I. Wahrheit und Objektivität

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I. Wahrheit und Objektivität
Das Faktum der Wahrheit
Die Philosophie muß mit einem grundlegenden Sachverhalt beginnen, den
niemand bestreitet. Ein solcher Sachverhalt ist die unspektakuläre Tatsache,
daß wir Wahrheitsansprüche erheben, und dies manchmal, wenn nicht meistens, zu Recht. »Einen Wahrheitsanspruch erheben« klingt ein wenig hochtrabend für das, worum es geht. Wir halten schlicht dies und das für wahr, wir
urteilen, wir bilden uns Meinungen und äußern sie mitunter in Aussagesätzen, die wahr oder falsch (und hoffentlich in den meisten Fällen wahr) sind.
Diese grundlegende und unstrittige Tatsache ist das Faktum der Wahrheit.
In einem gewissen Sinn sind wir selber das Faktum der Wahrheit, denn
wahr (oder im ungünstigen Fall falsch) sind Sätze und Meinungen, und wir
Menschen sind es ja, die artikulierte Meinungen hegen und äußern. Der
Mensch ist das Lebewesen, das die Rede hat, sagt Aristoteles.1 Aber das war
nicht immer so und muß nicht so bleiben. Wir können die Rede auch wieder
verlieren und sind vielleicht schon insgeheim dabei; und andere Spezies können sie gewinnen (und sind vielleicht schon insgeheim dabei). Aber solche
langwierigen Prozesse müssen uns hier und heute nicht aus der Ruhe bringen.
In der Folge wollen wir uns vor allem mit zwei Fragen beschäftigen:
(1) Welche allgemeinen Unterstellungen oder Voraussetzungen machen
wir, wenn wir einen beliebigen Wahrheitsanspruch erheben (etwas für
wahr halten, ein Urteil fällen, eine Meinung äußern usw.)?
(2) Lassen sich solche allgemeinen Voraussetzungen rechtfertigen, und
wenn ja, wie?
Unsere Aufmerksamkeit gilt zunächst der ersten Frage.
Objektivität
Bisweilen täuschen wir uns. Wir sind also fehlbar. Unser schieres Fürwahrhalten verbürgt noch keine Wahrheit. Das hängt damit zusammen, daß
wir für unsere Wahrheitsansprüche in der Regel objektive Geltung beanspruchen. Nehmen wir an, ich meine und sage: »Heidelberg war die Haupt1
Politik I, 1053a10.
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stadt der Kurpfalz.« Was unterstelle ich damit in allgemeiner Weise, d.h.
was unterstelle ich, abgesehen von dem spezifischen Inhalt der Behauptung,
der die Stadt Heidelberg und die Territorien des Alten Reiches betrifft?
Damit uns der spezifische Inhalt beim Nachdenken nicht in die Quere
kommt, wollen wir ihn durch einen Schemabuchstaben, »p«, ersetzen, der
einen beliebigen Satz vertritt. Möge ich also behaupten, daß p. Was unterstelle ich, indem ich dies sage? Nun, fürs erste einen gewissen Realismus:
Ich unterstelle, daß es der Fall ist, daß p (z.B. daß Heidelberg die Hauptstadt der Kurpfalz war), ganz unabhängig davon, daß ich dies meine. Ich
glaube und beanspruche vielmehr, daß Heidelberg die Hauptstadt der Pfalz
auch dann gewesen wäre, wenn ich es nicht wüßte und nie daran gedacht
hätte. Meine Meinungen machen sich in der Regel nicht selber wahr, schaffen nicht selber die Tatsachen, von denen sie handeln, sondern sie sind wahr
oder falsch je nach dem objektiven Stand der Dinge. Dies ist unsere allgemeine realistische Unterstellung oder Voraussetzung in allen unseren objektiven Wahrheitsansprüchen. (Von nicht-objektiven Wahrheitsansprüchen sehen wir vorerst ab; es gibt sie, aber sie sind den objektiven
nachgeordnet.)
Halten wir das erste Ergebnis unseres Nachdenkens noch einmal ausdrücklich fest: In unseren Meinungen setzen wir im allgemeinen voraus,
daß die Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, unabhängig von jenen Meinungen bestehen. Diese Unabhängigkeit eines Sachverhaltes von unseren
Meinungen über ihn ist seine Objektivität. Und die Meinung ihrerseits ist
objektiv, sofern sie sich auf einen objektiven Sachverhalt bezieht.
Freilich wissen wir, daß Unabhängigkeit meist eine Sache des Grades ist.
Wir müssen also darauf gefaßt sein, daß auch die Objektivität sich als eine
Sache des Grades erweisen wird und daß die Extreme vollkommener Objektivität und vollkommener Nicht-Objektivität womöglich irreale Grenzfälle darstellen.
Sachverhalte
Wir wollen versuchen, den Begriff der Unabhängigkeit (der Sachverhalte
von unseren Meinungen über sie) noch ein wenig schärfer zu fassen. Was
genau setze ich voraus, wenn ich in meinem Urteil, daß p, voraussetze, daß
der Sachverhalt, daß p, von meinem Urteil unabhängig ist?
Zunächst noch ein Wort zum Begriff des Sachverhaltes. Wir nennen so
dasjenige, was einen Satz wahr machen würde, also seine Wahrheitsbedingung. Der deutsche Satz »Schnee ist weiß«, der englische Satz »Snow is
white« und der italienische Satz »La neve è bianca« sind wahr dann und nur
Fehlbarkeit
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dann, wenn Schnee weiß ist. Daß Schnee weiß ist, ist ihre gemeinsame
Wahrheitsbedingung bzw. ist der Sachverhalt, den jeder von ihnen ausdrückt. Wenn die Wahrheitsbedingung eines Satzes erfüllt ist, sagen wir, daß
der betreffende Sachverhalt besteht; wenn sie nicht erfüllt ist, daß er nicht
besteht. Einen bestehenden Sachverhalt nennen wir eine Tatsache. Oft wird
hinzugefügt, die Wahrheitsbedingung eines Satzes sei das, was der Satz bedeutet (sei seine sprachliche Bedeutung). Dies aber ist keine bloße Verabredung mehr, sondern eine kontroverse philosophische These. Ich halte sie
für zutreffend, aber ich habe noch kein Argument für sie ins Feld geführt.
Lassen wir sie also vorerst aus dem Spiel. – Gemäß unseren Verabredungen
können wir sagen, daß die Wahrheitsbedingung des deutschen Satzes
»Schnee ist grün« wie auch die des englischen Satzes »Snow is green« und
die des italienischen Satzes »La neve è verde« der Sachverhalt ist, daß
Schnee grün ist. Da dieser Sachverhalt nicht als Tatsache besteht, ist die
Wahrheitsbedingung der genannten Sätze nicht erfüllt; die Sätze sind somit
falsch.
Mit unserer liberalen Rede von Sachverhalten und Tatsachen wollen wir
übrigens keine ontologische These verbinden. Wir wollen also keineswegs
behaupten, daß es über den weißen Schnee hinaus auch noch den Sachverhalt (und die Tatsache) gibt, daß Schnee weiß ist. Auch im Fortgang werden wir keine hinreichenden Gründe finden, Sachverhalte und Tatsachen
als etwas real Existierendes anzunehmen. Es handelt sich hier nur um bequeme Redensarten. Sachverhalte haben ihre »Existenz«, d.h. ihr Bestehenoder-Nichtbestehen (und Tatsachen ihr Bestehen), nicht für sich, sondern
nur an den Sachen oder Dingen, die in ihnen vorkommen. So hat der Sachverhalt, daß Schnee weiß ist, sein Bestehen – und der Sachverhalt, daß
Schnee grün ist, sein Nichtbestehen – am weißen Schnee. Nur dieser ist das
eigentlich Reale.
Fehlbarkeit
Wir wollten versuchen, den Begriff der Unabhängigkeit der Sachverhalte
von unseren Meinungen schärfer zu fassen. Das eigentlich Reale, das von
unseren Meinungen unabhängig ist, sind aber, wie gerade gesagt wurde,
nicht die Sachverhalte, auch nicht die bestehenden Sachverhalte (die Tatsachen), sondern die Dinge. In ihrer Unabhängigkeit von unseren Meinungen sind die Dinge objektiv, sind sie Objekte, und sind auf der anderen Seite
auch unsere Wahrheitsansprüche objektiv, sofern sie sich nämlich auf Objekte beziehen. Dies vorausgeschickt, wollen wir dennoch weiterhin auch
von Sachverhalten reden.
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I. Wahrheit und Objektivität
Was unterstellen wir nun in einem Urteil »p«, wenn wir seine Objektivität unterstellen? Wir unterstellen die Unabhängigkeit des Sachverhaltes,
daß p (und der Objekte, die in dem Sachverhalt vorkommen), von unserem
Urteil, daß p. Unser Urteil macht sich nicht selber wahr. Es wäre möglich,
daß wir urteilten, daß p, und daß der Sachverhalt gleichwohl nicht bestünde, daß wir uns also in unserem Urteil täuschten. Wir unterstellen also
in unseren objektiven Wahrheitsansprüchen, daß wir in ihnen fehlbar sind.
Das mag seltsam klingen, nachgerade widersinnig. Prüfen wir also, wie
genau die mit der Objektivität unterstellte Fehlbarkeit zu verstehen ist.
Manchmal raten wir zwar, und manchmal äußern wir Vermutungen.
Aber in ihrer Grundform sind Wahrheitsansprüche Wissensansprüche.
Wenn ich ernsthaft und aufrichtig behaupte, daß p, unterstelle ich also, daß
ich hinreichende Gründe für die Wahrheit von »p« habe. Mit meiner Fehlbarkeit, die ich auch unterstelle, kann ich dann aber nicht meinen, daß ich
keine hinreichenden Wahrheitsgründe für »p« habe, daß ich nur rate oder
eine Vermutung äußere; denn dann würde ich mir in meinen Unterstellungen widersprechen. Vielmehr wird es so sein, daß ich, indem ich meine
Fehlbarkeit anerkenne, die grundsätzliche Möglichkeit in Betracht ziehe,
daß ich meine und urteile, daß p, ohne daß es der Fall ist, daß p.
Wenn ich meine, daß p, ohne daß es der Fall ist, daß p, so kann ich dies freilich nicht zugleich bemerken und anerkennen. Jemand, nennen wir ihn Gustav, möge glauben, Tübingen liege am Main. Wir können dann widerspruchsfrei und sogar wahrheitsgemäß sagen: »Gustav glaubt, daß Tübingen
am Main liegt, aber Tübingen liegt nicht am Main«. Aber Gustav selber kann
nicht wahrheitsgemäß sagen: »Ich glaube, daß Tübingen am Main liegt, aber
es liegt nicht am Main.« (Das ist das sogenannte Mooresche Paradox.2) Andererseits könnte Gustav sehr wohl sagen: »Tübingen liegt am Main«, und
ohne Widerspruch hinzufügen: »Es ist möglich, daß ich meine, Tübingen liege
am Main, und daß Tübingen nicht am Main liegt«, oder: »Unter bestimmten
kontrafaktischen Bedingungen würde ich meinen, daß Tübingen am Main
liegt, aber Tübingen läge dann nicht am Main«. Diese Möglichkeit erkennt er
an, indem er mit seinem Urteil zugleich seine Fehlbarkeit anerkennt.
Mögliche Welten
Möglichkeit und Notwendigkeit sind die beiden fundamentalen Modalitäten. Wir machen regen alltagssprachlichen Gebrauch von ihnen, etwa wenn
wir sagen, daß dies der Fall sein könnte oder jenes der Fall sein muß. Einige
Philosophen, an erster Stelle der amerikanische Philosoph W.V. Quine
2
Vgl. Moore, »A Reply to My Critics«, S. 543.
Mögliche Welten
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(1908-2000), glauben, die Modalitäten seien nicht theoriefähig und man
müsse sie als Ausdrucksmittel ganz der Alltagssprache überlassen.3 Wenn
sie indessen theoriefähig sind, dann ist die Philosophie ihre theoretische
Heimat. Zwar gelten auch die mathematischen Sätze mit Notwendigkeit
(und die naturwissenschaftlichen, sofern sie gelten, immerhin noch mit Naturnotwendigkeit), aber die Mathematik macht die notwendige Geltung
ihrer Sätze nicht zum Thema, ja, unterschlägt sie völlig in der Formulierung
ihrer Lehren. Die Ausdrücke »mit Notwendigkeit« oder »notwendigerweise« kommen in mathematischen Sätzen nicht vor. Eine mengentheoretische Wahrheit lautet: »Umfangsgleiche Mengen sind gleich« (Extensionalitätsaxiom). Eine arithmetische Wahrheit lautet: »5+7=12«. Beide Wahrheiten gelten notwendigerweise. Aber das gehört nicht zu ihrem Inhalt, also
nicht zur Mathematik, sondern ist unsere äußere Interpretation und gehört
insofern zur Philosophie der Mathematik. Für die Philosophie nämlich ist
es charakteristisch, daß sie erstens die Modalitäten nicht-philosophischer
Aussagen thematisiert und zweitens die Modalitäten ihrer eigenen Aussagen in deren Inhalt aufnimmt, daß sie also ihre Lehren in modalen Sätzen
formuliert.
Zu Zwecken der Veranschaulichung werde ich modale Aussagen bisweilen in die beliebte Redeweise von möglichen Welten übersetzen. Statt
bloß zu sagen: »Notwendigerweise ist 5+7 =12« werde ich dann sagen: »In
allen möglichen Welten ist 5+7=12«, und statt zu sagen: »Zwar gibt es
schwarze Katzen, aber es wäre auch möglich, daß es keine schwarzen Katzen gäbe« werde ich sagen: »In der wirklichen Welt gibt es schwarze Katzen, aber in einigen möglichen Welten gibt es keine schwarzen Katzen«. Da
alles Wirkliche auch möglich ist, ist die wirkliche Welt eine der vielen möglichen Welten. Wodurch sie sich vor den anderen möglichen Welten auszeichnet, ist umstritten und braucht uns im gegenwärtigen Zusammenhang
nicht zu interessieren. (Trivialerweise durch ihre Wirklichkeit, wird man
sagen.) Die möglichen Welten denkt man sich raumzeitlich und kausal isoliert voneinander. (So der amerikanische Philosoph David Lewis, 19412001, der die reale Existenz der möglichen Welten lehrte.4) Es gibt also
grundsätzlich keine Reisemöglichkeiten zwischen den Welten, und was in
einer Welt passiert, hat keine Wirkungen in einer anderen. Im Rückgriff auf
solche Welten können wir die Modalitäten wie folgt erklären:
Notwendig ist, was in allen möglichen Welten gilt.
Möglich ist, was in mindestens einer möglichen Welt gilt.
3
4
Vgl. Quine, Wort und Gegenstand, § 4, und Unterwegs zur Wahrheit, § 30.
Vgl. Lewis, On the Plurality of Worlds.
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