Vorlesung 47. Aminosäuren, Peptide und Proteine Bedeutung der Proteine in der Natur: Vollhardt, 3. Aufl., S. 1285/1286, 4. Aufl., S. 1371; Hart S. 608-609; Buddrus, S. 753. Etwa 18% des menschlichen Körpers bestehen aus Proteinen (= Eiweißstoffe). Struktur und Funktion der Proteine (L. Stryer, Biochemie) 1) 2) 3) 4) 5) 6) Enzymatische Katalyse Transport und Speicherung kleiner Moleküle (Hämoglobin) Hauptbestandteil der Muskelgewebe Mechanische Stützfunktion (Haut und Knochen) Erzeugung und Übertragung von Nervenimpulsen (Rezeptorproteine) Kontrolle von Wachstum und Differenzierung (kontrollierte Expression von genetischer Information) Bausteine der Proteine sind die α-Aminosäuren (2-Aminocarbonsäuren). Von den 20 in Proteinen vorkommenden Aminosäuren (Vollhardt, 3. Aufl., S. 1287, 4. Aufl. S. 1373; Hart, S. 595-596; Buddrus, S. 727-730) sollten Sie in der Klausur je einen Vertreter der verschiedenen Gruppen kennen. Außer Glycin besitzen alle proteinogenen Aminosäuren an C-2 ein Stereozentrum. Sie liegen in der L-Konfiguration vor. Isoleucin und Threonin enthalten zwei Stereozentren. Von den vier möglichen Stereoisomeren dieser Aminosäuren wird in Proteinen nur jeweils eines gefunden. Titrationskurven von Aminosäuren O H3N CH2 C OH O OH H+ H3N CH2 C H+ O pKa1 = 2.35 O OH H2N CH2 C O pKa2 = 9.78 pH 14 12 10 8 6 4 2 0.5 1.0 mol OH- 2.0 1.5 + pro mol H3N CH2CO2H Experimentalchemie, Prof. H. Mayr Achtung Lückentext. Nur als Begleittext zur Vorlesung geeignet. 278 Neutrale Aminosäuren, wie Glycin, besitzen zwei Pufferbereiche. Bei pH = pKa1 liegen Kation und Zwitterion in gleichen Mengen vor, bei pH = pKa2 liegen Zwitterion und Anion in gleichen Mengen vor. Am isoelektrischen Punkt bei pH = ½ (pKa1 + pKa2) liegt überwiegend das Zwitterion vor. Daneben liegen gleiche Mengen an positiv und negativ geladenen Aminosäuremolekülen vor (Vollhardt, 3. Aufl., S. 1288/1289, 4. Aufl., S. 1374-1376; Hart, S. 598; Buddrus, S. 737-738). Aus der zwitterionischen Struktur der Aminosäuren folgt ihre kristalline Struktur mit den hohen Schmelzpunkten. Haben die Aminosäuren zusätzliche saure oder basische Gruppierungen, können drei Pufferbereiche auftreten, und der isoelektrische Punkt verschiebt sich in den sauren bzw. basischen Bereich. Übung B47-1 a) b) Erklären Sie, warum H3N+–CH2–CO2H eine um mehr als zwei pK-Einheiten stärkere Säure als Essigsäure ist! Vergleichen Sie pKa2 des Glycins mit dem pKa-Wert des Ethylammonium-Ions (pKs = 10.8)! Die unterschiedlichen isoelektrischen Punkte von Aminosäuren nutzt man für ihre Trennung durch Elektrophorese. Herstellung von Aminosäuren Br R CH CO2H + 2 NH3 + Racemische Gemische erhält man durch Umsetzung von α-Halogencarbonsäuren mit Ammoniak oder durch die Strecker-Synthese (Variante der Cyanhydrin-Reaktion, vgl. Vorlesung Aldehyde: Umsetzung von Aldehyden mit Blausäure und Ammoniak) O NH3 H H2 O R C HCN H+/H2O Eine Möglichkeit zur Herstellung enantiomerenreiner Aminosäuren ist die katalytische asymmetrische Hydrierung von Enamiden (Knowles, Chemie-Nobelpreis 2001, Details dazu in Vollhardt S. 505 und Fortgeschrittenen-Vorlesungen). Experimentalchemie, Prof. H. Mayr Achtung Lückentext. Nur als Begleittext zur Vorlesung geeignet. 279 Peptidbindung (Vollhardt, 3. Aufl., S. 1297-1999, 4. Aufl., S. 1384-1387; Hart, S. 605607; Buddrus, S. 740-741) Verknüpft man jeweils die Carboxylgruppe einer Aminosäure mit der Aminogruppe der nächsten, entstehenden Oligomere oder Polymere. Werden 2-9 Aminosäuren in dieser Weise verknüpft, spricht man von Oligopeptiden, bei 10-100 Aminosäuren von Polypeptiden und bei mehr als 100 Aminosäuren von Proteinen. 1 H2N R O CH C 1 H2N OH H 2 H R O N CH C 2 OH H 3 H R O N CH C 3 R O H R O H R O CH C N CH C N CH C OH OH Tripeptid (liegt eigentlich als Zwitterion vor) Die Säureamid-Bindung, die zwei Aminosäure-Bausteine miteinander verknüpft, nennt man die Peptid-Bindung. Carbonsäureamide haben Sie als die stabilsten Carbonsäure-Derivate kennengelernt, weil das freie Elektronenpaar am Stickstoff mit der Carbonylgruppe in Wechselwirkung tritt. Daraus resultiert ein partieller Doppelbindungscharakter der C–N-Bindung und die planare Anordnung der durch ein Parallelogramm markierten Gruppierung, welche für die Struktur von Peptiden und Proteinen von zentraler Bedeutung ist. H H R O N C C C N C R H H O H R O H C C N C N C R H H O Das Studium der räumlichen Anordnung dieser Aminosäureketten ist ein aktuelles Forschungsgebiet in der Biochemie, und der Themenkreis, der unter den Begriffen Sekundär-, Tertiär- und Quartärstruktur von Proteinen zusammengefasst ist, wird in den Vorlesungen der Biochemie behandelt. Diese Vorlesung beschränkt sich auf Fragen der Primärstruktur, d.h. die Sequenz der Aminosäuren in der Peptidkette. Experimentalchemie, Prof. H. Mayr Achtung Lückentext. Nur als Begleittext zur Vorlesung geeignet. 280 Sanger-Abbau zur Bestimmung der N-terminalen Aminosäure (Vollhardt, 3. Aufl., S. 1307-1308, 4. Aufl., S. 1396-1397; Hart, S. 611-612): Nucleophile aromatische Substituion. NO2 O2N F + H2N R O R' CH C N CH H -HF NO2 O2N N R O CH C H R' N CH H 6 M HCl/H2O NO2 O2N N R CH CO2H + Aminosäure-Gemisch H Da die terminale Aminosäure durch die 2,4-Dinitrophenylgruppe markiert ist, lässt sich ihre Identität bestimmen. Vorteilhafter zur Sequenzbestimmung ist der Edman-Abbau, bei dem jeweils eine Aminosäure vom N-terminalen Kettenende abgespalten wird, ohne den Rest des Moleküls zu zerstören. Auf diese Weise kann man die Sequenz von Polypeptiden mit bis zu 20 Aminosäuren bestimmen. Bei längeren Peptiden treten hohe Fehlerraten auf. Längere Peptide werden deshalb enzymatisch gespalten, beispielsweise mit Trypsin, das Peptide an den Carboxyl-Enden der basischen Aminosäuren Lysin und Arginin spaltet. Man kann danach mit einem zweiten Enzym anderer Selektivität spalten, erhält unterschiedliche Spaltstücke und muss nach übereinstimmenden Sequenzen in verschiedene Bruchstücken suchen, die in Form eines Puzzles zusammengesetzt werden. Experimentalchemie, Prof. H. Mayr Achtung Lückentext. Nur als Begleittext zur Vorlesung geeignet. 281 Peptid-Synthesen Um gezielt die Aminogruppe einer Aminosäure mit der Carboxylgruppe einer anderen zu verknüpfen, muss die Gruppe, die intakt bleiben soll, geschützt werden. Dies sei am Beispiel der Synthese des Glycylalanins illustriert. O H CH3 H2N CH2 C N CH CO2H alanin Glycyl (Gly-Ala) 1) Schutz der Aminogruppe in Glycin durch den tert. Butoxycarbonyl-Rest (tBOC) O O (CH3)3CO C O C OC(CH3)3 + H3N CH2 CO2 Di-tert-butyldicarbonat O H NEt3 -CO2, -(CH3)3COH (CH3)3CO C N Glycin CH2 CO2H BOC-geschütztes Glycin 2) Schutz der Carboxylgruppe des Alanins durch Veresterung CH3 CH3 + H3N CH CO2 [H3O ] CH3OH + O H2N CH C OCH3 Alaninmethylester Alanin 3) Kupplung mit DCC (Dicyclohexylcarbodiimid) O H CH3 O (CH3)3CO C N CH2 C O H2N CH C + OH OCH3 N C N + DCC O H O H CH3 O O (CH3)3CO C N CH2 C N CH C + OCH3 Experimentalchemie, Prof. H. Mayr Achtung Lückentext. Nur als Begleittext zur Vorlesung geeignet. N C N H H N,N'-Dicyclohexylharnstoff 282 Bei dieser Reaktion reagiert im ersten Schritt die Carbonsäure mit dem Carbodiimid. Dabei wird die HO-Gruppe der Carbonsäure in eine bessere Abgangsgruppe umgewandelt, sodass sie durch die Aminogruppe substituiert werden kann. Unter schwach sauren Bedingungen kann anschließend die tBOC-Schutzgruppe abgespalten werden, sodass im Dipeptid eine freie Aminogruppe vorliegt, die mit der freien Carboxylgruppe einer weiteren N-BOC-geschützten Aminosäure verknüpft werden kann. Das Verfahren wurde von Merrifield auf die Festphase übertragen, sodass mit Hilfe von Syntheserobotern beliebige Peptidsequenzen hergestellt werden können (Vollhardt, 3. Aufl., S. 1313-1314, 4. Aufl., S. 1402-1403; Hart, S. 620-622; Buddrus, S. 745-752) Übung B47-2. Glycin ist die einfachste proteinogene Aminosäure. Geben Sie die Formeln der bei pH 6 und bei pH 11 in wässriger Lösung jeweils bevorzugt vorliegende Form an. Übung B47-3. Welche Reaktion erfolgt beim Behandeln von Glycin mit Natriumnitrit in saurer wässriger Lösung? Lösung zu Übung B47-1: a) b) H R C CH2 N H H N C C H R H O O O O H pKa = 9.78 -I-Effekt H CH3CH2 N H H pKa = 10.8 Die Carboxylatgruppe hat nur geringen Einfluss auf die Acidität des Ammonium-Ions. Die Ammonium-Gruppe stabilisiert durch ihren induktiv elektronenziehenden Effekt das bei der Deprotonierung entstehende Carboxylat-Ion. Lösung zu B47-2. CO2 - + CH2NH3 - pH 6 CO2 neutral CH2NH2 pH 11 basisch Lösung zu B47-3. HO2CCH2NH3+ + NaNO2 + HCl → HO2CCH2N2+ + NaCl + 2H2O → HO2CCH2OH + N2 +NaCl + H2O Experimentalchemie, Prof. H. Mayr Achtung Lückentext. Nur als Begleittext zur Vorlesung geeignet. 283