Klinik und Therapie der Multisystematrophie

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M E D I Z I N
Ullrich Wüllner
Thomas Klockgether
Zusammenfassung
Die Multisystematrophie (MSA) ist eine sporadisch auftretende neurodegenerative Erkrankung des mittleren Erwachsenenalters, die klinisch durch die Kombination von autonomen
Störungen mit Parkinsonsymptomatik oder zerebellärer Ataxie gekennzeichnet ist. Die älteren Begriffe Shy-Drager-Syndrom, sporadische
olivo-ponto-zerebelläre Atrophie (OPCA) und
striatonigrale Degeneration (SND) bezeichnen
unterschiedliche Ausprägungen des klinischneuropathologischen Spektrums der MSA, deren spezifisches Merkmal der Nachweis von αSynuklein-positiven Ablagerungen in Oligodendrozyten ist. Die Ätiologie der MSA ist unbekannt, und die verschiedenen Symptome mit
hypotonen Blutdruckregulationsstörungen,
Schlafstörungen, Störungen der Blasenentleerung und Bewegungsstörungen stellen Neurologen, Internisten, Urologen und HNO-Ärzte
vor eine interdisziplinäre diagnostische und
therapeutische Herausforderung.
Schlüsselwörter: Multisystematrophie (MSA),
Parkinsonsymptomatik, zerebelläre Ataxie, autonome Störungen
Summary
Multiple System Atrophy
Multiple system atrophy (MSA) is a sporadic
neurodegenerative disorder of unknown etiology, characterized clinically by poorly L-dopa
responsive parkinsonism and/or cerebellar
dysfunction in combination with autonomic
failure. MSA summarizes the formerly used
terms striatonigral degeneration (SND), ShyDrager syndrome (SDS) and sporadic adultonset olivopontocerebellar atrophy (OPCA)
which described variants of the clinicopathological spectrum of MSA. MSA is characterized
by α-synuclein positive intracytoplasmic inclusions in oligodendroglia and neurons but the
etiology is unknown and only symptomatic
therapies are available. The various symptoms
of orthostatic hypotension, sleep disturbances, urinary dysfunction and movement disorders represent diagnostic and therapeutic
challenges to the physician.
Key words: multiple system atrophy (MSA), parkinsonism, cerebellar ataxia, autonomic failure
A 408
Klinik und Therapie der
Multisystematrophie
D
ie vielfältige klinische Symptomatik und die Unkenntnis der Pathogenese sind die Ursache der verwirrenden deskriptiven Bezeichnungen,Akronyme und Eigennamen, die in
der Vergangenheit für die Multisystematrophie (MSA) gebraucht wurden. In
der Literatur des 20. Jahrhunderts findet man eine Vielzahl von Beschreibungen von Patienten mit einer Kombinati-
on von neurologischen Symptomen und
autonomem Versagen in unterschiedlicher Ausprägung und mit variablen pathomorphologischen Veränderungen.
So prägten Déjérine und Thomas bereits 1900 den Begriff der „L’Atrophie
Olivo-Ponto-Cérébelleuse“ (OPCA),
Shy und Drager beschrieben 1960 zwei
Patienten mit einer Kombination aus
Impotenz, ausgeprägter orthostatischer
Hypotension und Parkinsonsyndrom
(Shy-Drager-Syndrom, SDS), und Syndrome
mit Akinese, Tremor, erektiler
Dysfunktion und Inkontinenz
wurden nach anatomisch pathologischen Gesichtspunkten als striatonigrale Degeneration (SND) bezeichnet (14).
Schließlich stellten Oppenheimer und Graham 1969 die
Hypothese auf, dass OPCA,
SND und SDS unterschiedliAbbildung 1: α-Synuklein-positive gliale zytoplasmati- che Ausprägungen des Speksche Einschlusskörper (glial cytoplasmic inclusions, GCI)
trums einer einzigen Erin Oligodendrozyten des Kleinhirns
krankung sein könnten und
führten den Begriff MSA ein,
der allerdings noch nicht
Grafik 1
durch genaue Diagnosekriterien oder spezifische pathologische Veränderungen definiert war und deshalb selten
verwendet wurde (7).
Die Beschreibung der
MSA als neuropathologische
Entität wurde erst 1989
durch Arbeiten von Papp,
Kahn und Lantos möglich,
die bei elf Fällen mit OPCA,
SND und SDS argyrophile
gliale zytoplasmatische Einschlusskörper (Glial Cytoplasmic Iinclusions, GCI) in Oligodendrozyten und später
Kaplan-Meier-Kurve des Erkrankungsverlaufs, darge- auch in Nervenzellen beobstellt ist die Latenz bis zur Rollstuhlpflichtigkeit von Pa- achteten (10). Diese GCI hatienten mit MSA-C und Patienten mit sporadischer, unerben sich als spezifisch erwieklärter Ataxie (1).
sen und erlauben die definitive neuropathologische Diagnose einer MSA. Welche
Klinik für Neurologie (Direktor: Prof. Dr. med.Thomas Klockgether), Universitätsklinikum Bonn
Mechanismen zur Bildung
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dieser Ablagerungen führen und welche Bedeutung sie für den Verlust von
Nerven- und Gliazellen haben, ist unbekannt. Die GCI selbst bestehen aus
aggregierten fibrillären Strukturen
von 10 bis 15 nm Durchmesser, die den
Mikrotubuli ähneln und die unter anderem α-Synuklein, α-B-Crystallin
und Tau enthalten (Abbildung 1). Mutationen im α-Synuklein-Gen oder in
anderen Kandidatengenen konnten
bei MSA-Patienten bislang nicht
nachgewiesen werden. Mit den verbesserten neuropathologischen Diagnosemöglichkeiten zeigte sich bei Untersuchungen in verschiedenen Hirnbanken eine MSA bei etwa 5 bis 22
Prozent aller autopsierten Parkinsonpatienten. Epidemiologische Untersuchungen sind nach wie vor schwierig,
da die klinische Diagnose keine definitive Aussage erlaubt. Die altersangepasste Prävalenz der MSA wird auf 4,4
(2 bis 15) auf 100 000 Einwohner, die
Inzidenz auf ~0,6 pro 100 000 Einwohner und Jahr geschätzt (16). Eine familiäre Häufung ist bisher nicht berichtet
worden, und bislang konnten keine
eindeutigen exogenen Risikofaktoren
identifiziert werden (18).
einer Pyramidenbahnschädigung in
unterschiedlicher Kombination und
Ausprägung. Autonome Störungen
treten schließlich bei allen Patienten
auf, 50 bis 70 Prozent leiden unter
Urininkontinenz, etwa ebensoviele
unter Schwindel und Benommenheit.
Die Mehrzahl der MSA-Patienten
zeigt in den späten Krankheitsstadien
Zeichen eines Parkinsonsyndroms mit
Bradykinese, Rigor, Hypophonie und
Dysphagie (90 Prozent). Gerade die
Sprech- und Schluckstörung ist oftmals besonders ausgeprägt und nicht
pharmakologisch therapierbar. TypiGrafik 2
Diagnose
Die definitive Diagnose einer MSA
kann zurzeit nur neuropathologisch
gestellt werden. Die derzeit gültigen,
leider recht komplexen klinischen Diagnosekriterien unterscheiden zwischen möglicher, wahrscheinlicher und
definitiver, neuropathologisch gesicherter MSA (6). Demnach ist eine
MSA wahrscheinlich, wenn zusätzlich
zu schwerer orthostatischer Hypotonie
(RR-Abfall um mindestens 30 mm Hg
systolisch beziehungsweise mindestens
15 mm Hg diastolisch) oder dauerhafter
Urininkontinenz ein schlecht
auf die Behandlung ansprechendes Parkinsonsyndrom
oder eine zerebelläre Dysfunktion vorliegt. Ein Erkrankungsbeginn vor dem 30.
Lebensjahr oder eine positive
Familienanamnese schließen
eine MSA aus. Entscheidend
für die Diagnose ist eine sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung wohingegen die apparative Zusatzdiagnostik in erster Linie
dem Ausschluss anderer Erkrankungen dient.
Klinisches Bild und Verlauf
Der mittlere Erkrankungsbeginn der
MSA liegt in der sechsten Lebensdekade; Männer und Frauen erkranken
gleich häufig (w/m: 1,0 zu 1,3) (1, 19,
20). Zu Beginn der Erkrankung weist
die Mehrzahl der Patienten eine Parkinsonsymptomatik (46 Prozent) oder
autonome Störungen (41 Prozent) auf,
zerebelläre Störungen finden sich initial bei etwa 5 bis 10 Prozent. Die autonomen Störungen, insbesondere Erektionsstörungen, aber auch eine Zunahme der Miktionsfrequenz, Dranginkontinenz und Restharnbildung
können Jahre vor den Bewegungsstörungen auftreten. Nach Auftreten
der neurologischen Symptomatik ist
die Progression der MSA rasch: Die
mediane Überlebenszeit nach Diagnosestellung beträgt neun Jahre (Grafik
1). In dieser Zeit entwickeln fast alle
Patienten ein Mischbild mit autonomen Störungen, Parkinsonsymptomatik, zerebellärer Ataxie und Zeichen
A 410
Differenzialdiagnose
Die bekannte Darstellung eines fortgeschrittenen Krankheitsstadiums bei M. Parkinson von Frank Netter illustriert mit großer Wahrscheinlichkeit einen MSA-Patienten mit typischem Antecollis (Anteflexion des Kopfes).
Rollstuhlpflichtigkeit innerhalb von fünf Jahren nach
Diagnosestellung schließt eine IPK praktisch aus. Mit
freundlicher Genehmigung: Icon Learning Systems, LLC,
a subsidiary of MediMedia, USA, Inc 2002.
sche zerebelläre Zeichen (Gang- und
Extremitätenataxie, Blickrichtungsnystagmus und Dysarthrie) finden sich
bei 20 bis 50 Prozent, ein positives Babinskizeichen oder Reflexsteigerungen bei etwa 60 Prozent der MSA-Patienten. Kognitive Beeinträchtigungen
sind selten. Die häufigste Todesursache sind Bronchopneumonien infolge
der ausgeprägten Hypokinese und der
Immobilisierung.
Differenzialdiagnostisch muss
die MSA von Erkrankungen
mit orthostatischer Dysregulation, der idiopathischen Parkinsonschen Krankheit (IPK),
anderen atypischen Parkinsonsyndromen sowie den sporadischen Ataxien des Erwachsenenalters abgegrenzt
werden.
Orthostatische Dysregulation
Eine orthostatische Dysregulation
wird durch einen Schellong-Test mit
Abfall des systolischen RR um mindestens 20 beziehungsweise des diastolischen RR um 10 mm Hg innerhalb von
drei Minuten nach dem Aufstehen gesichert. Dieser Blutdruckabfall ist
häufig von einem inadäquaten Anstieg
der Herzfrequenz um weniger als 10
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Schläge pro Minute begleitet. Eine
Vielzahl von Erkrankungen, insbesondere kardiale und endokrinologische
Störungen sowie unerwünschte medikamentöse Nebenwirkungen können
eine sekundäre orthostatische Hypotonie auslösen (3, 8). Primäre autonome Störungen mit orthostatischer
Dysregulation sind reflektorische Synkopen, das lageabhängige orthostatische Tachykardiesyndrom (Postural
Orthostatic Tachycardia Syndrome,
POTS), die akute Pandysautonomie,
die reine autome Dysfunktion (Pure
Autonomic Failure, PAF) und die
MSA. Die reflektorische (vasovagale
oder neurokardiale) Synkope und das
lageabhängige orthostatische Tachykardiesyndrom sind durch das völlige
Fehlen weiterer Symptome im (synkopenfreien) Intervall charakterisiert.
Die seltene akute Pandysautonomie
ist durch die akute Entwicklung
schwerster autonomer Störungen über
Wochen wahrscheinlich im Rahmen
einer immunvermittelten Neuropathie
gekennzeichnet. Neben der MSA geht
nur die reine autonome Dysfunktion
mit chronischer orthostatischer Hypotonie und Störungen der autonomen
Kontrolle einher (11). Dem PAF liegt
im Gegensatz zur MSA, bei der in erster Linie die präganglionären Neurone des Rückenmarkes betroffen sind,
eine Degeneration peripherer postganglionärer Neurone zugrunde, ein
Unterschied, der in der bildgebenden
Diagnostik mittels MIBG-SPECT zur
Differenzierung eingesetzt werden
kann (2).
Idiopathische Parkinsonsche Krankheit
und atypische Parkinsonsyndrome
Parkinsonsyndrome beziehungsweise
-symptome können im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen und als Medikamentennebenwirkung auftreten. Auch die atypischen
Parkinsonsyndrome sind durch die in
unterschiedlicher Gewichtung vorkommenden Symptome Akinese, Rigor, Ruhetremor und posturale Instabilität gekennzeichnet. MSA-Patienten unterscheiden sich jedoch in mancherlei Hinsicht von der IPK. So sind
die Beschwerden bei Erkrankungsbeginn häufig symmetrisch ausgeprägt,
A 412
Tremor ist seltener vorhanden, bei vielen Patienten irregulär und erinnert an
Myoklonien. Viele MSA-Patienten
entwickeln eine ausgeprägte Hypophonie. Orthostaseprobleme können
zwar auch im Verlauf der IPK auftreten, zählen aber nicht zu den Frühzeichen und scheinen ganz überwiegend
auf einer postganglionären Störung im
autonomen Nervensystem zu beruhen.
Im Vergleich zur IPK ist der Krankheitsverlauf der MSA ungleich dramatischer. Eine rasche Verschlechterung
oder gar Einbuße der Gehfähigkeit in´
Tabelle
C
C
ist die Beachtung eine Reihe von
Warnzeichen hilfreich (Tabelle), und
vier einfache Regeln können die Differenzialdiagnose der atypischen Parkinsonsyndrome erleichtern (4, 12,
17):
> Besteht ein Ruhetremor, ist eine
IPK wahrscheinlich.
> Eine Fallneigung nach hinten
kann in Verbindung mit anderen Zeichen auf eine progressive supranukleäre Blickparese hindeuten.
> Eine Erektionsstörung kann im
Zusammenhang mit anderen Zeichen
auf eine MSA hinweisen.
´
Unterscheidung von MSA und PSP
Symptomatik
PSA
Frühzeitige posturale Instabilität, Stürze
X
MSA
Störungen der Okulomotorik
X
Keine oder nur vorübergehende Besserung
durch dopaminerge Therapie
X
X
Rasche Progredienz
X
X
Irregulärer, grobschlägiger Tremor
X
Ausgeprägte Dysarthrie
X
Respiratorischer Stridor
X
Antecollis
X
Zerebelläre Störungen
X
Autonome Störungen
X
nerhalb von weniger als fünf Jahren
schließt eine IPK praktisch aus (Grafik 2). Im Gegensatz zur IPK kann
höchstens ein Drittel der MSA-Patienten befriedigend mit L-Dopa behandelt werden. Daher sollte das
Nichtansprechen auf L-Dopa und eine
früh im Krankheitsverlauf auftretende
orthostatische Hypotonie immer Anlass zur kritischen Überprüfung der
Diagnose einer IPK sein. Während die
autonomen Störungen kennzeichnend
für die MSA sind, sprechen Stürze und
kognitiver Abbau für eine progressive
supranukleäre Blickparese (PSP, SteeleRichardson-Olszewski-Syndrom).
Diese Diagnose ist wahrscheinlich,
wenn zusätzlich eine Verlangsamung
der Sakkaden und eine vertikale
Blickparese nach unten vorliegt. Bei
der Abgrenzung der MSA von der PSP
> Wenn sich die Symptome nach
Einnahme von L-Dopa verbessern
und Warnsymptome fehlen, ist eine
IPK sehr wahrscheinlich.
Sporadische Ataxien des
Erwachsenenalters
Da bei einer MSA die Zeichen einer
Kleinhirnfunktionsstörung mit Ataxie
und Dysarthrie im Vordergrund stehen können, ist auch die Abgrenzung
von den sporadischen Ataxien des Erwachsenenalters nötig.
Es sind in erster Linie die autonomen
Störungen, die auf die Multisystematrophie hinweisen. Tatsächlich kann
klinisch oft erst der Krankheitsverlauf
mit der Entwicklung dieser zusätzlichen
Symptome diagnostische Klarheit bringen.
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Von den Patienten, die zunächst an
einer rein zerebellären, sporadischen
Ataxie erkranken, entwickeln etwa 30
Prozent innerhalb von vier Jahren eine
MSA (1).
Bildgebende Diagnostik
MRT und PET beziehungsweise
SPECT können die Diagnose einer
MSA stützen und von der IPK abgrenzen. Das Schädel-MRT besitzt in späteren Stadien eindeutige diagnostische Wertigkeit. Dabei findet sich ein
pathologisches Signalverhalten in den
T2-gewichteten Sequenzen in den dorsolateralen Anteilen des Putamens
und im mittleren Kleinhirnstiel (Abbildung 2). Diese charakteristischen
Befunde erlauben in fortgeschrittenen
Krankheitsstadien in 80 Prozent eine
eindeutige Diagnose (15). Durch geeignete PET-Untersuchungen mit
Darstellung der prä- und postsynaptischen Anteile des nigrostriatalen Systems kann die Diagnose bestätigt
werden (5) (Abbildung 3). Zur Unterscheidung von PAF und IPK steht das
123I-Metajodbenzylguanidin- (MIBG-)
SPECT des Thorax zur Verfügung.
Dieses Harnstoffderivat wird von
den noradrenergen postganglionären
Neuronen des sympatischen Nervensystems aufgenommen. Da den autonomen Störungen bei der MSA eine
Degeneration der zentralen präganglionären Anteile des autonomen Nervensystems zugrunde liegt, ist die 123IMIBG-Aufnahme des Herzens unverändert. Im Gegensatz hierzu führen
die postganglionären Schäden bei
PAF und IPK zu einer reduzierten 123IMIBG-Aufnahme des Herzens wohingegen die unspezifische 123I-MIBGAufnahme von Lunge und Leber unverändert bleibt (Abbildung 4).
Therapie
Parkinsonsymptomatik
Die Parkinsonsymptomatik kann zumindest in den ersten Jahren bei einem
Teil der Patienten mit L-Dopa beeinflusst werden. Der Therapieerfolg unterliegt jedoch starken individuellen
Schwankungen und ist im Vergleich zur
IPK deutlich schlechter. Jeder MSAPatient mit Parkinsonsymptomen sollte
daher über mindestens drei Monate
hochdosiert mit einem L-Dopa-Präparat (mindestens 1 000 mg) behandelt
werden, um die potenzielle Wirksamkeit einschätzen zu können. Gelegentlich zeigt sich eine Zunahme der Beschwerden, wenn die vermeintlich unwirksamen Medikamente abgesetzt
Sprech- und
Schluckstörungen
Über die Hypophonie und zerebelläre Dysarthrie hinaus kommt es bei
manchen Patienten zu (meistens)
einseitigen Rekurrensparesen mit
Stimmbandlähmung, inspiratorischem
Stridor und Dysphonie wobei selten
aufgrund beidseitiger Paresen eine
Tracheotomie erforderlich werden
kann. Regelmäßige logopädische Behandlung kann die
Beschwerden lindern, das
Fortschreiten jedoch nicht
aufhalten.
Durch Hilfsmittel wie beispielsweise Sprachcomputer
oder Sprachausgabeprogramme für einen Laptop kann die
Kommunikation aufrecht erhalten werden.
Das Schlucken wird in der
Regel durch einen Tonusverlust des oberen Ösophagussphinkters beeinträchtigt.
Logopädisches Schlucktraining und eine NahrungserAbbildung 2: MRT bei MSA, charakteristische Signalin- gänzung mit hochkalorischer
tensitäten in den T2-gewichteten Sequenzen (1,5 T oder Kost (zum Beispiel Fresubin
0,5 T) in den dorsolateralen Anteilen des Putamens und
Trinknahrung in Portionsim mittleren Kleinhirnstiel (Pfeile), zusätzlich fällt die
behältern zu 100 mL) sind
deutliche Signalauslöschung im Putamen auf.
hilfreich, als Ultima Ratio ist
die Anlage einer perkutanen
werden. Obwohl das Risiko motori- endoskopischen Gastrostomie möglich.
scher Langzeitkomplikationen geringer Auch der „Hypersalivation“ liegt urist, sind Dyskinesien bei MSA-Patien- sächlich praktisch immer eine Schluckten beobachtet worden. Dennoch sind störung zugrunde. Da diese nur schlecht
Dopaminagonisten aufgrund der stär- zu behandeln ist, kann nur versucht
ker ausgeprägten blutdrucksenkenden werden, die Speichelproduktion zu reEigenschaften nur von eingeschränk- duzieren.
tem Nutzen.
Die systemische Gabe von Anticholinergika sollte vermieden werden, da
es zu einer weiteren Verzögerung der
Ataxie
Magendarmpassage kommen kann.
Die zerebelläre Symptomatik kann in Eine lokale Gabe von 5 bis 10 Tropfen
der Regel medikamentös nicht gebes- Atropin (Atropin Augentropfen 1
sert werden. Obwohl es einzelne offene Prozent) unter die Zunge vermeidet
Studien mit positiven Effekten bei- systemische Nebenwirkungen, und die
spielsweise von Buspiron oder Amanta- Dosis kann schrittweise individuell
din gibt, sind diese Medikamente doch durch den Patienten titriert werden.
für den Großteil der Patienten nicht Einfacher zu handhaben sind lokale
von Nutzen.
Injektionen von Botulinumtoxin in die
Die Autoren verabreichen Amanta- Parotis (Botulinumtoxin Typ A, zweidin gelegentlich bei Müdigkeit und An- mal 5 bis 10 U Botox oder zweimal 25
triebslosigkeit. Nikotin führt – wie Al- U Dysport), die für drei bis fünf Mokohol – zu einer Verschlechterung der nate die Speichelproduktion reduzieAtaxie.
ren.
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Orthostatische Hypotension
Die Patienten klagen initial meistens
über unspezifische Beschwerden wie
Benommenheit und Schwindel. Trotz
des oft erheblichen Blutdruckabfalls im
Schellong-Test kommt es überraschend
selten zu Synkopen. Im Liegen, beziehungsweise beim Nachtschlaf kann es
andererseits zu hypertonen Blutdruckwerten kommen, sodass immer eine 24h-Blutdruckmessung erfolgen sollte.
Die Auswirkungen anderer Medikamente müssen stets beachtet werden,
um negative Auswirkungen auf die vegetative Regulation zu vermeiden
(Blutdrucksenkung durch Dopaminergika oder Blasenentleerungsstörung
durch Anticholinergika). Immer sollten
die folgenden einfachen Maßnahmen
befolgt werden: häufige kleinere Mahlzeiten, ausreichend Flüssigkeitszufuhr
(dabei sollte drei- bis fünfmal täglich in
kurzer Zeit ein halber Liter Wasser
rasch getrunken werden), konsequentes Tragen angepasster elastischer
Stützstrümpfe sowie Nachtschlaf mit
um 30 Grad erhöhtem Oberkörper, um
durch Aktivierung des Renin-/Angiotensinsystems eine Erhöhung des intravasalen Volumens zu erzielen. Ein
vergleichbarer Effekt wird durch Mineralocorticoide wie Fludrocortison (beispielsweise Astonin H dreimal 0,1
mg/Tag) erzielt. Eine weitere Option ist
die direkte α-sympathomimetische
Therapie mit Midodrin (beispielsweise
Gutron, dreimal 10 mg). Die kardialen
Kontraindikationen müssen beachtet
werden. L-Threo-DOPS, ein Noradrenalin-Vorläufer, der zurzeit nur über die
internationale Apotheke bezogen werden kann, ist in Dosierungen von zweimal 100 bis zweimal 300 mg ebenfalls
wirksam.
Blasenentleerungs- und
Erektionsstörung
In der Regel besteht eine Detrusorhyperreflexie mit imperativem Harndrang, erhöhter Miktionsfrequenz und
Inkontinenz, die durch eine zusätzliche
obstruktive Entleerungsstörung mit erhöhtem Sphinktertonus kompliziert
sein kann. Eine infravesikale Obstruktion muss ausgeschlossen werden. Solange der Restharn weniger als 100 mL be-
A 414
IPK
18 F-Dopa
11C-Raclopride
18 FDG
MSA
Abbildung 3: PET bei MSA und IPK; durch den Verlust der striatalen Nervenzellen ist zusätzlich
zur Reduktion der dopaminergen Terminalen (18F-Fluoro-Dopa) auch die Bindung des postsynaptischen Liganden (11C-Racloprid), ebenso wie die Stoffwechselaktivität (18F-Fluorodesoxyglucose, FDG) deutlich vermindert.
trägt, können „blasenselektive“ Anticholinergica (beispielsweise Mictonorm dreimal 15 mg) oder auch trizyklische Antidepressiva (beispielsweise
Tofranil dreimal 10 mg) eingesetzt werden, um die Detrusorhyperreflexie zu
dämpfen. Selektive α1-Rezeptorantagonisten (Tamsulosin, beispielsweise
Alna Retardkapseln, einmal täglich)
hemmen den Sphinkter und können
eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
günstig beeinflussen, weisen allerdings
auch blutdrucksenkende Nebenwirkungen auf. Da vor allem der Nachtschlaf durch die Pollakisurie gestört ist,
kann eine Verminderung der Harnproduktion durch einmalige abendliche
Gabe von Desmopressin (beispielsweise Minirin Nasenspray 1 Hub entspricht
10 µg, auch als Tablette 0,2 mg) erzielt
werden. Die Idealziele der Therapie,
Kontinenz und vollständige, kontrollierte Blasenentleerung sind medikamentös oft nur unvollständig zu erreichen. Bei Frauen ist das Tragen speziell
angepasster Vorlagen zu empfehlen. Intermittierendes, sauberes Selbstkatheterisieren scheitert oft an den motorischen Einschränkungen, sodass bei
anhaltender Inkontinenz die Versorgung mit einem suprapubischen Blasenkatheter erfolgen sollte (13).
Bei Erektionsstörungen,
die ein unspezifisches Frühzeichen der MSA darstellen,
ist Sildenafil (25, maximal 50)
mg) aufgrund der ausgeprägten blutdrucksenkenden Wirkung nur selten einsetzbar (9).
Abbildung 4: 123I-Metajodbenzylguanidin- (MIBG-)SPECT
des Thorax mit Darstellung der noradrenergen postganglionären Neuronen des autonomen Nervensystems. Die
postganglionären Schäden bei der reinen autonomen
Dysfunktion und der IPK führen zu einer reduzierten 123IMIBG-Aufnahme des Herzens (rechts) wohingegen der
Befund bei MSA normal ist (links).
Obstipation
Motilitätsstörungen betreffen
den gesamten Gastrointestinaltrakt und beeinträchtigen
das Schlucken ebenso wie Magenentleerung und Darmpas-
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sage. Regelmäßige Bewegung, eventuell unterstützt durch Physiotherapie, ist
notwendig. Mit Macrogol steht eine
Substanz zur Verfügung, die die Stuhlkonsistenz beeinflusst, vorausgesetzt
die Flüssigkeitszufuhr ist ausreichend.
Als Propulsivum kann Domperidon
eingesetzt werden. Trotzdem ist in vielen Fällen regelmäßig die Anwendung
von Klistieren nötig.
Schlafstörungen
Drei unterschiedliche Schlafstörungen
sind bei MSA-Patienten gehäuft zu beachten: REM-Schlaf-Verhaltensstörungen sowie zentrale und obstruktive
Schlafapnoesyndrome, letztere oft mit
ausgeprägtem inspiratorischen Stridor
bei (partieller) Recurrensparese. Die
REM-Schlaf-Verhaltensstörung
mit
heftigen Bewegungen und Vokalisationen spricht gut auf niedrig dosierte
Benzodiazepine (vorzugsweise Clonazepam 0,5 bis 1 mg vor dem Zu-BettGehen) an. Wenn Tagesmüdigkeit ein
Problem darstellt, kann eine polysomnographische Untersuchung durchgeführt werden, um abzuklären, ob ein
Schlafapnoesyndrom vorliegt. Hier
Referiert
kann gegebenenfalls eine nächtliche nasale Ventilationstheraphie mit CPAP
oder BiPAP ganz erhebliche Besserung
der allgemeinen Leistungsfähigkeit und
des Wohlbefindens bringen.
Depression
Depressionen als eigenständiges Krankheitssymptom treten bei etwa 30 Prozent der Patienten mit IPK auf, genaue
Zahlen zur Prävalenz bei MSA fehlen.
Im Patientenkollektiv der Autoren ist
die Rate reaktiver Depressionen, bedingt durch den rapiden Krankheitsverlauf, eher höher. In diesen Fällen werden die in der Regel gut verträglichen
und wirksamen selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (zum Beispiel
Citalopram zweimal 20 mg oder Sertralin einmal 50 mg) verabreicht.
Therapiestudien
Da die Ursachen der Multisystematrophie unbekannt sind, ist derzeit
keine Therapie verfügbar, die die Erkrankung verlangsamen oder gar heilen könnte.
Eine europäische Studie eines potenziell neuroprotektiven Medikamentes
wird in Kürze in Zusammenarbeit der
European MSA Study Group (EMSA)
und des Kompetenznetz Parkinson begonnen werden.
Die deutsche Parkinson Vereinigung
(dPV) bietet regionale Ansprechpartner für Betroffene (dPV, Moselstraße
31, 41464 Neuss; [email protected]),
ebenso die Deutsche Heredo-Ataxie
Gesellschaft (DHAG, Haußmannstraße 6, 70188 Stuttgart, www.ataxie.
de).
Manuskript eingereicht: 14. 10. 2002, angenommen:
5. 11. 2002
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 408–415 [Heft 7]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet
unter www.aerzteblatt.de/lit0703 abrufbar ist.
Anschrift für die Verfasser:
Priv.-Doz. Dr. med. Ullrich Wüllner
Klinik für Neurologie
Universitätsklinikum Bonn
Sigmund-Freud-Straße 25
53105 Bonn
E-Mail: [email protected]
Lansoprazol bei der Behandlung der funktionellen
Dyspepsie in Hongkong wirkungslos
Nach den Rom-II-Kriterien ist die
funktionelle Dyspepsie definiert als
persistierende oder rezidivierende
Schmerzen oder Unwohlsein im Oberbauch für mindestens zwölf Wochen
innerhalb der vergangenen zwölf Monate. Die Prävalenz beträgt weltweit
10 bis 20 Prozent, eine standardisierte
Therapie gibt es nicht.
Die Autoren berichten über eine
Studie an 453 Hongkong-Chinesen
mit funktioneller Dyspepsie, die vier
Wochen lang mit Lansoprazol 30 mg,
Lansoprazol 15 mg oder Placebo behandelt wurden. Dyspepsie-Symptomscore und Lebensqualität wurden zu
Beginn und am Ende der vierwöchigen Therapie analysiert. Vollständig
beschwerdefrei wurden unter Lansoprazol 30 mg 23 Prozent, unter 15 mg
23 Prozent und unter Placebo 30 Prozent. Auch bei einer Untergruppe
Helicobacter-pylori-positiver Patienten war kein Unterschied zwischen
den drei Behandlungsmodalitäten zu
sehen, das gleiche Ergebnis betraf
Subgruppenanalysen nach Dyspepsie
vom Ulkustyp, vom Dysmotilitätstyp
und vom Refluxtyp.
Die gewonnenen Daten stehen in
einem gewissen Widerspruch zu der
im deutschen Sprachraum durchge-
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führten FROSCH-Studie, bei der ein
positiver Effekt von Omeprazol 10
und 20 mg gegenüber Ranitidin 150
mg und Placebo zu Tage trat, bestätigt
hingegen die BOND-OPERA-Studie,
die ebenfalls keine positiven Effekte
einer Therapie mit Protonenpumpenw
inhibitoren ergeben hatte.
Wong WM, Wong BCY, Hung WK et al.: Double
blind, randomized, placebo controlled study of four
weeks of lansoprazole for the treatment of functional
dyspepsia in Chinese patients. Gut 2002; 51: 502–
506.
Dr. B. C. Y. Wong, Department of Medicine, University of
Hong Kong, Queen Mary Hospital, Hongkong, E-Mail:
[email protected]
A 415
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