Ansätze und Positionen einer humanistischen Friedensethik

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Thomas Heinrichs und Ralf Schöppner
Ansätze und Positionen einer humanistischen Friedensethik
Zusammenfassung
Zeitgenössische friedensethische und friedenspolitische Positionen stehen oftmals implizit in einer
humanistischen Tradition. Sie werden hier in Beziehung gesetzt zu einer bislang nur in Ansätzen
vorhandenen, sich explizit humanistisch nennenden Friedensethik. In ethischer Hinsicht wird dabei
ein weiter, interpersonal grundierter Begriff von Gewaltfreiheit stark gemacht. Entfaltet werden
dessen politische Implikationen für das primäre humanistische Ziel einer friedlichen
gesellschaftlichen Ordnung sowie für Grundvoraussetzungen einer politisch opportunen, wenn auch
ethisch nicht zu rechtfertigenden Einschränkung des Prinzips der Gewaltfreiheit in Ausnahmefällen.
Stichworte
Schwach positiver Friedensbegriff, Humanismus, Verantwortungspazifismus, Friedenspolitik,
militärische Intervention aus humanitären Gründen
Einleitung
Eine sich explizit humanistisch nennende Friedensethik ist bislang nur in ersten Ansätzen vorhanden.
Was es heute hingegen gibt – neben einem verbreiteten friedensethischen Alltagshumanismus – ist
das breite Spektrum einer etablierten Friedensethik und Friedensforschung. Dieses steht oftmals
implizit in einer humanistischen Tradition. Nachfolgend wird zunächst eine Bestimmung von
Humanismus als die sich über zwei Jahrtausende erstreckende historische Tradition eines „offenen
Systems” vorgestellt, in der Frieden als Wert eine zentrale Rolle spielt. Sodann stellen wir einen
humanistischen Friedensbegriff vor und setzen ihn in Beziehung zur Entwicklung von
Friedenforschung und Friedensbewegung in der BRD nach 1945 und zu zeitgenössischen
friedensethischen und friedenspolitischen Positionen. Gewollt ist dabei keine Vereinnahmung der
Vielfalt durch die humanistische Tradition, sondern das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten,
Differenzen und Leerstellen. Vor diesem Hintergrund wird der Ansatz einer spezifisch
humanistischen Friedensethik weiterentwickelt, die andere Friedensethiken nicht als nichthumanistisch diskreditiert und dennoch ein eigenständiges Profil hat.
Zwei Abgrenzungen sind zu machen: zum einen von einer theologischen Friedensethik, die den
Glauben an eine Existenz Gottes und an einen göttlichen Willen voraussetzt; zum anderen ist
humanistische Friedensethik aufgrund der Vielgestaltigkeit von Humanismus zugleich mehr und
weniger als eine spezifische Form angewandter philosophischer Ethik – mehr, weil sie sich nicht auf
die Form „Philosophie” reduzieren lässt, sondern verwoben ist mit politischen und alltäglichen
Praxen, mit weltanschaulichen und narrativen Elementen, weniger, weil sie nicht im Sinne einer
Prinzipienethik klare Unterscheidungen zwischen gutem und schlechtem Handeln sowie
allgemeingültige Normen und Werte begründen kann, jedenfalls nicht ohne Zweifel und Widerstreit.
Humanistische Friedensethik beruht allein auf menschlichen Überlegungen und Entscheidungen;
dadurch bleibt sie stets begrenzt und fehlbar, der Aporie und auch der Machtlosigkeit ausgesetzt.
Wir setzen, ausgehend von der philosophischen Verantwortungsethik von Emmanuel Levinas, einen
weiten, interpersonalen Begriff von Gewaltfreiheit an. Damit sollen zum einen auch die
unscheinbareren Formen von Gewalt zwischen Menschen als Friedenshindernisse ernstgenommen
werden. Zum anderen werden die ethische Rechtfertigung von Gewalt und eine politische
Instrumentalisierung der Ethik erschwert. Gleichzeitig aber erfordert eine solche Ethik das Politische
und die Politik, um gute Bedingungen für weitgehende interpersonale Gewaltfreiheit zu schaffen.
Der Kern einer humanistischen Friedenspolitik ist der Primat einer Vermeidung von Krieg und
Gewalt und nicht etwa die Fokussierung auf die Frage nach der Legitimität humanitärer militärischer
Interventionen. Wir diskutieren eine Reihe anthropologischer, sozialer, politischer und pädagogischer
Aspekte, die für die Entwicklung nach innen wie außen friedlicher gesellschaftlicher Ordnungen
mitentscheidend sind. Im Anschluss daran plädieren wir für einige Grundvoraussetzungen, die
1
gegeben sein müssen, damit in schwierigen Ausnahmefällen humanitäre militärische Interventionen
und damit eine Einschränkung des Prinzips der Gewaltfreiheit politisch gerechtfertigt sein können.
Allerdings führt dies nicht zu einer ethischen Rechtfertigung solcher Einsätze und Einschränkungen.
So wie es nicht den Humanismus gibt, so wird es auch nicht die humanistische Friedensethik geben.
Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich explizit als ein Versuch unter möglichen anderen,
einen Ansatz für eine zeitgenössische humanistische Friedensethik zu formulieren, die es in dieser
expliziten Form nicht gibt.
Begriffsfeld
Es gibt aktuell wie historisch eine ungeheure Vielfalt von Signifikaten, die sich mit dem Term
Humanismus bezeichnen oder bezeichnen lassen.1 Daher liegt es nahe, ein Verständnis von
Humanismus anzusetzen, das zweierlei leistet: Es sollte erstens weit genug sein, um die ganze Breite
und Heterogenität von Humanismus abbilden zu können; und es sollte zweitens dennoch ein
notwendiges Minimum an Einheitlichkeit liefern, um der Vielfalt ein gemeinsames Zentrum geben zu
können. In diesem Sinne bestimmt Hubert Cancik Humanismus als „ein offenes System”
(Cancik/Cancik 2014).
Es ist offen, weil die Gestalt seiner Elemente nicht festgelegt ist: Humanismus ist eine Philosophie,
eine kulturelle Tradition, eine soziale Bewegung, eine Weltanschauung, ein Zusammenhang von
Werten und Normen, eine Alltagspraxis, ein Bildungsideal, eine Gemeinschaftsform, ein
Epochenbegriff (Renaissance), ist verkörpert in historischen Personen und findet seinen Ausdruck in
Geschichten, Mythen, Literatur und Kunst. Dieses System ist offen aber auch, weil „die
Anforderungen an Kohärenz und Widerspruchslosigkeit (…) weniger hoch” sind, weil es
unvollständig, unvorhersehbar, unvollendet und veränderbar ist (ebd., S. 20).
Und dennoch ist es ein „System”: Es verfügt über Grundlagen und Kräfte, die die einzelnen Teile
sinnvoll miteinander verbinden und eine gewisse Fortdauer des Ganzen ermöglichen. Diese
Grundlage ist das stete Zusammen zweier Komponenten: (1) Bildung des Einzelnen, in einem weiten
Sinne von Formung und Zivilisierung, und (2) Mitmenschlichkeit, im Sinne von praktischer
Humanität, Humanisierung der Gesellschaft, Solidarität.2 Humanismus als ein solcher
Zweikomponentenkleber ist historisch weit über zwei Jahrtausende alt, älter als das Christentum.3 Er
ist nicht nur als historische Tradition herleitbar, sondern auch anthropologisch – der Mensch als
entwicklungs- und unterstützungsbedürftiges Wesen – und begrifflich – unser Begriff „Mensch”
impliziert den Gedanken von Entwicklung und seinen eigenen Plural. Bildung und Mitmenschlichkeit
sind beide nicht ohne Frieden denkbar, sie sind gleichzeitig schon sein Vollzug wie seine Bedingung.4
Unter einer humanistischen Friedensethik wird der Ausgang von einem ebensolchen Menschenbild
verstanden, das den Frieden uneingeschränkt als einen positiven Zustand und Prozess begreift, den
Krieg als Mittel der Politik grundsätzlich ächtet und Gewalt gegenüber anderen nur in eng definierten
Ausnahmefällen zulässt.
Aus humanistischer Perspektive kann es keine Trennung von Ethik und Politik geben. Eine
1 Vgl. hierzu die sogenannte „Groschopp-Liste”: http://humanismus-aktuell.de/node/120 (zuletzt
abgerufen am 27.10.15).
2 Die notwendige Allgemeinheit einer solch weiten Bestimmung von Humanismus wirft eine Reihe
zukünftiger, hier nicht diskutierbarer Forschungsfragen auf.
3 Diese Bestimmung von Humanismus als offenes System ist die Bestimmung eines
westeuropäischen Humanismus. Sie monopolisiert ihn aber nicht für Europa, sondern lässt die Frage
der Existenz von humanistischen Traditionen außerhalb Europas offen. Siehe hierzu: Rüsen/Laass
(Hrsg.) 2009.
4 Der Humanismus versteht sich seit Beginn des 20. Jh. vorrangig nicht mehr als eine Bewegung der
Rezeption der Antike, sondern als eine Philosophie über den Menschen (Giustiniani 1985, S. 174ff).
2
humanistische politische Position muss immer ethisch begründet sein und eine humanistische ethische
Position bezieht sich direkt oder indirekt immer auf den Menschen als ein soziales, ein politisches
Wesen. Diese Anforderung beeinflusst bereits die ethische Theoriebildung selber (vgl. Henrich 1990),
da von Anfang an klar ist, dass das grundsätzlich unbedingte ethische Gebot in der Praxis vielfach
nicht verwirklicht werden kann, da die Handlungsmöglichkeiten der Menschen beschränkt sind. Es ist
für eine humanistische Position entscheidend, eine immanente Verbindung von Ethik und Politik zu
leisten. Einer angeblich weltfremden Ethik kann nicht eine pragmatische, den scheinbaren Zwängen
des Faktischen verpflichtete Politik gegenübergestellt werden. Vielmehr geht es darum, ausgehend
von dem, was aus ethischer Perspektive das Richtige ist, im Einzelfall unter Berücksichtigung der
jeweiligen Lage, eine Handlungsposition zu finden, die dem humanistischen Ideal möglichst
weitgehend verpflichtet ist und auf die Humanisierung der menschlichen Verhältnisse abzielt.
Hauptteil
Ein humanistischer Friedensbegriff
Frieden ist der Anfang aller Humanisierung. Eine humane Gesellschaft ist nur in einer friedlichen
Gesellschaft möglich. Nur sofern das Leben der Menschen im inneren wie im äußeren Verhältnis der
Staaten nicht durch menschliche Gewalt gefährdet ist, nur sofern Konflikte zwischen den Menschen
mit möglichst wenig Gewalt gelöst werden und nur sofern alle Menschen die Freiheit der anderen
akzeptieren und nicht Gruppen versuchen, andere Menschen mit Gewalt ihrer Herrschaft zu
unterwerfen, gibt es für alle Menschen die Möglichkeit, in einer gleichen, gerechten, solidarischen
und humanen Gesellschaft (vgl. Heinrichs 2012) ihre Lebensmöglichkeiten auszuschöpfen.
Pazifismus ist per se eine humanistische Position5 , da jede pazifistische Position dem Grundsatz folgt,
dass die Sicherung von „Lebensentfaltungschancen” (Krell 1994, S. 35) absoluten Vorrang hat.
Krieg ist kein Schicksal, keine Naturgewalt. Kriege brechen nicht aus, so wie ein Vulkan ausbricht
oder ein wildes Tier aus einem Käfig. Menschen beginnen Kriege und Menschen können es lassen,
Kriege zu beginnen. Kriege sind das Ergebnis ungelöster Konflikte und eines sozial
institutionalisierten asozialen Egoismus der Menschen.
Konflikte zwischen den Menschen sind Teil ihres sozialen Lebens. Konflikte haben ein positives und
ein negatives Potential. Die strittige Auseinandersetzung miteinander kann ein Anstoß zu positiven
Veränderungen sein. Aus humanistischer Perspektive gilt es sowohl innerhalb von Gesellschaften als
auch im Verhältnis von Gesellschaften zueinander gewaltfreie Konfliktlösungsmechanismen zu
institutionalisieren, damit Konflikte nicht gewaltförmig eskalieren.
Daneben gilt es soziale Strukturen zu schaffen, in denen der asoziale Egoismus der Menschen keine
Entfaltungsmöglichkeiten findet, a-soziales Verhalten nicht belohnt wird (vgl. Heinrichs 2002, S.
283ff.) und die Anwendung von Gewalt in den Beziehungen der Menschen untereinander
diskriminiert wird.
A-humanistische Positionen, die über einen gewissen Kriegsfatalismus hinausgingen und den Krieg
nicht mehr als ein Übel, sondern als etwas Positives sehen wollten, fanden sich in der Neuzeit seit ca.
1800 (vgl. Janssen 1982, S. 593, 600ff.). Bereits in der Diskussion um den ewigen Frieden wurde
vertreten, dass ein andauernder Friede zur gesellschaftlichen Fäulnis führe (vgl. Embser 1779, 192).
Während dies im 18. Jh. wohl noch eine Minderheitenposition war (vgl. Dietze/Dietze 1989) ändert
sich dies mit dem Bellizismus des 19. Jh. (vgl. Kunisch/Münkler 1999). Im preußischen Militarismus,
der in den ersten Weltkrieg führte, erschien der Krieg als gesellschaftlicher Normalzustand (vgl.
Förster 1999, S. 65). Dagegen wurde in den USA im 19. und beginnenden 20. Jh. der Krieg als
überholtes Produkt einer „unaufgeklärten, undemokratischen Vergangenheit” verstanden (Wette 1991,
S. 129).
Erstmals nach dem ersten Weltkrieg entstand eine weltweite Kriegsächtungsbewegung, die mit dem
Abschluss des Briand-Kellog-Paktes, in dem der Krieg grundsätzlich als Mittel der Politik geächtet
5 Vgl. zum zwiespältigen Verhältnis der christlichen Kirchen zum Pazifismus und zu den
humanistisch-pazifistischen Positionen Beyer 2012.
3
wurde, ihren Höhepunkt fand (ebd., S. 121ff.). Damit war auch dem Konzept des gerechten Krieges
der Boden entzogen (ebd.) Dies war ein wesentlicher Schritt hin zu einer Humanisierung der
zwischenstaatlichen Beziehungen.
Im „soldatischen Nationalismus” Ernst Jüngers und anderer Autoren der „Konservativen Revolution”
wurde der Krieg dagegen wieder als „schicksalshaft” und als ein „Jungbrunnen der Völker” gepriesen
(ebd., S. 133). Dies war eine bewusst antihumanistische Position – „Der geborene Krieger lässt sich
auf humanitäre Perspektiven gar nicht ein” (Jünger 1930, S. 63) – die den Krieg außerhalb ethischer
Überlegungen stellen wollte und die in den NS führte.
Mit der Friedensbewegung und der in ihrem Umfeld entstehenden Friedens- und Konfliktforschung
entsteht nach dem Zweiten Weltkrieg erneut eine humanistisch orientierte Bewegung gegen den
Krieg.
Ausgehend von einem humanistischen Menschenbild, welches den Menschen grundsätzlich als
seinem Mitmenschen wohlgesonnen begreift, ist der Frieden als Zustand einer ungestörten,
funktionierenden sozialen Ordnung zu definieren.
Dies ist eine schwache positive Definition des Friedens. Sie definiert den Frieden nicht negativ als
Abwesenheit von Krieg, verlangt aber keine bestimmte Sozialordnung, um eine Gesellschaft als im
Status des Friedens befindlich zu bestimmen.
Es geht bei der Bewahrung des Friedens um den Schutz der Menschen vor gegen sie gerichteter
physischer Gewalt. Eine soziale Ordnung kann daher dann als funktionierend und damit als friedlich
bezeichnet werden, wenn es ihr gelingt, diesen Schutz im Wesentlichen zu gewährleisten. Dafür muss
die soziale Ordnung die Leistung erbringen, die in ihr existierenden sozialen Konflikte möglichst
ohne physische Gewalt zu regulieren und den Menschen einen friedlichen Umgang miteinander und
mit Konflikten zu ermöglichen. Je weniger das der Fall ist, desto weniger funktioniert die Ordnung
und desto mehr nähert sich die Gesellschaft einem Kriegszustand an. Frieden und Krieg sind die
Endpunkte einer Skala, die den Grad an physischer Gewalt in und zwischen Gruppen von Menschen
abbildet. Frieden ist damit nicht nur ein Zustand, er ist auch ein Prozess. Es geht darum,
gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Gewalt immer weniger nötig ist und
Menschen den friedlichen Umgang miteinander lernen und praktizieren können, weil sie von diesem
Weg überzeugt sind. Aus humanistischer Perspektive ist zwischenmenschliche Gewalt und Krieg eine
Ausnahme, die man vermeiden, soweit dies nicht möglich war, begrenzen und baldmöglichst beenden
muss. Bereits im Frieden müssen alle Anstrengungen unternommen werden, Gewalt und Krieg zu
verhindern.
Bei dem hier vertretenen weiten Gewaltbegriff (s. u.) zielt der Frieden daher idealerweise auf einen
gewaltfreien Zustand ab. Dass Frieden ein beständiger Prozess in diese Richtung ist, bedeutet auch,
dass nicht erst ein idealer gesellschaftlicher Endzustand als Frieden zu qualifizieren ist.
Galtung hat einen solchen stark positiven Friedensbegriff vertreten. Er hat Frieden als völlige
Abwesenheit von Gewalt definiert und Gewalt dann als einen Zustand, in dem „Menschen so
beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre
potentielle Verwirklichung” (Galtung 1975, S. 9, vgl. zur Debatte um diesen Gewaltbegriff Wasmuth
1988, S. 281ff.). Das Problematische an diesem weiten Gewaltbegriff und dem mit ihm verknüpften
stark positiven Friedensbegriff ist, dass Frieden nur noch als Endzustand menschlicher Gesellschaften
gedacht werden kann. Frieden ist für Galtung identisch mit einer Gesellschaft im idealen Zustand der
„sozialen Gerechtigkeit” (ebd., S. 32). Damit verkennt Galtung, dass eine positive Entwicklung
menschlicher Gesellschaft ein Mindestmaß an Friedlichkeit bereits voraussetzt. Schon diesen Anfang
gilt es wertzuschätzen und zu bewahren.
Auch wenn man als Humanist die Ziele einer ideal sozial gerechten Gesellschaft und einer ideal sozial
gerechten Welt in einer langfristigen Perspektive verfolgt, so ist es doch erforderlich, unter den
bestehenden Verhältnissen alles zu tun, um den Frieden auch in einer sozialen Ordnung zu bewahren,
die in Hinsicht auf die gewaltfreie Lösung von Konflikten nicht optimal ist. Aus humanistischer
Perspektive muss auch ein Frieden in einer nicht perfekten Gesellschaft uneingeschränkt als etwas
Positives begriffen werden.
4
Das Feld einer humanistischen Friedensethik nach 1945
Jede humanistische Friedensethik kann heute anknüpfen an einen friedensethischen
Alltagshumanismus, an eine – trotz aller vorhandener Gewalt – weit verbreitete Abscheu vor der
Gewalt und dem Krieg, wenn auch nicht immer, nicht bei jedem und jeder. Gewalt ist für die meisten
von uns keine Selbstverständlichkeit, sondern wird fast immer als Problem betrachtet.
Zwar hat es nach 1945 auch friedensethische und friedenspolitische Positionen gegeben, die sich
explizit auf den Humanismus bezogen haben (vgl. Große 1964, Hahn 1985, Flechtheim 1987, SchulzHageleit 1999, Beyer 2012), überwiegend jedoch sind im Feld der Friedensbewegung und
Friedensforschung Konzepte und Praxen ohne unmittelbaren Bezug auf den Humanismus entwickelt
worden, in denen sich leicht Elemente einer humanistischen Friedensethik ausmachen lassen (vgl.
Imbusch/Zoll 2006). Internationale Solidaritätsarbeit und Kriegsdienstverweigerung als Teile einer
praktizierten Friedenspolitik sowie die entstehende Friedenspädagogik greifen auch auf humanistische
Traditionen von Bildung und Mitmenschlichkeit zurück. Die Arbeiten der vielen Institute und
Autoren einer breiten interdisziplinären Friedensforschung gehören daher mit zum hier behandelten
Feld. Humanismus als säkulare Weltanschauung kennt kein Glaubensbekenntnis und verlangt keine
Mitgliedschaft. Humanist/in in einem weiten Sinne ist, wer humanistisch lebt und humanistische
Positionen vertritt.
So wie Humanismus eine soziale und kulturelle Bewegung ist, in der Reflexion mit praktischer
Humanität einhergeht, so haben sich auch Friedensforschung und Friedensbewegung in der BRD im
Kontext spezifischer Lebenserfahrungen und politischer Kämpfe entwickelt. Ein zentraler
gemeinsamer historischer Bezugspunkt ist das emphatische und emotionale „Nie wieder Krieg„ nach
einem Jahrhundert mit Weltkriegen und Völkermorden. Eine historische Lehre, die vielleicht
kumuliert in dem berühmt gewordenen Satz: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit
einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß
Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe”(Adorno 1992, S. 358).
Nachdem die Anfang des 20. Jh. entstandene Friedensbewegung im Faschismus zerschlagen worden
war und ihre führenden Personen emigrieren mussten, kam es nach 1945 in Deutschland aufgrund der
„Nie-wieder-Krieg”-Stimmung zunächst zu einer erfolgreichen Wiedergründung pazifistischer
Organisationen wie der „Deutschen Friedensgesellschaft”, der „Deutschen Liga für Menschenrechte”
und auch der „Internationale der Kriegsdienstgegner” (vgl. Holl 1988, S. 220).
Die Entwicklung der westdeutschen Friedensforschung und der sie tragenden Friedensbewegung
vollzieht sich dann vor allem im Kontext des Kalten Krieges, in den politischen Debatten um
Wiederbewaffnung, Nachrüstung und Formen des Widerstands, vom zivilen Ungehorsam bis hin zum
bewaffneten Kampf von Befreiungsbewegungen in Lateinamerika, Afrika und Asien.
Auffällig ist bei all dem, dass Religion in der Regel keine entscheidende Rolle in Hinsicht auf die
friedenspolitischen Forderungen spielte. Das bedeutet nicht, dass keine Akteure mit religiösen
Motivationen beteiligt gewesen wären, sondern dass die Beantwortung der „Gretchenfrage„ für das
Anliegen von Bewegung und Forschung maximal sekundär gewesen ist.
In der DDR wurde versucht, die Friedensbewegung als „humanistisches Erbe” (vgl. Klein 1968) in
die Staatsapparate zu integrieren. Auch in der DDR war die latente Drohung des Atomkrieges für die
Entwicklung einer humanistischen Position zur Friedensfrage entscheidend. Der VI.
Philosophenkongress der DDR fand 1984 zum Thema „Sozialismus und Frieden. Humanismus in den
Kämpfen unserer Zeit” statt (vgl. die Kongressdokumentation Berlin 1985 und die Darstellung des
politischen Kontextes bei Groschopp 2013, S. 479ff.). Der Sozialismus der DDR verstand sich als ein
Humanismus und sah die humane Entwicklung der Menschheit, zu der auch der Frieden gehörte,6 als
das Ende des menschlichen Fortschritts an. Allerdings reduzierte sich der Humanismus in der DDR
dann auf den real existierenden Sozialismus, eine eigenständige Qualität hatte er nicht. Mit dem hier
vertretenen Humanismusverständnis hatte er sehr wenig gemein.
6 „Die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, eine Welt des Friedens, der Arbeit, der Freiheit,
der Gleichheit und der Brüderlichkeit steht im Mittelpunkt dieses Humanismus” (Hahn 1985, S. 12).
5
Die Gefahr eines Atomkrieges zwischen dem „Westen” und dem „Osten” verlangte bereits jetzt, den
Frieden zu bewahren. Zu Recht erkannte man, dass der Frieden nicht das Ende, sondern die
Voraussetzung eines Prozesses der Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen ist und dass
eine friedliche Koexistenz nötig ist. Faktisch orientierte sich die DDR dann jedoch lediglich dahin,
dem Westen die „Alleinschuld” an der Kriegsgefahr zuzuschreiben (Rupprecht 1985, S. 55).
Grundsätzliche ethische Überlegungen fehlten ebenso wie eine problemorientierte Friedensforschung.
Auf Basis der Alleinschuldthese war dies nicht möglich. Es gab nur den Appell an „die Vernunft”
(Hager 1985, S. 111).
Waren Ost-West-Konflikt und Kalter Krieg der alles dominierende Hintergrund der Anfangsjahre,
deren Ende zunächst große Hoffnungen auf eine Friedensdividende weckte, so sieht sich die
gesamtdeutsche Friedensforschung – ähnlich wie eine humanistische Friedensethik (s. u.) – heute vor
ganz neue Herausforderungen gestellt (Werkner/Kronfeld-Goharani 2011). Es hat seit 1990 eine
Reihe von zumeist sehr umstrittenen Militäreinsätzen gegeben – Irak, Kosovo/Serbien, Afghanistan,
Libyen u. a. m., die offiziell mit humanistischen oder zumindest humanismuskompatiblen Motiven
begründet worden sind: Schutz von Menschenrechten und Demokratie, Verhinderung von
Völkermorden, Verhinderung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen, Bekämpfung des
internationalen Terrorismus. Selbst wenn sich diese Motive oftmals als verwoben mit ökonomischen
und geopolitischen Interessen oder sogar als bloß vorgeschoben herausgestellt haben, bleibt doch die
schwierige friedenspolitische Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Militäreinsatz legitim sein
kann, der Menschen unterstützt, deren Leben bedroht ist.
Vor diesem Hintergrund ist Frieden heute explizit ein Kernbegriff in den Debatten um das
Selbstverständnis zeitgenössischer humanistischer Organisationen.7 So wird Humanismus nicht nur
mit Antimilitarismus, sondern mit Pazifismus zusammengedacht, allerdings ohne eine radikale
Version im Sinne einer bedingungslosen Ablehnung von Gewalt zu befürworten (Schulz-Hageleit
1999). An anderer Stelle ist weniger Platz für das Aushalten solcher Ambivalenzen, und die
Hinwendung zum Pazifismus fällt rigoroser aus (Beyer 2000). Im aktuell noch gültigen
Selbstverständnis des Humanistischen Verbands Deutschlands von 2001 schließlich kommt die neue
und ambivalente friedenspolitische Herausforderung dadurch zum Ausdruck, dass sowohl das Recht
auf Kriegsdienstverweigerung unterstützt als auch dasjenige eingefordert wird, konfessionsfreie
Soldaten in Lebensfragen zu beraten.8
Friedenspolitische Grundsatzfragen sind kontinuierlich Gegenstand der Forschungs- und
Bildungsarbeit der Humanistischen Akademien, zuletzt insbesondere auf zwei wissenschaftlichen
Tagungen.9 Deutlich zutage tritt dabei nicht nur die inhaltliche Breite und Kontroverse im Spektrum
des organisierten Humanismus 10 , sondern auch das gemeinsame Anliegen, die Frage nach
sogenannten humanitären militärischen Interventionen in ein der Problematik angemessenes
friedenspolitisches Gesamtkonzept zu integrieren, das vor allem auf Prävention und nichtmilitärische
Lösungsstrategien fokussiert. Die Ausarbeitung einer solchen humanistischen Ethik und Politik des
gerechten Friedens, die sich der Lehre vom gerechten Krieg widersetzt, kann anschließen an die
eigenen Traditionen von Bildung und Mitmenschlichkeit wie an zeitgenössische friedenspolitische
7 Vgl. hierzu in diesem Band die Hinweise in dem Beitrag von Horst Groschopp zu Kurtz, SchulzHageleit und Beyer, zum Selbstverständnis des Humanistischen Verbandes Deutschland sowie zur
Arbeit der Humanistischen Union.
8 http://www.hvd-bb.de/sites/hvd-berlin.de/files/Humanistisches%20Selbstverst%C3%A4ndnis.pdf
9 Siehe dazu http://www.humanistische-akademie-berlin.de/content/humanistische-verantwortunginternationalen-konflikten und http://www.humanistische-akademie-berlin.de/content/reflektierendesoldat-berufsethische-qualifizierung-bundeswehr-frage-pluralistischen.
10 Vgl. hierzu auch Schulz-Hageleit (1999), den Beitrag von H. Groschopp in diesem Band sowie
insbesondere Beyer (2000).
6
und friedensethische Diskurse um Schutzverantwortung.
Die aktuelle Position eines friedensethischen Humanismus
Selbst wenn die These, „Frieden verkörpern” sei eine „Hauptaufgabe des Humanismus seit eh und je”
(Schulz-Hageleit 1999, S. 61) in historischer Perspektive zu differenzieren ist 11 , so bleibt doch in
evaluativer Hinsicht richtig, dass Frieden ein „Hauptinhalt humanistischen Denkens” ist, weil er eine
wesentliche „Grundbedingung kraftvoll sich entfaltenden guten Lebens” ist, wie der Krieg
andererseits eine große „Gefahr für die Humanität als Lebenspraxis und den Humanismus als
Lebenstheorie” (Schulz-Hageleit 1999, S. 5, 61) darstellt. Dies ist durchaus ein Spezifikum genuin
humanistischer Friedensethik, denn die menschliche Geschichte ist bis heute ungeheuer reich an
Beispielen für die Vereinbarkeit von Krieg und Religion für das Führen von Kriegen im Namen oder
unter direkter Beteiligung von Religion.12 Wenn nun seit dem 20. Jh. verstärkt Kriege im Namen von
Humanität oder impliziter humanistischer Überzeugungen – Menschenrechte – geführt werden, dann
ist damit die politische Hauptherausforderung einer humanistischen Friedensethik heute benannt.
Das stete Zusammen der beiden Komponenten des Humanismus – Bildung und Mitmenschlichkeit –
verweist auf die grundlegende Bedeutung der sozialen Beziehung für menschliches Leben. Die
Formung und Zivilisierung des Einzelnen findet in sozialen Bezügen statt, die nicht nur von
individuellen Freiheiten, sondern auch von wechselseitigen Abhängigkeiten und Beeinflussungen
geprägt sind. Dazu gehört von Anfang an der Anspruch praktischer Humanität, der
Nichtgleichgültigkeit gegenüber dem jeweils anderen Menschen. Humanismus ist hier immer schon
ein „Humanismus des anderen Menschen” (Levinas 1989). Frieden ist aufgrund der Struktur
menschlicher Sozialität eine stets prekär bleibende Angelegenheit. In ihr stehen Freiheit und
Humanität beständig auf dem Spiel, Friedfertigkeit ist genauso möglich wie Gewalt. „Gewaltsam ist
jede Handlung, bei der man handelt, als wäre man allein: als wäre der Rest des Universums nur dazu
da, die Handlung in Empfang zu nehmen; gewaltsam ist folglich auch jede Handlung, die uns
widerfährt, ohne dass wir in allen Punkten an ihr mitwirken” (Levinas 1996, S. 15). Die
Berücksichtigung des anderen ist eine Bedingung der Möglichkeit von Frieden.13 Berücksichtige ich
den anderen nicht, so ist dies ein gewaltsamer Akt; berücksichtige ich ihn aber, so ist dies keine
Garantie für Gewaltfreiheit und Frieden, denn für ihn kann die Berücksichtigung zu gering wie sie für
mich zu viel sein kann. Frieden kann aufgrund dieser unaufhebbaren Fragilität menschlicher
Beziehungen nicht erst die Abwesenheit von jeglicher Gewalt sein. Frieden verstanden, als Prozess,
ist im humanistischen Sinne die bleibende Aufgabe, den anderen stets so zu berücksichtigen, dass die
interpersonalen Beziehungen so weit wie eben möglich gewaltfrei sind.
Der angesetzte Gewaltbegriff ist sehr weit, lässt aber dennoch sinnvolle Abstufungen unterschiedlich
gravierender Formen von Gewalt zu. Er zielt auf eine besonders intensive Sensibilität für die
Realitäten des interpersonale Geschehens und versieht dieses bewusst mit einem starken ethischen
Anspruch, der nicht abschließend zu erfüllen ist. Es bleibt die Beunruhigung über die Möglichkeit
von Gewalt gegen den anderen. Humanistische Friedensethik ist in diesem Sinne eine Form von
Verantwortungsethik: Verantwortung des einen für den anderen. Die aktuell in Deutschland zu
beobachtende Parallelität von einerseits verbreiteter Aufnahme- und Hilfsbereitschaft gegenüber nach
11 Vgl. die Beiträge von Hubert Cancik und Frieder Otto Wolf in diesem Band.
12 Religionen sind sowohl zur Rechtfertigung von Kriegen wie zum Kampf für den Frieden
einsetzbar (vgl. Weingardt 2011, Meyer 2011).
13 Hier ließe sich auch eine Verbindung zu Kant herstellen, insbesondere zur Friedensschrift, in der
das Weltbürgerrecht der Hospitalität zentral und vorrangig ist „Zum ewigen Frieden 1795", ganz so,
als ob Frieden viel eher auf der Gastlichkeit als auf der Einheitlichkeit und Abgeschlossenheit eines
eigenen Raumes oder Subjekts beruht. Die neuerdings in einigen europäischen Staaten wieder
auftauchenden Forderungen nach homogenen Volkskulturen sind vor diesem Hintergrund nicht
friedensdienlich.
7
Deutschland flüchtender Menschen und andererseits neuen Rekordzahlen von Übergriffen auf
Flüchtlinge und Brandanschlägen auf Flüchtlingswohnheime bezeugt, dass das humanistische Projekt
einer friedlichen Gesellschaft zwar bei einer relativ stabilen sozialen Ordnung beginnen, dort aber
nicht stehen bleiben kann. Die interpersonale Beunruhigung bedingt die Schaffung, Erhaltung und
weitere Humanisierung einer stabilen gesellschaftlichen Ordnung, so wie auch diese Ordnung
umgekehrt eine Bedingung für friedliches Miteinander ist.
Humanistische Friedensethik ist keine erbauliche Lehnstuhlethik im philosophischen Elfenbeinturm
oder theologischen Seminar, sie fordert die Niederungen des Politischen, die Regelung der
gemeinsamen Angelegenheiten.14 Insbesondere zielt sie auf einen modernen demokratischen und
laizistischen Rechtsstaat, der anders als ein von dieser oder jener Religion dominierter Staat sich nicht
auf Hegemonie, sondern auf den fundamentalen ethischen Wert des Friedens gründen kann. Der
Zusammenschluss der Menschen in einem weltanschaulich-religiös neutralen Staat ermöglicht den
Pluralismus und ist in eben diesem Sinne nicht neutral: Er dient dem Frieden.
Sich an die Gesetze des weltanschaulich-religiös neutralen Staates zu halten stellt ebenfalls eine
notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Erhalt des Friedens dar. Darüber hinaus
müssen Bürger und Bürgerinnen auch wissen, warum sie sich an die Gesetze halten sollen. Sie
müssen wissen, dass sie es „um des lieben Frieden willens” tun.
Es kann aber auch sein, dass dieses oder jenes Gesetz gar nicht oder nicht mehr dem Frieden dient.
Humanistische Friedensethik verlangt immer auch die kritische Infragestellung der
Verrechtlichungen, getroffener Regelungen und des politischen Handelns vor deren eigentlichem
Sinnhorizont des Friedens.
Eine weitere Bedingung für gesellschaftlichen Frieden ist daher immer auch die Prüfung der
bestehenden Gesetze, wozu es ethischer und politischer Urteilsfähigkeit bedarf. Der weltanschaulichreligiös neutrale Staat ist daher in einer weiteren Hinsicht nicht neutral, sondern humanistisch
grundiert: Es ist seine Aufgabe, für den ihm zugrunde liegenden Wert des Friedens zu werben und
Möglichkeiten zur Ausbildung von ethischer und moralischer Urteilsfähigkeit seiner Bürger und
Bürgerinnen zu schaffen. Hier liegt ein wichtiges friedenspädagogisches und friedenspolitisches
Ausgabenfeld für staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure.
Es gehört zu den Stärken des hier zugrunde gelegten Gewaltbegriffs und Staatsverständnisses, dass sie
sich politisch nur schwer instrumentalisieren lassen, sondern stattdessen die Politik ethisch
umfassend, genau genommen unendlich, verpflichtet. Staat und Politik bleiben hier konsequent
ethisch gebunden. Sie haben den gesellschaftlichen Frieden zu erhalten und den interpersonalen zu
fördern. Auf dieser Grundlage lässt sich kein gerechter Krieg begründen. Jeder Militäreinsatz, ob er
Soldaten und/oder Zivilisten betrifft, wird dem Friedensauftrag nicht gerecht, ist Ausübung von
Gewalt gegen einen anderen und belastet die interpersonalen Beziehungen. Humanistische
Friedensethik widersetzt sich jeglicher Rechtfertigung von Gewalt, insbesondere jeder religiösen im
Namen dieses oder jenen Gottes, aber auch derjenigen im Namen des Kampfes gegen den
Terrorismus oder im Namen von Fortschritt, Menschenrechten oder Humanität. Sie widersetzt sich
jedem selbstgerechten oder triumphalischen Begleitjubel angesichts von Militäreinsätzen und Gewalt:
keine Sinngebung oder Sinnhuberei als unbedingte positive Rechtfertigung des eigenen Tuns. Es wird
insbesondere keine höhere – jenseitige – Gerechtigkeit, kein göttlicher Dank für gefallene Soldaten in
Aussicht gestellt, es wird nicht auf eine göttliche Weisheit oder Vorsehung rekurriert, es gibt keine
religiöse Entlastung vom Unsinn und Leid der Gewalt. Ebenso wird ein weltliches Geschichtsgesetz,
eine Teleologie, in der die Opfer von heute ihren vernünftigen Sinn in einer späteren Zeit haben
werden, abgelehnt.
Aus der Ablehnung jeglicher Rechtfertigung von Gewalt ergibt sich aber kein radikaler Pazifismus:
14 Es ist dies eine spezifisch humanistische Verbindung von Ethik und Politik: Der notwendige
innerhumanistische Widerstreit zwischen der Achtung der Anderen als Menschen und der Achtung
des Anderen als Anderen.
8
Militärische Gewalt kann das kleinere Übel sein (Wolf 2011a).15 Angesichts der Verantwortung für
den anderen muss abgewogen werden. Humanistische Friedensethik stellt keine Metaregel oder
Letztbegründung zur Verfügung, aus der im konkreten Fall einfach eine Entscheidung abgeleitet
werden kann. Hieraus ergibt sich aber gerade ein Mehr an Verantwortung für die politischen
Entscheidungsträger. Die Politik behält eine relative Autonomie gegenüber der Ethik. Wenn auch
ethisch weder die Inkaufnahme des Todes von Menschen im Namen der Verteidigung von
Menschenrechten noch die Unterlassung der Rettung einer hohen Anzahl von Menschenleben unter
Inkaufnahme des Todes einiger weniger zu rechtfertigen ist, so kann dennoch ein Militäreinsatz
politisch richtig sein. Sich einzugestehen, dass es solche schlimmen Ausnahmesituationen geben
kann, in denen man schuldig wird, egal wie man handelt, gehört zu einer humanistischen Position
dazu.
Ganz einfach deshalb, weil der Mensch im Humanismus keine gottähnliche Stellung einnimmt. Er
und sie, endlich und fehlbar: Unentscheidbarkeiten und moralischen Dilemmata ausgesetzt sein
(Derrida 1991); nicht alles wissen können, nicht immer wissen können, ob ein Militäreinsatz besser ist
als der Nicht-Einsatz; nicht immer klare und perfekte Lösungen anbieten können; zwischen Übeln
wählen müssen; Ambivalenzen aushalten müssen (Schulz-Hageleit 1999); sich irren können; aber
auch: sich von ökonomischen, machtpolitischen Interessen oder anderen Begehrlichkeiten leiten zu
lassen.
Das Humanistische dürfte angesichts von Krieg und Frieden eher in einem verzweifelten, entsetzten
und traurigen Gesicht zu finden sein als im vor Gewissheit und Selbstgerechtigkeit strahlenden.
Die aktuelle friedenspolitische Position des Humanismus
Wenn der Humanismus per se ein Pazifismus ist, so stellt sich die Frage, was seine pazifistische
Position ist. Seit es den Pazifismus als Antikriegsbewegung gibt, gibt es auch Debatten, ob Gewalt
überhaupt nicht oder in eng begrenzten Ausnahmefällen doch angewendet werden darf. Bejaht man
die letztere Position, so stellt sich die Frage, wie dieser Ausnahmefall definiert wird.
Allerdings ist aus humanistischer Perspektive die Frage, unter welchen Bedingungen Gewalt
angewendet werden darf oder muss, das Letzte, mit dem es sich zu beschäftigen gilt. Vorrangig geht
es um die Frage, wie eine friedliche Gesellschaft geschaffen, bewahrt und gestärkt werden kann.
Hierfür bedarf es einer möglichst sozial gerecht organisierten Gesellschaft und gewaltfreier Formen
der Austragung und Lösung von Konflikten – im Inneren wie im Äußeren. Ob es zu Kriegen
zwischen Staaten oder zu Bürgerkriegen kommt oder nicht, hängt maßgeblich auch von der inneren
Verfasstheit der Gesellschaften ab. Die erste Aufgabe von Humanisten ist es, aktiv für die
Verminderung der Gewalt in sozialen Prozessen einzutreten und alles dafür zu tun, dass die Staaten
im Inneren wie im Äußeren friedlicher werden.
Entscheidend für die Entwicklung einer humanistischen Position zu Krieg und Frieden war die
Entwicklung der Konfliktforschung nach 1945, durch die das Freund-Feind-Schema und das Bild des
„bösen” Täters überwunden wurde (vgl. Galtung 2008, S. 34). Eine humanistische Position kennt „das
Böse” nicht (Heinrichs 2012, S. 215). Gewaltsame Auseinandersetzungen finden nicht statt, weil böse
Menschen Böses tun oder weil der Mensch ein aggressives Wesen wäre (vgl. Jahn 2012, 54ff.). Zwar
ist die menschliche Aggressivität eine der Komponenten, auf denen physische Gewalt und Krieg
aufbauen, sie reicht jedoch zur Erklärung nicht aus: „selbst wenn die individuelle menschliche
Psyche, naturgeschichtlich bestimmt, aggressivitätsgebunden ist, würde dadurch die nicht mehr
individuelle erklärbare, gruppenmäßig oder staatlich organisierte Aggressivität noch lange nicht
erklärt werden können” (Senghaas 1974, S. 133).
Gewaltsame Auseinandersetzungen sind vielmehr zumeist die Folge der Eskalation ungelöster
Konflikte: „However, if we incline towards relation-oriented thinking we will feel correspondingly at
home in a general peace discourse that sees violence in terms of unresolved, vesterin conflict. In this
view, the only way of preventing violence is to solve, or at least transform, the conflict relation in
15 Zu einer humanistischen Friedensethik gehört auch das mögliche Eingeständnis, der weitere
Verlauf der Ereignisse stelle die Anfangsdiagnose vom „kleineren Übel” in Frage (Wolf 2011b).
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order to obtain peace” (Galtung 2008, S 34f.). Dies bedeutet auch, dass es keine einfachen
Schuldzuweisungen gibt. Ein eskalierter Konflikt ist immer ein Prozess, in dem beide Seiten etwas
falsch gemacht haben. Das Opfer kriegerischer Gewalt ist zumeist eine für die Eskalation des
Konflikts mitverantwortliche Partei (ebd., S. 34) und muss, um eine Deeskalation zu bewirken, auch
das eigene Verhalten in Frage stellen.
Der Umgang mit Konflikten ist immer auch durch die jeweilige Kultur geprägt. Kriegerische Kulturen
werden zu gewaltförmigen Lösungen tendieren, während friedliche Kulturen gewaltfreie Lösungen
anstreben. Krieg und Frieden sind daher auch das Ergebnis kultureller Prägungen (Galtung 1990).
Humanismus als ein kulturelles System steht für eine Kultur des Friedens.
Kriege werden aber nicht nur durch ungelöste Konflikte und nicht nur durch die kulturelle
Verankerung von Gewalt als Mittel der sozialen Auseinandersetzung verursacht, sondern auch durch
den a-sozialen Egoismus der Menschen. Der Konfliktbegriff der Friedensforschung bezieht sich nicht
auf Machtkonflikte, in denen es um die Durchsetzung von Hegemonie und um politische
Einflusssphären geht. Den Kolonialkriegen und dem Vietnamkrieg lagen in diesem Sinne keine
ungelösten Konflikte zugrunde. Auch der sogenannte Ost-West-Konflikt war daher kein Konflikt, der
mit den in der Friedensforschung entwickelten Methoden hätte reguliert werden können. Gegen diese
Form der Macht- und Gewaltpolitik hilft nur ihre grundsätzliche Diskriminierung. Der Krieg war und
ist schon immer auch ein Produktionsmittel. Nur ein grundlegender sozialer Wandel kann diese
Kriegsursache beseitigen.
Aus humanistischer Perspektive sind Kriegsursachen daher moralisch zu bewerten. Kriege, die Folge
eines ungelösten Konflikts um existentielle Ressourcen von Völkern sind (klassisch sind die
Wasserkonflikte), haben moralisch eine andere Qualität als Raubkriege, die dazu dienen, den eigenen
Wohlstand durch die kriegerische Ausbeutung anderer zu erhöhen.
Neben Methoden, die eine friedliche Konfliktlösung ermöglichen, ist in der Friedensforschung ein
ganzes Repertoire an Aufgaben und Handlungsoptionen entwickelt worden, die darauf abzielen, den
Frieden zu stärken.
Sowohl für den Frieden im Inneren wie für den Frieden im Äußeren ist die Installation eines
Gewaltmonopols und die demokratische Verfassung von Gesellschaften hilfreich. Mit der Entstehung
des staatlichen Gewaltmonopols wurden die innergesellschaftlichen Konflikte befriedet. Das
völkerrechtliche Prinzip der Souveränität der Staaten, welches nur der UN militärische Aktionen
gegen Staaten gestattet, ist ein wesentliches Fundament der Verhinderung von Kriegen.
Nachweislich haben im letzten Jahrhundert die parlamentarischen Demokratien der kapitalistischen
Länder kaum Kriege untereinander geführt. Kriege gegen andere Länder wurden dagegen in
„normalem” Umfang geführt (vgl. Geis/Wolff 2011). Es kommt für die Friedfertigkeit einer
Demokratie jedoch auch auf den Grad ihrer demokratischen Verfassung an. In keiner der
parlamentarischen Demokratien des Westens entscheidet die Bevölkerung im Wege direkter
Demokratie über die Frage, ob das Land kriegerisch tätig wird.
Auch im Verhältnis der Staaten untereinander ist eine gleichberechtigte Verfassung, wie sie durch das
Regelsystem der UN ansatzweise vorhanden ist, mit zivilen Konfliktlösungsmechanismen, wie z. B.
dem internationalen Gerichtshof, wichtig für die Erhaltung des Friedens.
Die demokratische Verfassung von Gesellschaften erschwert es nicht nur im Außenverhältnis, Kriege
zu führen, sie erleichtert auch die Integration der unterschiedlichen sozialen Gruppen in diesen
Gesellschaften. Integration ist ein dauernder Prozess, jede soziale Gruppe, jede neue Generation muss
immer wieder von neuem integriert werden. Eine Gesellschaft muss allen ihren Mitgliedern die
Möglichkeit politischer Partizipation eröffnen und die Chance auf ein angemessenes Auskommen
geben. Sie muss den unterschiedlichen Kulturen Raum geben und sie gleichermaßen wertschätzen.
Verhinderte Integration – wie sie sich gerade am Beispiel der muslimischen Migranten in einigen
Staaten zeigt – führt zu Gewalt. Die politische und soziale Integration aller sozialen Gruppen in die
Gesellschaft hinein ist damit eine genuin friedenspolitische Aufgabe. Auch hier gilt wie bei der
Deeskalation von Konflikten, dass beide Seiten sich ändern müssen, damit Integration gelingen kann.
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Integration ist nicht etwas, das ich vom Anderen fordern kann, ohne mich in diesen Prozess auch
selbst einzubringen.
Zu den Voraussetzungen des Friedens zwischen den Staaten gehört auch die Schaffung einer
gerechten Weltordnung. Große Wohlstandsdifferenzen zwischen den Staaten sind eine ständige
Gefahr für den Frieden. Entwicklungspolitik, humanitäre Hilfe und die Erhaltung der natürlichen
Lebensgrundlagen16 sind daher wesentlicher Bestandteil einer humanistischen Friedenspolitik.
Der Humanismus ist schon immer ein Projekt der Erziehung gewesen. Die Friedenspädagogik, wie sie
sich in Europa und den USA seit Beginn des 19. Jh. entwickelt hat, zielte von Anfang an auf die
Abschaffung des Krieges als sozialer Institution, aber auch auf die Schaffung einer konfliktarmen,
also demokratischen und gerechten sozialen Ordnung ab (Wintersteiner 2011). Das hierfür nötige
Wissen und die hierfür nötigen sozialen Kompetenzen sollen vermittelt werden. Die
Friedenspädagogik nach 1945 war dabei schon immer international orientiert. Vor allem seit den
1990er Jahren wird auch verstärkt die kulturelle Prägung in den Blick genommen und die Auflösung
„agonaler Kulturen” (Wintersteiner 1999, S. 369) angestrebt. Wintersteiner hat in Anlehnung an
Levinas eine Pädagogik, die sich am Umgang mit und am Respekt vor den Anderen orientiert, als eine
Pädagogik des Friedens bezeichnet (Wintersteiner 1999).
Die Friedenspädagogik hat auch auf den normalen Unterricht ausgestrahlt. So änderte sich das im
Sozialkundeunterricht vermittelte Weltbild in den 70er Jahren. Die ethnozentrische Darstellung der
Welt in konzentrischen, um das eigene Land herum angeordneten Kreisen wurde zugunsten einer die
eigene Stellung in die globalen Zusammenhänge einbettenden Position aufgegeben. Hierbei wurde
auch die eigene Verantwortung bei der Entstehung und Eskalation von Konflikten dargestellt
(Hamburger 2015). Im Zuge der erneuten Militarisierung der deutschen Außenpolitik zeigt sich, dass
diese realistische und friedensorientierte Position in den Schulbüchern wieder aufgegeben und zu
Freund-Feind-Mustern zurückgekehrt wird (ebd.).
Selbst in einer idealen Gesellschaft mit idealen Menschen würde es Konflikte geben. Kommt es zur
Eskalation von Konflikten, so müssen diese mit zivilen Mitteln bearbeitet werden. Eine pazifistische
Position verzichtet nicht auf den politischen Kampf. Sie verzichtet in der Regel (zu den Ausnahmen s.
u.) nur auf physische Gewalt als Mittel des politischen Kampfs (vgl. Flechtheim 1987, S. 249ff.).
Sofern Widerstand gegen eine ungerechte soziale Ordnung, gegen eine gewaltsame Unterdrückung
notwendig ist, sind zivile Formen des Widerstandes immer vorrangig.17 Ziviler Ungehorsam, Boykott,
politischer Streik, Kooperationsverweigerung sind Formen des politischen Engagements, die über die
legalen Möglichkeiten im Zweifel hinausgehen (grundlegend Ebert 1982). Eine politische Ordnung,
die ihre Bürger solche Handlungsformen lehrt, wird sich ihrer Unvollkommenheit und Vorläufigkeit
bewusst sein, denn solche Formen des zivilen Widerstandes können immer auch gegen die eigene
Ordnung eingesetzt werden. Aber nur eine Gesellschaft, die ihre Bürger darin schult, ihre Interesse
mit zivilen Mitteln durchzusetzen, schafft mündige und politisch handlungsfähige Bürger.
Auch Methoden sozialer Verteidigung sind zu entwickeln und einzuüben. Dabei ist klar, dass ziviler
Widerstand und soziale Verteidigung keine Wundermittel sind, sondern mit erheblichen Risiken
behaftet sind (vgl. Frei 1983). Dies gilt für gewaltförmige, militärische Aktionen aber auch und ist
daher kein grundsätzliches Gegenargument.
Im Außenverhältnis sind Friedensmissionen und humanitäre Hilfe vorrangig vor militärischen
Missionen. Die Zivile Konfliktbearbeitung hat sich vor allem in den letzten zwanzig Jahren als ein
wichtiges Tätigkeitsfeld in der internationalen Politik entwickelt. Hier gab es eine Vielzahl von
16 Die Zerstörung der Umwelt führt zunehmend mehr zu militärischen Konflikten (vgl. Welzer 2008).
Auch die Fluchtbewegung aus Syrien ist durch die dort aufgrund der Klimakatastrophe seit Jahren
herrschende Dürre mitverursacht.
17 Die Probleme der Rechtfertigung solcher Formen des zivilen Widerstandes, die häufig mit
Gesetzesverstößen einhergehen, werden hier ausgeklammert (vgl. Laker 1986).
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Projekten, die unter anderem dann erfolgreich waren, wenn das Gewaltniveau des Konfliktes noch
nicht besonders hoch war (vgl. Schweizer 2009, Müller/Schweitzer 2011). Gewaltfreie Methoden der
Friedensstiftung, Friedenssicherung und Friedenskonsolidierung sind, in Anlehnung an von Galtung
schon früher entwickelte Konzepte, ausgebaut worden (vgl. Schweitzer 2009). Zentral ist dabei die
Beachtung der Autonomie der Akteure vor Ort. Konflikte können nicht von außen gelöst werden.
Nicht zuletzt gehört der Abbau der Rüstungsindustrie und ihrer Lobbystrukturen zum humanistischen
Programm der Schaffung einer friedlichen Welt. An Rüstung und Militär wird viel Geld verdient. Es
gibt daher starke Interessen der Kriegsprofiteure an der Erhaltung und dem Ausbau von Militär und
Krieg. Diese militärisch-industriellen Strukturen müssen abgeschafft werden, um eine friedliche Welt
zu schaffen. Ist ein hochgerüsteter militärischer Apparat vorhanden, so besteht so etwas wie ein
Zwang des Faktischen, diesen teuren Apparat zur Durchsetzung eigener Interessen auch zu nutzen.
Hinzu kommt die Illusion, dass der Stärkere mit Gewalt Konflikte lösen könne.
Leider ist die Welt nicht immer und nicht überall friedlich. Humanisten stellen sich der Tatsache, dass
von Menschen Gewalt gegen Menschen ausgeübt wird. Ohne Zweifel hat jemand, der der Gewalt
ausgesetzt ist, das Recht, sich mit Gewalt gegen die Gewalt zu wehren, wenn anders Widerstand nicht
möglich ist (Flechtheim 1987, 250f.). In extremen Lagen kann es zu dem Dilemma kommen, dass der
Verzicht auf Gewalt zum weiteren Anstieg der Gewalt führt (vgl. Krell 1994). Ein humanistischer
Pazifismus muss sich diesem Dilemma stellen. Er lehnt den Einsatz von Gewalt nicht um jeden Preis
ab. Es kann Situationen geben, in denen es geboten ist, Gewalt einzusetzen, um andere vor Gewalt zu
schützen (vgl. Schulz-Hageleit 1999). Die Opfer von Gewalt müssen geschützt werden, in extremen
Situationen auch mit Mitteln, die ihrerseits wieder Gewaltopfer verursachen. Ein solcher
„Verantwortungspazifismus” (Schweitzer 2000, S. 56ff) ist auch bereit im Notfall aus humanitären
Gründen militärisch zu intervenieren (vgl. Heinrichs 2016).
Für den Einsatz von Gewalt sind enge Voraussetzungen vorab festzulegen. Der Einsatz militärischer
Gewalt ist immer die Ultima Ratio. Er kann daher nur dann gerechtfertigt sein, wenn vorher alle
Mittel friedlicher Friedensstiftung ohne Erfolg eingesetzt wurden. „Die dauernde kritische
Überprüfung jedweder Gewaltanwendung ist unabdingbar” (Flechtheim 1987, S. 252).
Es muss eine Perspektive für das Ende des Einsatzes militärischer Gewalt und für eine neuen
Friedensstatus geben. Ohne realistische Erfolgsaussichten darf keine militärische Intervention
begonnen werden. Die Effizienz der Mittel ist zwingen erforderlich, um den Gewalteinsatz zu
rechtfertigen. Der Einsatz von Gewalt darf keine Strafaktion sein, sondern er muss ausschließlich
erfolgen, um die Situation der Opfer vor Ort zu verbessern. Ist dies nicht möglich, so ist Gewalt keine
Option. Es gehört auch zu einer humanistischen Position, sich einzugestehen, dass man häufig nicht
helfen kann und ohnmächtig zusehen muss.
Eine militärische Intervention aus humanitären Gründen darf ausschließlich nur durch die UN und im
Rahmen des Völkerrechts stattfinden. Für völkerrechtswidrige Kriege gibt es keine Rechtfertigung.
Die wichtige, friedensstiftende Funktion der UN und des Völkerrechts darf nicht gefährdet werden.
Eine Selbstermächtigung einzelner Staaten zur Führung „gerechter” Kriege kann es nicht geben. Das
entscheidende Problem ist, wie „Menschen vor massiver innerstaatlicher Gewalt geschützt werden
können, ohne dass damit die tragenden Pfeiler des UN-Friedenssystems, nämlich das Interventionsund Gewaltverbot, geschwächt werden” (Brock 2013, S. 214).
Das primäre Motiv der militärischen Intervention aus humanitären Gründen muss die Sicherung des
Friedens sein.
Eine humanitäre Intervention kann nur im Rahmen der „Responsibility to Protect” erfolgen. Diese
wurde von der UN mit der Resolution 60/1 anerkannt. Die Responsibility to Protect ist auf vier
internationale Straftatbestände beschränkt: Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Vorrangig ist dabei zunächst die eigene Pflicht des
Staates, seine Bürger zu schützen. Erst wenn er dies nicht mehr tut oder kann, darf die internationale
Gemeinschaft eingreifen.
Ist die militärische Intervention abgeschlossen und ein Friedenszustand wiederhergestellt, so müssen
12
die intervenierenden Staaten sich am Wiederaufbau der zivilen Gesellschaft beteiligen und
Unterstützung zur dauerhaften Beseitigung der Kriegsursachen leisten.
Ausblicke
Das Bild vom Frieden und vom Krieg ändert sich seit dem Ende des klassischen Ost-West-Konflikts
wieder. Während Gustav Heinemann 1970 auf der Gründungsversammlung der Gesellschaft für
Friedens- und Konfliktforschung noch anmahnte, nationale Legenden, die ein Freund-Feind-denken
erzeugen, zu tilgen (Wette 1990, S. 245f.), werden heute z.B. mit „dem Islam” wieder neue
Feindbilder gebildet.
Der Krieg gehört heute wieder zum politischen Repertoire der europäischen Staaten (Münkler 2002).
In den derzeit bestehenden asymmetrischen Konflikten sind die Kosten für die überlegenen Staaten
kalkulierbar. Gerechtfertigt werden Kriege heute so gut wie immer mit humanitären Argumenten. Es
gelte die Durchsetzung der Menschenrechte in dem angegriffenen Staat zu sichern, die unterdrückte,
„gute” Opposition zu unterstützen oder die Opfer einer Diktatur zu befreien.
Häufig liegt einer militärischen Intervention aus humanitären Motiven ein Bündel unterschiedlicher
Motive zugrunde. Neben dem humanitären Motiv, in einer Extremsituation helfen zu wollen, gehören
hierzu immer auch machtpolitische Motive der intervenierenden Staaten. Humanitäre Motive
verkaufen sich derzeit jedoch innenpolitisch am besten. Mit ihnen kann man Zustimmung
organisieren. Vielfach werden humanitäre Argumente daher heute heuchlerisch zur Rechtfertigung
von Kriegen, die aus ganz anderen Motiven geführt werden, verwendet. Es ist zu befürchten, dass
diese weiter zunehmen wird. Dies entwertet jede tatsächlich humanistische Position. Hier gilt es der
staatlichen, inzwischen durch professionelle Werbeagenturen geführten Propaganda (Riewe 2015)
entgegenzutreten und die tatsächliche Situation und die tatsächlichen Kriegsgründe aufzuweisen.
Humanismus war schon immer auch Aufklärung. Aufklärung über die Gründe, aus denen heute
wieder Kriege geführt werden, tut not. Eine humanitäre Friedenspolitik verlangt letztlich eine andere
Welt. Sie ist nur im Rahmen eines Projekts der Humanisierung der Welt möglich.
Neben den zunehmenden militärischen Interventionen zählen zu den Herausforderungen der Zukunft
die Verhinderung eines neuen „kalten Krieges” zwischen der USA und Russland, aber auch China,
die zunehmende Zahl der Kriegs- und Armutsflüchtlinge, die Integration der Migranten, die
Herstellung stabiler politischer Verhältnisse im arabischen Raum und in Afrika unter Anerkennung
der kulturellen Autonomie dieser Regionen und die Roboterisierung 18 des Krieges. Hier wird auch der
Humanismus Antworten finden müssen.
18 Vollautomatische Drohnen, die autonom, ohne menschliche Steuerung agieren können, werden in
den nächsten Jahren zur Verfügung stehen. Andere Waffensysteme werden folgen.
13
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