Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte und internationale

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Bei dem nachfolgenden Beitrag handelt es sich um
eine vorläufige Version.
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siehe den Beitrag in der Druckversion in:
Herschinger, Eva/ Renner, Judith (Hrsg.):
Diskursforschung in den Internationalen Beziehungen,
Baden-Baden: Nomos, 270-306.
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte und internationale
Innovations- und Nanotechnologiepolitik
Joscha Wullweber
1. Einleitung1
Im folgenden Beitrag wird eine diskurs- und hegemonietheoretische Analyseperspektive auf internationale Politik entwickelt und empirisch angewendet.2 Die Theorie von Ernesto Laclau stellt hierbei den ontologischen
Rahmen dar. Dieser beinhaltet die Annahme, dass sich gesellschaftliche
Strukturen über Diskurse und damit über hegemoniale Auseinandersetzungen um die Legitimierung, Durchsetzung und Verstetigung bestimmter
Handlungen und Bedeutungen herstellen.
Dieses Theoriesetting erlaubt es, spezifische Forschungsfragen zu stellen
und das analytische Vorgehen anzuleiten, wie anhand internationaler Nanotechnologie- und Innovationspolitik aufgezeigt wird. Hierbei wird die
These aufgestellt, dass die Nanotechnologie3 spezifische und zugleich sehr
verschiedene techno-politische und sozio-ökonomische Interessen und Strategien eint, die insgesamt analytisch als techno-sozio-ökonomisches Innovationsprojekt gefasst werden können. Diese Interessen wiederum sind eng
mit der Hoffnung verbunden, im internationalen Wettbewerb über HightechInnovation Marktanteile und Arbeitsplätze zu sichern. Insbesondere von der
Nanotechnologie wird sich ein Innovationsschub für alle anderen Technologien erhofft. Als Plattformtechnologie, als interdisziplinäres Forschungsfeld und als branchenübergreifende Herangehensweise transzendiert sie ge-
1 Ich bedanke mich herzlich bei den Herausgeberinnen für produktive Kritik und Anregungen.
2 Siehe ausführlich Wullweber 2010; siehe auch Wullweber 2012.
3 Nano (von griechisch „Zwerg“) bezieht sich auf die Größendimension: ein Nanometer
entspricht 0,000000001m. Nanotechnologie verweist also auf technische Prozesse,
Technologien, Anwendungen und Produkte, die durch (jedweden) Bezug zur molekularen Dimension ihre Bedeutung gewinnen (von neuartigen nanoskalierten Oberflächenbeschichtungen, Computerchips, Datenspeicherung über Baumaterialien, Solarzellen, Treibstoffen bis hin zu Medikamenten, Sonnencremepartikeln und Geschmacksverstärkern usw.).
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Joscha Wullweber
wissermaßen alle anderen Technologien und wird so zu einer Art Übertechnologie: „Nanotechnologie steht für Fortschritt und für Innovation“ (BMU
2005: 1). Demnach hängt die globale „Wettbewerbsfähigkeit [...] wesentlich
von der Realisierung nanotechnologischer Innovationen [ab]“ (BMBF 2006:
11). Die Analyse basiert des Weiteren auf der These, dass der Begriff Nanotechnologie keine bestimmte Technologie oder Methode und auch keine
bestimmte Anwendung oder ein Forschungsfeld beinhaltet, geschweige
denn eine allgemeingültige Definition vorherrscht. Vielmehr wird argumentiert, dass über den Begriff Nanotechnologie überhaupt erst ein Zusammenhalt generiert wird, der die Konstruktion eines gemeinsamen Bezugsrahmens ermöglicht, der äußerst verschiedene technische und technologische
Prozesse und (Produkt-)Entwicklungen als (scheinbar) kohärentes Forschungs- und Entwicklungsfeld zusammenfasst.
Eine diskurstheoretische Herangehensweise an das empirische Feld ermöglicht, den politisch-ökonomischen Konstruktionsprozess der Nanotechnologie nachzuvollziehen. Von dem konstruierten Charakter der Nanotechnologie ausgehend, stellt sich die fehlende allgemein akzeptierte Definition,
die von anderen Studien und Akteuren als Problem angesehen wird (vgl. z.B.
Nordmann 2002: 1; Decker et al. 2004: 10; Sweet/Strohm 2006: 528; Royal
Society/Royal Academy of Engineering 2004: 5; Bonazzi 2007), im Gegenteil überhaupt erst als ein Grund für die Möglichkeit der politisch-ökonomischen Bedeutung der Nanotechnologie. Das komplementäre hegemonietheoretische Vorgehen erleichtert den analytischen Blick auf gesellschaftliche Interessen, auf globale politisch-ökonomische Strukturen und
auf den konflikthaften Prozess der Etablierung von Technologien (vgl. auch
Wullweber 2013).
Dementsprechend werden im zweiten Teil des Beitrags drei grundlegende
Konzepte der Laclau‘schen Diskurstheorie eingeführt: Diskurs, Hegemonie
und leerer Signifikant. Im dritten Teil wird ein allgemeiner diskurstheoretischer Analyserahmen aufgespannt: es wird erläutert, wie hegemoniale Projekte analytisch gefasst werden können. Das Konzept der Hegemonie wird
konkretisiert und hierfür der Begriff der Diskursorganisation eingeführt.
Weiterhin werden Bedingungen zur Etablierung hegemonialer Projekte sowie verschiedene Dimensionen von Hegemonie diskutiert. Im vierten Teil
wird dieser Analyserahmen systematisch auf die Empirie angewandt und die
Nanotechnologie als spezifisches Innovations- und Technologieprojekt dargestellt. In diesem Teil wird eine Genealogie des Nanotechnologie-Diskurses vorgenommen und aufgezeigt, wie die Nanotechnologie politisch konstruiert und ihr eine universelle gesellschaftliche Bedeutung zugeschrieben
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Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
wurde. Hierfür wird der diskurstheoretische Begriff des leeren Signifikanten
operationalisiert. Es wird aufgezeigt, welche gesellschaftlichen Kräfte dieses Projekt protegieren und auf welche Weise dieses in Verbindung mit dem
Allgemeininteresse artikuliert wird. Weiterhin werden die spezifische Interessenskonstellation und der internationale politisch-ökonomische Kontext beschrieben. Den vierten Teil abschließend wird diskutiert, ob dieses
Innovationsprojekt als erfolgreiches hegemoniales Projekt bezeichnet werden kann. Den Beitrag endet im fünften Teil mit einer Reflexion des Forschungsansatzes.
2. Theoretischer Rahmen
Die poststrukturalistische Hegemonietheorie von Laclau (Laclau/Mouffe
1985; Laclau 1990a; 1996a; 2005) versteht das Politische und das Soziale
als diskursiv verfasst. Diskurs und gesellschaftliche Struktur sind demnach
nicht als zwei getrennte analytische Sphären anzusehen, sondern äquivalent
zu setzen. Hierbei handelt es sich nicht einfach um die Feststellung, dass
Diskurse Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse hätten, also die gesellschaftliche Struktur mitgestalten würden. Der hier verfolgte Ansatz sieht das
Diskursive grundlegender: Hiernach gibt es außerhalb des diskursiven Feldes nichts Sinnhaftes, nichts Bedeutungsvolles. Es gibt vielmehr immer nur
spezifische Wahrheitshorizonte in Form hegemonialer raum-zeitlicher und
partiell stabilisierter Organisation von Diskursen. Gesellschaft und das diskursive Feld entsprechen sich.
Doch auch wenn Gesellschaft und das diskursive Feld identisch sind,
wirkt das Feld des Diskursiven nicht determinierend auf die Bedeutungskonstruktionen und das Handlungsfeld ein. Denn die gesellschaftliche Struktur kann sich nicht selbst herstellen, wie u.a. mit Wittgenstein und Derrida
an der Unentschiedenheit der Struktur bzw. der Regel argumentiert wird.4
Es bedarf des handelnden Akteurs, der die Struktur Tag für Tag, Stunde um
Stunde, produziert und reproduziert. Die Organisation der Diskurse muss
demnach von einer Vielzahl von Akteuren reartikuliert werden, um Bestand
zu haben – sie reproduziert und verselbstständigt sich gerade nicht ‚hinter
4 In der deutschen Übersetzung wird der Begriff ‚Unentscheidbarkeit‘ verwendet. Ich
bevorzuge den Begriff ‚Unentschiedenheit‘, da die Situation nicht unentscheidbar ist
(es kann keine Entscheidung getroffen werden), wohl aber unentschieden (es muss
eine Entscheidung getroffen werden).
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Joscha Wullweber
dem Rücken‘ der Akteure. Allerdings existiert kein freiheitlicher Akteur im
emphatischen Sinne. Es ist nicht die abwesende strukturelle Identität, sondern die fehlgeschlagene strukturelle Identität, die den Akteur ermöglicht.
2.1. Diskurs
Ein Diskurs ist bei Laclau eine in sich differenzierte, aus Artikulationen
entstandene Gesamtheit relational fixierter Elemente (vgl. Laclau/Mouffe
1985: 105ff). Der Diskursbegriff steht für die Stabilisierung eines bestimmten Handlungs- und Wahrheitshorizonts und schließt alle gesellschaftlichen
Handlungen und Phänomene ein. Politik und Gesellschaft sind demnach
diskursiv verfasst. Ein Diskurs formiert sich aus sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen, die als Artikulationen bezeichnet werden. Eine
Artikulation stellt einen Akt des In-Beziehung-Setzens von Elementen (Dingen, Ereignissen, Handlungen, Subjektpositionen etc.) dar, wodurch deren
Identität verändert wird. Ein In-Beziehung-Setzen kann z.B. darin bestehen,
eine Kette von Handlungen oder Fakten als äquivalent zu artikulieren und
so eine Gemeinsamkeit bzw. eine grundlegenden Verbindung dieser Fakten
zu behaupten. Beispielsweise wird innerhalb der Technologiepolitik vieler
Länder eine Äquivalenz zwischen technologischem Fortschritt, Wohlstand,
Sicherheit, Gesundheit und Nachhaltigkeit hergestellt und zugleich technologischer Fortschritt bzw. technologische Innovation mit Nanotechnologie
äquivalent gesetzt.
Artikulationen können einen interessengeleiteten Ursprung haben, müssen es aber nicht. Werden bestimmte Aquivalenzketten hegemonial, führt
das zur Etablierung und Stabilisierung eines spezifischen Diskurses. Bedeutung und Handlung sind also eng miteinander verknüpft. Da die In-Beziehung-Setzung diese Elemente nur partiell und temporär fixiert sein kann,
gibt es eine Vielzahl an weiteren Bedeutungsmöglichkeiten, und daher einen
Überschuss an Bedeutung – das Feld des Diskursiven (Laclau/Mouffe 1985:
111). Innerhalb eines Diskurses wird Wahrheit verhandelt. Durch diese Praxis der Artikulation wird gesellschaftlich anerkannte Realität hergestellt und
das vagabundierende Flottieren einiger Elemente temporär eingeschränkt.
Anders ausgedrückt: Von all den möglichen Wahrheiten, die sich durch die
unendlichen Möglichkeiten der In-Beziehung-Setzung flottierender Elemente ergeben könnten, werden einige privilegiert und andere verworfen.
Ein Diskurs beinhaltet also den Versuch einer Schließung eines spezifischen
diskursiven Feldes, eine Einschränkung dessen, was als wahr angesehen
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Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
werden könnte. Hierbei konkurrieren verschiedene Diskurse und innerhalb
der Diskurse wiederum verschiedene Artikulationen miteinander (Laclau/
Mouffe 1985: 112ff).
Diskurse schaffen Objektivität, indem sie das Sinnfeld konstituieren. Der
entstehende Diskurs setzt sich aus einer Vielzahl von Artikulationen zusammen, die miteinander konkurrieren. Auch ist ein Diskurs nicht Abbild
der Artikulationen, sondern entwickelt eine eigene Dynamik, ist also gleichzeitig konstitutiv und gestaltet die Wahrnehmung, das Denken und die Aktionen der Individuen. Diskurse strukturieren das gesamte Handeln der Akteure. Die theoretische Kategorie des Diskurses beinhaltet daher die Identität
zwischen gesellschaftlicher und diskursiver Praxis. Wahrheit und Bedeutung bzw. Bedeutungszusammenhänge werden in einem permanenter Prozess der Bedeutungskonstruktion hergestellt.
2.2. Hegemonie
Bei Laclau wird der Diskursbegriff durch das Konzept der Hegemonie komplementiert. Während mit dem Diskursbegriff die gesellschaftlich verfestigten sozialen Strukturen benannt werden, wird mit dem Hegemoniebegriff
der konflikthafte Prozess gefasst, in dem diese sozialen Strukturen generiert,
verobjektiviert und repolitisiert werden (vgl. Wullweber 2012: 34ff). Hierbei bezeichnet der Hegemoniebegriff nicht einfach die Dominanz einer gesellschaftlichen Gruppe oder eines Staates über andere, wie es in anderen
IB-Theorien (Neorealismus, Hegemonic Stability Theory, Weltsystemtheorie) gängig ist. Vielmehr wird mit dem Begriff auch der konsensuale Charakter von gesellschaftlichen Verhältnissen betont. Der Hegemoniebegriff
von Laclau und Mouffe geht auf Antonio Gramsci zurück (Gramsci 1991).
Gramsci versteht Hegemonie als die Erlangung einer stabilen gesellschaftlichen Situation, in der bestimmte gesellschaftliche Gruppen in der Lage
sind, ihre Interessen in einer Art und Weise zu artikulieren, dass andere gesellschaftlichen Gruppen diese Interessen als ein Allgemeininteresse ansehen. Diese Konzeptualisierung von Hegemonie beinhaltet eine Auffassung
von Macht, die vor allem auf der Fähigkeit beruht, die Herzen und Köpfe
der Menschen zu gewinnen. Eine Hegemonie ist umso stabiler, je mehr sie
nicht nur passiv toleriert, sondern auch aktiv unterstützt wird. Nicht integrierbare Interessen und Identitäten müssen notfalls mit Gewalt unterdrückt
oder ausgeschlossen werden. Jede räumlich-historische Hegemonie „zeich-
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Joscha Wullweber
net sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus“ (Gramsci
1991: 1610).
Stark an Gramsci angelehnt, beinhaltet auch der Hegemoniebegriff bei
Laclau die Fähigkeit der Akteure, ihr partikulares gesellschaftliches Projekt
als ein Projekt der Allgemeinheit – als ein universelles Projekt – darzustellen
(Laclau 2000a: 56). Zugleich soll mit dem Konzept hervorgehoben werden,
dass prinzipiell alle gesellschaftlichen Beziehungen verhandelbar bzw. Resultat gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sind. Die politische Dimension ist demnach konstitutiv für jede gesellschaftliche Beziehung und Identität. Das Politische ist hierbei weder auf einen bestimmten gesellschaftlichen Bereich reduzierbar noch durch eine andere Logik (z.B. eine ökonomische oder kulturelle) determiniert. Alle sozialen Beziehungen haben einen
politischen Ursprung. Stabile und gesellschaftlich akzeptierte Handlungen
und Beziehungen bilden sich heraus, indem über hegemoniale Auseinandersetzungen bestimmte Handlungen und Beziehungen privilegiert – und
tendenziell depolitisiert – und andere unterdrückt werden. Die soziale Struktur einer Gesellschaft entsteht demnach durch Handlungen, deren ursprünglich offener und oft auch umstrittener Charakter in Vergessenheit geriet. Das,
was in einer Gesellschaft als unpolitisch angesehen wird, ist das sedimentierte Soziale, im Sinne eines institutionalisierten Ensembles aus Regeln,
Normen und Werten, die für selbstverständlich gehalten werden, dessen politische Wurzeln also in diesem räumlich-historischen Moment verschleiert
sind (vgl. Laclau 1990b: 34).
Die Differenz zu neogramscianischen IB-Theorien (vgl. z.B. Bieler/Morton 2007; Morton 2007; Ayers 2008; Worth 2011) besteht darin, dass letztere
Gramscis Klassenessentialismus häufig unkritisch übernehmen: Das führt
dazu, dass auf diesen Theorien basierende Analysen vor allem auf globale
Klassenverhältnisse und die Politik der globalen Eliten fokussieren und diesem Machtverhältnis die wichtigste Bedeutung beimessen. Gesellschaftliche Akteure werden bisweilen allein hinsichtlich ihrer Klassenzugehörigkeit
erfasst, die in einigen Fällen (vgl. z.B. Pijl 1984: 4ff; Robinson 2004: 5f) aus
den Formen des Kapitals bzw. der Mehrwertproduktion abgeleitet wird (vgl.
für eine ausführliche Kritik Scherrer 1999: 28ff und Habermann 2008: 62ff).
Zugleich wird die auch von Gramsci benannte Möglichkeit der gesellschaftlichen Konstruktion von sozialer Realität nicht weiter verfolgt (Wullweber
2014). Trotz dieser Differenzen existieren aber hinsichtlich des Hegemoniekonzepts starke Überschneidungen zwischen poststrukturalistischen und
neogramscianischen Hegemonietheorien (Scherrer 2001; Jessop/Sum
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Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
2006a; Dzudzek/Kunze/Wullweber 2012a; vgl. auch Methmann und Herschinger in diesem Band).
2.3. Der leere Signifikant
Oben wurde dargestellt, dass die Möglichkeit zur Erlangung von Hegemonie
von der Fähigkeit der Akteure abhängt, ihr partikulares gesellschaftliches
Projekt als ein universelles Projekt darzustellen. Eine hegemoniale Beziehung ist ein Verhältnis, bei dem ein partikularer Inhalt universalisiert wird.
Diese Universalität wird diskurstheoretisch mit dem Konzept des leeren Signifikanten gefasst (vgl. Laclau 1996b; 1996c; 2005: 69ff). Die Produktion
von leeren Signifikanten ist demnach für die Etablierung einer Hegemonie
ausschlaggebend. Es muss sich hierbei um einen Signifikanten handeln, der
in der Lage ist, das Bedeutungssystem als Ganzes zu benennen. Die Schwierigkeit liegt in der Benennung der Gemeinsamkeit und im Finden eines Signifikanten, der die Repräsentation der Gemeinsamkeiten übernehmen
kann. Auch der Begriff Nanotechnologie musste erst ‚gefunden‘ werden,
wie im Beispiel unten gezeigt wird. Kein Signifikant innerhalb des Systems
selbst kann allerdings diese Funktion übernehmen, denn er würde nur eine
weitere Differenz darstellen: „[N]o production of one more difference can
do the trick“ (1996b: 39; Herv. dort). Die einzige Möglichkeit, das System
zu benennen, besteht in der Subversion des Signifikationsprozesses. Ein Signifikant muss sich von seinem partikularen Inhalt (Signifikat) lösen, seinen
Inhalt gewissermaßen entleeren, um diese Art der universellen Repräsentation zu übernehmen und offen für eine hegemonial artikulierte Auffüllung
zu werden.
Mit dem Begriff des leeren Signifikanten ist nicht verbunden, dass derselbe Signifikant verschiedene Bedeutungen in verschiedenen Sinnzusammenhängen haben kann. Im Gegenteil beinhaltet ein leerer Signifikant die
Konstruktion einer politischen Identität, indem deren Grenzen stabilisiert
werden. Bei einem leeren Signifikanten handelt es sich um einen Signifikanten, der vormals Teil einer Äquivalenzkette war. Eine bestimmte Partikularität einer Äquivalenzkette wird in hegemonialen Auseinandersetzungen durchgesetzt und zu einer Universalität artikuliert, die nun die Rolle des
Bezeichnens des Systems übernimmt. Dieser Signifikant ist gespalten zwischen einer partikularen Identität, die weiterhin Teil der Äquivalenzkette ist,
und der universellen Rolle der Repräsentation – dieser Teil des Signifikanten
steht ‚über‘ der Kette bzw. transzendiert diese. Das hat zur Folge, „that the
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Joscha Wullweber
signifier which is emptied in order to assume the representing function will
always be constitutively inadequate“ (1996b: 40). Er ist ein ‚Hybrid‘ aus
Partikularität und Universalität. Der leere Signifikant kann nicht völlig entleert werden, Reste der Partikularität ‚melden‘ sich zurück. Könnte ein Signifikant komplett leer sein, würde er den Status einer alles umfassenden
Universalität annehmen und hegemoniale Politik, im Sinne einer Konstruktion von Bedeutung, wäre nicht mehr möglich: „‚Total emptiness‘ and ‚total
fullness‘ mean, in fact, exactly the same thing“ (Laclau 2000b: 305). Es gibt
also keine Signifikanten, die wirklich leer sind, sondern nur tendenziell leere
Signifikanten (siehe auch Nonhoff 2001).
Nicht nur der leere Signifikant ist gespalten, die Spaltung überträgt sich
auf alle Momente der Äquivalenzkette, die zum einen ihre Partikularität behalten und als Folge der Einschreibung in die Äquivalenzkette gleichzeitig
universalisiert werden. Je stärker sich die Äquivalenzkette ausweitet, um so
weniger haften die Partikularitäten, wie auch der leere Signifikant, an ihren
vorhergehenden partikularen Bedeutungen. Ein leerer Signifikant wird dann
möglich, wenn die Momente der Kette sich (scheinbar) von ihren Differenzen loslösen, sich ihres differenziellen Charakters entsagen, und Äquivalenz
als Prinzip vorherrschend wird. Allerdings wird die Äquivalenzkette mit
wachsender Größe heterogener und die Äquivalenz zwischen den Momenten
verschwommener. Die Äquivalenzkette und ihr leerer Signifikant als ihr
Denominator bekommen ein ‚Eigenleben‘. Der leere Signifikant ist hierbei
kein passiver Ausdruck der Äquivalenzkette, sondern wirkt durch den Benennungsprozess konstituierend auf die Kette zurück. Schließlich existiert
die Kette nur, da eines ihrer Momente die Rolle des leeren Signifikanten
übernommen hat, der die Äquivalenzkette eint. Die Funktion der Selbstreferenz führt dazu, dass der leere Signifikant die Universalität beschreibt und
zugleich bestimmt, wo die Grenzen des Systems sind und welche Bedeutungen dieses beinhaltet: „In those cases, the name becomes the ground of
the thing“ (Laclau 2005: 100). Es handelt sich um die Unmöglichkeit und
gleichzeitige Notwendigkeit, dass eine partikulare Differenz die Grenze des
Bezeichnungssystems – eine Universalität – benennt: „[...] something which
cannot be conceptually apprehended (which cannot be directly subsumed
under a concept) can still be named. I see naming as an essential component
of... any hegemonic operation“ (Laclau 2004: 312).
Wie am empirischen Beispiel der Nanotechnologie gezeigt werden wird,
hatte auch der Begriff Nanotechnologie, bevor ihm eine universelle Bedeutung zukam, eine sehr spezielle Bedeutung: er stand für die technische Vision
der molekularen Fertigung – also der Möglichkeit, in einem gezielten Pro262
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
duktionsprozess alle gewünschten Produkte Atom für Atom, gewissermaßen
wie Legosteine, zusammenzusetzen und herstellen zu können. Trotz der
heute akzeptierten breiten Bedeutung des Begriffs Nanotechnologie ist diese
spezielle Definition weiterhin präsent und ‚stört‘ dessen universelle Bedeutung. Mit der stetigen Durchsetzung der universellen Bedeutung wirkt der
Begriff zugleich konstituierend auf das Forschungsfeld zurück: „In fact,
when I founded my research group at Hewlett-Packard, we called it ‚Quantum Science Research‘ to avoid any connection with the negative connotations of ‚nanotechnology‘. Eventually, because the word had found such
widespread use in the public, we in the field essentially had to adopt
it“ (Williams, zit. in: Toumey 2005: 22).
Eine poststrukturalistisch gefasste Hegemonie beinhaltet nicht den abstrakten Findungsprozess eines Minimalkonsenses. Die Etablierung einer
hegemonialen Ordnung wird vielmehr mit dem Akt der Repräsentation in
Verbindung gebracht. Dieser Artikulationsprozess stellt den Versuch dar,
die Gesamtheit und Vollkommenheit der Gesellschaft durch leere Signifikanten auszudrücken. Jener entsteht im hegemonialen Benennungsprozess
und wirkt zugleich retroaktiv auf das differenzielle System, indem er es performativ überhaupt erst konstituiert. Aus diesem Grund ist der leere Signifikant nicht einfach nur das Kondensat oder die Abstraktion der Inhalte, die
er repräsentiert, ansonsten gäbe es wenig Spielraum für weitere Signifikanten, sich in dieses System einzuschreiben. Da er aber ‚entleert‘ wurde, folgt,
dass nicht bestimmt werden kann – dass nicht logisch oder dialektisch abgeleitet werden kann -, welche Bedeutungen zusammen mit dem leeren Signifikanten artikuliert werden.
Verschiedene gesellschaftliche Kräfte ringen darum, dass ihre Interessen
als das gesellschaftliche Allgemeininteresse angesehen werden: „Society
generates a whole vocabulary of empty signifiers whose temporary signifieds are the result of a political competition“ (Laclau 1996b: 35). Gesellschaftliche Auseinandersetzungen bestimmen, welche Inhalte in der Lage
sind, die universelle Repräsentation zu übernehmen. Es sind die sozio-historischen Kontexte, es sind die durch vorhergehende hegemoniale Kämpfe
sedimentierten Institutionen und verstetigten Praxen, die selektiv auf die
Möglichkeit der Universalisierung von partikularen Interessen einwirken.
Dementsprechend ist kein Partikularinteresse von sich aus ein allgemeines
Interesse oder Ziel einer Gesellschaft. Nur über die Artikulation verschiedener partikularer Interessen entsteht ein Allgemeininteresse, das sich im
leeren Signifikanten ausdrückt. Es ist genau diese Passage von den partiku-
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Joscha Wullweber
laren Inhalten über die Äquivalenzkette zum leeren Signifikanten, die den
Kern gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um Hegemonie ausmacht.
3. Operationalisierung
In der methodologischen Bewegung vom Abstrakten zum Konkreten und
vom Einfachen zum Komplexen bleibt Laclau bewusst auf einem relativ
hohen Abstraktionsniveau, das zugleich für empirische Untersuchungen zu
unterkomplex ist. Die Ontologie bietet so gut wie kein Analyseraster, kein
analytisches ‚Handwerkszeug‘ für die konkrete empirische Analyse an. Es
fehlt an Operationalisierung – an Theoretisierungen mittlerer Reichweite -,
um mit dieser Ontologie empirisch arbeiten zu können (vgl. Laclau 2004:
323f).
3.1. Hegemoniale Projekte
Oben wurde festgestellt, dass Hegemonie ein bestimmtes Verhältnis von
Partikularität und Universalität benennt: Eine Voraussetzung zur Erlangung
von Hegemonie ist, dass es bestimmten gesellschaftlichen Kräften gelingt,
ihre partikularen Interessen als universelle Interessen zu artikulieren. In dem
partikularen gesellschaftlichen Projekt muss also die Möglichkeit der Universalisierung gegeben sein. Die Erfüllung dieser Bedingung ist notwendig
und gleichzeitig nicht hinreichend zur Etablierung einer Hegemonie. Damit
das hegemoniale Projekt auch zu einer hegemonialen sozialen Struktur wird
– hierfür wird unten der Begriff der Diskursorganisation eingeführt – müssen
sich konkrete Akteure diesem hegemonialen Projekt anschließen und ihre
Handlungen, zumindest in der Tendenz, danach ausrichten. Eine weitere
Bedingung ist also, dass eine Vielzahl von Akteuren und gesellschaftlichen
Kräften diese, ihnen durch das hegemoniale Projekt angebotenen Subjektpositionen auch annehmen bzw. auf ihre Weise ausfüllen. Es soll nun spezifiziert werden, um was es sich bei einem hegemonialen Projekt konkret
handelt und wie der Übergang von einem hegemonialen Projekt zu einer
hegemonialen Diskursorganisation verstanden werden kann.
Von hegemonialen Projekten wird erstens dann gesprochen, wenn bestimmte hegemoniale Artikulationen auf Dauer gestellt werden, es sich also
nicht um einen singulären Akt der Artikulation handelt, sondern es über
einen gewissen Zeitraum zur ständigen Wiederholung dieser Artikulation
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Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
kommt, denn „Wiederholung [gehört] zur Struktur jeder hegemonialen Operation“ (Laclau 1998: 259). Hegemoniale Artikulationen wiederum beinhalten, partikulare Interessen so zu formulieren, als ob diese allgemeine gesellschaftliche Interessen wären. Zweitens soll in diesem Beitrag dann von
hegemonialen Projekten gesprochen werden, wenn diese nicht im Widerspruch zur hegemonialen räumlich und temporär fixierten politischen Ordnung spezifischer Gesellschaften stehen (sonst wären es gegenhegemoniale
Projekte). Schließlich handelt es sich drittens um hegemoniale Projekte,
wenn diese von gesellschaftlichen Kräften getragen werden, denen eine gewisse Relevanz zugesprochen werden kann.
Wie können universelle gesellschaftliche Interessen konkreter gefasst
werden, auf die sich hegemoniale Projekte notwendigerweise beziehen?
Erstens ist kein Partikularinteresse von sich aus ein allgemeines Interesse
oder Ziel einer Gesellschaft. Vielmehr markiert eine Universalität, wie bereits erwähnt, einen leeren Ort. Das gesellschaftliche Allgemeininteresse, ist
also zweitens ein imaginäres Allgemeininteresse. Da es sich um ein imaginäres Allgemeininteresse handelt, kann dieses drittens auch nicht durch eine
konkrete Gesellschaft erreicht werden, auch wenn eine Gesellschaft, um sich
überhaupt als Gemeinschaft zu verstehen, nach diesem imaginären Allgemeininteresse strebt (Laclau 2000c: 196ff). Doch auch wenn das Allgemeininteresse stets im Kommen ist (vgl. Derrida 1999: 184) und nicht vollständig realisiert werden kann, ist es möglich, dieses durch verschiedene
Artikulationen zu symbolisieren. Wenn es sich bei dem Allgemeininteresse
also um ein imaginäres Allgemeininteresse handelt, bedeutet das viertens
auch, dass nur über die Artikulation verschiedener partikularer Interessen
ein Allgemeininteresse zustande kommt. Hegemoniale Projekte beziehen
sich demzufolge auf ein oder verschiedene Allgemeininteressen, die sie im
Prozess der Artikulation wiederum definieren und potenziell verformen.
Andersherum formuliert: Nur weil die Universalität einen leeren Ort darstellt, kann diese durch hegemoniale Auseinandersetzungen gefüllt werden.
Weiterhin muss fünftens nochmals betont werden, dass es sich bei einem
Allgemeininteresse um ein spezifisches Interesse handelt: Es gilt nur für eine
bestimmte Zeit innerhalb eines konkreten Raums für eine spezifische (religiöse, patriarchale, sozio-ökonomische, kulturelle, demokratische etc.) Gemeinschaft.
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Joscha Wullweber
3.2. Hegemonie als Diskursorganisation
Auf den bisherigen Überlegungen aufbauend kann nun die Theorie von Laclau weiterentwickelt werden und eine konkretere Definition von Hegemonie entworfen werden (vgl. ausführlich Wullweber 2010: 107ff). Erstens
umfasst eine Hegemonie nur einen umgrenzten gesellschaftlichen Bereich.
Allgemein von einer Hegemonie eines Staates innerhalb der internationalen
Staatengemeinschaft zu sprechen ist nicht nur analytisch unscharf, sondern
auch nach der hier ausgearbeiteten Hegemonietheorie nicht möglich. Vielmehr muss die Form, die Reichweite und der zeitliche Rahmen einer Hegemonie spezifiziert und konkretisiert werden (vgl. dazu auch Methmann in
diesem Band).
Zweitens ist es eine (imaginäre) Universalität, die hegemonial wird (und
sich in einem leeren Signifikanten ausdrückt). Akteure können zwar ein hegemoniales Projekt forcieren und darauf achten, ihre Interessen in dieses
Projekt privilegiert einzuschreiben. Es sind aber keine konkreten Personen,
die hegemonial sind. Es wird daher die in IB-Theorien (von Neorealismus
bis Neogramscianismus) vorherrschende Konzeptualisierung von Hegemonie in dem Sinne kritisiert, als dass eine Hegemonie mit bestimmten Akteuren verbunden sein kann aber nicht muss und dass vor allem nicht eine bestimmte Person, eine politische Gruppierung, eine Klasse oder ein Staat hegemonial ist.5 Hegemonial ist vielmehr ein bestimmter Alltagsverstand, eine
Regulationsform der Gesellschaft, ein gesellschaftliches Verhältnis oder
5 Das Problem besteht auch, wenn eine Klasse nicht im emphatischen Sinne, sondern
beispielsweise als Trägerin einer bestimmten Struktur, verstanden wird. Denn erstens
beinhaltet eine Hegemonie nach den hier vorgetragenen Überlegungen nicht, dass
eine bestimmte Klasse die hegemoniale Struktur trägt, sondern zumindest eine Vielzahl der Individuen einer Gesellschaft diese Struktur aufrechterhalten müssen (ansonsten handelt es sich z.B. um eine Diktatur). Zweitens ist es sicherlich richtig, dass
bestimmte Akteure stärker von einer bestimmen Organisation der Diskurse profitieren
als andere. Diese Akteure deswegen als hegemoniale Akteure zu bezeichnen, ist aber
missverständlich, da suggeriert wird, dass aus der privilegierten Stellung in einer Hegemonie die Hegemonie der Akteure selbst abgeleitet werden könnte. Theoretisch
interessant ist der sehr spezielle Fall, in dem eine bestimmte Person (oder auch eine
Gruppe) – qua Identität – ein hegemoniales Projekt oder eine Hegemonie zusammenhält (z.B. Perón, Chávez, Subcomandante Marcos u.a.). Allerdings ist auch hier nicht
die Person als solche hegemonial, sondern der Diskurs, der um diese Person herum
artikuliert wird. Ein solcher Fall wird anschaulich durch die Parole „Todos somos
Marcos“ („Wir sind alle Marcos“) in Mexiko verdeutlicht (vgl. auch die Ausführungen
in Laclau 2005: 3ff).
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Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
ganz allgemein: eine räumlich und historisch spezifische Diskursorganisation. Der Begriff des Alltagsverstands geht auf Gramsci zurück, der mit ihm
die „von den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Milieus aufgenommene Weltauffassung“ (Gramsci 1991: 1393) bezeichnete. Hierbei
ist der Alltagsverstand „keine einheitliche, in Raum und Zeit identische
Auffassung“ (ebd.: 1393f). Es handelt sich vielmehr um die subjektiv spezifische Erfahrungs- und Wahrnehmungsform dessen, was in der Vorstellung der jeweiligen Person immer wieder passiert und daher ihren Alltag –
ihre Normalitätsvorstellung und Normalitätserwartung – ausmacht. Im Alltagsverstand, der sich aus dem Alltagswissen und den Alltagspraxen zusammensetzt, drückt sich also ein bestimmtes Verständnis von sinnstiftender
Normalität und Routine aus. Sicherlich kann und wird diese Diskursorganisation vor allem die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen
ausdrücken und abdecken. Die Diskursorganisation ist aber nicht mit den
Akteuren eines hegemonialen Projektes deckungsgleich, geschweige denn
identisch.
Drittens beruht eine Hegemonie auf der Undenkbarmachung von Alternativen und beinhaltet Zwangselemente. Diese Alternativen können jedoch
nicht vollständig ausgelöscht werden. Partikulare Reste der Alternativen zu
dieser Hegemonie bleiben bestehen. So gibt es beispielsweise trotz der globalen Hegemonie einer profitorientierten Wirtschaftsweise weiterhin das
Wissen um alternative Formen des Wirtschaftens. Eine Hegemonie ist folglich keine totale, sondern nur eine tendenziell umfassende Hegemonie.
Dementsprechend ist auch potenziell das Wissen um die Spezifität des gesellschaftlichen Allgemeininteresses und damit das Wissen um Alternativen
vorhanden und kann zu gegebener Zeit reaktiviert werden. Eine Hegemonie
ist viertens also mit größter Wahrscheinlichkeit eine zeitlich befristete Hegemonie, auch wenn bestimmte Formen von Diskursorganisation durchaus
über einen längeren Zeitraum Bestand haben können.
Mit dem Begriff der (hegemonialen) Diskursorganisation soll im Folgenden eine spezifisch sedimentierte und infolgedessen über einen gewissen
Zeithorizont und innerhalb eines bestimmten sozio-politischen Raums stabilisierte soziale Verfasstheit und Strukturiertheit von Gesellschaft benannt
werden. Somit wird der Begriff ähnlich wie Gramscis Begriff des historischen Blocks verwendet (vgl. Gramsci 1991: 1045). Der Begriff der Diskursorganisation wird allerdings aus verschiedenen Gründen bevorzugt:
Erstens soll die Benennung des Diskurses bzw. des Diskursiven das Augenmerk auf die diskursive Verfasstheit von Gesellschaft bzw. des Sozialen
legen. Hierdurch soll dem bereits ausgeführten Umstand entsprochen wer267
Joscha Wullweber
den, dass es gerade nicht Akteure sind, die hegemonial werden, sondern
bestimmte Diskurse bzw. eine bestimmte Organisiertheit von Diskursen.
Laclau verwendet aus diesem Grund den Begriff der Diskursformation Laclau 2000b: 284; vgl. auch Laclau/Mouffe 1985: 105). Der Begriff der Diskursorganisation hat, im Gegensatz zu dem der Diskursformation, jedoch
zweitens den Vorteil, dass sich im Begriff der ‚Organisation‘ gleichermaßen
Struktur- und Handlungsaspekte ausdrücken. Denn der Begriff der Organisation benennt zum einen die Strukturierung und Verstetigung von Diskurselementen zu spezifischen hegemonialen Relationen – also die Anordnung
dieser Elemente zueinander. Zum anderen betont der Begriff der Organisation auch das Prozesshafte – die Praxis des Organisierens – und richtet das
Augenmerk darauf, dass eine soziale Struktur von Gesellschaft nur aus dem
Grund existiert, weil sie jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick von den
Akteuren dieser Gesellschaft reartikuliert wird (vgl. auch Butler 1997: 19).
Drittens artikulierte Gramsci mit dem Begriff des historischen Blocks ein
ganz spezifisches Verhältnis von Staat, Ökonomie und Zivilgesellschaft
(vgl. Gramsci 1991: 1045). Der Begriff der Diskursorganisation kann auch
für ein solches Artikulationsverhältnis verwendet werden, ist aber gleichzeitig umfassender, indem er auch andere hegemoniale Formen der Organisation von Diskursen erfasst, die nicht unbedingt diese drei Bereiche in
Verbindung setzen. Ein historischer Block ist somit eine mögliche Form der
Diskursorganisation.
Eine räumlich und historisch spezifische Diskursorganisation ist kein zufälliges Gebilde. Die soziale Verfasstheit einer Gesellschaft hat sich vielmehr in einem konflikthaften und häufig auch gewaltförmigen Prozess historisch herausgebildet. Eine Analyse der Diskursorganisation einer Gesellschaft gibt folglich Aufschluss über die historische Verteilung der Kräfteverhältnisse dieser Gesellschaft, also derjenigen Artikulationen und Projekte, die sich historisch hegemonial durchgesetzt haben. Da die Kräfteverhältnisse in die soziale Matrix der Gesellschaft eingeschrieben wurden, sind
diese nicht ohne weiteres reaktivier- und veränderbar. Die sedimentierten
Kräfteverhältnisse haben in einer hegemonialen Diskursorganisation also
eine gewisse Festigkeit, im Sinne von Dauerhaftigkeit, erlangt. Das bedeutet
zugleich, dass nicht von einer neutralen sozialen Struktur einer Gesellschaft
ausgegangen werden kann. Die hegemoniale Diskursorganisation ist also
nicht nur das kontingente Resultat historischer Kräfteverhältnisse. Diese
Kräfteverhältnisse wirken dadurch, dass sie in die soziale Struktur, in die
Institutionen und täglichen Praktiken der Akteure dieser Gesellschaft eingeschrieben wurden, strukturierend auf die Möglichkeiten der Artikulation
268
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
neuer Relationen und damit auch auf die Gestaltung des Wahrheitshorizonts
einer Gesellschaft ein. Eine spezifische Diskursorganisation ist also nicht
nur Ausdruck der historischen Kräfteverhältnisse einer Gesellschaft, sondern wirkt retroaktiv und performativ auf die Konstituierung dieser Gesellschaft ein. Eine spezifische Gesellschaft konstituiert sich überhaupt erst über
hegemoniale Auseinandersetzungen, die sich in der jeweiligen Organisation
der Diskurse ausdrücken und die wiederum das Handeln der Akteure strukturieren. Mit dem Begriff der Diskursorganisation wird hier folglich zum
einen die hegemoniale Strukturierung und Verstetigung von Diskurselementen benannt. Zum anderen wird mit ihm auch das Prozesshafte – die
intentionale Praxis des Organisierens betont. Es geht dementsprechend nicht
darum, Hegemonie vom Intentionalen zu befreien. Vielmehr soll im Gegenteil das Intentionale hervorgehoben und damit das Politische in jeder
Form von gesellschaftlicher Organisierung unterstrichen werden, ohne die
Kontingenz dieser Prozesse zu vernachlässigen.
Schließlich ist eine spezifische Diskursorganisation, verstanden als hegemonial organisierter Diskursraum, nur bis zu einem gewissen Grad kohärent:
„[T]here are typically many irrelevant, residual, marginal, secondary and
even potentially contradictory elements; and even the unity of the more central elements typically involves gaps, redundancies, tensions and contradictions“ (Jessop/Sum 2006b: 312). Eine vollständige hegemoniale Strukturierung ist nicht möglich, da hegemoniale Artikulationen darin scheitern,
den Diskursraum vollständig zu strukturieren – eine soziale Ordnung ist
demnach nur eine partielle Begrenzung von Unordnung: „There is a temporalization of spaces or a widening of a field of the possible, but this takes
place in a determinate situation: that is, one in which there is always a relative
structuration“ (Laclau 1990b: 43). Bedeutungen sind potenziell überdeterminiert, ihnen ist die Möglichkeit der Artikulation innerhalb eines konkurrierenden Kontextes inhärent.
3.3. Bedingungen zur Etablierung hegemonialer Projekte
Ein hegemoniales Projekt muss, um zu einer Hegemonie bzw. einer hegemonialen Diskursorganisation zu werden, in einer solchen Art und Weise in
Verbindung mit dem imaginären gesellschaftlichen Allgemeininteresse artikuliert werden, dass eine Vielzahl von Akteuren und relevanten Kräften
davon ausgeht, dass die Realisierung des hegemonialen Projektes zur Erlangung des Allgemeininteresses unerlässlich ist, und konkrete von dem he269
Joscha Wullweber
gemonialen Projekt angebotene Subjektpositionen – zumindest in der Tendenz – ausfüllen und entsprechend ihre Handlungen ausrichten. Eine Hegemonie bietet daher eine Vielzahl von Subjektpositionen und damit die Möglichkeit der Einschreibung in eine diskursive Oberfläche einer spezifischen
Diskursorganisation an, die von den Menschen auch tatsächlich eingenommen werden. Das ‚Füllen‘ der Subjektposition ist allerdings kein passiver
Vorgang, sondern ein höchst aktiver Akt. Erst die spezifische Reartikulation
bestimmter Handlungen und Wahrheiten lässt diese hegemonial werden.
Auch werden diese nicht einfach kopiert. Die Subjektpositionen werden
vielmehr in einem iterativen Prozess auch ein Stück weit verändert. Da das
Allgemeininteresse ein imaginäres Allgemeininteresse ist, sind schließlich
auch die in ihr angebotenen Subjektpositionen imaginär: Eine vollständige
Einnahme misslingt, die gesellschaftlichen Idealbilder (z.B. von der leistungsfähigen, erfolgreichen, flexiblen und gleichzeitig fürsorglichen, liebevollen und ständig präsenten Mutter) einer bestimmten hegemonialen Diskursorganisation sind unerreichbare Ideale (vgl. hier und für die folgenden
Abschnitte Wullweber 2010: 150ff).
Zur Symbolisierung des Allgemeininteresses bedarf es eines leeren Signifikanten. Dieser stellt gewissermaßen den Kern jedes hegemonialen Projektes dar. Die Produktion und Konstruktion von leeren Signifikanten ist für
die Etablierung einer Hegemonie daher ausschlaggebend. Empirisch ist also
zu untersuchen, ob das hegemoniale Projekt einen leeren Signifikanten besitzt oder zumindest das Potenzial zur Entwicklung eines solchen gegeben
ist. Die Existenz bzw. die Artikulation eines leeren Signifikanten ist also
eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung zur Etablierung
eines hegemonialen Projektes. Als weitere Bedingung kann benannt werden,
dass das hegemoniale Projekt im Allgemeinen und der leere Signifikant im
Speziellen eine positive Bedeutung besitzen muss. Das beinhaltet, dass eine
Vielzahl von Relationen zum imaginären gesellschaftlichen Allgemeinwohl
geschaffen werden müssen. Denn leere Signifikanten sind keineswegs per
se mit positiven Assoziationen besetzt. Im Gegenteil: Ein leerer Signifikant
kann auch eine (vermeintlich) universelle Bedrohung ausdrücken. Für die
ProtagonistInnen eines hegemonialen Projektes gilt es also, die Relationen
zum imaginären Allgemeininteresse zu stärken und auszubauen und eine
positive Bedeutung des leeren Signifikanten hegemonial durchzusetzen. Pa-
270
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
rallel dazu gilt es, Alternativen zum hegemonialen Projekt undenkbar zu
machen, sodass dieses als alternativlos angesehen wird.6
Als dritte notwendige Bedingung zur Etablierung eines hegemonialen
Projektes kann weiterhin angeführt werden, dass das hegemoniale Projekt
gesellschaftliche Wirkungsmächtigkeit entfalten muss, weswegen der gesamtgesellschaftliche Kontext zur Bewertung der Bedeutung eines hegemonialen Projektes bedeutend ist. Hierfür bedarf es gesellschaftlicher Kräfte, die das Projekt protegieren und forcieren und denen es gelingt, gesellschaftliche Relevanz zu erzeugen. Sicherlich spielen hier Kriterien wie finanzielle Mittel, rhetorische Fähigkeiten, Organisiertheit etc. sowie die Fähigkeit von Akteuren, innerhalb der Diskursorganisation optimal zu agieren,
eine Rolle. Doch die Kriterien zur Erzeugung von Relevanz variieren stark
und können daher nicht erschöpfend aufgezählt werden. Diese notwendigen
Bedingungen machen die Etablierung eines Projektes wahrscheinlicher,
stellen insgesamt jedoch noch keine hinreichenden Bedingungen dafür dar,
dass es tatsächlich auch zur gesellschaftlichen Durchsetzung des hegemonialen Projektes kommt. Diese hinreichende Bedingung existiert allerdings
auch nicht:
„Daß etwas eintreten könnte, ist nicht ausreichend dafür, daß es auch eintritt.
Und so unerläßlich eine Analyse von Möglichkeitsbedingungen... auch immer
bleibt – über das Ereignis selbst wird sie uns nie das Geringste verraten. [...]
Was sich ereignet und also nur ein einziges, ein erstes und letztes Mal stattfindet,
ist stets mehr und stets etwas anderes als seine Möglichkeit“ (Derrida 2000: 41,
Herv. dort).
Auch wenn also einer hinreichend genauen Beschreibung der Erfolgsbedingungen eines hegemonialen Projektes eine Absage erteilt wird, sind zumindest analytische Kriterien benannt, die eine Untersuchung hegemonialer
Projekte unterstützen und anleiten können.
3.4. Durchsetzungsgrad hegemonialer Projekte/ Dimensionen
gesellschaftlicher Hegemonie
In einem weiteren Schritt soll nun ausgeführt werden, wie auf der analytischen Ebene der Grad der Durchsetzung eines hegemonialen Projektes be-
6 Auf die Bedeutung des Antagonismus-Konzepts für die politische Analyse kann an
dieser Stelle nicht eingegangen werden (siehe Wullweber 2012: 42ff sowie die Beiträge von Bruell, Herschinger, Methmann und Renner in diesem Band).
271
Joscha Wullweber
stimmt werden kann. Hierfür werden unten vier verschiedene Vektoren (im
Sinne analytischer Gradmesser) der Hegemonie operationalisiert, die dann
im folgenden empirischen Teil angewendet werden. Es handelt sich hierbei
um die Frage nach der hegemonialen Stellung eines Projektes im internationalen Kontext. Als erstes ist der allgemeine Grad an Zustimmung zum
hegemonialen Projekt von Interesse. Auch wenn demoskopische Umfragen
zur Analyse einer Hegemonie beitragen können, kann der Durchsetzungsgrad eines hegemonialen Projektes nicht allein an der Anzahl der Individuen
gemessen werden, die diesem Projekt zustimmen, wohlgesonnen oder zumindest nicht ablehnend gegenüberstehen. Die Zustimmung zu einem Projekt kann über Demoskopie bis zu einem gewissen Grad quantitativ, jedoch
nicht qualitativ bestimmt werden. So gibt es in jeder Gesellschaft Akteure,
deren Artikulationen größere Relevanz haben. Auch sollte versucht werden
zu berücksichtigen, wie stark die passive Zustimmung durch ein Gefühl von
Alternativlosigkeit vorherrscht.
In einem weiteren Schritt gilt es, danach zu fragen, inwieweit Alternativen
zum hegemonialen Projekt bereits undenkbar gemacht werden konnten bzw.
umgekehrt: wie sehr aus einem partikularen politischen Projekt ein universelles hegemoniales Projekt geworden, das als gesellschaftliches Allgemeininteresse akzeptiert wird. Hier ist sicherlich von Interesse, wie kongruent sich das hegemoniale Projekt in die bestehende Diskursorganisation einfügt oder, etwas spezifischer, inwiefern sich das hegemoniale Projekt mit
bestimmte Diskurse innerhalb der hegemonialen Diskursorganisation resoniert und dadurch bestärkt und unterstützt wird. Allerdings ist es auch hier
wichtig, die gegenseitige Konstitution von hegemonialem Projekt und Diskursorganisation zu berücksichtigen. Hierbei kann es unter Umständen hilfreich sein, komplementäre Diskurse zu untersuchen, die als Unterstützungsbzw. Zwangselemente wirken und so die Notwendigkeit des hegemonialen
Projektes verstärken (so wird der Nanotechnologie-Diskurs z.B. durch den
Diskurs eines internationalen Hightech-Wettbewerbs um Marktanteile und
den Diskurs einer wissensbasierten Ökonomie bestärkt, vgl. unten; Wullweber 2010: 220ff).
Drittens gilt es, die Form der Hegemonie näher zu bestimmen. Hierfür
kann – wie oben dargestellt – analytisch zwischen zwei Vektoren innerhalb
einer Hegemonie unterschieden werden, die Gramsci mit den Bezugsgrößen
Transformismus und expansive Hegemonie benannt hat (vgl. Gramsci 1971:
55ff; 106ff; 129ff). Erstere beschreibt eine Form der Hegemonie, in der in
der Tendenz relevante gesellschaftliche Kräfte in das hegemoniale Projekt
integriert werden konnten und es dadurch möglich ist, dieses auch ohne Zu272
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
stimmung weiter Teile der Bevölkerung durchzusetzen. In der Bevölkerung
herrscht dann ein weitgehend passiver Konsens vor. Die konkurrierenden
gesellschaftlichen Kräfte werden nicht überzeugt, sondern politisch geschwächt. Bei der expansiven Hegemonie hingegen gelingt es, das hegemoniale Projekt so zu kontextualisieren, dass dieses tendenziell von der
breiten Masse der Bevölkerung als wünschenswert angesehen wird und ein
aktiver Konsens vorliegt. Eine solche Hegemonie basiert auf aktiver Zustimmung, ist daher umfassend und expansiv hegemonial. Eine Situation des
Transformismus ist instabiler als eine expansive Hegemonie und hat einen
größeren Anteil an Zwangselementen. Unter bestimmten Voraussetzungen
kann sie aber Bestand haben, z.B. wenn das Thema von der breiten Bevölkerung nicht wahrgenommen wird oder wenn es nicht als bedeutungsvoll
erkannt wird, wenn also eine gewisse Gleichgültigkeit vorherrscht. Beide
Formen der Hegemonie dürfen allerdings nicht als fixierte Zustände verstanden werden, sondern stellen analytische Vektoren dar, die Tendenzen
innerhalb einer ‚vibrierenden‘ und ‚oszillierenden‘ Hegemonie ausdrücken.
Viertens ist es wichtig, das zeitliche und räumliche internationale Feld zu
bestimmen, in dem das hegemoniale Projekt untersucht wird und in dem es
um Hegemonie ringt. Denn es wurde bereits betont, dass eine Hegemonie
nur einen umgrenzten Bereich erfasst und die Reichweite und der zeitliche
Rahmen einer Hegemonie spezifiziert und konkretisiert werden müssen. Als
räumlich-analytische Größe muss keinesfalls immer die internationale Staatengemeinschaft genommen werden. Das vielleicht größte Problem der Bewertung und Einschätzung einer Hegemonie bzw. des Durchsetzungsgrads
eines hegemonialen Projektes ist die Frage, inwieweit ein bestimmter Alltagsverstand oder ein gesellschaftliches Verhältnis hegemonial geworden
ist. Der Durchsetzungsgrad eines hegemonialen Projektes ist umso schwieriger zu erfassen bzw. überhaupt zu erkennen, je umfassender es bereits hegemonial geworden ist. Denn je stärker sich eine Hegemonie in den Alltagsverstand ‚vergraben‘ hat, umso schwieriger ist es, die politischen Wurzeln und damit die vormals gesellschaftliche Umkämpftheit bestimmter Beziehungen zu erkennen. Um den Sedimentationsgrad einer Hegemonie spezifizieren zu können, wird hier zwischen einer konzentrierten und einer diffundierten Hegemonie unterschieden. Demnach sind bei der konzentrierten
Hegemonie die Akteursgruppen, die direkt von der hegemonialen Diskursorganisation profitieren, und bestimmte Interessen in der Tendenz offensichtlicher als bei der diffundierten Hegemonie. Bei Letzterer sind die eingebetteten Interessen verschwommener, diffundierter – verstanden im Sinne
von zerstreuter – und tiefer eingedrungen in und verschmolzen mit der he273
Joscha Wullweber
gemonialen Matrix. Diese bislang sehr theoretischen Überlegungen sollen
durch die empirische Anwendung verdeutlicht werden.
4. Empirie: Innovations- und Nanotechnologiepolitik
Im Folgenden soll der oben beschriebene Analyserahmen beispielhaft auf
die Innovations- und Technologiepolitik der Industriestaaten mit Fokus auf
die Nanotechnologiepolitik im Zeitraum von 2000 bis 2010 angewandt werden.7 Basierend auf einer retroduktiv-qualitativen Methodologie (vgl. Glynos/Howarth 2007) wurden sechzehn ExpertInneninterviews und ein umfangreicher Dokumentenkorpus ausgewertet, inkl. z.B. Marktstudien, Pressemitteilungen, Jahresberichte und Webseiten von Ministerien, Unternehmen, Versicherungen und nichtregierungs- und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dazu kamen Gesetzestexte, Parlamentsreden, Hearings vor
dem U.S. Kongress sowie u.a. Online-Zeitschriften, Diskussionsforen, natur- und wirtschaftswissenschaftliche Fachjournale und spezifische WebBlogs wie z.B. Howard Lovy‘s NanoBot, nanopublic.blogspo und nanohype.blogspot.com.
4.1. Nanotechnologie als hegemoniales Projekt
Zur Beantwortung der Frage, ob das Nanotechnologie-Projekt ein hegemoniales Projekt ist, gilt es, die oben genannten vier allgemeinen Kriterien zu
untersuchen: Erstens besteht ein hegemoniales Projekt aus einer Anzahl
mehr oder weniger kongruenter und über einen gewissen Zeitraum beständig
wiederholter hegemonialer Artikulationen, die über einen leeren Signifikanten zusammengehalten werden. Zweitens bedarf es bestimmter gesellschaftlicher Kräfte, die das hegemoniale Projekt unterstützen und bestärken.
Drittens muss es gelingen, eine Verbindung mit dem imaginären Allgemeininteresse auf eine solche Art und Weise zu artikulieren, dass eine Vielzahl von Akteuren die Realisierung des hegemonialen Projektes als unerlässlich zur Erlangung des Allgemeininteresses ansehen und dementsprechend ihre Handlungen ausrichten. Und viertens wurde betont, dass es bestimmte partikulare Interessen von spezifischen Akteuren geben muss, die
7 Für eine detaillierte empirische Analyse inkl. umfangreicher Quellennachweise vgl.
Wullweber 2010: 155ff.
274
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
gesellschaftlich universalisiert und verstetigt werden sollen. Diese vier Kriterien werden im Folgenden überprüft.
4.2. Nanotechnologie als leerer Signifikant
Den entscheidenden Schub erhält das Nanotechnologie-Projekt mit der USamerikanischen National Nanotechnology Initiative (NNI), die als groß angelegte Forschungs-und Entwicklungsinitiative (F&E-Initiative) den Begriff Nanotechnologie prominent im Namen trägt. Die NNI gibt den eigentlichen Startschuss für die politische Konstruktion eines Forschungsfeld unter dem Namen Nanotechnologie. Mehr noch: Es ist überhaupt erst die NNI,
die den partikularen Signifikanten zu einem tendenziell leeren Signifikanten
macht. Unter Nanotechnologie werden alle F&E-Bereiche gefasst, die in
irgendeiner Weise mit der molekularen Dimension (Nanodimension) zusammenhängen, wie Nanomaterialien, Nanoelektronik, Nanobiotechnologie (inklusive Nanofood), Nanomedizin und -kosmetik und Anwendungen
in den Informations- und Kommunikationstechnologien. Während die einen
mit Nanotechnologie die kontrollierte Manipulation von Atomen und Molekülen benennen, sehen andere zum Beispiel die neuen funktionalen Eigenschaften von Produkten als bedeutend an.
In zentralen Publikationen der NNI (National Science and Technology
Council et al. 1999; NNI 2000; Roco/Bainbridge 2001) wird der Signifikant
Nanotechnologie auf solche Art und Weise artikuliert wurde, dass ihm das
semantische Potential zur Symbolisierung des imaginären Allgemeininteresses zukommt: „National Nanotechnology Initiative – Leading to the Next
Industrial Revolution“ (NNI 2000: 19). Der Titel der Broschüre von 1999
(National Science and Technology Council et al. 1999) geht in der Zielformulierung noch einen Schritt weiter: „Nanotechnology: Shaping the World,
Atom by Atom.“ Die Technologie, von der hier gesprochen wird, soll allumfassend sein, „leading to unprecedented understanding and control over
the fundamental building blocks of all physical things. This is likely to
change the way almost everything [...] is designed and made“ (ebd.: 1). Wenn
diese Technologie entwickelt wird, so die Botschaft, ist die letzte technologische Hürde überwunden: „Nanotechnology is the builder's final frontier”
(ebd.); „Nanotechnology [...] focuses on perhaps the final engineering scales
people have yet to master“ (ebd.: 4). Das Leben aller Menschen wird sich
verändern. Nichts wird mehr so sein, wie es vorher war: „If present trends
in nanoscience and nanotechnology continue, most aspects of everyday life
275
Joscha Wullweber
are subject to change“ (ebd.: 8; ähnlich Roco/ Bainbridge 2001: 1). Es gilt
also in diese Technologie zu investieren: „Whoever becomes most knowledgeable and skilled on these nanoscopic scales probably will find themselves well positioned in the ever more technologically-based and globalized
economy of the 21st century“ (National Science and Technology Council et
al. 1999: 2). Die technologische Zukunft der Nationen entscheidet sich hiernach im Bereich der Nanotechnologie.
In diesen und darauf folgenden Publikationen der NNI wird also eine
Äquivalenz zwischen technologischem Fortschritt, Wohlstand, Sicherheit,
Gesundheit und Nachhaltigkeit hergestellt und anhand von Beispielen konkretisiert. Gleichzeitig wird technologischer Fortschritt bzw. technologische
Innovation mit Nanotechnologie äquivalent gesetzt. In den Publikationen
werden also bestimmte Inhalte in eine Bedeutungskette gestellt. Da bereits
erläutert wurde, dass kein Signifikant von sich aus eine fixierte Bedeutung
trägt, sondern Bedeutung erst in der Relation generiert wird, werden in einer
Äquivalenzkette keine logischen Bedeutungsketten geknüpft. Das erfolgreiche Knüpfen von Bedeutungsketten ist vielmehr ein Akt strategischer
Artikulation.
Nun stellt sich die Frage, wie das Äquivalente zwischen diesen Momenten
erzeugt wird. Der Inhalt des Äquivalenten kann nicht auf etwas Positivem
beruhen, denn andernfalls würde durch diesen Inhalt der Kette etwas ausgedrückt, was diese Momente der Kette an und sich schon wären. Diese
Möglichkeit wurde bereits diskurstheoretisch verneint. Die einzige Gemeinsamkeit der Inhalte der Äquivalenzkette ist der Bezug auf etwas, das sie nicht
sind. Das heißt, alle Signifikanten der Kette deuten auf einen Mangel (Antagonismus), den sie beseitigen wollen, z.B. ein Mangel an medizinischer
Versorgung, ein Mangel an den Möglichkeiten zur Bekämpfung von Krankheiten, ein Mangel an sauberem Trinkwasser, die mangelnde Sicherheit der
Bevölkerung, die Unzulänglichkeiten alternativer Energiegewinnung und
Speicherung etc. Das Gemeinsame der Signifikanten in dieser Äquivalenzkette ist also eine leere Gemeinsamkeit. Es besteht darin, dass alle Glieder
der Kette auf eine nicht anwesende Universalität verweisen. Mit dieser Universalität wird der Mangel, den es zu überwinden gilt, positiviert – er erhält
eine positive Präsenz.
Die Universalität, die die Kette und deren Bedeutung eint, kann wiederum
nicht aus sich heraus eine Universalität sein. Erst über verschiedene Artikulationen wird es möglich, einen Signifikanten, der vormals selbst Teil der
Äquivalenzkette war, zu einer Universalität zu artikulieren. Der Signifikant
Nanotechnologie als solcher trägt nichts in sich, das ihn zum privilegierten
276
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
Signifikanten machen würde. Empirisch zeigt sich, dass es durchaus konkurrierende Signifikanten gegeben hat. So kursierten die Begriffe „Micronics“, „microscience“, „Ultrafine particle engineering“, „Quantum Science
Research“, „Atomtechnology“, „Nanophase Materials“ oder auch „mesoscale engineering“ und auch „applied mesoscale materials science“ (Wullweber 2010: 164). Ferner war die Nanotechnologie nicht von Anfang an ein
leerer Signifikant. Denn Eric Drexler, der bereits im Jahr 1986 das Buch
Engines of Creation geschrieben und maßgeblich die Namensgebung der
NNI inspiriert hatte (Coenen 2003: 6; Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik 2007: 18), artikulierte den Signifikanten Nanotechnologie als eine partikulare Technologie der molekularen Fertigung (vgl. Drexler
1986; Drexler et al. 1991). Doch in den 1990er Jahren wurde der Begriff in
anderen Kontexten mit erweiterter Bedeutung verwendet und spätestens seit
dem Start der NNI im Jahr 2000 war die drexlerianische Zuschreibung kaum
mehr präsent. Schließlich wurde Drexler sogar aus dem Diskurs ausgeschlossen, da er immer wieder auf die Partikularität der Nanotechnologie –
seine Definition –und auch auf (recht utopische) Horrorszenarien winziger
Nanoroboter hinwies, die das gesamte Leben auf der Erde vernichten könnten (vgl. ausführlich Wullweber 2010: 263ff). So schreibt Richard Smalley,
Initiator und Mitorganisator der National Nanotechnology Initiative: „[...]
these nanobots are both enabling fantasy and dark nightmare in the popularized conception of nanotechnology. [...] We should not let this fuzzyminded nightmare dream scare us away from nanotechnology. Nanobots are
not real. [...] The NNI should go forward“ (Smalley 2001: 116). Dass der
Begriff Nanotechnologie die Repräsentation der Äquivalenzkette übernimmt, war folglich historisch kontingent. Es kann zusammengefasst werden, dass der Signifikant Nanotechnologie als leerer Signifikant das semantische Potenzial besitzt, den Kern eines hegemonialen Projektes zu symbolisieren.
4.3. Gesellschaftliche Kräfte und Allgemeininteresse
Verschiedene gesellschaftliche Kräfte verknüpfen ihre Interessen mit der
Nanotechnologie und sind daran interessiert, der Nanotechnologie eine gesellschaftliche Resonanz und soziale Wirkungsmächtigkeit zu verleihen.
Kohärente und dauerhafte Nanotechnologie Forschungs- und Entwicklungsprogramme (F&E-Programme) wurden u.a. von den USA, Japan, Südkorea,
der EU-Kommission, Deutschland, Taiwan und von China ins Leben geru277
Joscha Wullweber
fen. Insgesamt hatten bis zum Jahr 2010 über 60 Länder mehr oder weniger
umfassende Nanotechnologie-Programme entwickelt. Diese F&E-Programme beinhalten neben diversen Vernetzungsaktivitäten vor allem finanzielle
Anreize für staatliche und private Akteure im Forschungs- und Entwicklungsbereich. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben inzwischen praktisch
alle großen und viele mittelständische Unternehmen aus dem Hightech-Bereich und der Life-Sciences-Branche in Nanotechnologie-F&E investiert
(Wullweber 2010: 177ff).
Eine spezifische Diskurskonstellation führte hierbei zur Stärkung des
Nanotechnologie-Projektes: Im Diskurs zum potentiellen Markt für Nanotechnologie-Produkte und Anwendungen hat sich eine Erzählung durchgesetzt, die fantastische Marktvolumina für noch zu entwickelnde Nanotechnologie-Produkte verspricht. Dieser Diskurs bietet Anreize für Investitionen
innerhalb der profitorientierten und marktvermittelten Weltwirtschaftsordnung. Der Diskurs zum globalen Nanotechnologie-Rennen übt Druck auf
die Industrieländer und High-Tech-Unternehmen aus, die Ausgaben für Nanotechnologie-F&E kontinuierlich zu steigern. Denn diejenigen Länder und
Unternehmen, die nicht an diesem Rennen teilhaben oder den Anschluss
verlieren, könnten für die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, förmlich
von dem gesamten globalen Markt industriell-gefertigter Produkte ausgeschlossen werden. Schließlich wird die Nanotechnologie innerhalb des Diskurses zur wissensbasierten Ökonomie artikuliert und dementsprechend sozio-ökonomisch eingebettet. Zusammen entfalten diese Diskurse eine Wirkungsmächtigkeit, der sich derzeit kaum ein Industrieland oder High-TechUnternehmen entziehen kann. Sie stellen demnach ein solides Fundament
für die Nanotechnologieentwicklung dar (Wullweber 2010: 220ff).
Es kann resümiert werden, dass es eine Reihe gesellschaftlich relevanter
Kräfte gibt, die das hegemoniale Projekt forcieren, und sich eine Vielzahl
von Akteuren dem hegemonialen Projekt angeschlossen haben. Hierbei wird
die Nanotechnologie erfolgreich in Verbindung mit dem imaginären gesellschaftlichen Allgemeininteresse artikuliert, indem diese als eine Technologie dargestellt wird, die Wohlstand und Arbeitsplätze zu den Menschen
bringt, zu einer energieeffizienten und ressourcenschonenden Produktionsweise und insgesamt zu einer nachhaltigen Gesellschaft führt.
278
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
4.4. Interessenkonstellationen und internationale politisch-ökonomische
Ordnung
Das Interessante am Nanotechnologie-Diskurs ist, dass zwar Akteure identifiziert werden können, die das Nanotechnologie-Projekt unterstützen und
forcieren. Wenn allerdings danach gefragt wird, wer konkret von dem derzeitigen Nanotechnologie-Diskurs profitiert, fällt die Antwort schwer: Auf
den ersten Blick scheint es, als ob in den Industrienationen alle irgendwie
von ihm profitieren bzw. niemand so richtig. Sicherlich entstehen neue Firmen, die dem Nanotechnologie-Bereich zugeschrieben werden können.
Auch ist richtig, dass im großen Ausmaß finanzielle Ressourcen für dieses
Forschungsgebiet zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig ist der Begriff
so umfassend, dass kaum ein ‚innovatives‘ Forschungs- und Technologieprogramm davon ausgeschlossen wird. Und auch die Nanotechnologie-Firmen im engeren Sinne profitieren eher von der Bündelung der Ressourcen
und dem Start von neuen F&E-Initiativen im Allgemeinen als von spezifischen Nanotechnologie-Programmen.
Ein genauerer Blick zeigt allerdings, dass nicht alle von dem Nanotechnologie-Projekt profitieren. Denn das Nanotechnologie-Projekt begünstigt
als Innovationsprojekt diejenigen Akteure, die sich der Logik der Innovation
‚unterwerfen‘. Technologiepolitik hat sich in den letzten 50 Jahren verstärkt
hin zu einer Innovationspolitik entwickelt (vgl. Dolata 2004). Dieser technosozio-ökonomische Innovationsdiskurs, in den sich die Nanotechnologie
optimal einpasst und ihn dadurch zugleich bestärkt, ist Bestandteile eines
umfassenden techno-politischen Versuchs der Umgestaltung des sozio-ökonomischen Raums: Das Nanotechnologie-Projekt konnte entstehen, weil es
bei bestimmten, privilegiert in die vorherrschenden Formen der Diskursorganisation der Industriestaaten eingeschriebenen, Interessen Resonanzen
hervorruft. Hiernach stellt die Nanotechnologie die ideale Grundlage für Innovationen im Schumpeterschen Sinn dar (Schumpeter 1934; vgl. Jessop
2002: 119ff): Die hegemonialen Artikulationen im Nanotechnologie-Diskurs versprechen die Einführung neuer Handelswaren und neuer Eigenschaften von Waren, die Einführung neuer Produktionsmethoden, die Öffnung neuer Märkte, die Erschließung neuer (synthetischer) Quellen für Rohmaterial und die Neuorganisation ganzer Industriebranchen. Mit dem Vorantreiben des Nanotechnologie-Projektes als techno-sozio-ökonomisches
Innovationsprojekt, vor allem durch die Industrieländer, ist u.a. die Hoffnung verbunden, dass die derzeitigen sozio-ökonomischen Probleme durch
technologisch-organisatorische Veränderungen und durch neue technolo279
Joscha Wullweber
gisch-institutionelle Formen gelöst werden könnten. Die Nanotechnologie
stellt hierbei einen wichtigen Teil, vielleicht derzeit sogar das ‚Flaggschiff‘,
einer technologischen Innovationsbewegung dar. Hierbei steht weniger eine
bestimmte Technik, Technologie oder Anwendung im Vordergrund, sondern die Durchsetzung eines techno-ökonomischen Modernisierungsparadigmas.
Die durch diesen Diskurs induzierten Veränderungen könnten demnach
mehr als nur eine rein technische oder technologische Entwicklung darstellen – sie könnten in Zukunft zur Umorganisation der Diskursorganisation
der Industriegesellschaften und damit auch zur Veränderung des Alltagsverstands vieler Menschen führen. Von dieser Entwicklung sind allerdings
die meisten Länder des globalen Südens von vornherein ausgeschlossen. Es
ist anzunehmen, dass diese Entwicklung die sozio-ökonomischen Unterschiede zwischen den Ländern weiter verstärken wird (ETC Group 2005,
2006, 2010). Aber auch innerhalb der Industrieländer ist der Druck, sich
diesem hoch kompetitiven Innovationsdiskurs anzuschließen, immens. Industrie- und Wissenschaftszweige, die sich diesem Diskurs nicht oder nur
unzureichend anpassen können, werden tendenziell ‚vom Markt’ verdrängt:
„If nanotechnology is going to revolutionize manufacturing, health care,
energy supply, communications and probably defense, then it will transform
labor and the workplace, the medical system, the transportation and power
infrastructures and the military. None of these latter will be changed without
significant social disruption“ (Asia-Pacific Economic Cooperation Industrial Science and Technology Working Group, zit n. ICTA et al. 2007: 15).
Diese Entwicklungen sind Teil eines hegemonialen Suchprozesses, der
von der Hoffnung angeleitet wird, dass sich am Ende zumindest für die Industrieländer eine relativ stabile Entwicklungsweise – verstanden als hochgradig dynamische Organisierung des gesellschaftlichen und ökonomischen
Zusammenhalts – entwickeln könnte. Diese wäre gegeben, wenn solch eine
Diskursorganisation von einer Vielzahl von Akteuren als Wahrheitshorizont
akzeptiert und reartikuliert wird. Im günstigsten Fall entstünde hierdurch ein
über einen gewissen Zeitraum mehr oder weniger stabiles soziales Gefüge,
das in der Lage ist, konkreten Antagonismen zumindest temporär mit hegemonialen Strategien erfolgreich zu begegnen. Diese in Konturen sichtbare
Entwicklungsweise bricht an einigen Stellen mit Elementen der vormals hegemonialen Diskursorganisation. Die Nanotechnologie wird hierbei in einen
Diskurs eingeschrieben, der die Gesellschaft im Lichte eines Wettbewerbsparadigmas und ständiger Innovation artikuliert und wirkt zugleich retroaktiv und gestaltend auf diesen Diskurs zurück. (Nano-)Technologiepolitik
280
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
stellt sich hiernach vor allem als Strukturpolitik dar, die den Staat für den
globalen Wettbewerb umgestalten und restrukturieren soll: „There is not a
‚nanotechnology industry‘, but rather, nanotechnology is developed and applied in almost every industry sector“ (National Nanotechnology Advisory
Panels 2008: 11). Der Staat soll hierbei als Wettbewerbsstaat ökonomisches
Wachstum vor allem durch die Sicherstellung von Wettbewerbsvorteilen für
die nationale Ökonomie bzw. Industrien sicherstellen. Zugleich soll die Nanotechnologie-F&E, wie oben beschrieben, einen Impuls für eine Um- und
Neuorganisation der Forschungsstrukturierung geben. Funktionierte im 20.
Jahrhundert die F&T-Politik, insbesondere bezogen auf die technologischen
Großprojekte, vor allem über eine hierarchische Steuerung von oben nach
unten, sollen nun bestehende Disziplingrenzen überschritten und neue, unerprobte Kooperationen eingegangen werden. Hierbei verändert sich auch
die Form des Regierens in der Technologiepolitik (vgl. Wullweber 2010:
171ff).
Die Nanotechnologie kann folglich als Innovationsprojekt konzeptualisiert werden. Denn als eine mögliche und vielleicht auch prominente Lösungsstrategie für diverse gesellschaftliche Probleme verbinden sich mit ihr
die Hoffnung auf die nächste industrielle Revolution und die Aussicht der
in diesen Bereich investierenden Industrieländer auf einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Industrieländern und den Billiglohnländern. Zudem eröffnen die Methoden, Prozesse und Anwendungen, die unter dem
Begriff Nanotechnologie gefasst werden, neue Inwertsetzungsprozesse, da
diese auf die molekulare Ebene ausgeweitet werden.
4.5. Erfolgreiches Innovationsprojekt?
Es kann resümiert werden, dass das Nanotechnologie-Projekt alle vier oben
genannten Kriterien erfüllt und daher analytisch als hegemoniales Innovations-Projekt beschrieben werden kann. Das Nanotechnologie-Projekt ist
hierbei weder ein einheitliches noch ein komplett ‚gesteuertes‘ Projekt. Zugleich übernimmt das Projekt keine bestimmte Funktion innerhalb der Diskursorganisation des Wettbewerbsstaates. Damit ist nicht gemeint, dass das
Projekt interessenneutral oder nicht strategisch orientiert wäre. Im Gegenteil
wurde dargestellt, dass sich innerhalb des Nanotechnologie-Projektes verschiedene Interessen und Strategien wiederfinden. Doch ein Projekt besitzt,
genauso wie ein Diskurs bzw. eine Diskursorganisation, keine Funktion.
Denn das würde bedeuten, dass der sozialen Strukturierung von Gesellschaft
281
Joscha Wullweber
eine Zweckgerichtetheit inhärent wäre, die dem Handeln der Akteure vorgängig ist und dieses transzendiert. So ist es z.B. nicht die Funktion des
Nanotechnologie-Projektes, für die Nanotechnologie gesellschaftliche Akzeptanz zu schaffen und diese durchzusetzen. Es ist vielmehr umgekehrt:
Damit die verschiedenen Interessen, die sich hegemonial in den Nanotechnologie-Diskurs eingeschrieben haben, universalisiert werden können, muss
der Signifikant Nanotechnologie und der mit ihm untrennbar assoziierte
Diskurs notgedrungen positiv besetzt werden und gesellschaftliche Akzeptanz erfahren.8
Auch handelt es sich nicht um ein deterministisches Verhältnis: Das Nanotechnologie-Projekt musste aus keiner historischen Notwendigkeit heraus
entstehen. Weder war der Nanotechnologie-Diskurs von Beginn an hegemonial durch die beschriebenen techno-sozio-politischen Strategien bestimmt, noch konnte vorausgesehen werden, dass sich der Signifikant Nanotechnologie zum leeren Signifikanten eines hegemonialen Innovationsprojektes entwickeln würde. Vielmehr nahm der Nanotechnologie-Diskurs
selbst erstaunliche Wendungen. So war z.B. nicht absehbar, dass sich ausnahmslos alle Regierungen der Industriestaaten in den NanotechnologieDiskurs ‚einschreiben‘ und ihre eigenen Nanotechnologie-Programme starten würden. Gleichzeitig wurde gezeigt, dass diese Entwicklung nicht zufällig verlief.
Bezogen auf den Signifikanten Nanotechnologie kann resümiert werden,
dass dieser tendenziell zu einem leeren Signifikanten und also die Kontextualisierung der Nanotechnologie als Universalität hegemonial geworden ist.
Die partikularen Wurzeln des Begriffs konnten erfolgreich verwischt werden
und fast alle Akteure im Nanotechnologie-Diskurs bestätigen diese Universalität. Auch die Kritik an der Nanotechnologie schwächt nicht etwa den
leeren Signifikanten, sondern bestätigt und bestärkt diesen, solange der Nanotechnologie nicht der universelle Charakter aberkannt wird. Es kann also
8 Daraus folgt wiederum nicht zwingend, dass die im Nanotechnologie-Diskurs hegemonial eingeschriebenen Interessen notwendigerweise des Nanotechnologie-Projektes bedürfen, um universalisiert zu werden, und nicht alternativ auch über ein anderes
hegemoniales Projekt verallgemeinert werden könnten. Als Innovationsprojekt stellt
das Nanotechnologie-Projekt einen Versuch einer bestimmten techno-sozio-ökonomischen Umstrukturierung der Gesellschaft dar. Sollte dieses Projekt scheitern, ist es
durchaus möglich, dass ein anderes hegemoniales Projekt diese Rolle übernehmen
wird.
282
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
konstatiert werden, dass die Artikulation der Nanotechnologie als leerer Signifikant hegemonial geworden ist.
Wie verhält es sich um die positive Besetzung des leeren Signifikanten
Nanotechnologie im Nanotechnologie-Diskurs? Hier interessiert vor allem
die Frage, ob die Nanotechnologie erfolgreich als eine Technologie artikuliert werden konnte, die positive Auswirkungen für Mensch und Gesellschaft
hat und dementsprechend Fortschritte in der Nanotechnologie-F&E mit gesellschaftlichem Fortschritt und dem Allgemeininteresse gleichgesetzt werden. Diesbezüglich kann resümiert werden, dass zwar verstärkt Kritik an der
Art und Weise der Governance der Nanotechnologie geäußert wird, bislang
aber wenig Widerstand gegen das Nanotechnologie-Projekt insgesamt vorhanden ist.9 Die Akteure, die die Nanotechnologie insgesamt kritisieren und
positive Möglichkeiten der Nanotechnologieentwicklung in Frage stellen,
sind bislang eindeutig in der Minderzahl. Selbst von traditionell technologiekritischer Seite, wie den Umwelt-NGOs, werden große Potenziale der
Nanotechnologie, insbesondere in der Medizin und im Umweltschutz, gesehen (vgl. Parr 2005: 395; BUND 2007: 7). Eine komplette Ablehnung ist
kaum existent. Innerhalb des Nanotechnologie-Diskurses ist es also gelungen, die Nanotechnologie hegemonial mit positiven Assoziationen zu besetzen, auch wenn sich bereits an verschiedenen Stellen Konflikte anbahnen
und sich derzeit zu verstärken scheinen. Trotz anders lautender Bekundungen gibt es z.B. immer noch keine nanotechnologiespezifische Risikoregulierung, die Risikoforschung hinkt weit hinter der Nanotechnologieentwicklung hinterher und unzählige Nanotechnologie-Produkte sind bereits auf
dem Markt, deren Gefahrenpotenzial für Mensch und Umwelt noch nicht
abgeschätzt werden kann.
Hinsichtlich der Bewertung des Durchsetzungsgrads des Nanotechnologie-Projektes im gesamtgesellschaftlichen Kontext interessierte hier zunächst, inwieweit Alternativen zum hegemonialen Projekt bereits undenkbar
gemacht werden konnten. Auch wurde gefragt, wie kongruent sich das hegemoniale Projekt in die bestehende (hegemoniale) Diskursorganisation
einfügt bzw. inwiefern sich das hegemoniale Projekt an spezifische Diskurse
innerhalb der hegemonialen Diskursorganisation anschließt und dadurch
bestärkt und unterstützt wird. Hierfür wurden zum Nanotechnologie-Diskurs
komplementäre Diskurse untersucht und bereits oben resümiert, dass diese
9 Vgl. Wullweber 2010: 233ff für eine ausführliche Analyse des Ringens um gesellschaftliche Akzeptanz für die Nanotechnologie.
283
Joscha Wullweber
eine Wirkungsmächtigkeit entfalten, der sich derzeit kaum ein Akteur entziehen kann. Um die Hegemonie eines politischen Projektes zu bewerten,
ist weiterhin der allgemeine Grad der Zustimmung innerhalb der betroffenen
Bevölkerung von Bedeutung. Diesbezüglich hat der Nanotechnologie-Diskurs zwar einerseits in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen und besonders in der F&T-Politik bereits eine weitreichende Bedeutung erlangt und
viele gesellschaftliche Akteure konnten für das Nanotechnologie-Projekt
gewonnen werden. Diese Vormachtstellung wird jedoch andererseits nicht
von einer breiten Bevölkerungsschicht getragen (vgl. ausführlich Wullweber
2010: 234ff).
Insgesamt liegt daher eine partielle oder ‚gefleckte‘ Hegemonie vor, die
einige der oben genannten Kriterien und bestimmte Bereiche der Gesellschaft umfasst und andere nicht. Auch wenn Vorstellungen eines technikbasierten gesellschaftlichen Fortschritts durchaus weit verbreitet sind, wäre
eine gesamtgesellschaftliche Hegemonie der Nanotechnologie nur dann gegeben, wenn diese Vorstellungen direkt mit der Nanotechnologie in Verbindung gebracht werden würden. Das ist aber bislang nicht der Fall. Zugleich kann resümiert werden, dass es sich eher um eine diffundierte als um
eine konzentrierte Hegemonie handelt: Die Interessen im NanotechnologieDiskurs sind nicht direkt mit bestimmten Akteuren verknüpft. Es ist eher
eine bestimmte Entwicklungsweise, die protegiert und bestärkt wird, als
konkrete Akteure, die von dem Nanotechnologie-Projekt profitieren.
Kann demzufolge von einem Erfolg des Nanotechnologie-Projektes gesprochen werden? Zur Beantwortung der Frage wurden zwei Vektoren der
Hegemonie unterschieden: Transformismus und expansive Hegemonie. Es
stellt sich nun also die Frage, ob relevante gesellschaftliche Kräfte in das
Nanotechnologie-Projekt integriert werden konnten und es dadurch möglich
wird, das Nanotechnologie-Projekt auch ohne Zustimmung weiter Teile der
Bevölkerung durchzusetzen – also eine Situation geschaffen werden konnte,
die tendenziell in Richtung Transformismus geht. Oder ob es gelang, die
Nanotechnologie so zu kontextualisieren, dass diese von der breiten Masse
der Bevölkerung als wünschenswert angesehen wird – eine Situation, die in
der Tendenz als expansive Hegemonie bezeichnet wurde. Diesen Punkt betreffend kann die gesellschaftliche Stimmung in Richtung Transformismus
gedeutet werden. Wichtige gesellschaftliche Akteure sind in das Nanotechnologie-Projekt integriert und auch viele vormals im Gentechnik-Diskurs
antagonistische Kräfte konnten gewonnen werden. Gleichzeitig wird dieser
Konsens nicht von der breiten Bevölkerung getragen.
284
Abbildungen zu Kapitel 8 – Wullweber
Abbildung 1: Koordinatensystem
derSignifikanten,
Hegemonie
(Industrienationen)
Leere
hegemoniale
Projekte
Abbildung 1: Koordinatensystem der Hegemonie (Industrienationen)
expansive Hegemonie
konzentrierte
Hegemonie
diffundierte
Hegemonie
Nanotechnologie
Transformismus
Quelle: eigene Darstellung
eigene Darstellung
InQuelle:
obigem Koordinatensystem
der Hegemonie kann der NanotechnologieDiskurs innerhalb der Industrieländer im Bereich zwischen Transformismus
und diffundierter Hegemonie angesiedelt werden. Eine Situation des Transformismus ist, wie oben dargestellt, instabiler als eine expansive Hegemonie, da die Hegemonie nicht auf dem Alltagsverstand bzw. den Alltagspraxen
der breiten2:
Bevölkerung
basiert. Sie der
kann,Hegemonie
wie im Gentechnik-Diskurs,
Abbildung
Koordinatensystem
(globale Perspektive)
auch schnell zu einem Stimmungsumschwung führen. Eine Situation des
Transformismus kann unter bestimmten Umständen aber auch eine relative
Stabilität aufweisen. Diese Bedingungen können z.B. gegeben sein, wenn
das Thema von der breiten Bevölkerung nicht als bedeutungsvoll erkannt
expansive Hegemonie
wird, wenn also eine gewisse Gleichgültigkeit
vorherrscht. Schließlich kann,
aufgrund der oben beschriebenen Diskurskonstellation, auch ein starkes Gefühl der Alternativlosigkeit vorherrschen.
Interessant ist nun ein Perspektivwechsel von einer nur auf die Industriestaaten fokussierenden hin zu einer globalen Perspektive, die auch den globalen Süden und daher vergleichsweise nicht so weit industrialisierte Länder
konzentrierte
diffundierte
einschließt.
Denn dann sind die Interessen und Länder, die von der
NanoHegemonie
Hegemonie
technologie
profitieren, offensichtlicher. Es sind ohne Frage die Industrieländer, die von dem Nanotechnologie-Projekt profitieren (sollen). Wird der
analytische Bereich
also auf die globale Ebene ausgeweitet, handelt es sich
Nanotechnologie
285
Transformismus
Quelle: eigene Darstellung
Nanotechnologie
Transformismus
Quelle: eigene Darstellung
Joscha Wullweber
um eine konzentrierte Hegemonie. Der Nanotechnologie-Diskurs wäre ge-
Abbildung
2: Koordinatensystem der Hegemonie (globale Perspektive)
genwärtig also zwischen Transformismus und konzentrierter Hegemonie
einzuordnen (siehe folgende Abbildung).
Abbildung 2: Koordinatensystem der Hegemonie (globale Perspektive)
expansive Hegemonie
konzentrierte
Hegemonie
diffundierte
Hegemonie
Nanotechnologie
Transformismus
Quelle: eigene Darstellung
Der Nanotechnologie-Diskurs ist zurzeit derart erfolgreich hegemonial
Quelle:
eigene
Darstellung
strukturiert,
dass
kaum Akteure ausgemacht werden können, die der Nano-
technologie gegenüber eine grundsätzlich ablehnende Haltung einnehmen
würden – eine ‚Anti-Nanotechnologie-Bewegung‘ ist weiterhin nicht in
Sicht. Kritische Stimmen beanstanden nur das ‚Wie’ und nicht das ‚Ob’ der
Nanotechnologieentwicklung. Damit zusammenhängend gibt es auch keine
klar ausformulierte Alternative zu der durch den hegemonial strukturierten
Nanotechnologie-Diskurs protegierten Entwicklungsweise.
5. Reflexion des Forschungsansatzes
Die Theoretisierung der Nanotechnologie als leerer Signifikant und Kern
eines Innovationsprojektes eröffnet die Möglichkeit, das Politische der (Nano-)Technologieentwicklung und die strategischen Momente in dieser Entwicklung hervorzuheben. Durch die gleichzeitige Betonung der Kontingenz
286
Leere Signifikanten, hegemoniale Projekte
dieser Entwicklung und der gegenseitigen Konstituierung von Akteur und
Diskurs können sowohl voluntaristische wie deterministische Interpretationen vermieden werden. Hiernach ist der Nanotechnologie-Diskurs weder
durch den sozio-ökonomischen Kontext vorherbestimmt. Noch kann dieser
Diskurs unabhängig vom gesellschaftlichen Rahmen verstanden werden.
Der Nanotechnologie-Diskurs existiert nicht vor seiner Artikulation. Ihm
wird erst durch die Artikulation hindurch Form verliehen.
Indem die Nanotechnologieentwicklung nicht als zufällige, sondern als
politische Entwicklung begriffen wird, eröffnen sich neue Perspektiven:
Zum einen kann danach gefragt werden, warum der Nanotechnologie eine
solche Bedeutung in der F&T-Politik zukommt. Durch diese Art der Fragestellung wird der sozio-ökonomische Kontext hervorgehoben, der maßgeblich zur Entstehung der Nanotechnologie beiträgt. Die Hegemonietheorie
ermöglicht hierbei wiederum, den Blick auf die konkreten hegemonialen
Prozesse zu richten und insbesondere die hegemonialen Strategien zu identifizieren und zu analysieren, die als Gesamtheit das Nanotechnologie-Projekt protegieren und stabilisieren.
Dadurch, dass sowohl Struktur als auch Strategie – sowohl hegemoniale
Diskursorganisation als auch die Artikulationen der Akteure – in den Blick
genommen und theoretisiert werden, können die verschiedenen diskursiven
Verstetigungen bzw. Abstufungen in der diskursiven Stabilität analysiert
und zugleich die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung aufgezeigt werden. Allerdings zeigen sich hier auch Grenzen dieses Ansatzes: Durch diese
Herangehensweise stehen vor allem eher abstrakt die Akteure und weniger
die konkreten Subjektpositionen im Zentrum des Interesses. Es werden vor
allem die Akteure und deren Artikulationen untersucht, denen eine gesellschaftliche Relevanz zugeschrieben wurde. Das alltägliche Handeln der
Menschen mit ihren jeweiligen Subjektpositionen wird nicht analysiert. Eine
Herausforderung könnte es also sein, den hegemonietheoretischen Ansatz
stärker mit einem Everyday-Politics-Ansatz zu verzahnen (siehe z.B. Hobson/Seabrooke 2007; Langley 2008; Huysmans 2009), der stärker auf das
Selbstregieren der Akteure fokussiert und auf diese Weise dem alltäglichen
Handeln der Akteure mehr Gewicht verleiht.
Insgesamt handelt es sich um ein Vorgehen, das verschiedene Strategien
im Diskurs identifiziert und analysiert, um so ein Verständnis der Dynamiken von hegemonialen Auseinandersetzungen zu entwickeln. Hinsichtlich
der empirischen Frage, inwieweit das Nanotechnologie-Projekt gesamtgesellschaftlich hegemonial geworden ist, wurde dieses Projekt in den Kontext
globaler Formen hegemonialer Diskursorganisation gestellt und gezeigt, wie
287
Joscha Wullweber
die Nanotechnologie sich in diesen einfügt und ihn zugleich reartikuliert.
Analytisch wurde ein Hauptstrang des Nanotechnologie-Diskurses herausgearbeitet mit Diskurselementen, die ständig reartikuliert werden. Hier geht
es vor allem um die vermeintlich sagenhaften Möglichkeiten, die sich durch
die Nanotechnologie ergeben, ihr Innovationspotenzial usw. Zusätzlich wurden komplementäre Diskurse identifiziert, die zwar durchaus von Bedeutung
sind, aber nicht notwendigerweise gegeben sein müssen, um die Nanotechnologie als universell zu konstruieren. Hierunter fallen z.B. die Marktpotenziale der Nanotechnologie und der globale Wettbewerb um neue Innovation und Technologien.
Diskurs- und hegemonietheoretisch zu arbeiten bedeutet, sich in einer
theoretischen Matrix zu bewegen, die in vielen Bereichen noch in der Entwicklung begriffen ist. Teil eines solchen Arbeitens ist es also auch, theoretische Kategorien weiterzuentwickeln und weitere empirische Felder für
die Diskurstheorie zu erschließen (vgl. Dzudzek et al. 2012b). Diskurstheoretisch zu arbeiten beinhaltet neben den systematischen empirischen und
stark theoriegeleiteten Vorgehen allerdings ebenfalls, kreativ Konzepte weiterzuentwickeln, tastend vorzugehen und insgesamt stark explorativ zu arbeiten – und sich in diesem Prozess auch immer wieder überraschen zu lassen: „Das Wesen der Materialität, der Sterblichkeit und Endlichkeit und das
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