Forschungsschwerpunkte – Professor Dag Nikolaus Hasse Auch wenn sich einige meiner Arbeiten mit rein abendländischen Autoren wie Peter Abaelard und Georg Christoph Lichtenberg beschäftigen, ist doch der Hauptgegenstand meiner Forschung der arabische Einfluss in Europa. In den Kontaktzonen zwischen islamischer und christlicher Welt im Mittelalter, vor allem in Spanien, aber auch in Süditalien und den Kreuzfahrerstaaten, kam es zu umfangreichen Übersetzungen aus dem Arabischen ins Lateinische, die die Wissenschaften und die Philosophie Europas dauerhaft veränderten. Mich interessiert dieser historische Vorgang einerseits als Philologe und Historiker, der Antworten auf die ungelösten Fragen der Forschung zu geben versucht. Andererseits als Philosoph und Wissenschaftler, der sich bemüht, die geistigen Leistungen und Motive früherer Denker zu verstehen und mit historischer Fairness zu würdigen. Und schließlich als Bürger unserer Zeit, der voll Ungeduld auf simplifizierende Auffassungen von Orient und Europa blickt und ihnen zu entgegnen versucht. Zwei arabischsprachige Philosophen haben mich in meiner Forschung besonders beschäftigt: der Perser Avicenna (Ibn Sīnā, gest. 428 d. Hidschra / 1037 n.Chr.) und der Andalusier Averroes (Ibn Ruschd, gest. 595/1198). Über die Psychologie des Philosophen und Mediziners Avicenna habe ich meine Dissertation „Avicenna’s De anima in the Latin West“ geschrieben. Avicenna ist zwar stark von Aristoteles beeinflusst, aber gleichzeitig ein ungemein eigenständiger, selbstbewusster und scharfer Denker, der Traditionen der Philosophie, Naturwissenschaft und islamischen Theologie in seinem Werk verbindet. Seit mehreren Jahren bemühe ich mich gemeinsam mit meinen Kollegen der Avicenna-Forschung darum, das ganze Ausmaß von Avicennas Einfluss in den islamischen, jüdischen und christlichen Kulturen zu verstehen. Averroes wiederum ist eine ganz andere Art von Wissenschaftler: elitär, puristisch, aggressiv, auf die Verteidigung eines philosophischen Weltbildes gegen Theologen und Naturwissenschaftler bedacht. Gemeinsam mit Stefan Georges arbeite ich seit einigen Jahren an der kritischen Edition seines „Großen Kommentars zur Metaphysik des Aristoteles“; wir edieren nicht das arabische Original, sondern die überaus vielgelesene lateinische Übersetzung, die Michael Scotus in Süditalien verfasst hat. Averroes’ Kommentar ist eine geistige Mammutleistung, die in der europäischen Metaphysikgeschichte bedeutende Spuren hinterlassen hat. Der Übersetzer Michael Scotus ist es auch, dem ich ein besonderes Glücksgefühl als Wissenschaftler zu verdanken habe. Im Jahr 2007 habe ich – eigentlich recht plötzlich – festgestellt, dass sich mithilfe einer statistischen Analyse des Gebrauchs von alltäglichen Partikeln und Phrasen eine alte Forschungsfrage lösen lässt: wer für die vielen anonymen arabischlateinischen Übersetzungen des Averroes im 13. Jahrhundert verantwortlich war. Der größte Teil der anonymen Übersetzungen weist die unverkennbare stilistische Handschrift von Michael Scotus auf. Seit der Publikation dieser Ergebnisse in „Latin Averroes Translations“ (2010) habe ich die stilistischen Analysen auf die anonymen Übersetzungen in Andalusien im 12. Jahrhundert ausgedehnt und dabei die philologische Methode der früheren Studie um computergestützte Autorerkennungs-Analysen erweitert. Es stellt sich heraus, dass Johannes von Sevilla und Dominicus Gundisalvi für eine deutlich größere Anzahl von Übersetzungen verantwortlich waren, als wir bislang wussten. In der Weltgeschichte gab es nur wenige Übersetzer – ich denke an Hieronymus und Martin Luther –, die eine ähnlich große Wirkung wie diese Vermittler zwischen Orient und Okzident hatten. Die Entwicklung der Medizin, Astronomie, Astrologie, Mathematik, Alchemie und Philosophie Europas, die Rezeption des wissenschaftlichen Weltbildes der Griechen und Araber sind ohne ihre Arbeit und die Arbeit ihrer griechisch-lateinischen Übersetzerkollegen nicht denkbar. Ich hege eine stille BewundeForschungsschwerpunkte – Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2016 Professor Dag Nikolaus Hasse Februar 2016 DFG Seite 2 von 2 rung für die Leistung der vier produktivsten Übersetzer Andalusiens und Süditaliens. Ihre viel zu unbekannten Namen seien hier noch einmal genannt: Johannes von Sevilla, Dominicus Gundisalvi, Gerhard von Cremona und Michael Scotus. Vielleicht habe ich in den nächsten Jahren Zeit für eine Studie, die diesen Personen gewidmet ist. Im Jahr 2016 wird ein Buch erscheinen, an dem ich seit meiner Dissertation gearbeitet habe: „Success and Suppression: Arabic Sciences and Philosophy in the Renaissance“. Europa erlebte im 15. und 16. Jahrhundert den Höhepunkt des Einflusses arabischer Medizin, Astrologie und averroistischer Philosophie. Zugleich wurde dieser Einfluss von humanistischen und kirchlichen Reformern der Universitäten aktiv bekämpft und unterdrückt. Wie haben wir diesen Ablösungsprozess Europas von seinen arabischen Wurzeln zu verstehen? Ist es möglich, dass der Humanismus, den ich als Philologe so schätze, zu einer Ideologie werden konnte, die die Humanisten für die geistigen Leistungen arabischer Wissenschaftler blind machte? Oder hatte sich die historische Rolle arabischer Wissenschaft in Europa um 1500 überlebt, sodass es die Anhänger arabischer Wissenschaft in ihrer Rückwärtsgewandtheit verdienten, überwunden zu werden? Manche Humanisten, so zeigt sich, waren tatsächlich reine Ideologen. Andere hatten gute wissenschaftliche Argumente für ihren Ruf nach Erneuerung. Auf jeden Fall entstanden in der Renaissancezeit kulturelle Klischees über die arabische Welt, die heutigen Klischees erschreckend ähnlich sind – mit dem großen Unterschied, dass die Religion des Islam in der Polemik der Humanisten kaum eine Rolle spielte. Wie wir unsere Vergangenheit verstehen hängt entscheidend davon ab, welche Quellen uns überhaupt zugänglich gemacht worden sind. Es ist eine alte und bewundernswerte Tradition deutscher Geisteswissenschaft, die Quellen der Vergangenheit eigener und fremder Kulturen in großen Erschließungsprojekten zutage zu fördern. Daher bin ich sehr dankbar, dass ich zwei Großprojekte dieser Art leiten darf: das Lexikon „Arabic and Latin Glossary“, das den Einfluss der Übersetzer auf die lateinischen Fachsprachen Europas dokumentiert, und – gemeinsam mit meinen Kollegen David Juste und Benno van Dalen – das Editionsprojekt „Ptolemaeus Arabus et Latinus“, das die astronomischen und astrologischen Quellen des ptolemäischen Weltbilds in Orient und Okzident bis ins Jahrhundert des Kopernikus erschließt. Mir scheint gerade diese Erschließungsarbeit die richtige Antwort auf die zunehmende Politisierung unseres Blicks auf die europäische Vergangenheit zu sein. Manche Zeitgenossen wünschen sich beispielsweise, dass zu unseren geistigen Ahnen ausschließlich Griechen und Christen gehören. Aber wenn wir die Bücherborde unserer Vorfahren sorgfältig studieren, werden wir feststellen, dass unsere Herkunftsgeschichte komplexer und unter anderem sehr viel orientalischer erzählt werden muss. Und darin sehe ich auch eine Chance für das Verständnis der komplexen Welt, in der wir jetzt leben. Forschungsschwerpunkte – Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2016 Professor Dag Nikolaus Hasse Februar 2016 DFG