Palliative Kultur in Alten- und Pflegeheimen – ein Beitrag zu einer nachhaltigen Gesellschaft Heimerl Katharina, Schuchter Patrick In: Forum Public Health, Schwerpunktthema „Letzte Lebensphase“, 21. Jahrgang, Nr. 80, September 2013, 17-18 Einleitung/Abstract Immer mehr Bewohnerinnen sind bereits beim Einzug in Alten- und Pflegeheime schwerkrank und pflegebedürftig, so dass die Verweildauern in diesen Einrichtungen immer kürzer werden und Pflegeheime zunehmend zu „Häusern zum Sterben“ werden. Einerseits nimmt demnach die Bedeutung von Pflegeheimen in der Versorgung von hochbetagten Menschen am Lebensende zu. Andererseits gehören Alten-und Pflegeheime zu jenen Einrichtungen, die abgewertet werden – spürbar beispielsweise über abnehmende Personalressourcen. Erfreulicher Weise lassen sich jedoch auch andere Entwicklungen feststellen. Hospizbewegung und Pflegeheime bewegen sich aufeinander zu, nicht nur in Deutschland, sondern auch international. Abstract Increasingly residents are in need of care and severely ill upon admission to a nursing home. Nursing homes have become homes for the dying. On the one hand nursing homes are gaining relevance in the care for old persons at the end of their lives. On the other hand they are among the least valued organizations in society, which can be observed by the decreasing amount of staff that is attributed to nursing homes. Nevertheless positive developments can be observed: Hospice movement and nursing homes are engaging in co-operations, not only in Germany but internationally. Schlüsselwörter Palliative Care, Pflegeheim, Ethik, Nachhaltigkeit Key words Palliative Care, Nursing homes, ethics, sustainability Kontakt: Katharina Heimerl, IFF-Palliative Care und OrganisationsEthik, Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Wien, Graz. [email protected] Schon seit langem sind Alten- und Pflegeheime nicht mehr „Häuser zum Leben“, in die rüstige ältere Menschen einziehen, dann wenn ihnen der Haushalt zu beschwerlich wird. Pflegeheime sind zu „Häusern zum Sterben“ geworden, immer mehr Bewohnerinnen sind bereits beim Einzug schwerkrank und pflegebedürftig, die Verweildauer im Pflegeheim wird immer kürzer. In Deutschland wird geschätzt, dass zwischen 15% und 25% der Menschen in Pflegeheimen sterben (Jaspers und Schindler 2004), in Österreich waren es im Jahr 2001 noch 12% der Menschen, die in Pflegeheimen verstorben sind, 2008 hingegen bereits 15% (Statistik Austria 2009, eigene Berechnungen). Einerseits nimmt demnach die Bedeutung von Pflegeheimen in der Versorgung von hochbetagten Menschen am Lebensende zu. Andererseits gehören Alten-und Pflegeheime zu jenen Einrichtungen, die abgewertet werden – spürbar beispielsweise über abnehmende Personalressourcen. So wird geschätzt, dass in Deutschland bis zum Jahr 2025 etwa 225 000 bis 450 000 Gesundheitsberufe ohne Approbation, zu denen auch die Pflegeberufe gehören, fehlen werden (Afentakis und Maier 2010, S. 990). Heute schon ist jede/r Dritte in diesem Berufsfeld un- oder angelernt. Erfreulicher Weise lassen sich jedoch auch andere Entwicklungen feststellen. Hospizbewegung und Pflegeheime bewegen sich aufeinander zu (siehe DHPV/DGP 2012, S. 21), und das gilt nicht nur in Deutschland, sondern ist international zu beobachten: Eine aktuelle Tagung des St. Christopher’s Hospice in London trägt den Titel „Celebrating Care Homes“ und setzt sich zum Ziel, beispielgebende Projekte im Bereich von End-of-life Care in Pflegeheimen zu versammeln, zu dokumentieren und deren Ergebnisse zu vermitteln. Das Konzept von Palliative Care wurde zunächst mit dem Blick auf Menschen mit Krebserkrankungen formuliert, für hochbetagte Menschen im Pflegeheim müssen neue Konzepte überlegt werden. Palliative Care beginnt dann, wenn eine unheilbare Krankheit – „life-threatening illness“ (WHO 2002) – vorliegt, Altern ist jedoch keine Krankheit (vgl. Damann, Gronenmeyer 2009). Dennoch sind alte Menschen in hohem Maße „palliativbedürftig“ und zwar dann, wenn Schmerzen und Symptome aufgrund der vielfachen Erkrankungen und Einschränkungen zur Belastung werden und/oder wenn sie „unheilbar dement“ (Kojer/Schmidl 2011) werden. Dann brauchen hochbetagte Menschen umfassende körperliche, seelische, soziale und spirituelle Begleitung, Pflege und angemessene Behandlung. Dieser Schritt tritt nicht erst am Lebensende ein, sondern kann über einen langen, oft jahrelangen Zeitraum andauern. Palliative Care für hochbetagte bedeutet nicht End-of-Life Care, sondern “Lebensbegleitung bis zuletzt“ und bemisst sich weniger an der Nähe zum Tod, als an der Care-Bedürftigkeit der Betroffenen. (Kojer/Heimerl 2009) In den letzten 15 Jahren wurden im gesamten deutschsprachigen Raum zahlreiche Modellprojekte zur Umsetzung von Palliative Care im Pflegeheim durchgeführt (siehe beispielsweise Heimerl und Heller 2012, Heller und Kittelberger 2010). Diese Modellprojekte machen deutlich, dass es bei der Umsetzung von Palliative Care im Pflegeheim niemals um eine triviale „Implementierung“ geht, die durch lineares Vermitteln von Fachwissen in einzelnen Fortbildungen umgesetzt werden kann. Vielmehr spielen komplexe Prozesse eine zentrale Rolle, die einen Wandel der Organisationskultur hin zu einer Palliativen Kultur in der stationären Altenhilfe bewirken. Immer kommen dabei auch ethische Fragen in den Blick, die sich im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fürsorglichkeit stellen. Dabei kann immer wieder beobachtet werden, dass die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen im Altenpflegeheim über die älteren etablierten Formen der Klinischen Ethik (Klinische Ethikkomitees, ethische Fallbesprechung) innovativ hinausgeht. Ethische Fragen des Alltags – das sind ja jene nach dem „guten Leben“ – kommen im Altenpflegeheim bei weiter reichendem Einbezug der Betroffenen (auch der Angehörigen) in den Blick. Sie erfordern alternative Verständigungsformen, zum Beispiel über einen „narrativen Zugang“, das heißt, dass sich die Beteiligten über das Erzählen von Geschichten, die sie betroffen machen, verständigen. (vgl. Schuchter/Heller 2012; Reitinger/Wegleitner/Heimerl 2007). Schließlich spielen auch Fragen des Umgangs mit der Dimension Gender eine wesentliche Rolle, denn Pflegeheime sind Frauenwelten (Beyer/Reitinger 2010). In Hinblick auf Fragen nach der Nachhaltigkeit der derart entwickelten Palliativen Kulturen bzw. der Arbeit dieser Projekte zeigt sich die gesellschaftlich abgewertete stationäre Altenhilfe gleichfalls als ein im Grunde innovatives und gesellschaftspolitisch bedeutsames Feld. Die Erfahrung vieler dieser Projekte zeigt, dass Erfolg und dauerhafte Verstetigung von Palliative Care Projekten nicht alleine intraorganisational, sondern letztlich nur in starker Vernetzung mit anderen Gesundheitsdiensten, Organisationen, der Kommune, den Bürgerinnen und Bürgern zu bewältigen sind (Wegleitner 2007, Wegleitner/Heimerl 2007). Öfters wird auf diesem Weg ein Beitrag zur Integration der Versorgung geleistet und es entstehen um das Altenpflegeheim richtungsweisende lokale Kulturen der Sorge im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer (Heimerl/Heller 2012). „Nachhaltigkeit“ – im Verständnis der Vereinten Nationen – nimmt die partizipative Entwicklung eines „guten Lebens“ für alle und zukünftiger Generationen angesichts von zunehmender gesellschaftlicher Unsicherheit in den Blick (Di Giulio 2004; Wegleitner 2012). Fundamental („philosophisch“) betrachtet, wäre Nachhaltigkeit das „Bemühen, die Stabilität des Sinns [und sozialer Praktiken, gesellschaftlicher Institutionen [Ergänzungen des Autors und der Autorin] über die Instabilität der Ereignisse herrschen zu lassen“ (Dewey 2007, S. 63). Deshalb spielen der Umgang mit den fundamentalen Destabilisierungen des Menschen, wie Sterben, Trauer, Verletzbarkeit, Altwerden, Schwachsein, Angewiesensein auf andere und der Einbezug vulnerabler Bevölkerungsgruppen für die Entwicklung der Gesellschaft eine zentrale Rolle. Ein Blick in die Landschaft der Projekte zum Thema Palliative Care und Hospiz-Kultur in der stationären Altenhilfe kann wichtige Hinweise auf eine nachhaltig sorgende Gesellschaft liefern. Die Zukunft des Altenpflegeheims als Sterbeort wird einerseits als Institution in seiner Bedeutung weiter steigen, andererseits ist es der dominante Wunsch vieler Menschen zuhause sterben zu können. In diesem Zusammenhang wird über neue, künftige Formen eines Hilfe-Mix von Bürgerinnen, Bürgern und Professionellen nachgedacht (Dörner 2012). Ansätze dazu entstehen häufig im Kontext der Diskussionen um die Situation in Altenpflegeheime und dort unmittelbar in Palliative Care Projekten. Literatur DHPV/DGP (online) (2012). Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen im hohen Alter in Pflegeinrichtungen. Grundsatzpapier zur „Entwicklung von Hospizkultur und Palliativversorgung in stationären Einrichtungen der Altenhilfe“, Berlin 2012. http://www.dhpv.de/tl_files/public/Themen/Stationaere%20Altenpflege/PositionspapierErgWorkshop_060612 .pdf, download vom 4. Mai 2013 Afentakis A, Maier T. (2010). Projektionen des Personalbedarfs und -angebots in Pflegeberufen bis 2025. Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 11/2010, 990-1002 Beyer S, Reitinger E (Hrsg.) (2010). Geschlechtersensible Hospiz- und Palliativkultur in der Altenhilfe. Mabuse: Frankfurt am Main, 2010 Damann R, Gronemeyer R (2009). Ist Altern eine Krankheit? Frankfurt, New York: campus, 2009 Dewey J (2007). Erfahrung und Natur. Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr. Frankfurt am Main: Suhrkamp (stw 1865), erste Auflage, 2007 Di Giulio A (2004). Die Idee der Nachhaltigkeit im Verständnis der Vereinten Nationen. Anspruch, Bedeutung und Schwierigkeiten. LIT: Münster, 2004 Dörner K (2012). Helfensbedürftig. Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert. Paranus: Neumünster 2012 Jaspers B, Schindler T. (2004). Stand der Palliativmedizin und Hospizarbeit in Deutschland und im Vergleich zu ausgewählten Staaten. Gutachten im Auftrag der Enquete-Kommission des Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“, 2004. http://www.lönsapo.de/~pag-nds/dokument/gutachten-palliativ-brd.pdf, download vom 14. Mai 2013. Heimerl K, Heller A (2012). Was bleibt? Nachhaltige Palliative Kultur im Alten- und Pflegeheim. In: die hospizzeitschrift, Ludwigsburg: der hospiz verlag Caro & Cie. oHG 51 / 14. Jahrgang (2012), 6-12. Heller A, Kittelberger F (Hrsg.) (2010). Hospizkompetenz und Palliative Care im Alter. Eine Einführung. Freiburg im Breisgau: Lambertus, 2010 Kojer M, Heimerl K (2009). Palliative Care ist ein Zugang für hochbetagte Menschen – Ein erweiterter Blick auf die WHO-Definition von Palliative Care. Zeitschrift für Palliativmedizin 10 (3), 154-161 Kojer M, Schmidl M (2011). Einleitung: Unheilbar dement. In: dies. (Hrsg.): Demenz und Palliative Geriatrie in der Praxis. Heilsame Betreuung unheilbar demenzkranker Menschen. Wien: Springer, 2011 Reitinger E, Wegleitner K, Heimerl K (2007). Geschichten, die uns betroffen machen. Lernen aus ethischen Herausforderungen in der Altenbetreuung. Kursbuch palliative care 12/2007. Schuchter P, Heller A (2012). Ethik in der Altenhilfe – eine alltagsnahe Besprechungs- und Entscheidungskultur in der Sorge um ältere Menschen. In: Hospizkultur und Palliative Care im Pflegeheim – Mehr als nur ein schöner Abschied. Gut leben und würdig sterben können. Hg. v. Dachverband Hospiz Österreich, Ludwigsburg 2012. Statistik Austria (2009). Sterbeort 1984-2008. Unveröffentlichte Rohdaten. Wien, 2009 Wegleitner K (2007). Nachhaltigkeit in Palliative Care Entwicklungsprozessen. In: Heller A, Heimerl K, Husebø S. Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun. Wie alte Menschen würdig sterben können. Freiburg im Breisgau: Lambertus, 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, 2007, 338-350. Wegleitner K (2012). Nachhaltige regionale Selbstentwicklung von Palliative Care in der flüchtigen Moderne. Dissertation. Universität Wien Wegleitner K, Heimerl K (2007). Interventionsforschung in Palliative Care Entwicklungsprozessen. In: Heller A, Heimerl K, Husebø S. Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun. Wie alte Menschen würdig sterben können. Freiburg im Breisgau: Lambertus, 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, 2007, 424-444. WHO (2002): WHO Definition of Palliative Care. http://www.who.int/cancer/palliative/definition/en/, abgerufen am 14. Mai 2013