). Es braucht daher nicht weiter zu
verwundern, dass die moderne Psychologie des Gedächtnisses geprägt ist von Analogien zur
Funktionsweise des Computers.
Angesichts dessen, dass Orientierung in der Welt, also die Konstituierung von Sinn
und Bedeutung untrennbar geknüpft ist an psychische Funktionen und Leistungen, die wir mit
dem Konzept von Gedächtnis verbinden, sind die Anfänge der psychologischen Gedächtnisforschung doch einigermaßen erstaunlich (siehe Benetka, 2002). Sie gehen zurück auf Hermann Ebbinghaus (1885), der mit seiner kleinen Schrift Über das Gedächtnis zu einem Wegbereiter in der Entwicklung einer streng am Vorbild der Naturwissenschaften ausgerichteten
Einzelwissenschaft Psychologie wurde. Für die von Ebbinghaus begründete experimentelle
Gedächtnispsychologie bezeichnend ist, dass sie ausgerechnet das Behalten von sinnfreiem
Material untersucht hat.
Ebbinghaus experimentierte mit sinnlosen Silbenreihen. Das Konstruktionsprinzip der
Silben war denkbar einfach: Konsonant-Vokal-Konsonant, z.B. BAF oder DEK. (Er ging dabei
nicht von Buchstaben, sondern von 19 Anlauten, 11 Vokallauten und 11 Auslauten aus, woraus sich 2299 Silben bilden lassen, von denen jedoch viele als bedeutungstragend ausschieden.) Die einzelnen Silben wurden nun zu Reihen zusammengestellt, die, wie er annahm, etwa gleich schwer erlernbar sind. Gegenüber sinnvollem Lernmaterial – anfangs hatte Ebbinghaus auch mit Ziffern und mit ganzen Gedichten experimentiert – bestand der Vorteil solcher
Silbenreihen darin, dass sie (a) eine unerschöpfliche Fülle neuer Kombinationen und (b) eine
einfache quantitative Variierung erlaubten. Ebbinghaus experimentierte im Selbstversuch: Er
las sich jede der in einem Heft notierten Silbenreihen vom Anfang bis zum Ende mit halblauter Stimme vor, und zwar so lange, bis er sie fehlerfrei – mangels objektiver Kontrolle muss
man genauer sagen: mit dem Gefühl der Fehlerfreiheit – reproduzieren konnte. Nach jedem
Durchgang schob er einen auf eine Schnur gefädelten Knopf von links nach rechts und hielt
so die Anzahl der benötigten Lernwiederholungen fest.
Ebbinghaus’ Ergebnisse sind – trotz der vielen methodischen Einwände, die später gegen sein Verfahren vorgebracht wurden – in zahllosen Nachfolgeuntersuchungen bestätigt
worden (Rubin & Wenzel, 1996). Da ist zunächst das Gesetz von Ebbinghaus, das die Beziehung zwischen dem Umfang des Lernmaterials und dem Lernaufwand formuliert: Jede Zunahme des Lernstoffes macht eine überproportionale Steigerung des Lernaufwandes notwendig (Abb. 1). Dabei ergab sich u. a., dass Ebbinghaus eine aus sieben Silben bestehende Reihe
– zumeist, nicht immer! – nach nur einmal laut Vorlesen
fehlerfrei reproduzieren konnte. Die Gedächtnisspanne
war geboren: Die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses
ist begrenzt; sie umfasst in etwa 7 unverbundene Elemente (siehe dazu Abschnitt 5.3).
Sein bekanntestes Untersuchungsergebnis stellt
aber die sogenannte Vergessenskurve dar. Sie kam zustande, indem er den Zeitaufwand, der nötig war, um
acht 13silbige Reihen hintereinander zu erlernen, bestimmte. Diesen Lernaufwand verglich er sodann mit
jenem Aufwand, den er benötigte, um dieselben Silbenreihen nach Verstreichen bestimmter Zeitintervalle erneut zu lernen; ein Verfahren, das er „Ersparnismethode“ nannte. Beispielsweise verzeichnete er nach 24h
eine Zeitersparnis von (durchschnittlich) 33,7%, um
Abb. 1: Das „Gesetz von Ebbinghaus“.
eine tags zuvor perfekt beherrschte Reihe wieder fehlerx-Achse: Anzahl der Silben einer Reihe;
frei reproduzieren zu können; nach 48h waren es 27,8%,
y-Achse: Zahl der Wiederholungen bis
nach 6 Tagen immerhin noch 25,4%.
zur ersten fehlerfreien Reproduktion.
Aus Ebbinghaus (1885).
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Das, was Ebbinghaus als „Vergessen“ bezeichnete, verlief anfänglich sehr rasch und dann
immer langsamer. Versuchen wir uns klar zu machen, was das bedeutet: Wir lernen in der von
Ebbinghaus angegebenen Art eine sinnlose Silbenreihe. In dem Moment, in dem wir diese
Reihe frei vor uns hersagen können, ist sie klar in unserem Bewusstsein. Während wir nun die
nächste Reihe lernen, entschwindet die vorangegangene – sie sinkt, wie Ebbinghaus sich ausdrückte, unter die Bewusstseinsschwelle hinab und ist nicht mehr spontan reproduzierbar.
Dasselbe gilt für die zweite und dann die dritte Reihe und so fort. Obwohl also keine der eben
gelernten Reihen sich noch in unserem Bewusstsein befindet, müssen sie doch irgendwie
existieren – sonst könnten wir uns die Lernersparnis zu einem späteren Zeitpunkt nicht erklären. Ebbinghaus hatte experimentell gezeigt, ist, dass das meiste, was einmal in unserem Bewusstsein war, nicht zu bestehen aufhört, wenn es nicht mehr darin ist. Weil es nicht mehr
bewusst ist, können wir zwar nicht wissen, dass es noch existiert; wir können aber sein Fortbestehen demonstrieren – an den Wirkungen, die es auf spätere Lernprozesse ausübt!
Allgemein formuliert: Wir eigenen uns Inhalte an, indem wir „psychische Arbeit“ (so
Ernst Meumann, 1862-1915) investieren. Sind diese Inhalte einmal angeeignet, dann üben sie
auf unser Bewusstsein eine Wirkung aus, die sich automatisch entfaltet – ohne unser Zutun,
ohne dass es eines psychischen Aktes bedarf. Die Stärke der Wirkung ist erstens eine Funktion des Ausmaßes an Arbeit, die wir investiert haben und zweitens eine Funktion der Zeit, die
zwischen Aneignung und Neulernen desselben Lernstoffes vergangen ist.
Wichtig ist zu sehen, dass es sich bei dem ganzen Vorgang um Inhalte handelt, die für
uns – im eigentlichen und im übertragenen Sinn – völlig bedeutungslos sind. Wo spielt eine
solche Art von Lernen denn im Alltag eine Rolle? Es ist leicht zu erraten, worauf Ebbinghaus’
Gedächtnisforschung letztlich bezogen war: Es ist das (zeitgenössische!) Lernen in der Schule, das für diese Auffassung von Gedächtnisleistungen Modell gestanden ist. Kein Wunder,
dass die von Ebbinghaus begründete und dann vor allem von Georg Elias Müller (1850-1934)
ausgebaute Tradition der frühen Gedächtnisforschung vorwiegend in schulischen und schulähnlichen Zusammenhängen praktische Bedeutung erhielt; und zwar in Form von Ratschlägen, wie man schulische Lernprozesse effektiver gestalten kann.
5.2 Kritik der frühen Gedächtnispsychologie
In der wissenschaftlichen Rede über Gedächtnisphänomene ist ein sehr alter Begriff immer
noch von großer Bedeutung: die „Gedächtnisspur“ oder das Engramm. Im weitesten Sinne
versteht man heute darunter die mehr oder weniger dauerhaften strukturellen Veränderungen
im Gehirn, in denen sich Lernprozesse niederschreiben – die materielle Repräsentation von
Lernerfahrungen auf neuronaler Ebene. Die Uridee, auf der dieses Bild der materiellen Niederschrift beruht, ist zugleich die Kernmetapher, mit der die abendländische Kultur seit der
Antike das Wesen des Gedächtnisses zu erfassen sucht: Es ist das platonische Bild von einem
Wachsblock in der Seele, in dem sich die Erlebnisse abdrücken. Derselbe Gedanke taucht
wieder auf bei Aristoteles: Die Erfahrung, die durch die Sinnesorgane aufgenommen wird,
hinterlässt in unserem Erinnerungsvermögen ein Bild, ein eikon, „wie jemand, der einen Siegelabdruck in Wachs macht“.
Gedächtnisspuren als überdauernde Abbilder oder Niederschriften vergangener Erlebnisse – es ist wichtig zu sehen, dass diese Vorstellung eine statische Auffassung von Gedächtnisprozessen impliziert. Gegen diese Ansicht hat als erster der britische Psychologe Sir
Frederick Bartlett (1886-1969) angeschrieben, dessen Werk allerdings erst Jahrzehnte später
entsprechend gewürdigt werden sollte. Bartlett (1932) eröffnet mit einer grundlegenden Kritik
der Ebbinghaus’schen Tradition: Wer wie Ebbinghaus meint, durch eine weitgehende Reduktion der Komplexität des Lernmaterials eine Minimierung des subjektiven Moments zu erreichen, um somit Gedächtnisvorgänge rein, d. h. isoliert von anderen psychischen Vorgängen
und vorangegangenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen untersuchen zu können, wer also
auf diesem Wege das Gedächtnis an sich erfassen will, der abstrahiert vielleicht gerade von
jenen Aspekten, die das eigentliche Wesen der Gedächtnisvorgänge ausmachen. Im Alltag
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erinnern wir uns eben nur selten an einfache, sinnlose Reize, sondern an komplexe Gegebenheiten und Ereignisse, die Bedeutung für unser Tun besitzen. Ist es nicht gerade so, dass das
Erinnern geradezu die Funktion hat, unserem Leben Sinn und Bedeutung zu verleihen? Das,
was Bartlett an Ebbinghaus vor allem kritisierte, ist also die Lebensferne seiner experimentellen Inszenierungen, ihre Irrelevanz für das Verstehen unserer alltäglichen Lebenspraxis.
Bei Bartlett besticht zunächst seine im Vergleich zu Ebbinghaus völlig andere Art zu
experimentieren. Auf Quantifizierung und mathematische Darstellung von Resultaten wird
völlig verzichtet. Bartletts Daten waren Erinnerungsprotokolle und Zeichnungen der Versuchsteilnehmer, die unter experimentellen Versuchsanordnungen entstanden waren, wobei
ihm mehr um die Illustration interessanter Sachverhalte zu tun war als um die Messung der
Effekte einer systematischen Variation unabhängiger Variablen auf einige klar definierte abhängige Variablen. Lange hat die Fachwelt an Bartletts „unwissenschaftlicher“ Methodik herumgemeckert – und dabei völlig übersehen, worum es ihm eigentlich ging: darum, ein möglichst hohes Maß an ökologischer Validität (quasi „Alltagsvalidität“) zu gewährleisten.
Bartlett gab seinen Versuchspersonen eine Geschichte vor, die sie zweimal hintereinander still durchlesen sollten. Das Besondere daran war, dass es sich um eine für europäische
Begriffe fremdartige Erzählung aus dem Geschichtenschatz nordamerikanischer Indianer
handelte. Die Geschichte – sie trug den Titel The war of the ghosts – war aufgrund ihrer unzusammenhängend erscheinenden Erzählstruktur und der magischen Erzählelemente, die sie
enthielt, alles andere als leicht zu verstehen. Nach 15 min sollten die Versuchspersonen den
Text schriftlich nacherzählen. Diese Nacherzählungen waren in der Regel wesentlich kürzer
als das Original, Eigennamen wurden nicht richtig erinnert, Details ausgelassen etc. Bartlett
interessierte sich für eine besondere Art von Fehlern: Für die/den LeserIn verwirrende Details
– insbesondere die „magischen Erzählelemente“ – wurden einfach weggelassen, andere, für
die/den LeserIn plausible Details wurden hinzugefügt. Im Ganzen erhielt die Erzählung bei
der Reproduktion eine logisch-rationale Neuordnung: In der Erinnerung gleichen die LeserInnen das Gelesene ihrer eigenen Erfahrungswelt, ihren eigenen Erwartungen an logischen Geschichten an. Das „Fremde“ wird gleichsam nostrifiziert. Es erweist sich gerade nicht als
„merkwürdig“, sondern gibt Anlass für Nacherzählungen, die für die Versuchspersonen Sinn
ergeben und – auch das ist bemerkenswert – ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen entgegenkommen. Bartlett sprach von einer Tendenz zur Rationalisierung, die aus den Reproduktionen ersichtlich wird: Wann immer etwas verwirrend oder unbegreiflich ist, wird es
weggelassen oder „erklärt“, d. h. umgedeutet.
Die eigentliche Pointe in Bartletts Methode besteht darin, dass er seinen Versuchspersonen – in ganz unregelmäßigen Zeitabständen – immer wieder eine Nacherzählung derselben
Geschichte abverlangte („Methode der wiederholten Reproduktion“). Dabei konnte er zeigen,
dass die bei der ersten Reproduktion individuell erzeugte Form oder Struktur der Nacherzählung über alle späteren Reproduktionen hinweg weitgehend unverändert bestehen bleibt. Bartlett sprach in diesem Zusammenhang von einer “persistence of form“. Die Versuchspersonen
bringen also die verwirrende Ursprungsgeschichte durch Auslassungen und Umdeutungen in
eine neue Ordnung; sie arrangieren das Material zu einer neuen Geschichte. Diese einmal
gefundene Form der Nacherzählung bleibt dann über relativ lange Zeiträume hinweg stabil
erhalten; sie wird also gut erinnert. Bartlett nannte diese neukonstruierte Struktur der Nacherzählung ein Schema. Er definierte diesen Begriff zunächst sehr allgemein als aktive Organisation vergangener Reaktionen oder Erfahrungen; in der Anwendung auf seine Gedächtnisexperimente erhielt das Konzept aber dann eine mehr auf das Kognitive eingeengte Bedeutung: Es
handelt sich um eine Art organisierter Wissenseinheit, um geordnetes Wissen über einen bestimmten Bereich (z. B. über den Aufbau von Geschichten in unserer Kultur), das uns die
Identifizierung komplexer Sachverhalte und damit Orientierung in der Welt ermöglicht. Solche Schemata erleichtern uns das Behalten und Erinnern von Erlebnissen oder neu angeeignetem Wissen, ebenso wie die konventionell-schlüssige Ergänzung lückenhafter Information.
Was an Details z. B. in einer gelesenen Geschichte den vorhandenen Schemata entspricht, den
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Erwartungshaltungen konform geht, wird behalten, richtig reproduziert. Und umgekehrt: was
quer läuft zu den kultur- und erfahrungsabhängigen Schemata, wird – schemagerecht – umgedeutet oder „vergessen“, d. h. weggelassen. Die Bartlettsche Theorie als Formel ausgedrückt:
Die Fakten bzw. Details, die Versuchspersonen in Gedächtnisexperimenten „erinnern“, sind
zumeist konsistent mit den vorhandenen Schemata – unabhängig davon, ob diese Fakten und
Details mit den realen Situationen, auf die sie bezogen sind, übereinstimmen oder nicht.
Gedächtnis- und Erinnerungsleistungen sind keine bloß reproduktiven Tätigkeiten,
sondern produktive oder konstruktive Leistungen. Gedächtnis ist also ein Aspekt des kreativen Denkens. Nicht zuletzt aufgrund methodischer Vorbehalte gegen Bartletts Untersuchungsmethoden fand diese Einsicht zunächst keine Resonanz in der zeitgenössischen Gedächtnisforschung. Erst zu Beginn der 1970er wurden Teile der Bartlett’schen Theorie entsprechend rezipiert und den aktuellen methodischen Standards gemäß in Experimentaldesigns
übersetzt (siehe Abschnitt 5.4).
Ein anderer Aspekt seiner Konzeption harrt noch einer weiteren Ausarbeitung. Bartlett
(1932) hat neben der Methode der wiederholten Reproduktion auch eine „Methode der seriellen Reproduktion“ erprobt. Dieses Verfahren erinnert ein wenig an das Kinderspiel „Stille
Post“: Die Wiedergabe z. B. einer Nacherzählung einer ersten Person wird einer zweiten vorgelegt, diese wiederum einer dritten und so fort. Bartlett konnte so demonstrieren, dass die
von ihm postulierten Schemata sozusagen kulturell normiert sind. Eindrucksvoll gelang ihm
dies vor allem mit seriell dargebotenem visuellem Material: Fremdartige Stimuli werden relativ rasch in konventionelle und vertraute Formen übergeführt (Abb. 2). (Für Stille-PostPhänomene in Lehrbüchern der Psychologie, in Form von „aus dem Gedächtnis“ oder aus
zweiter Hand beschriebenen Studien, die sich zu echten „Lehrbuchmärchen“ auswachsen
können, siehe Schwartz, 1991.)
Reproduktion
Bildmaterial
Abb. 2: Sukzessive Veränderungen aus dem Gedächtnis nachgezeichneter Darstellungen nach der Methode der
seriellen Reproduktion. Links ein jede Exotik verlierendes afrikanisches Maskengesicht; rechts eine ägypt. Hieroglyphe in Form einer stilisierten Eule, die als kulturell geläufige Katzenzeichnung endet. Aus Bartlett (1932).
5.3 Kontemporäre Konzeptionen
Mit der postbehavioristischen „kognitiven Wende“ (ab 1960) erlebte die Gedächtnisforschung
eine bedeutsame Renaissance. Rasch und nachhaltig setzte sich ein Mehrspeichermodell
durch, das am vorherrschenden Informationsverarbeitungsansatz der Kognitiven Psychologie
orientiert war. Die kognitive Verarbeitung von Information hat man sich dabei ungefähr so
vorzustellen wie die Bearbeitung eines Briefes im Postsystem: Er wird vom Entleerer des
Briefkastens in ein Postamt geliefert (Input), über mehrere Stationen nach Bestimmungsland,
Postleitzahl und Zustellpostamt weiterverarbeitet (interne Verarbeitung) und schließlich dem
Adressaten zugestellt (Output). (Dabei können natürlich auch Fehler passieren.)
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Ähnlich verhält es sich ist es mit den Teilsystemen unseres Gedächtnisses: Information dringt über das Ultra-Kurzzeitgedächtnis (UKZG, sensorischer Speicher) durch einige Filterprozesse hindurch ins Kurzzeitgedächtnis (KZG), wo sie mit „Daten“ aus dem Langzeitgedächtnis (LZG) verglichen und gegebenenfalls ebendort abgespeichert (gemerkt) wird. Andererseits können jederzeit Informationen aus dem LZG abgerufen werden, die dann in den
Kurzzeitspeicher aufsteigen und z. B. im Zuge bewusster Akte unser Denken und Tun beeinflussen können. Hier wird auch die Computeranalogie deutlich, von der dieses Modell als
Kind seiner Zeit geprägt ist: Das UKZG entspricht den „Eingabegeräten“ des Rechners (z. B.
den elektrischen Impulsen, die über das Input-Kabel der Tastatur zur Keyboard-Schnittstelle
gelangen), das KZG dem Arbeitsspeicher (memory), in den aktuell benötigte Information geladen wird und dessen Kapazität begrenzt ist. Das LZG schließlich entspricht der der Festplatte (hard disk), die per magnetischer Codierung große Datenmengen speichern und auch über
Perioden hinweg, in denen das System keinen Strom führt, konservieren kann. Die Festplatteninformation ist nicht so unmittelbar verfügbar wie jene im Arbeitsspeicher (je nach
Zugriffszeit auf die hard disk), sie ist dafür in ihrem Umfang deutlich weniger limitiert.
Klassische Studien zu Eigenschaften des UKZG und des KZG stammen von George
Sperling und von Saul Sternberg. Sperling (1960) konnte im Rahmen seiner Dissertation zeigen, dass die Kapazität des UKZG deutlich über jener des KZGs liegt. Wenn man Versuchsteilnehmern mit sehr kurzer Darbietungszeit (etwa 50 ms) ein Dia mit einer Matrix von
3 x 4 Buchstaben zeigte, waren sie meist nicht in der Lage, mehr als 4-5 Buchstaben zu reproduzieren – eine Tatsache, die das Kapazitätslimit des KZG widerspiegelt. Wurde hingegen
unmittelbar nach Verschwinden der Matrix ein Ton dargeboten, dessen Höhe spezifizierte, ob
die obere, mittlere oder untere Reihe reproduziert werden sollte, so konnten die Teilnehmer in
der Regel 3 oder sogar alle 4 Buchstaben richtig wiedergeben. Dieses Ergebnis weist darauf
hin, dass zum Zeitpunkt der Tonsignals offenbar noch die gesamte Information in einem
Speichersystem, eben dem UKZG, vorhanden war, und das „Nadelöhr“ des Informationsverlustes zu einem späteren Zeitpunkt der Verarbeitung anzusiedeln war. Das UKZG wird demgemäß als „Nachhall der Erregung in den afferenten (zur Hirnrinde hinführenden) Leitungsbahnen“ aufgefasst. Sein Inhalt verblasst, je nach Modalität (echoisches vs. ikonisches
UKZG), einige 100 ms nach Reizende.
Sternberg (1969) widmete sich dem Zugriff auf Inhalte im KZG. Zu diesem Zweck
gab er Zahlenreihen vor (z. B. 9, 4, 6, 1) und präsentierte anschließend jeweils eine Prüfziffer,
von der die Versuchsteilnehmer angeben sollten, ob sie in der Menge zuvor enthalten war.
Sternberg variierte die Länge der Zahlenreihen (von 1-6 Ziffern) und konnte damit auf einfachem Wege zeigen, dass Umfang der Menge und Antwortzeiten linear zusammenhingen: Neben einer basalen Reaktionszeit von rund 400 ms erforderte jede Zahl eine zusätzliche
Zugriffszeit von 38 ms. Sternberg schloss daraus, dass die Inhalte im KZG eher seriell als
parallel repräsentiert sind, dass sie also in einem raschen, aber dennoch zeitfordernden Prozess nacheinander „abgetastet“ werden müssen.
Mehrfach war bereits von der Limitierung des KZG die Rede. Wie schon von Ebbinghaus beobachtet, sind wir keineswegs in der Lage, uns eine unbegrenzte Zahl von Inhalten
spontan zu merken bzw. ohne zeitaufwändige Wiederholungsprozesse einzuprägen (G. Guttmann pflegte an solcher Stelle den Leitsatz Repetitio est mater studiorum einzustreuen).
George Miller (1956) prägte in einem frühen Zitationsklassiker den Begriff der magical number seven: Er hob hervor, dass viele Eigenschaften unseres Informationsverarbeitungssystems
um die Zahl 7 zu kreisen scheinen, und dass auch das spontane Behalten im KZG typischerweise auf 7±2 Inhalte beschränkt ist. Dabei kommt es allerdings ganz wesentlich darauf an,
wie das betreffende Material strukturiert ist – was also die konkreten „Einheiten des Erinnerns“ sind (die folgende Demonstration ist modifiziert nach Anderson, 2007). Üblicherweise
sind wir ohne weiteres in der Lage, eine viersilbige sinnlose Reihe in umgekehrter Reihenfolge korrekt zu wiederholen; z. B.:
TOL
RAK
10
GOF
JIS
Bei sechs Silben gelingt das meist nicht mehr:
BUL
GOM
REZ
FIM
LON
SUW
Es ist andererseits möglich, sechs einsilbige Wörter in umgekehrter Folge wiederzugeben,
etwa:
SCHAL
WEG
BALL
RECK
HUND
TÜR
Bei neun einsilbigen Wörtern schlägt das fehl:
BILD
MANN
STOCK
LUST
AST
DRANG
GELD
SCHULD
MARS
Drei viersilbige Wörter sind gut memorierbar:
DONAUWALLER
MATHEMATIK
TRIUMVIRAT
Aber nicht sechs:
KUNSTGESCHICHTE GELDGESCHÄFTE RASENSPRENGER
GEMEINDEAMT BILLIARDKUGEL ROSENMONTAG
Schießlich kann ein Satz mit 19 Wörtern meist rückwärts wiederholt werden:
DIESER BEITRAG, EIN LEHR- UND FORSCHUNGSÜBERBLICK ÜBER DEN BEREICH DER
ALLGEMEINEN PSYCHOLOGIE, LEGT SEINEN SCHWERPUNKT AUF DAS THEMA GEDÄCHTNIS.
Wie läßt sich diese augenscheinlich extreme Variabilität der Merkfähigkeit erklären?
Miller argumentierte, dass es nicht auf die bloße Materialmenge an sich, sondern vielmehr auf
den Umfang der Erinnerungseinheiten, sogenannter chunks, ankommt. Einzelne Buchstaben
oder Silben können zu sinnbildenden Einheiten zusammengefasst werden und damit „Speicherplatz sparen“; die Kapazitätsbegrenzung besteht für rund 7±2 chunks. (Ein weiteres Beispiel: Wesentlich leichter als die Reihe von Buchstabenpaaren DI / EK / AT / ZE / AU / FD / EM /
DA / CH ist die materialidentische Folge DIE KATZE AUF DEM DACH zu merken, da sie bedeutungshaltig ist und anders enkodiert wird.) Diese Erkenntnis machen sich auch Lern- und Gedächtnistechniken zunutze, die über das Schaffen oft bildlicher Assoziationen und inhaltlicher
Verknüpfungen sowie über die elaborierte Verarbeitung des zu erinnernden Materials das
Speicherlimit zu überschreiten helfen. Ein klassisches Beispiel wäre die sog. Methode der
Orte (lat. Loci-Methode), die die zu merkenden Inhalte mit Orten entlang einer wohlbekannten Route verknüpft. Ähnliche funktionieren Techniken, die einzelne Einheiten (z. B. Ziffern)
mit vorher gut eingelernten, konkreten Vorstellungsbildern verknüpft und diese Bilder dann in
eine verlaufende Fantasiegeschichte kleidet. Dadurch kann die 7er-Marke um ein Vielfaches
übertroffen werden, da Ressourcen des LZG angezapft werden. Selbst simpelste Assoziationstechniken erlauben eine wesentliche Steigerung der Gedächtnisleistung. Probieren Sie selbst:
Wenn Sie die 9 Wörter aus obigem Beispiel, BILD bis MARS, während des Lesens in eine
spontane Geschichte verpacken, wird Ihnen das Behalten plötzlich kein Problem mehr bereiten. Ein weiteres, besonders „griffiges“ Beispiel für die Kraft der Assoziation ist der berühmte
„Knoten im Taschentuch“ im Konnex mit dem Abruf aus dem LZG.
Mit dem Thema des assoziationsunterstützten Erinnerns sind wir schließlich an der
Schnittstelle zwischen KZG und LZG angelangt. Während UKZG und KZG deutliche Behaltenslimits aufweisen (das eine im Sekundenbruchteil-, das andere im zweistelligen Sekundenbereich), ist das LZG im Prinzip zeitlich unlimitiert. Nach einer geeigneten (1) Enkodierung
und Konsolidierung (Einprägung) des Materials dient das LZG der mittel- und langfristigen
(2) Speicherung von Inhalten, die dann im Zuge des (3) Abrufs wieder verfügbar werden. In
diesem Zusammenhang ist die Kehrseite des Erinnerns, das Vergessen, von besonderem Interesse – Fehler sind prinzipiell in allen drei Schritten möglich. Ist die Speicherung einmal erfolgreich geschehen, also ein Engramm im LZG abgelegt, so ist Vergessen einerseits als
Misslingen des Zugriffes, andererseits als unwiderruflicher Spurenzerfall im Laufe der Zeit
möglich. Dass das LZG kein unbestechliches „statisches Archiv“, sondern ein dynamischer
Speicher ist, dessen Inhalte sich durch Interaktion mit neuer Information im Laufe der Zeit
11
konstruktiv (oft geradezu konstruktivistisch) verändern, haben wir bereits im historischen
Zusammenhang mit den Arbeiten Bartletts erfahren; weitere eindrückliche Beispiele hierfür
enthält der Folgeabschnitt.
5.4 Subdisziplinäre Querverbindungen
Obgleich sich die Allgemeine Psychologie der Erforschung allgemeiner und grundlegender
Aspekte unserer kognitiven Architektur verschrieben hat, steht sie keinesfalls alleine – sondern unterhält selbstverständlich produktive Verbindungen zu anderen Subdisziplinen der
Psychologie. So illustrativ eine bilderbuchhafte Separierung einzelner Sparten unseres Faches
auch sein mag: sie birgt zugleich stets die Gefahr, ein der Realität unangemessenes Bild voneinander isoliert zu betreibender Teilgebiete in den (studierenden ebenso wie forschenden)
Köpfen zu etablieren (vgl. Gigerenzer, 1999). So wie die Psychologie aufgefordert ist, anderen Disziplinen und neuen Methoden gegenüber offen zu sein, ist sie auch angehalten, sich
der notwendigen „Inter(sub)disziplinarität“ innerhalb des eigenen Faches bewusst zu sein. Die
Gedächtnisforschung weist enge Bezüge zur Biologischen Psychologie, Sozialpsychologie,
Entwicklungspsychologie, Differentiellen Psychologie, Klinischen Psychologie und natürlich
zur Angewandten Psychologie auf – und darüber hinaus letztlich zu sämtlichen psychologischen Teildisziplinen. Abschließend sollen einige Beispiele für erfolgreiches crossover gegeben werden.
Der Entwicklung des LZG hat sich Steven Ceci gewidmet: Sein Team führte eine Reihe experimenteller Untersuchungen zur Reliabilität kindlicher Gedächtnisberichte durch (im
Überblick Bruck & Ceci, 1999). Z. B. hörten Kinder verschiedener Altersstufen über längere
Zeit hinweg kurze Erzählungen zum Verhalten des „tolpatschigen Sam“, einer Fantasiefigur,
der allerhand Missgeschicke unterlaufen. In Phase 2 wurde ein Besuch von Sam angekündigt
und durchgeführt: Ein entsprechend kostümierter Mann betrat den Raum, begrüßte das Kind
freundlich, machte einen kurzen Rundgang und ging wieder. In Phase 3 zu den Ereignissen
dieses Besuchs befragt, gaben vor allem jüngere Kinder allerhand fantastische Begebenheiten
zu Protokoll; von versehentlich zerbrochenen Vasen bis zu kaputt gegangenen Teddybären.
Die Kinder waren also nur schlecht in der Lage, das in den Erzählungen Gehörte vom selber
Beobachteten zu trennen. Diese Effekte waren umso stärker, je suggestiver die Fragen in Phase 3 formuliert wurden („Überleg genau: Hat Sam Deinen Teddybären in die Hand genommen? Was ist dabei passiert?“). Weiters zeigt sich eine recht klare Altersgrenze: Zwischen 4
und 5 Jahren steigt die Immunität gegenüber fantastischen Vermischungen deutlich an. Die
Ergebnisse zeigen, dass frühe „Kindheitserinnerungen“ keineswegs immer für bare Münze zu
nehmen sind. Cecis Arbeiten haben bedeutsame Implikationen hinsichtlich der Suggestibilität
von Kindern; z. B. im kritischen Zusammenhang von Missbrauchsprozessen.
Dass auch erwachsene Augenzeugen vor systematischen Gedächtnistäuschungen keineswegs gefeit sind, wurde vielfach experimentell bestätigt. Die eng mit dem Namen Elizabeth Loftus verbundenen Untersuchungen in diesem Bereich sind von hoher Relevanz für
Anwendungsfelder (etwa die Rechtspsychologie). Loftus & Palmer (1974) zeigten ihren Versuchsteilnehmern die Videoaufzeichnung eines Autounfalls. In einer späteren Sitzung wurden
sie zu Details des Unfalls befragt. Experimentalgruppe 1 wurde dabei u.a. die Frage gestellt:
„Wie schnell fuhren die Autos ungefähr, als sie zusammenstießen“, während Gruppe 2 die
Formulierung „Wie schnell fuhren die Autos ungefähr, als sie ineinander krachten“ vorgelegt
wurde. In einer wiederum späteren Sitzung wurden die Teilnehmer u. a. gefragt, ob sie bei
dem Unfall splitterndes Glas gesehen hatten. Obwohl alle Personen das gleiche Video gesehen hatten, war der Anteil der Personen, die diese Frage bejahten, in Gruppe 2 signifikant
höher. Hier hatte also die später hinzugekommene Information auf die ursprüngliche Gedächtnisspur „abgefärbt“; die verschiedenen Evidenzquellen waren zu einer (unscharfen)
Globalerinnerung verschmolzen. So wie unsere Wahrnehmung keine wirklichkeitsgetreue
photographische Abbildung durch ein Kameraobjektiv liefert, so ist auch unser Gedächtnis
kein fixiertes Diapositiv, sondern basiert wesentlich auf hinweisgestützten Rekonstruktionen
12
der Wirklichkeit (wiederum sei auf Bartlett rückverwiesen). Zur hierin begründeten Kritik des
psychotherapeutischen Konzepts „unterdrückter Erinnerungen“ siehe Loftus (1993).
Die gedächtnispsychologischen Bezüge zur Differentiellen Psychologie und Psychologischen Diagnostik sind rasch erklärt: Die sog. Gedächtnisspanne (memory span), also die
Kapazität des KZG, ist auf Basis des allgemeinen Richtwerts 7±2 individuell variabel. Die
meisten Intelligenztestbatterien beinhalten daher Subtests zur Messung der Gedächtnisleistung, die in den IQ einfließt. Dabei handelt es sich z. B. um Zahlenreihen zunehmender Länge, die akustisch präsentiert werden und dann vorwärts oder rückwärts reproduziert werden
sollen. Inwiefern solche Tests exklusiv „Gedächtniskapazität“ messen oder immanent auch
Aspekte wie Konzentrationsvermögen und kognitive Strategien miterfassen, ist Gegenstand
anhaltender Diskussionen. Häufig werden derartige Aufgaben aber als Indikator für eine basale „kognitive Verarbeitungskapazität“ eines Individuums angesehen.
Besonders fruchtbar sind die Verbindungen zur Biologischen Psychologie und zur Klinischen Psychologie (konkret der Klinischen Neuropsychologie). In dem Maße, in dem Kognitive Psychologie und Neurowissenschaften zunehmend zum Integrativ-Fach der Cognitive
Neurosciences zusammenwachsen, profitiert auch unser Wissen über verschiedene Gedächtnissysteme. Ein (klassisches) Paradebeispiel ist das auf Schädigungen des subcortical gelegenen Hippocampus rückführbare Korsakoff-Syndrom; meist verursacht durch Schädeltraumata
oder schwersten Alkoholismus. Einen dramaturgisch imposanten Blick in die Welt des Korsakoff-Patienten vermittelte Christopher Nolans Film Memento (US 2000): Während das
KZG unverändert funktioniert und auch der Abruf von früheren, vor der Störung datierten
Informationen aus dem LZG unbeeinträchtigt ist (intaktes Altgedächtnis), gelingt die dauerhafte Einprägung neuer Inhalte nicht mehr (sog. anterograde Amnesie). Es handelt sich um
eine Störung der Konsolidierung, der „Übertragung“ vom KZG ins LZG. Der Patient lebt in
einem schmalen Zeitfenster des „Hier und Jetzt“. Lernt er eine neue Person kennen, so kann
er sich halbwegs problemlos mit ihr unterhalten; verläßt sie jedoch den Raum und kehrt nach
einigen Minuten wieder, dann wird er über keinerlei Erinnerung an ihre Identität und das vorhergehende Gespräch mehr verfügen – er wird sie begrüßen wie einen Fremden.
Bedeutsamerweise sind beim Korsakoff-Syndrom nicht alle Lern- und Gedächtnisdomänen gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen. Unterscheidet man zwischen deklarativen
Inhalten (z. B. das Merken des Textes, den Sie gerade lesen) und prozeduralen Inhalten (z. B.
Konditionierungsprozesse, aber auch das Erlernen von Schreibmaschinschreiben oder das
implizite Lernen des kürzesten Weges in einem Gebäude), so zeigt sich, dass der Ausfall selektiv das deklarative oder Wissensgedächtnis betrifft, während das prozedurale oder Verhaltensgedächtnis unvermindert funktioniert. (Der Patient ist sich dabei allerdings konsequenterweise im Nachhinein nicht bewusst, etwas Neues hinzugelernt zu haben.) Diese Dissoziation ist ein Hinweis auf das Vorhandensein materialspezifisch verschiedener Gedächtnissysteme, die sich nicht nur funktional unterscheiden, sondern auch an verschiedene Hirnstrukturen
gebunden sind (prozedurales Lernen ohne hippocampale Beteiligung). Das deklarative Gedächtnis kann weiter unterteilt werden in einen semantischen Speicher (etwa für lexikalische
Inhalte) und einen episodischen Speicher (Tulving, 2002). Das episodische Gedächtnis behält
dabei das „wann & wo“ von Begebenheiten; z. B. unter welchen Umständen ein bestimmter
Inhalt gelernt wurde. Die Existenz separater Subspeicher wird u. a. durch seltene neuropsychologische Störungsbilder mit isoliertem Ausfall der Episodik (bei intaktem semantischem
Gedächtnis) gestützt.
Schließlich existieren auch Querbezüge zu anderen Themen innerhalb der Allgemeinen Psychologie und zu verwandten Wissenschaften. Ein naheliegendes Beispiel ist die Urteils- und Entscheidungsforschung (judgment & decision making), ein multidisziplinäres Feld
von Allgemeiner und Kognitiver Psychologie, Ökonomie, Biologie, Mathematik, Informatik,
Kognitiven Neurowissenschaften und weiteren Fächern aus der Cognitive-Science-Familie.
Alltagsentscheidungen basieren fast immer auf aus dem Gedächtnis abgerufener (Zusatz-)
Information. Ein bewährtes Beispiel ist die Rekognitionsheuristik (Goldstein & Gigerenzer,
13
2002; Marewski, Pohl & Vitouch, in prep.): Die simple Wiedererkennung von Namen ist bei
Entscheidungen unter Unsicherheit – z. B.: „Welche Stadt hat mehr Einwohner, San Diego
oder San Antonio?“ – ein urteilsleitendes Kriterium, und führt unter realistischen Umständen
meist zu wesentlich besseren Ergebnissen als z. B. Zufallsstrategien (Raten).
5.5 Epilog: Autobiographisches Gedächtnis
Nochmals zurück zum episodischen Gedächtnis, das bisweilen mit dem – methodischtheoretisch anders grundierten – autobiographischen Gedächtnis gleichgesetzt wird. Dies
greift zu kurz: Autobiographisches Gedächtnis baut zwar auf episodischen Inhalten auf, geht
aber klar darüber hinaus, da es die Fähigkeit voraussetzt, das eigene Leben nach ausgewählten
Relevanzgesichtspunkten zu strukturieren. Es handelt sich also um eine Art mentaler Repräsentation unserer Lebensgeschichte, womit kein objektives curriculum sondern die subjektive
Selbsterzählung des eigenen Lebens gemeint ist (vgl. Habermas & Bluck, 2000). Die Funktion solcher Selbsterzählungen ist eng mit Handlungsorientierung und Identitätsbildung verquickt. Das so verstandene autobiographische Gedächtnis ist erst jüngst als zentrales Thema
der Psychologie des Gedächtnisses und des Erinnerns erkannt worden. Mit diesen und ähnlichen Entwicklungen wagt unser Fach den expansiven Schritt auf holistischere, alltagsnähere,
realistischere Ebenen des psychischen Lebens: Wie etwa sind so komplexe Vorgänge wie
Textverstehen gedächtnistechnisch möglich (McKoon & Ratcliff, 1998); wie gelingt die integrative Repräsentation von Geschichten, Geschichte und Identität (Straub, 1998)?
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14
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