Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. Prävention um jeden Preis? Eine kritische Analyse kriminalpräventiven Handelns Polizei und Sozialarbeit XII, Tagung vom 27. bis 29. Juni 2005 in der Ev. Akademie Loccum Die Texte unterliegen urheberrechtlichem Schutz Quellen-Nachweis: Wieben: „Prävention“ – eine begriffliche Analyse, Hannover 2005, www.dvjj.de Veranstaltungen Dokumentationen Tagung: Prävention um jeden Preis? Hans-Jürgen Wieben Polizeiinspektion Lüneburg „Prävention“ – eine begriffliche Analyse 1 Begriffe der Kriminal-Prävention Negative Generalprävention: Abschreckung potentieller Täter Positive Generalprävention: Erhaltung und Stärkung der Rechtstreue, des Vertrauens in die Rechtsordnung Negative Spezialprävention: Abschreckung vor dem Rückfall Positive Spezialprävention: Resozialisierung Wieben: „Prävention“ – eine begriffliche Analyse, Hannover 2005 www.dvjj.de Veranstaltungen Dokumentationen Tagung: Prävention um jeden Preis? Seite 2/7 2 Dimensionen der Prävention 2.1 Primäre Prävention (Sozialansatz) Kriminalität wird „an der Wurzel“ angegangen Normverdeutlichung / Stabilisierung des Rechtsbewusstseins Beseitigung der „tieferliegenden“ Ursachen der Kriminalität /z. B. Sozialisierungsdefizit; sozio-strukturelle Mängellagen Kommunale Aufgabe! 2.2 Sekundäre Prävention (Situationsansatz) Kriminalität wird an der „Oberfläche“ bekämpft u.a. durch Veränderung der Tatgelegenheitsstruktur Direkte oder indirekte „Stützung“ sozialadäquaten Verhaltens gefährdeter oder tatbereiter Personen (z. B. durch Streetwork; Polizeipräsenz) Kommune! 2.3 Tertiäre Prävention Sanktionierung / Behandlung / Wiedereingliederung des Täters u.ä. durch Diversion / TOA Ambulante Maßnahmen (z.B. Soziale Trainingskurse) Geldstrafe Bewährungshilfe Behandlungs- / Verwahrvollzug Straffälligenhilfe Resozialisierungsfonds Wieben: „Prävention“ – eine begriffliche Analyse, Hannover 2005 www.dvjj.de Veranstaltungen Dokumentationen Tagung: Prävention um jeden Preis? Seite 3/7 3 „Prävention“ – Ein problematischer Begriff!? 3.1 Begriff ist in den einschlägigen Gesetzen nicht ausdrücklich benannt oder definiert Konturen des Begriffes nicht eindeutig erkennbar dennoch ist er in aller Munde (Zauberwort, wenn es Finanzierungen und Personalausstattungen geht!), insbesondere als Begriff der „Kriminal-Prävention“ wird das deutlich dadurch wird die Prävention begrifflich kopflastig Der Begriff ist missbrauchsfähig (Wo liegen die Grenzen? Wer definiert sie?) Der Begriff lenkt von den eigentlichen Sozial- und Strukturaufgaben des Staates insbesondere dann ab, wenn sich normabweichende Verhaltensweisen (insbesondere junger Menschen) und deren Verringerung als Ziel angeben lassen Es entwickelt sich die Gefahr der Kriminalisierung und Stigmatisierung vor allem junger Menschen, deren Lebenslagen unzureichend sind (vgl. Labeling-Theorie)! Bis heute fehlt ein einheitlicher, das wissenschaftliche Sprachspiel verbindlich regelnder Begriff der Prävention abweichenden Verhaltens Theoretische Konzeptionen, empirische Forschungsarbeiten, praktische Modellprojekte der unterschiedlichen Disziplinen (Medizin, Rechtswissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Soziologie) folgen inhaltlich je unterschiedlich gefassten Begriffsbestimmungen, die einen Dialog über die Fachgrenzen hinweg erschwert (z.B. auch zwischen Polizei und Sozialarbeit) Wieben: „Prävention“ – eine begriffliche Analyse, Hannover 2005 www.dvjj.de Veranstaltungen Dokumentationen Tagung: Prävention um jeden Preis? Seite 4/7 3.2 Bei der Beschränkung auf das sozialwissenschaftliche Definitionsangebot lassen sich Einheitlichkeiten für eine vorläufige Beschreibung aushandeln: z.B. Definition von G. Sukup – Weinheim / Basel 1980: Prävention ist „...die Gesamtheit der in einer konkreten Gesellschaft auffindbaren Anstrengungen, der Entstehung sozialer Fälle und abweichender Karrieren entgegenzuwirken“! z.B. Definition von M. Brusten-Opladen 1978 a: Prophylaxe (hier im Sinne von Prävention) ist als zusammenfassende Kennzeichnung aller „…sozialwissenschaftlich begründeten pädagogischen, organisatorischen, planerischen und politischen Maßnahmen zur Verhinderung der Entwicklung gesellschaftlich unerwünschter Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensmuster“ geeignet. Gemeinsamer Bezugspunkt ist immer die Unterstellung eines weitgehend verbindlichen Inventars an Normalitätsstandards (Rechtsnormen u. alltagspraktische Normalitätserwartungen). Auf dieser Grundlage bezeichnet der Begriff Prävention dann jene Maßnahmen, die die Übereinstimmung der Gesellschaftsmitglieder mit diesen Normalitätsstandards stabilisieren und Störungen bereits im Vorfeld verhindern sollen. Anders ist der Begriff „Korrektion“ (der häufig mit Prävention gleich gesetzt wird) zu sehen: Korrektion bezeichnet im Gegensatz zur Prävention alle Maßnahmen, die auf die Bewältigung und die institutionalisierte Verarbeitung registrierter Verstöße gegen die verbindlichen Normalitätsstandards und somit auf die Beilegung bereits aufgetretener Störungen der gesellschaftlichen Ordnung ausgerichtet sind (vgl. Nds. SOG Präventionsbegriff!) Klammerbegriff „Soziale Kontrolle“ (vgl. Malinowski u.a.): S. K. bezeichnet die Gesamtheit der gesellschaftlich organisierten und in staatlichen Vollzugsbehörden institutionalisierten Maßnahmen, durch die die Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen und Verhaltensweisen des Individuums auf der einen und den verbindlichen Anforderungen und Erwartungen des sozialen Systems auf der anderen Seite hergestellt und aufrechterhalten wird (Brusten / Malinowski; ähnlich auch Sack). Folglich: Zwei komplementäre Seiten der S. K.: Der Begriff Prävention bezeichnet die Herstellung dieser Balance zwischen individuellen Handlungszielen und gesellschaftlich festgelegten Handlungsgrenzen. Der Begriff Korrektion hingegen bezeichnet die Wiederherstellung der Balance durch die institutionelle Verarbeitung eingetretener Störungen; er betont damit den Reproduktionsaspekt verlässlicher gesellschaftlicher Ordnung. Daher Arbeitsdefinition von N. Herriger (1986): „Prävention,... das sind alle jene gesellschaftlich organisierten Maßnahmen, vermittels derer die Bedingungen hergestellt werden, die die Konformität der Gesellschaftsmitglieder mit den Verhaltenserwartungen des sozialen Systems erzielen und das Auftreten normabweichender Verhaltensweisen verhindern sollen.“ Wieben: „Prävention“ – eine begriffliche Analyse, Hannover 2005 www.dvjj.de Veranstaltungen Dokumentationen Tagung: Prävention um jeden Preis? Seite 5/7 3.3 Anschaulich sind die Präventionsbegriffe nach Norbert Herriger (Präventives Handeln und soziale Praxis; Weinheim und München 1986) Interventionsebene: Zentralstaatliche Politik Strukturelle Prävention: Auf zentralstaatlicher Ebene Zielsetzung: Gestaltung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse durch Ausgleich materieller Benachteiligung /Bereich der Familien- und Sozialpolitik) und durch Einschränkung kriminalisierender Rechtsnormen (Bereich der Kriminal- und Jugendpolitik). Interventionsform: Ökonomische und rechtliche Interventionsform Interventionsebene: Kommunale Politik Strukturelle Prävention: auf kommunaler Ebene Zielsetzung: Gestaltung sozialräumlicher Lebensbedingungen durch Abbau von horizontalen Ungleichheiten und durch Veränderung der baulichen, infrastrukturellen und sozialen Struktur kommunaler Teilräume (kommunale Wohnungsbau-, Infrastruktur- und Stadtentwicklungspolitik). Interventionsform: Ökonomische Interventionsform Interventionsebene: behördliches Handeln, Personale Prävention Zielsetzung: Sicherung normkonformen Verhaltens und Regulierung auch marginaler Abweichungen durch repressives Eingreifen (Strafverfolgungsbehörden) und pädagogische Einflussnahme (Jugendhilfebehörden). Interventionsform: Repressive und pädagogische Interventionsform Anmerkung: Hier liegt das Grundproblem der Kooperation von Polizei und Jugendhilfe (Sozialarbeit / Sozialpädagogik). Folge: Regionale / lokale Abklärung / Abstimmung / Abgrenzung der Handlungsraster unabdingbar! Wichtig: In keinem Falle Kooperationsverweigerung anstreben! Wieben: „Prävention“ – eine begriffliche Analyse, Hannover 2005 www.dvjj.de Veranstaltungen Dokumentationen Tagung: Prävention um jeden Preis? Seite 6/7 4 Thesen zur Präventionsarbeit in einer Gemeinde 1. These Prävention ist nicht kurzfristig angelegt. Sie braucht solide Strukturen, Kontinuität und verlässliche Partner. 2. These Prävention ist Bürgermeisterpflicht! Es ist seine Aufgabe, gemeinsam mit dem Rat der Gemeinde ein Instanzenund Ressortübergreifendes Informations-, Kommunikations- und Kooperationsnetzwerk aufzubauen bzw. bereits vorhandene Strukturen zu nutzen, um unter anderem außergewöhnliches mormabweichendes Verhalten (im Wesentlichen) junger Menschen rechtzeitig erkennen und angemessen darauf reagieren zu können. Personelle und materielle Ressourcen sind zu bündeln. Ein Präventionsverein ist zu gründen, um auch außerstaatliche Finanzmittel nutzen zu können. 3. These Schwerpunkt eines durchdachten, dauerhaften und solide finanzierten Jugendhilfe- und Freizeitkonzeptes muss sein, insbesondere randständige junge Menschen unter anderem auch auf der Basis akzeptierender Jugendarbeit in das Gemeinwesen zu integrieren. Einer Polarisierung von Meinungen ist dabei ebenso systematisch entgegenzuwirken wie einer Ausgrenzung von (auch ethnischen) Minderheiten. Das Freizeitangebot für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende muss zeitgemäß sein und genügend Anreiz bieten, möglichst viele junge Menschen zu interessieren und zu binden. 4. These Eine differenzierte Planung der Kriminalitätskontrolle ist unter fachlicher Mitwirkung insbesondere der Polizei, der Justiz, der staatlichen und der freien Jugendhilfe, der Kirchen und der Schulen zu entwerfen. Dabei sind alle gesetzlich belegten Interessenlagen sowie das gemeinsame Vorgehen fortlaufend und konsensorientiert aufeinander abzustimmen. Wieben: „Prävention“ – eine begriffliche Analyse, Hannover 2005 www.dvjj.de Veranstaltungen Dokumentationen Tagung: Prävention um jeden Preis? Seite 7/7 5. These Soziale Kontrolle dient in diesem Zusammenhang nicht dem Selbstzweck, sondern sie ist notwendig und angemessen. Sie wird von den Bürgerinnen und Bürgern erwartet und hat vorrangig zum Ziel, auf der Grundlage der geltenden Gesetze und nach den Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein friedvolles Zusammenleben in der Kommune zu fördern bzw. zu ermöglichen. Zugleich muss soziale Kontrolle im Sinne des Sozialstaatsprinzips der Verfassung auch soziale Hilfe bedeuten, um ein generationenübergreifendes Miteinander zu fördern und zu optimieren. 6. These Um in der Kommune zu gewährleisten, dass das subjektive und das objektive Sicherheitsgefühl angemessen aufeinander abgestimmt werden können, muss eine systematische und von allen Institutionen inhaltlich getragene Öffentlichkeits- und Pressearbeit betrieben werden. Auf diese Weise sind Informationsdefizite in der Bevölkerung über kriminologisch bedeutende Phänomene versachlichend abzubauen. Zugleich ist dadurch einer angstmachenden und verunsichernden Medienarbeit entgegenzuwirken. 7. These Es ist eine regelmäßige instanzen- und ressortübergreifende, fachbezogene Aus-, Fort- und Weiterbildung unter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde zu planen und durchzuführen. Die Ratsmitglieder binden sich parteiübergreifend in diesen Prozess ein. Die finanziellen Grundlagen sind in den Gemeindehaushalt einzustellen. Dipl. Soz.Päd. LKD Hans-Jürgen Wieben ist Leiter der Polizeiinspektion Lüneburg