Annette Richter-Unruh. Foto: Max Greve 18 19 ESSENER UNIKATE 25/2005 Der LH (Luteinisierendes Hormon)-Rezeptor spielt die entscheidende Rolle in dem komplexen Prozess der Geschlechtsdifferenzierung. Dabei kann er sowohl Ursache für eine vorzeitige als auch für eine ausbleibende Pubertätsentwicklung sein. Nicht nur zwischen den Geschlechtern... Ein defekter gonadaler Rezeptor verursacht Intersexualität und Pubertätsstörungen Von Annette Richter-Unruh E s wird ein Kind mit einem uneindeutigen, intersexuellen Genitale geboren. Weder der Geburtshelfer noch der sofort hinzugezogene Kinderarzt kann das Geschlecht des Kindes festlegen. Die Eltern sind fassungslos. Zum einen führt die Unsicherheit hinsichtlich der Geschlechtszugehörigkeit des Kindes bei den Eltern zu einer außerordentlichen psychischen Belastung und zum anderen kann die Intersexualität des Neugeborenen mit lebensbedrohlichen Begleiterkrankungen einhergehen. Daher ist eine schnelle und exakte Diagnosestellung dieser Kinder notwendig. Das Krisenmanagement sollte ein auf Hormonerkrankungen spezialisierter Kinderarzt, der pädiatrische Endokrinologe, übernehmen. Die Fortschritte auf dem Gebiet der molekulargenetischen Diagnostik haben in den letzten Jahren einen wesentlichen Beitrag geleistet, Licht in die sehr komplexen Vorgänge der Geschlechtsentwicklung zu bringen. Seit etwa fünf Jahren beschäftigen wir uns in der Universitätskinderklinik Essen mit dem Hormonrezeptor, der die zentrale Rolle in der Geschlechtsdifferenzierung spielt: Der Luteinisierendes Hormon (LH)-Rezeptor. Veränderungen am Rezeptor führen aber nicht nur zu Störungen in der Geschlechtsentwicklung, sondern auch zu ungewollter Kinderlosigkeit. Er kann die Ursache für eine ausbleibende Pubertätsentwicklung darstellen, aber auch bei Jungen eine vorzeitige Pubertätsentwicklung, zum Beispiel im Alter von drei Jahren, auslösen. Diese Vielfältigkeit der Erkrankungen macht ihn zu einem besonders spannenden Forschungsobjekt. Was ist überhaupt „das Geschlecht“? In der Zeit um 500 vor Christus glaubte man, dass aus den Samen des rechten Hodens Jungen und denen des linken Hodens Mädchen gezeugt würden. Die Bedeutung der Geschlechtschromosomen wurde erst mehr als 2.000 Jahre später entdeckt. Es stellte sich heraus, dass die Geschlechtsentwicklung ein sehr komplexer Vorgang ist, der von vielen Entwicklungsgenen und -faktoren abhängig ist. Die Erkenntnisse der molekulargenetischen Forschung haben erheblich dazu beigetragen, den Ablauf dieses genetischen Programms besser zu verstehen. Angesichts der Komplexität ist es verwunderlich, dass Störungen der Geschlechtsentwicklung nicht häufiger vorkommen und zu den seltenen Erkrankungen gehören. Genetisches Geschlecht (46,XX weiblich, 46,XY männlich) Während der Konzeption wird das genetische Geschlecht durch die Geschlechtschromosomen festge- 20 legt. 1959 wurde die Bedeutung des Y-Chromosoms für die männliche Entwicklung beschrieben. Der normale weibliche Chromosomensatz ist 46,XX; der männliche 46,XY. Kürzlich konnte auf dem kurzen Arm des Y-Chromosoms ein Gen identifiziert werden, das die eigentliche sex-determinierende Region des Y-Chromosoms (SRY) darstellt. Gonadales Geschlecht (Eierstöcke weiblich, Hoden männlich) Während der ersten Entwicklungswochen sind die Gonaden beider Geschlechter indifferent und bipotent. Ist der testis-determierende Faktor (TDF=SRY) vorhanden, entwickelt sich in der siebten Schwangerschaftswoche ein fetaler Hoden. Fehlt dieser Faktor, also normalerweise bei einem weiblichen Chromosomensatz 46,XX, passiert in der siebten Schwangerschaftswoche nichts und erst in der zehnten Schwangerschaftswoche entwickeln sich aus den undifferenzierten Gonaden Eierstöcke. Somatisches Geschlecht (Entwicklung der Müllerschen-Gänge weiblich, der Wolffschen-Gänge männlich) Bei beiden Geschlechtern entwickeln sich zunächst zwei paarige innere Geschlechtsgänge, aus denen sich das innere männliche und das innere weibliche Genitale bilden: Die Müllerschen-Gänge und die Wolffschen-Gänge. Sind keine Hoden vorhanden, wird kein männliches Hormon gebildet. Ohne männliche Hormone (Androgene) entwickeln sich aus den Müllerschen-Gängen immer Gebärmutter, Eileiter und der obere Anteil der Scheide. Das äußere Genitale differenziert sich immer weiblich, wenn es nicht unter dem Einfluss von Androgenen steht. Die Wolffschen-Gänge verkümmern, weil diese sich nur unter Einwirkung von männlichen Hormonen weiter entwickeln. Im Gegensatz dazu ist die männliche Differenzierung immer ein aktiver Prozess. Der fetale Hoden produziert zum einen ein Hormon, das Anti-Müllersche-Hormon (AMH), das für die Rückbildung der Müllerschen-Gänge, also der Anlage für die inneren weiblichen Genitalen, verantwortlich ist. Zum anderen produziert der Hoden männliche Hormone, die für Entwicklung der Wolffschen-Gänge zu Nebenhoden, Samenleiter und Samenblasen notwendig sind. Weiterhin bewirken die männlichen Hormone die Ausbildung der Prostata und des äußeren männlichen Genitales. Klinische Grundlagen Das Hormonsystem ist ein Nachrichtensystem des menschlichen Körpers. Das oberste Steuerorgan im Gehirn ist der Hypothalamus. Er bildet eine Einheit mit der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse), die das Abgabeorgan für die Botenstoffe (Hormone) in die Körperzirkulation ist. Neben den Steuerhormonen für die Schilddrüse und die Nebennieren werden auch die Hormone zur Regulation der Keimzellfunktion (Gonaden) im Hypophysenvorderlappen gebildet: Das Luteinisierende Hormon (LH) und das Follikel stimulierende Hormon (FSH). Damit diese Hormone nur an den gewünschten Organen ihre Wirkung entfalten, sind diese mit spezifischen Rezeptoren, den LH- und FSH-Rezeptoren, ausgerüstet. LH stimuliert über den LH-Rezeptor sowohl die so genannten Leydigzellen des Hodens als auch die so genannten Thekazellen des Ovars zur Androgen-Produktion. Bei der Frau werden die männlichen Hormone in den Granulosazellen des Ovars durch die FSH-abhängige so genannte Aromatase zu Östrogenen umgebaut. Der LH-Rezeptor interagiert nicht nur mit LH, sondern auch mit dem plazentaren LH-ähnlichen Hormon hCG (humanes Choriongonatropin), das in der Schwangerschaft gebildet wird. Die Bindung von LH/hCG aktiviert über einen speziellen Wirkmechanismus die Enzyme der Steroidbiosynthese und sorgt für die Bildung von Testosteron. Der LH-Rezeptor gehört zur Familie der G-Protein gekoppelten Rezeptoren (Abb. 1). Diese wird charakterisiert durch sieben transmembrane Domänen, die mit drei intra- und drei extrazellulären Schlaufen miteinander verbunden sind. Die Bindung eines Hormons an die große ligandenbindende extrazelluläre Domäne führt zu einer Konformationsänderung des Rezeptors, die sich bis zum G-Protein auf der Innenseite der Zelle fortsetzt. Die Aktivierung des G-Proteins sorgt für die Bereitstellung von „Energieträgern“ (cAMP), die dann von den Enzymen der Steroidbiosynthese zur Herstellung von Testosteron benötigt werden. Bedeutung für die Geschlechtsdifferenzierung Eine entscheidende Bedeutung hat der LH-Rezeptor in der Geschlechtsdifferenzierung, die in Abbildung 2A vereinfacht dargestellt ist. HCG bindet an den LH-Rezeptor und setzt die fetale Testosteronbildung in Gang. Das innere und äußere Genitale entwickelt sich männlich. Die Produktion von AMH (Anti-Müllersches-Hormon) durch die fetalen Sertolizellen verläuft unabhängig vom hCG/LHRezeptor und sorgt für die Regression der Vorstufen der weiblichen inneren Genitalanlagen (MüllerscheGänge). Bei fehlender LH-Bindung oder defekter Signaltransduktion bleibt die Testosteronbiosynthese aus und es entwickelt sich ein weiblicher Phänotyp (die so genannte schwere Form der LeydigzellHypoplasie (Unterentwicklung) = LCH-Typ I). Sind Hormonbindung und/oder Signaltransduktion nur partiell gestört (Abb. 2B), so kommt es in der Fetalzeit zur Produktion eines verringerten Testosteronspiegels. Der Grad der Inaktivierung des LH-Rezeptors korreliert mit dem 21 ESSENER UNIKATE 25/2005 C C C IV C III V II VI VII I (1) Dreidimensionale Darstellung eines Modells des LH-Rezeptors. Die sieben transmembranen Domänen sind durch Zylinder (I bis VII) symbolisiert, die in der Zellmembran (Kugeln mit Fäden) schwimmen. Außerhalb der Zelle (oberhalb der Membran) befinden sich drei Schlaufen, die teilweise mit Brücken (C-C) miteinander verbunden sind, und ein langes Ende. Dieser Anteil bildet die Region, in der das Hormon bindet. 22 sich entwickelnden Phänotyp. Dieser kann von einem phänotypisch fast unauffälligen Jungen mit Mikropenis und/oder Hypospadie (angeborene Fehlbildung der Harnröhre) bis hin zu einem Kind mit intersexuellem Genitale variieren (leichte Form der Leydigzell-Hypoplasie (Unterentwicklung) = LCH Typ II). Undifferenzierte Gonade (TDF vorh.) Differenzierung ab 7. SSW AMH SF-1 SRY Sertolizellen hCG/LH SOX9 Leydigzellen Steroidbiosynthese Testosteron Wie kommt es zu einem defekten LH-Rezeptor? Der LH-Rezeptor wird durch das LH-Rezeptor-Gen kodiert. Es liegt auf dem Chromosom 2p21. Veränderungen in der Erbinformation (Mutationen) im Gen führen in der Regel zu einer Abweichung der Funktion des Rezeptors. Es gibt verschiedene Arten von Mutationen. Durch den Austausch einer Base in der DNA kann es zu einem fehlerhaften Sinn kommen, weil durch den Austausch eine andere Aminosäure in das LH-Rezeptor-Protein eingebaut wird. Durch den Wechsel einer Base kann aber auch ein STOPCodon entstehen, so dass es zum vorzeitigen Abbruch des LH-Rezeptor-Proteins kommt. Gehen eine oder mehrere Basen verloren, beziehungsweise kommt es zur Verdoppelung von Basen, entsteht ebenfalls ein defektes LH-Rezeptor-Protein. So wurden in den letzten Jahren 21 verschiedene inaktivierende und 15 aktivierende Mutationen im LHRezeptor-Gen beschrieben. Wir konnten hierbei mit insgesamt neun neuen inaktivierenden Mutationen beitragen1. In allen Körperzellen und den unreifen Keimzellen sind die Gene immer paarweise vorhanden. Eins stammt jeweils aus dem väterlichen und eins aus dem mütterlichen Organismus. Damit es zur Leydigzell-Hypoplasie kommt, müssen beide Gene durch Mutationen inaktiviert werden, es liegt ein autosomal (an einem Chromosom, das nicht geschlechtsbestimmend ist)-rezessiver Erbgang vor. Das bedeutet: Entweder verlieren beide Gene durch die gleiche Mutation ihre Funktion Müller‘sche Gänge DHT Wolff‘sche Gänge Männliches Genitale Extragenitale Wirkungen (2a) Vereinfachte Darstellung der männlichen Geschlechtsdifferenzierung. hCG bindet am LH-Rezeptor auf den Leydigzellen und bewirkt die Bildung von Testosteron. Es entwickelt sich ein Junge. Die Sertolizellen produzieren AMH, dadurch bilden sich die Anlagen für die inneren weiblichen Genitalien zurück. (homozygote Mutation) oder durch zwei verschiedene (heterozygote Mutation). Aktivierende Mutationen im LH-Rezeptor-Gen führen zu einer kontinuierlichen Testosteronproduktion. Bei dieser Erkrankung ist ein mutiertes Gen ausreichend, um den LH-Rezeptor im aktiven Status zu fixieren. Hier liegt ein autosomal dominanter Erbgang vor. Wie fällt der Patient mit einem mutierten LH-Rezeptor auf? Fall 1: Zurück zur Einleitung: Es wird ein Kind mit einem uneindeutigen, intersexuellen Genitale geboren. Weder der Geburtshelfer, noch der sofort hinzugezogene Kinderarzt kann das Geschlecht des Kindes festlegen. Die Eltern sind fassungslos. Im Ultraschall findet sich keine Gebärmutter, fraglich werden in der Leiste Hoden gesehen. Es ist Y-chromosomales Material vorhanden, sodass es sich also nach dem Chromosomensatz um einen Jungen handelt. Die Hormonspiegel im Blut geben keinen Anhalt für eine Enzymstörung in der Nebenniere, die männlichen Hormonspiegel sind basal und nach Stimulation mit hCG zu niedrig für einen gesunden Jungen. Als Ursache für das intersexuelle Genitale werden zwei heterozygote Mutationen im LHRezeptor-Gen nachgewiesen. Die Korrekturoperationen erfolgen Ende des Jahres, nachdem der Penis unter einer lokalen Behandlung mit einer androgenhaltigen Salbe gut auf eine normale Größe gewachsen war. Fall 2: Auf Grund des Alters der Mutter (37 Jahre) wird eine Fruchtwasserpunktion in der 15. Schwangerschaftswoche durchgeführt. Es zeigt sich ein männlicher Chromosomensatz. Die Familie freut sich auf ihren Sohn. Nach der Geburt ist die Verwunderung groß. Es wird ein Mädchen geboren. Aus diesem Grunde folgen weitere Untersuchungen. Im Ultraschall lassen sich keine Gebärmutter oder Eierstöcke nachweisen, dafür in den Leisten 23 ESSENER UNIKATE 25/2005 Undifferenzierte Gonade (TDF vorh.) Differenzierung ab 7. SSW AMH SF-1 SRY Sertolizellen hCG/LH SOX9 Leydigzellen Steroidbiosynthese DHT Müller‘sche Gänge Testosteron Wolff‘sche Gänge Weibliches Genitale (2b) Vereinfachte Darstellung der männlichen Geschlechtsdifferenzierung. Der LH-Rezeptor arbeitet nicht, es kann kein Testosteron gebildet werden. Daher entwickelt sich ein äußeres weibliches Genitale ohne ein inneres weibliches Genitale, da AMH ganz normal produziert wird. Hoden. Im Serum lassen sich keine männlichen Hormone bestimmen. Im LH-Rezeptor-Gen wird eine neue Mutation gefunden. Durch eine Verdoppelung einer Base kommt es zur Verschiebung des Leserasters und damit zu einem Abbruch des LH-Rezeptor-Proteins. Fall 3: Ein vom Aussehen her weiblicher Säugling nicht blutsverwandter Eltern fällt im Alter von drei Monaten mit einem Leistenbruch auf. Intraoperativ findet sich im Bruchsack eine Gonade. Eine daraufhin veranlasste Chromosomenanalyse ergibt einen männlichen Karyotyp 46,XY. Im Serum werden niedrige Testosteronspiegel gemessen, die sich auch auf hCG-Gabe nicht stimulieren lassen. In einer Analyse des LH-Rezeptor-Gens finden sich zwei neue heterozygote Mutationen. Die ältere Schwester ist zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt. Alle Vorsorgeuntersuchungen wurden bei ihr regelmäßig durchgeführt, Auffälligkeiten oder Erkrankungen ergaben sich hierbei nicht. Umso dramatischer ist es für die gesamte Familie als wir routinemäßig das Mädchen in unserer Ambulanz untersuchen und sich Gonaden in den Leisten finden lassen. Am Ende bestätigt sich der Verdacht, dass auch bei der Schwester eine LeydigzellHypoplasie vorliegt. Fall 4: Eine 39-jährige Frau geht wegen eines schmerzhaften Geschlechtsverkehrs zum Frauenarzt. Sie ist bereits das zweite Mal verheiratet und ungewollt kinderlos. Bei der körperlichen Untersuchung fällt neben einer etwas spärlichen Schambehaarung das Fehlen eines Brustdrüsenkörpers auf. Sonographisch können weder Gebärmutter noch Eierstöcke nachgewiesen werden. In den Leisten finden sich Gonaden und aus einer Gewebeprobe ergibt sich histologisch der Hinweis auf eine Leydigzell-Hypoplasie. Eine molekulargenetische Analyse des LH-Rezeptor-Gens bestätigt mit einer neuen homozygoten Mutation im Intron 1 die Diagnose. Auf Nachfragen erwähnt die Frau, dass es in ihrer Familie noch weitere Frauen gab, die weder Periodenblutungen noch Kinder hätten. Eine Untersuchung der Familie zeigt, dass mindestens elf Frauen unter einer Leydigzell Hypoplasie leiden. Fall 5: Ein 5,7-jähriger Junge weist die klinischen Zeichen einer Pubertät auf, ohne dass im Blut die Steuerhormone der Hypophyse für die Pubertätsentwicklung nachzuweisen sind. Andere mögliche Ursachen einer Androgenüberproduktion können ausgeschlossen werden, insbesondere auch das Vorliegen einer aktivierenden Mutation im LH-Rezeptor-Gen. Sonographisch findet sich ein echoarmes Areal im rechten Hoden, so dass der Verdacht auf einen Leydigzelltumor geäußert wurde. Eine Hodenbiopsie widerlegt aber zunächst die Diagnose. Bei fortschreitender Pubertätsentwicklung ergibt dann ein venöses Sampling in der Venae spermaticae rechts einen deutlich erhöhten Testosteronspiegel mit 259 nmol/l (linke Seite 3,9 nmol/l). Nach der Hodenentfernung rechts zeigte sich histologisch eine noduläre (knötchenförmige) Leydigzell-Hyperplasie. Bei der ersten Biopsie muss man ein nicht betroffenes Areal entnommen haben. Molekulargenetisch ließ sich im Hodengewebe die den LH-Rezeptor aktivierende Mutation D578H nachweisen. Postoperativ und auch im weiteren Verlauf fanden sich jeweils präpubertäre Testosteronspiegel. Seither entwickelt sich der Junge unauffällig. Der verbleibende Hoden wird regelmäßig nachuntersucht. Schwere Form der LeydigzellHypoplasie (LCH-Typ I) bei genetischen Männern (Fallbeispiele 2 bis 4) Die LCH gilt als seltenes autosomal rezessiv vererbtes Krankheitsbild. Bei der schweren Form führt eine vollständige Inaktivierung des LH-Rezeptors zu einem weiblichen Phänotyp bei einem männlichen Karyotyp (46,XY). Die 46,XY- 24 Frauen fallen meist durch eine ausbleibende Brustentwicklung und Menarche auf. Klinisch findet sich eine blind endende, kurze Vagina. In der Sonographie des kleinen Beckens lassen sich weder Uterus noch Ovarien nachweisen, doch stellen sich im Bereich des Leistenkanals Gonaden dar. Diese Mädchen kommen nicht von alleine in die Pubertät, da die Gonaden keine Sexualhormone bilden. Eine wichtige diagnostische Untersuchung stellt der hCG-Test dar. Nach einer Stimulation mit 5.000 IE hCG intramuskulär bleibt ein Testosteronanstieg aus. Differentialdiagnostisch ist bei diesen Patientinnen eine Störung in der Testosteronbiosynthese in Erwägung zu ziehen. Auch heute noch werden diese Patienten sehr spät oder auch gar nicht diagnostiziert. An dieser Stelle sollte zum einen daraufhin gewiesen werden, dass bei Mädchen, bei denen sich nach der Geburt ein Leistenbruch mit tastbarer Gonade findet, genauso wie bei Kindern mit Genitalfehlbildungen ein pädiatrischer Endokrinologe hinzugezogen werden. Nur das frühe Erkennen zum Beispiel eines 46,XYMädchens mit LCH Typ I erlaubt eine zeitgerechte Hormonersatztherapie im pubertätsreifen Alter, die Identifizierung weiterer betroffener Familienmitglieder und eine adäquate humangenetische Beratung. Bei 46,XY-Mädchen und -Frauen mit nachgewiesenem LH-Rezeptor-Defekt wird die Entfernung der Gonaden auf Grund eines möglichen Entartungsrisikos empfohlen. Im pubertätsreifen Alter wird eine Hormonersatztherapie mit Östrogenen und Gestagenen begonnen und lebenslang fortgesetzt. Schwere Form der LeydigzellHypoplasie (LCH-Typ I) bei genetischen Frauen Weibliche Patienten mit einem weiblichen genetischen Geschlecht, 46,XX, wurden bisher nur aus Familien beschrieben, in denen bereits eine 46,XY-Frau diagnostiziert worden war. Dies liegt daran, dass sich 46,XX-Frauen mit einer vollständig inaktivierenden Mutation im LHR-Gen körperlich normal ent- 25 ESSENER UNIKATE 25/2005 Links: (3a) Ansicht von oben. Modell der Hormon-bindenden Domäne des LHRezeptors. Rechts ist die vorausgesagte Struktur einer Normalperson, links die unserer Patientin mit der Leydigzell-Hypoplasie. Durch die Mutation wird die Aminosäure Valin (V) gegen Phenyalanin (F) an Position 144 ausgetauscht. Rechts: (3b) Vergrößerter Ausschnitt um die betroffenene Aminosäure. Oben das Modell der Normalperson, unten das unserer Patientin. Dadurch, dass die ausgetauschte Aminosäure eine andere Struktur als die ursprüngliche aufweist, kommt es zu einer Interaktion mit der gleichen Aminosäure Phenylalanin an Position F119. Wir gehen davon aus, dass es durch „Verbindung“ der beiden Phenlyalanine zu einer Konformationsänderung kommt. Hierdurch erklärte sich der fehlende Transport des Rezeptors an die Zelloberfläche, wodurch keine Bindung von Hormon erfolgen kann. Dieses wissen wir aus weiteren Experimenten. Zu betonen ist, dass es sich bei der Abbildung nur um ein von uns entworfenes theoretisches Modell handelt. wickeln. Diese Frauen fallen durch eine ausbleibende Monatsblutung, Zyklusunregelmäßigkeiten oder Infertilität auf. Zusätzlich weisen die Frauen als Zeichen eines Östrogenmangels auf eine dünnwandige Vagina mit eingeschränkter sekretorischer Funktion und eine reduzierte Knochendichte. In der Behandlung müssen Östrogene und Gestagene substituiert werden. Milde Form der LeydigzellHypoplasie (LCH-Typ II) bei genetischen Männern (Fallbeispiel 1) Ist die Signalweiterleitung über den LH-Rezeptor nur partiell gestört, kommt es in der Fetalzeit zu einer eingeschränkten Testosteronproduktion. Dies führt zu Beeinträchtigungen in der Ausbildung des männlichen Genitals. Beschrieben wurden Jungen und Männer mit Hypospadie und Mikropenis. Da normalerweise nach der Entbindung (postpartal) bei den männlichen Säuglingen die Testosteronspiegel erhöht sind, stellt die Messung von erniedrigten Testosteronwerten eine wichtige differentialdiagnostische Untersuchung dar. Unter einer Stimulation mit hCG kommt es in jedem Lebensalter zu einem verminderten Anstieg der Testosteronspiegel. Meist reicht die eigene Bildung des männlichen Hormons nicht für eine altersgerechte Pubertätsentwicklung aus. Deshalb muss man diese Jungen und später die Männer mit Testosteron behandeln. Bei postpartal sehr kleinem Penis kann ein gutes Peniswachstum mit einer androgenhaltigen Salbe erreicht werden. Je nach Ausmaß einer Genitalfehlbildung, beispielsweise einer Hypospadie, muss diese operativ korrigiert werden. Aktivierende Mutationen (Fallbeispiel 5) Aktivierende Mutationen im LH-Rezeptor-Gen bewirken eine kontinuierlich erhöhte Testosteronproduktion. Die LH/hCG-unabhängige Testosteronproduktion führt zu einer vorzeitigen Pubertätsentwicklung vor dem vierten Lebensjahr 26 („Testotoxikose“, FMPP = Familial Male-limited Precocious Puberty). Wie zuvor erwähnt ist zur Fixierung des Rezeptors in seiner aktiven Form nur ein betroffenes LH-RezeptorGen notwendig, so dass diese Erkrankung autosomal dominant vererbt wird. Bis heute sind 15 verschiedene aktivierende Mutationen bekannt, die alle im Exon 11 liegen. Bei den neun bisher von uns identifizierten Jungen haben wir immer die gleiche aktivierende Mutation im Blut. Bei den betroffenen Jungen mit Testotoxikose muss vorübergehend die Testosteronbiosynthese unterbrochen werden oder die Androgenrezeptoren blockiert werden. Denn durch die viel zu frühe Pubertätsentwicklung wachsen die Jungen zwar zunächst extrem gut. Sie sind aber dafür nach kurzer Zeit ausgewachsen und somit als Erwachsene sehr klein. 1999 wurde erstmals eine somatische aktivierende Mutation im LHRezeptor-Gen bei drei Jungen mit einem Leydigzelladenom entdeckt2. Bei diesen Patienten mit somatischen Mutationen (DNA-Isolierung aus dem Tumor, kein Nachweis einer Mutation im Blut) treten die Zeichen einer vorzeitigen Pubertätsentwicklung später auf als bei Jungen mit Testotoxikose. Wir konnten bei einem Patienten mit einer vorzeitigen Pubertätsentwicklung bereits im Alter von dreieinhalb Jahren die gleiche somatische Mutation nachweisen3. Damit konnten wir die bisher gültige These widerlegen, dass diese Tumoren erst im Alter von fünf bis neun Jahren klinisch auffällig werden. Dass die Diagnosestellung teilweise schwierig und langwierig sein kann zeigt Fallbeispiel 54. Ist die Mutation wirklich die Ursache für die Erkrankung? Diese Frage muss man sich immer stellen. Auch wenn es völlig klar scheint, das Kind hat ein weibliches Genitale, der Karyotyp ist 46,XY, kein Testosteronanstieg nach hCG und die Identifikation einer neuen Mutation im LH-Rezeptor-Gen. Deshalb untersuchen wir alle von uns neu gefundenen Mutationen in Zellkulturexperimenten und überprüfen ob die Ergebnisse aus den in vitro-Tests mit dem Phänotyp des Patienten übereinstimmen. Aus diesen Untersuchungen lernen wir über das Arbeiten und Funktionieren der Rezeptoren. In Abbildung 3 ist schematisch an einem Modell eine mögliche Inaktivierung des LH-Rezeptors dargestellt. Die dort aufgezeigte Mutation haben wir bei einem 46,XY-Mädchen mit fehlendem Testosteronanstieg nach hCG nachweisen können5. Neugeborene mit intersexuellem Genitale: Machen wir alles richtig? Wir haben bei unserem kleinen Patienten (Fallbeispiel 1) schnell und zügig die zugrunde liegende Erkrankung bedingt durch einen partiell defekten LH-Rezeptor stellen können. Wir wissen, dass der Säugling deshalb nicht durch Begleiterkrankungen gefährdet ist. Wir können den Eltern die Erkrankung erklären und sie humangenetisch beraten lassen. In unserer interdisziplinären „Intersex“-Sprechstunde, in der ein pädiatrischer Endokrinologe und Kinderurologen die Patienten gemeinsam untersuchen und diskutieren, wird gemeinsam mit den Eltern besprochen, wann der günstigste Zeitpunkt ist, die Genitalfehlbildung des Kindes zu korrigieren. Wir halten es für sinnvoll, die Operationen vor dem zweiten Lebensjahr durchzuführen. Die Kinder können sich später nicht mehr an den stationären Aufenthalt erinnern. Wenn sie dann ihre Genitalien selbst entdecken, sehen diese schon aus wie die anderer Kinder. Dies wird dann auch im Kindergarten wichtig. Bei diesem Jungen ergibt sich kein Zweifel an der Diagnostik und Therapie. Das ist aber nicht immer so. Es stellt sich die Frage nach dem Psychischen Geschlecht. Eine Vielzahl tierexperimenteller Untersuchungen haben belegt, dass das Vorhandensein oder Fehlen von Sexualsteroiden während kritischer Phasen der Entwicklung einen entscheidenden Einfluss auf die männliche oder weibliche Prägung des „Gehirns“ haben. Solche Untersuchungen sind bei Menschen selbstverständlich nicht möglich. Aber es wird immer wieder zum Beispiel über männliche Verhaltensmuster oder eine erhöhte Frequenz von bisexueller/homosexueller Orientierung von Frauen berichtet, die unter einem Adrenogenitialen Syndrom leiden. Bei dieser Erkrankung kommt es durch eine Störung in der Hormonbildung in den Nebennieren schon im Mutterleib zu hohen Spiegeln männlichen Hormons. Dies führt dann auch zu einer Vermännlichung des Genitales. Eine Frage nach dem Geschlecht stellt sich nicht. Es sind Mädchen. Die Hormonsynthesestörung wird behandelt, bei regelmäßiger, ausreichender Tabletteneinnahme finden sich keine erhöhten männlichen Hormone mehr. Das Genitale wird operiert. Studien haben gezeigt, dass die Entwicklung der Geschlechtsidentität von Intersexpatienten größtenteils von der Geschlechtsrolle abhängig zu sein scheint, in der das Kind aufwächst. Eine ambivalente Identität scheint häufig dann zu entstehen, wenn Unsicherheiten der Eltern hinsichtlich der Geschlechtszuweisung bestehen6. Eine Ausnahme bilden Patienten mit 5α-Reduktasemangel. Die Patienten haben ein männliches genetisches Geschlecht, 46,XY. Der Hoden entwickelt sich ganz normal und produziert uneingeschränkt männliche Hormone. Diese können aber lokal im Bereich des äußeren Genitals nicht umgewandelt werden, so dass sich kein männliches Genitale bilden kann. Somit weisen viele nach der Geburt ein äußerlich weiblich erscheinendes Genitale ohne und mit vergrößerter Klitoris auf. Diese Kinder werden von daher als Mädchen eingeordnet. Da die Hoden funktionstüchtig sind, produzieren sie mit Eintritt in die Pubertät männ- 27 ESSENER UNIKATE 25/2005 liche Hormone. Um die Mädchen vor einer Vermännlichung zu schützen, muss man die Hoden noch vor Eintritt in die Pubertätsentwicklung entfernen. Im pubertätsreifen Alter erhalten die Mädchen eine Hormonersatztherapie mit weiblichen Hormonen. Dennoch haben Untersuchungen dieser Patienten ergeben, dass viele der Betroffenen unglücklich mit Ihrer Geschlechtszuweisung sind und das Geschlecht (Frau zu Mann) ändern. Hier stellen wir uns immer wieder die Frage: Wie können wir es richtig machen? Noch fehlen epidemiologische Daten über die Häufigkeit der Störungen der Geschlechtsentwicklung, jedoch ist durch das zunehmende Interesse an somatosexuellen Störungen in den nächsten Jahren mit konkreten Angaben zu rechnen. Mit der Einrichtung eines durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützten Netzwerkes „Intersexualität“ (www.netzwerkis.de) wurde Ende letzten Jahres eine Kommunikationsplattform für den interdisziplinären Austausch unter Ärzten der verschiedenen Fachrichtungen, Psychologen, Grundlagenforschern und auch Betroffenen geschaffen. Wir beteiligen uns an einer psychologischen Evaluationsstudie des Netzwerkes von Kindern und Erwachsenen mit „Störungen der somatosexuellen Differenzierung und Intersexualität“. Die Ergebnisse werden uns sicherlich in der Behandlung und Betreuung der Patienten helfen. Weiterhin möchten wir in einem Teilprojekt der Störungen der Androgenbiosynthese bei betroffenen Patienten den LH-Rezeptor untersuchen. Die sicher seltenen, aber bisher unterdiagnostizierten Mutationen im LH-Rezeptor-Gen stellen eine klinisch durchaus relevante Krankheitsgruppe dar. Summary Intersexuality as a clinical syndrome is defined as mismatch of chromosomal, gonadal and phenotypical sex of man. The entity describes the deviation from the typical somatosexual development of humans to female or male gender, which may be caused by a variety of genetic disorders. The chromosomal sex is determined at conception with the 46,XX karyotype corresponding with the female sex and 46,XY karyotype with the male sex. A sequence of developmental genes responsible for the differentiation of the gonads leads to the development of either ovaries or testicles. Thereafter, normal male sexual development is dependent on the secretion of androgens, namely testosterone from the testes. If testosterone biosynthesis is inhibited, diminished or no virilization will occur and individuals with the 46,XY karyotype will have a female or ambiguous phenotype. Testosterone synthesis in the testes is dependent on stimulation of the luteinizing hormone receptor by luteinizing hormone (LH) or the placental LH homologue hCG. It is the aim of our project in the University Children’s Hospital Essen to define and compile the clinical, psychological, biochemical and molecular genetic characteristics of LH receptor defects in a large cohort of patients. Although the phenotypes associated with LH receptor mutations clearly illustrate the importance of the receptor in and male sex differentiation, puberty and gonadal function, its clinical implications merit a widespread appreciation. Anmerkungen 1) Themmen, A.P.N., Huhtaniemi, I.T.: Mutations of Gonadotropins and Gonadotropin Receptors: Elucidating the Physiology and Pathophysiology of Pituitary-Gonadal Function, in Endocr Rev 2000/21, 551-583 2) Liu, G., Duranteau, L., Carel, J.C., Monroe, J., Doyle, D.A., Shenker, A.: Leydigcell tumors caused by an activating mutation of the gene encoding the luteinizing hormone receptor, in N Engl J Med 1999/341, 17311736 3) Richter-Unruh, A., Wessels, H.T., Menken, U. et al.: Male LH-independent sexual preco- city in a 3.5 year-old boy caused by a somatic activating mutation of the luteinizing hormone receptor in a Leydig cell tumor. J Clin Endocrinol Metab 2002/87, 1052-1056 4) Richter-Unruh, A., Jorch, N., Wessels, H.T., Weber, E.A. Hauffa, B.P.: Venous sampling can be crucial in identifying the testicular origin of idiopathic male luteinising hormoneindependent sexual precocity, in Eur J Pediatr 2002/161, 668-671 5) Richter-Unruh, A., Verhoef-Post, M., Malak, S., Homoki, J., Hauffa, B.P., Themmen, A.P.N.: Leydig cell hypoplasia: absent LH receptor cell surface expression caused by a novel homozygous mutation in the extracellular domain, in J Clin Endocrinol Metab 2004/ 89, 5161-5167 6) Erhardt, A.A., Meyer-Bahllurg.: Effects of prenatal sex hormones on gender-related behavoir, in Science 1982/211, 1312 Die Autorin Annette Richter-Unruh studierte an der Justus-Liebig-Universität in Gießen Humanmedizin und promovierte mit einer experimentellen Doktorarbeit über Steroidglucuronide im Institut für Klinische Chemie und Pathobiochemie des Universitätsklinikums Gießen. Nach der Facharztausbildung zur Kinderärztin in der Universitätskinderklinik in Gießen wechselte sie 1998 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in die Klinik für Padiätrische Hämatologie/Onkologie und Endokrinologie des Universitätsklinikums Essen (Leitung: Prof. Dr. Werner Havers). Nach einem Auslandsaufenthalt 1998 an der Erasmus-Universität Rotterdam, Niederlande, etablierte sie die molekulargenetische Analyse des LH-Rezeptors in der Universitätskinderklinik Essen. Seit Februar 2003 ist Annette Richter-Unruh Stipendiatin des Lise-Meitner Programms. Im Rahmen dieser Freistellung fertigte sie ihre Habilitationschrift zum Thema der Genotyp-Phänotyp-Korrelationen bei Mutationen im LH-Rezeptor-Gen an.