Kapitel A EINLEITUNG 1 Hinführung zum Thema

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Kapitel A
EINLEITUNG
1 Hinführung zum Thema
Immanuel Kant – mehr als 200 Jahre nach seinem Tod ist das kritische
Denken des Königsberger Philosophen von bleibender Brisanz. Sein Denken beeinflusst bis heute maßgeblich philosophische, theologische, gesellschaftliche wie kulturelle Diskurse. Das kontinuierliche Interesse an kantischer Philosophie ist dabei nicht auf fachphilosophische Auseinandersetzungen beschränkt. Vielmehr haben Grundelemente kantischen Denkens
Einzug ins alltäglich kommunikative Gedächtnis erhalten. Davon zeugen
beispielsweise zahlreiche Äußerungen der Intellektuellen unterschiedlicher weltanschaulicher Provenienz anlässlich seines 200. Todestages.1 Zwar
scheint diskutabel zu sein, worin genau die Relevanz kantischen Denkens
besteht. Dass aber eine solche Relevanz besteht, wird nicht hinterfragt.
Diese Arbeit ist von der Überzeugung getragen, dass wir theologisch
wie philosophisch kritisch von Kant lernen können: Wir können von ihm
lernen, weil seine Überlegungen zu theoretischen wie praktischen Themen
auf Grund des hohen Reflexionsniveaus bis in unsere Tage bedenkenswert sind. Zugleich können wir kritisch von ihm lernen, weil die Ansätze
seiner Argumente angesichts einer 200jährigen Theologie- und Philosophiegeschichte ,nach Kant’ weiterentwickelt werden müssen. Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass philosophiegeschichtlich und
theologiesystematisch kein Weg mehr unter Kants Reflexionsniveau zurückführt. Zugleich ist es vor dem Hintergrund kritischer Anfragen und
möglicher Aporien sinnvoll, über Kant hinauszugehen. Um aber über Kant
hinauszugehen und nicht unter seinem Reflexionsniveau zu bleiben, muss
auf den kantischen Primärtext vor dem Hintergrund rezenter Interpretationsproblematiken zurückgegangen werden. Methodisch bedeutet dies,
1 Vgl.
H, D., Die Vernunft am Abgrund der Unwissenheit, 07. 02. 2004, 41. – Vgl.
die Zeitungsartikel von Karl Kardinal Lehmann, Gianni Vattimo, Bernard-Henri Lévy,
Alexander Kluge. In: D Z, Feuilleton, 31. Dezember 2003, 33–39.
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Einleitung
forschungsorientiert auf die kantischen Primärtexte zurückzugreifen. Zentraler Erörterungsgegenstand ist dabei der Begriff des höchsten Guts sowie
die von ihm abhängigen Begriffe. Besonders für die theologische Systematik hat dieser Begriff Relevanz, da von ihm der kantische Hoffnungsbegriff
sowie der moralische Gottesbegriff argumentlogisch abhängen und Kant
damit bedenkenswerte praktisch rationale Argumente für den vernunftpraktischen Glauben an einen Gott liefert. Der argumentative Ausgangspunkt des höchsten Guts ist jedoch aus zwei Gründen problematisch. Trotz
des öffentlichen wie akademischen Interesses an Kant spielt der Begriff des
höchsten Guts in der gegenwärtigen philosophischen wie theologischen
Diskussion so gut wie keine Rolle mehr.2 Zudem diskutiert die neuere
Kantforschung den Begriff des höchsten Guts lediglich am Rande.
Der begriffliche Superlativ ,höchstes Gut’ ist angesichts eines mehrheitlich postmetaphysisch pluralen Klimas einem inhärenten Totalitarismusund Verabsolutierungsverdacht ausgesetzt, gegen den es auf Grund der
konkreten geschichtlichen Erfahrung sowie einer philosophiehistorischen
Wandlung zu opponieren gilt. Kann das höchste Gut gegen Kant angesichts
einer paradox anmutenden ,prinzipiell’ positiven Bewertung von Pluralität nur noch in einer pluralen Semantik gedacht werden, wie es jüngst
Jürgen Habermas vorgeschlagen hat?3 Oder birgt nicht bereits der Begriff
des höchsten Guts, wie ihn Kant innerhalb seines Œuvres entwickelt, diese
Pluralitätssensibilität im Horizont einer nicht kontingent argumentierenden deontologischen Ethik?
Abgesehen von der Pluralitätsproblematik, scheint der Begriff des höchsten Guts aus der Alltagssprache gänzlich verschwunden zu sein. Schwerlich können wir deshalb assoziativ, geschweige denn begrifflich exakt ausdrücken, was unter einem ,höchsten Gut’ verstanden werden kann. Ist
also das höchste Gut, trotz des bleibenden Interesses an anderen Theoriestücken kantischer Philosophie, nicht mehr als ein philosophiehistorisch
interessantes oder gerade noch fachphilosophisch diskutables Thema? Ich
denke nicht, denn Kants Lehre vom höchsten Gut ist der systematische Ort
innerhalb seiner Philosophie, an dem er u. a. folgende Themen erörtert: die
systematische Verbindung von Tugend mit Glückseligkeit in einer Ethik
deontologischen Typs, die Möglichkeit gemeinschaftlichen Zusammenlebens in einem ethischen Reich, die Frage nach Sinn und Zweck moralischen
Handelns angesichts der Schlechtheit der Welt und angesichts des ,natürlichen’ Glücksbedürfnisses des Menschen, die Begrenztheit menschlicher
Kräfte sowie ihrer Ergänzungsbedürftigkeit durch Gott im moralischen
Gottespostulat.
2 Vgl.
3 Vgl.
H̈, O., Immanuel Kant, 2000, 248.
H, J., Die Grenze zwischen Glauben und Wissen, 2005, 248.
2
Thesen zum höchsten Gut bei Kant
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2 These zum höchsten Gut bei Kant
Das höchste Gut erfährt in allen drei Kritiken Kants und in der Religionsschrift eine implizite oder explizite Behandlung – sei es nun im KanonKapitel der Kritik der reinen Vernunft, im Dialektik-Kapitel der Kritik der
praktischen Vernunft, in der Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft oder
im dritten Buch der Religionsschrift.
Die Untersuchung soll zeigen, dass (a) der Begriff des höchsten Guts
einen Wandel innerhalb der kritischen Periode erfahren hat und dass (b)
sich dennoch zwei verschiedene Lesarten des höchsten Guts unterscheiden lassen, die sich durch diese Wandlungen durchhalten: eine eher gemeinschaftlich universelle Bestimmung des höchsten Guts als ethisches
Gemeinwesen, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft, in der Kritik der
praktischen Vernunft und in der Religionsschrift auf unterschiedlichem
Reflexionsniveau entwickelt, und eine eher individuelle Bestimmung des
höchsten Guts, die vornehmlich in der Kritik der praktischen Vernunft und
in der Kritik der Urteilskraft vorgenommen wird. Obwohl Kant diese beiden Konzepte nicht ausdrücklich verbunden hat, lässt sich die individuelle
Lesart des höchsten Guts in die gemeinschaftliche Lesart integrieren, ohne textphilologische Klimmzüge machen zu müssen. An das höchste Gut
ist (c) der Hoffnungsentwurf Kants angelehnt. Die Möglichkeits- und Realisationsbedingung des höchsten Guts ist das moralische Gottespostulat
(d), das aus dem höchsten Gut abgleitet wird. Der epistemische Status des
moralischen Gottespostulats ist ein handlungspraktisch notwendiger Vernunftglaube, der mit dem objektiven Wert des moralischen Gesetzes als
Teil des höchsten Guts begründet wird.
(e) Der im Horizont des höchsten Guts entwickelte Hoffnungsbegriff
weist verschiedene, strukturelle Vergleichsmomente zu einem christlichen
Hoffnungsbegriff auf. (f) Zudem kann der Begriff des höchsten Guts kantischer Provenienz in einen sakramentalen Horizont katholischer Theologie
transponiert werden.
3 Quelleneingrenzung und Methodik
Die kantische Werkperiode kann grob in die vorkritische Phase, die kritische Phase, eventuell noch in das Spätwerk und das Opus postumum
eingeteilt werden. Unter der kritischen Phase wird allgemein der Zeitraum
verstanden, in dem Kant seine drei Kritiken veröffentlicht hat. Das nachfolgende Vorhaben nimmt die Werke der kritischen Periode Kants sowie
einige Werke aus dem Spätwerk in den Blick, weil hier der Begriff des höchsten Guts von Kant eingehend behandelt wird. Zur Analyse des Begriffs des
höchsten Guts greife ich sowohl auf die Schriften der kritischen Phase, d. h.
auf die ,Kritik der reinen Vernunft’ (1. Aufl.: 1781), die ,Kritik der prakti-
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Einleitung
schen Vernunft’ (1788) und die ,Kritik der Urteilskraft’ (1790), als auch auf
die ,Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft’ (1792) zurück.
Kleinere Schriften sowie die kantischen Reflexionen des Opus postumum
werden punktuell ergänzend hinzugezogen.
Neben den Hauptwerken werden aus interpretatorischen Gründen Vorlesungsmitschriften über philosophische Religionslehre und über Metaphysik herangezogen. Wo die Periodisierung und die Authentizität der
von Kant selbst herausgegebenen Werke kaum anzweifelbar ist, können
die von Pölitz herausgegeben Vorlesungsmitschriften hinsichtlich ihrer Periodisierung und ihrer Authentizität schon eher Bedenken aufgeben. Ohne
hier in eine editorische Diskussion einzutreten, sehe ich den Inhalt der von
mir verwandten Vorlesungsmitschriften dann als authentisch an, wenn er
im Kern mit den Ausführungen der von Kant selbst veröffentlichen Werke
übereinstimmt.4
Die unterschiedliche Semantik des höchsten Guts und die damit eng
verbundenen Begriffe wie Hoffnung, Gott und moralischer Vernunftglaube sollen am Originaltext Kants selbst erarbeitet werden. Die systematische
Absicht, die unterschiedliche Semantik des höchsten Guts zu beleuchten,
genießt dabei einen Vorrang vor der entwicklungsgeschichtlichen Erarbeitung dieses Begriffs. Dabei versuche ich diese Ergebnisse an den aktuellen
internationalen Forschungskontext der kantischen Ethik zurückzubinden,
um auf die von Kant nicht ausdrücklich beachteten handlungspraktischen,
systemimmanenten und religionsphilosophischen Problembereiche hinzuweisen. Da die Forschungsliteratur zur kantischen Ethik Legion ist, beschränke ich mich auf die Forschungsliteratur der letzten 50 Jahre. Vornehmlich wird dabei deutsche, angelsächsische, italienische und französische Literatur herangezogen.
Theologiegeschichtlich nahm der metaphysische Begriff des höchsten
Guts im Altertum sowie im Mittelalter einen hohen Stellenwert ein. Beispielsweise verstand Augustinus Gott ontologisch als höchstes Gut und
Glück des Menschen, Anselm von Canterbury identifizierte das höchste
Wesen mit dem höchsten Gut und Thomas von Aquin sah das höchste Gut
als Seinsgrund aller Dinge schlechthin.5 Eine intensive Beschäftigung mit
dem Begriff des höchsten Guts steht somit in einer langen theologie- wie
philosophiegeschichtlichen Traditionsreihe.
In einem ersten, metatheoretischen Schritt dieses Kapitels (Abschnitt
4.1) soll die intensive philosophische Auseinandersetzung mit dem Begriff des höchsten Guts bei Kant innerhalb der Fundamentaltheologie als
ein Dialog von Theologie und Philosophie legitimiert werden. Ein zweiter
Schritt (Abschnitt 4.2) verweist auf die hohe systematische Relevanz von
4 Vgl.
5 Vgl.
für eine vertiefte Erörterung: L, G., Einleitung, 1972, 1338–1372.
H, B., Höchstes Gut, 1986, 435–441.
4
Das bleibende Interesse an Kants praktischer Philosophie
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Kants Moral- und Religionsphilosophie innerhalb von jüngeren und jüngsten katholisch-systematischen Entwürfen mit erstphilosophischen wie
freiheitsanalytischen Begründungsansätzen hin. Hier soll gezeigt werden,
dass die nachfolgende Arbeit ein systematisches Desiderat neuerer katholischer Systematik einzulösen versucht, wenn sie die Sachlage des höchsten
Guts in den Blick nimmt. Namentlich werden die Bewertungen von Hansjürgen Verweyen, Thomas Pröpper, Magnus Striet und von Georg Essen
zum höchsten Gut sowie zum moralischen Gottespostulat vorgestellt und
erläutert.
Die theologische Skizze im letzten Kapitel dieser Arbeit steht unter
der Leitfrage: Inwieweit gibt es positive, von Kant inspirierte Anknüpfungspunkte für theologisches Denken heute? Dabei insinuiere ich, dass
Begriffe mit unterschiedlich deduzierten Semantiken mögliche Anknüpfungspunkte bei bleibender Differenz haben und nicht unter das Verdikt
der Inkommensurabilität fallen. Trotz unterschiedlicher Erkenntnisquellen
der Theologie wie der Philosophie, soll auf einer ersten Reflexionsebene
ein Vergleich und eine Transposition gewagt werden. Exemplarisch werden der kantische sowie ein christlicher Hoffnungsbegriff strukturell verglichen. Darüber hinaus werden erste Wegmarkierungen für eine positive
theologische Transposition des höchsten Guts in einen sakramentalen Horizont hinein gesetzt. Vor Ort wird jeweils auf die Problematik des Vergleichs
oder der Transposition eingegangen.
4 Das bleibende fundamentaltheologisch-systematische
Interesse an Kants praktischer Philosophie
4.1 Das Verhältnis von Theologie und Philosophie als metatheoretische
Grundlage der fundamentaltheologischen Auseinandersetzung mit
Immanuel Kant
Christliche Theologie setzt sich seit ihren Anfängen mit unterschiedlichen
philosophischen Schulen auseinander. Die Theologie versucht den philosophischen Diskurs für ihr Arbeiten fruchtbar zu machen, weil sie ohne die
Philosophie weitestgehend blind und taub für einen sachlich angemessenen wie rational rechtfertigenden Umgang des Glaubens ist.6 Vom Beginn
christlichen Denkens reflektierten unterschiedliche philosophische Strömungen christliche Glaubensaussagen philosophisch, so dass theologische
Überlegungen direkt an diese philosophischen Reflexionen anschließen
können.
6 Vgl.
H̈, P., Dogmatische Prinzipienlehre, 2003, 226.
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