Selbstbewusstsein ohne Ich

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Selbstbewusstsein ohne Ich
Ansgar Beckermann
Abteilung Philosophie
Universität Bielefeld
33501 Bielefeld
Turm der Sinne 05.10.2013
Abteilung Philosophie
Was ist das Ich?
SPIEGEL-Streitgespräch Spiegel Wissen 1/2009
SPIEGEL: … Herr Precht, was
fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie
das Wort „ich“ hören?
Precht: Ich denke an mich.
…
SPIEGEL: Ist das Ich der Dreh- und
Angelpunkt der geistigen Welt?
Precht: Zweifellos. Mein gefühltes Ich
ist das Zentrum meiner Welt. Es ist das,
was mich am Morgen begrüßt, was sich
unausgesetzt mit mir selbst unterhält,
mein ewiger Gefährte im Geiste, der
mich stetig begleitet.
Abteilung Philosophie
Was ist das Ich?
Richard David Precht – einer oder zwei?
Gibt es nur Richard David Precht, der manchmal an sich
selbst denkt?
Oder gibt es neben Richard David Precht auch noch sein Ich
– ein zweites Wesen, das sich unausgesetzt mit ihm unterhält?
Wie kam es überhaupt dazu, dass wir heute – anscheinend
völlig problemlos – über das Ich und das Selbst reden?
Abteilung Philosophie
Was ist das Ich?
Die Erfindung des Ich – ein Missverständnis der frühen
Neuzeit
„In der klassischen antiken und mittelalterlichen Philosophie ist der philosophische Begriff des Ich kaum vorhanden
[…].“ (H. Herring, „Ich, Abschn. I“, Historisches Wörterbuch der Philosophie)
Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts wird es üblich, von
dem Ich oder auch dem Selbst zu reden.
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Was ist das Ich?
Die Erfindung des Ich – ein Missverständnis der frühen
Neuzeit
Descartes, Zweite Meditation
„Nondum vero satis intelligo, quisnam sim ego ille, qui
jam necessario sum […].“
„Ich bin mir aber noch nicht hinreichend klar darüber, wer
denn Ich bin – jener Ich, der notwendigerweise ist.“
(Meditationen 78f. – meine Hervorh.)
„Novi me existere; quaero quis sim ego ille quem novi.“
„Ich weiß, daß ich bin, und ich frage mich, was dieser Ich
sei, den ich kenne.“ (Meditationen 84f. – meine Hervorh.)
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Was ist das Ich?
Die Erfindung des Ich – ein Missverständnis der frühen
Neuzeit
ego ille – ich oder das Ich?
„Ridebis, et licet rideas. ego ille, quem nosti, apros tres et
quidem pulcherrimos cepi. ‚ipse?‘ inquis. ipse … .“ (Plinius
Briefe, 78)
„Du wirst lachen, und Du kannst auch lachen. [Ausgerechnet ich], den Du kennst, habe drei und zwar ganz
prächtige Eber gefangen. ‚Selbst?‘ fragst Du. Ja, selbst … .“
(ebd., 79)
ego ille – ich (oder: gerade ich), aber nicht: mein
Ich
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Was ist das Ich?
Die Erfindung des Ich – ein Missverständnis der frühen
Neuzeit
„En sorte que ce moi, c’est-à-dire l’âme par laquelle je suis ce
que je suis, est entièrement distincte du corps […].“ (Discours IV
2, AT VI 33)
„[…], so dass dieses Ich, d.h. die Seele, durch die ich das bin,
was ich bin, völlig verschieden ist vom Körper […].“
„[…] il est certain que ce moy, c’est à dire mon ame, par
laquelle ie suis ce que ie suis, est entierement & veritablement
distincte de mon corps […].“ (Meditations, AT IX, 62 – meine
Hervorh.)
„[…] ist gewiss, dass dieses Ich, d.h. meine Seele, durch die ich
bin, was ich bin, vollständig und wahrhaft von meinem Körper
unterschieden ist […].“
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Was ist das Ich?
Die Erfindung des Ich – ein Missverständnis der frühen
Neuzeit
„Self is that conscious thinking thing […], which is
sensible, or conscious of Pleasure and Pain, capable of
Happiness or Misery, and so is concern’d for it self, as far
as that consciousness extends.“ (Essay Concerning Human
Understanding, II, xxvii, 17)
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Was ist das Ich?
Die Erfindung des Ich – ein Missverständnis der frühen
Neuzeit
„Nunquid me ipsum non tantum multo verius, multo certius,
sed etiam multo distinctius evidentiusque, cognosco?“
(Descartes, Meditationes, AT VII, 33)
„Sollte ich mich selbst nicht nur viel wahrer, viel sicherer,
sondern auch viel deutlicher und evidenter erkennen?“
(Descartes, Meditationen, Wohlers, 65)
„[D]o I not know myself, not only with much more truth and
certainty, but also with much more distinctness and clearness?“
(HR 1, 156)
„Surely my awareness of my own self is not merely much truer
and more certain […], but also much more distinct and evident.“
(CSM II, 22)
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Was ist das Ich?
Die Erfindung des Ich – ein Missverständnis der frühen
Neuzeit
In der Zeit nach Descartes und Locke breitet sich die Rede
von dem Ich oder dem Selbst mit geradezu rasender Geschwindigkeit aus.
Aber damit tut man den Ausdrücken „ich“ und „selbst“
Gewalt an.
„ich“ und „selbst“ kann man nicht mit einem bestimmten
oder unbestimmten Artikel verbinden oder mit einem
Demonstrativ- oder Possessivpronomen!
„das Ich“, „ein Ich“, „dieses Ich“, „mein Ich“,
„das Selbst“, „ein Selbst“, „dieses Selbst“, „mein Selbst“ –
alles sprachlicher Unsinn!
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Was ist das Ich?
Die Erfindung des Ich – ein Missverständnis der frühen
Neuzeit
„ich“ ist – wie jeder weiß – ein Personalpronomen
(erste Person Singular).
Grammatik und Semantik von „ich“
1. „ich“ ist ein singulärer Term; er bezeichnet eine
einzelne Person;
2. „ich“ ist ein indexikalischer Ausdruck, dessen Bezug
sich in Abhängigkeit vom Äußerungskontext ändert;
3. „ich“ bezeichnet immer den Sprecher, der diesen
Ausdruck äußert.
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Was ist das Ich?
Die Erfindung des Ich – ein Missverständnis der frühen
Neuzeit
Wenn R. D. Precht sagt: „Ich bin der Autor des Buches Wer
bin ich“, dann redet er nicht über sein Ich, sondern über
sich – R. D. Precht.
Es gibt nur R. D. Precht; sein Ich gibt es nicht.
Wenn er in den Spiegel schaut, sieht er sich, nicht sein Ich.
Generell: Es gibt kein Ich, es gibt nur mich.
Die Erfindung von Ich und Selbst war eine der ganz großen
Fehlentwicklungen in der Philosophie.
Aber was wird aus unserem Selbstbewusstsein, wenn es
kein Ich und kein Selbst gibt?
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Selbstbewusstsein
Kognitive Wesen
Menschen sind – ebenso wie viele andere Lebewesen –
Wesen, die sich ein Bild ihrer Umwelt machen müssen,
um in dieser Umwelt zurecht kommen zu können.
Sie müssen ihre Umwelt repräsentieren.
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Selbstbewusstsein
Kognitive Wesen
Kognitive Wesen müssen ihre Umwelt repräsentieren.
Es gibt eine Mühle, einen Bach,
ein paar Bäume, zwei Häuser.
Die Mühle steht auf einem Hügel.
Die beiden Häuser stehen rechts
neben der Mühle.
Der Bach fließt vor der Mühle.
Die Sonne steht am Himmel.
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Selbstbewusstsein
Kognitive Wesen
Kognitive Wesen müssen ihre Umwelt repräsentieren.
Welche Objekte gehören zur
Szene?
Zu welchen Arten gehören diese
Objekte?
Welche Eigenschaften haben die
Objekte?
In welchen Beziehungen stehen
sie zueinander?
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Selbstbewusstsein
Kognitive Wesen
SHRDLU
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würfel)
rot)
(2 1 0))
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(2 1 2))
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(8 5 0))
pyramide)
grün)
(4 7 0))
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Selbstbewusstsein
Kognitive Wesen
Wenn ein kognitives Wesen seine Umwelt repräsentiert,
kommt es selbst in diesen Repräsentationen zunächst
nicht vor.
Um in der Umwelt zurecht zu kommen, muss es sich
zunächst nicht selbst als Teil der Umwelt repräsentieren.
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Selbstbewusstsein
Kognitive Wesen
Das ändert sich, wenn in der Umwelt eines kognitiven
Wesens andere kognitive Wesen vorkommen.
Diese Wesen müssen
ebenfalls repräsentiert
werden –
und zwar als als Wesen,
die ihrerseits ihre
Umwelt repräsentieren.
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Selbstbewusstsein
Kognitive Wesen
Das ändert sich, wenn in der Umwelt eines kognitiven
Wesens andere kognitive Wesen vorkommen.
Was sehen die Mitwesen?
Was wissen sie von der
Umwelt?
In welcher Stimmung sind
sie?
Sind sie müde und schläfrig?
Oder aggressiv?
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Selbstbewusstsein
Kognitive Wesen
Das führt am Ende dazu, dass in solchen Situationen
kognitive Wesen lernen, dass sie selbst für die anderen
kognitiven Wesen Teil von deren Umwelt sind.
Sie sind für die anderen, was die anderen für sie sind.
D.h., kognitive Wesen lernen, sich selbst als Teil ihrer
Umwelt zu repräsentieren.
 So entwickeln sich am Ende des Repräsentationsprozesses Selbstrepräsentationen, die den Kern des
Selbstbewusstseins ausmachen.
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Selbstbewusstsein
Fazit
Ein kognitives Wesen verfügt über Selbstbewusstsein,
wenn es nicht nur die Dinge und die anderen kognitiven
Wesen in seiner Umgebung, sondern auch sich selbst als
Teil dieser Umgebung repräsentiert.
Wenn es sich selbst als Teil der Welt versteht – ein Wesen,
das Gefühle und Gedanken hat, das sich aber auch an einem
bestimmten Ort in dieser Welt befindet und in bestimmten
Beziehungen zu den anderen Dingen und den anderen kognitiven Wesen in der Welt steht.
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