Vom Stammbaum der Sprachen - Max-Planck

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Vom Stammbaum
der Sprachen
WAS UNS GENE VERRATEN
D
as einzigartige Talent, überaus
komplexe sprachliche Strukturen zu beherrschen, verdankt
der Mensch dem Zusammenspiel seiner genetischen Grundausstattung mit der Umwelt, die diese Fähigkeit permanent beeinflusst und formt.
Sprache ist die Grundlage unserer Gesellschaft, unserer Kultur und Wissenschaft.
Ihre Form, Verbreitung und ihr Erwerb in
Kindheit und Erwachsenenalter sind daher
ebenso einer Untersuchung wert wie die
Frage nach ihrer Verarbeitung im Gehirn,
dem Einfluss auf Denken und Handeln,
Kultur und Erziehung.
Was ist das Besondere an den Genen
des Menschen, dass sie ihm den Gebrauch
von Sprache erlauben? Und in welchem
Zusammenhang steht diese Fähigkeit mit
anderen kognitiven Leistungen? Noch vor
Kurzem ließen sich diese Fragen kaum sinnvoll stellen. Erst rasante Fortschritte der
vergangenen Jahre haben uns ermöglicht,
den genetischen Kode – und damit die genetische Grundlage der Sprache – schnell
und kostengünstig zu entziffern. Drei Beispiele für aktuelle Forschungsprojekte sollen das im Folgenden demonstrieren.
GEnE UnD DiE inDiViDUELLE
SPrAchkoMPEtEnZ
Das menschliche Genom »erschafft« die
Sprachen nicht selbst, lenkt aber doch den
Aufbau des Gehirns und anderer Organe in
Bahnen, die eine Sprachbeherrschung ermöglichen – und ist damit auch für die teils
erheblichen individuellen Unterschiede in
den Fähigkeiten verantwortlich: Während
die einen ganz besondere Talente beim Umgang mit Sprache an den Tag legen, leiden
andere im Extremfall unter schweren angeborenen Sprachstörungen1.
Elektrisiert wurde die Fachwelt vom
Fund eines Gens, das einer Sprechstörung
(Dyspraxie) zu Grunde liegt2.
Betroffene haben unter anderem mit erheblichen Artikulationsschwierigkeiten zu kämpfen. Die Untersuchung einer
von erblicher Dyspraxie betroffenen englischen Familie
ergab, dass bei ihnen eine
Mutation im Gen FOXP2 auf
Chromosom 7 dafür verantwortlich ist, das
indirekt am Aufbau der Sprachzentren im
Gehirn beteiligt ist (Bild 1). Mittlerweile
scheint es sogar, als könnte der gleiche Mechanismus auch bei anderen, deutlich häufigeren Sprachdefiziten eine Rolle spielen.
Doch damit ist FOXP2 noch lange
nicht das »Sprachgen«, als das es die Medien häufig titulieren. Dieselbe Mutation, die
für die Artikulationsstörungen verantwortlich ist, schadet beispielsweise auch der Leber; obendrein taucht die gesunde, nicht
mutierte Form bei zahlreichen Tierarten
auf, so etwa bei der Maus – und die kann
definitiv nicht sprechen. Das Gen ist eben
nur eine von vielen genetischen Komponenten, die allesamt an der ordentlichen
Entwicklung unserer Sprachfähigkeit mitwirken3. Doch zweifellos war seine Entdeckung der erste, wenn auch kleine Durchbruch bei der Suche nach den genetischen
Grundlagen der menschlichen Sprache4.
GEnE UnD BEVÖLkErUnGEn
Anthropologen gehen heute davon aus,
dass sich der moderne Mensch von Afrika
aus über den Erdball verbreitete. Gibt es
einen Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Sprachen und genetischen
Unterschieden zwischen den Bevölkerungen, die diese Sprachen sprechen?
Kürzlich haben Forscher demonstriert,
wie weit genetische und linguistische Klassifizierungen auseinanderklaffen können –
auch in Europa: Hier gehören praktisch
D
ie Sprachen sind teil der kulturen – und zugleich deren wichtigste
Grundlage. Die Fähigkeit, sie zu entwickeln, zu erlernen und
anzuwenden, ist jedoch teil unseres gemeinsamen genetischen
86
Bild 1 | Das FOXP2Gen scheint für eine
bestimmte Sprachstörung verantwortlich zu sein.
Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft | 2010+
alle Sprachen zur indoeuropäischen Sprachfamilie, mit
Ausnahme des Baskischen,
von dem keine Verwandten
bekannt sind, und den
finnougrischen Sprachen
mit ihren prominentesten
Vertretern Ungarisch und
Finnisch. Die Forscher zeigten nun, dass heutige Finnen mit den Indoeuropäern genetisch wesentlich näher
verwandt sind als mit ihren Nachbarn, den
Samen, obwohl deren Sprache zur gleichen Familie zählt wie Finnisch5.
Andere Projekte beleuchten den Kontakt vorgeschichtlicher Bevölkerungsgruppen, etwa in Afrika oder Sibirien. In
welcher Weise führen bestimmte Kontaktsituationen zu charakteristischen Veränderungen in den beteiligten Sprachen? Molekulargenetische Methoden können hier
nützlich sein, um Arten des Kontakts zu
rekonstruieren, indem sie beispielsweise
einen Flaschenhals- oder Gründereffekt
aufspüren oder Anhaltspunkte für eine
einstige Vermischung von Volksgruppen
liefern. Stimmen die genetische und die
sprachliche Zugehörigkeit einer Gruppe
hingegen nicht überein, kann dies ein Hinweis auf einen Sprachwechsel sein6.
Auch die Ausbreitung von Sprachen
über weiträumige geographische Gebiete
lässt sich mit Methoden der Genetik erforschen. Wo der klassische Ansatz, die vergleichende historische Linguistik, primär
mit Ähnlichkeiten im Vokabular zweier
Idiome arbeitet und im günstigsten Fall auf
die letzten paar tausend Jahre zurückblicken kann, wendet ein neues Projekt nun
in Biologie und Genetik gängige Verfahren
zur Konstruktion kladistischer Stammbäume an, um aus phonologischen, morphologischen und syntaktischen Merkmalen
der fraglichen Sprachen Stammbäume zu
rekonstruieren. Bislang haben Forscher so
Erbes. Diesen Aspekten der Sprache widmen sich die Forscher der
Max­Planck­institute für Psycholinguistik, evolutionäre Anthropologie
sowie kognitions­ und neurowissenschaften.
Geistes-, sozial- und HumanwissenscHaften
Die Methoden der Genetik bereichern die Erforschung sprachlicher Phäno­
mene, aber auch die Suche nach dem Ursprung der Sprache.
Genvarianten sind für individuelle Unterschiede im Sprachvermögen
mitverantwortlich.
Bestimmte erbliche Veranlagungen könnten die Ausbildung jeweils eigener
sprachlichen Strukturen fördern.
Bild 2 | Die hoch entwickelten Sprachen Melanesiens werden
anhand von Stammbäumen erforscht 2.
die komplizierte Sprach- und Besiedlungsgeschichte Melanesiens untersucht, dem
Gebiet nördlich und nordöstlich von Australien, die sich durch eine große Differenziertheit auszeichnet (Bild 2). Jetzt konzentrieren sie sich auf die besonders komplizierten Verhältnisse innerhalb der
Papua-Sprachen7,8.
Bild 1: Science Photo Library / Ramon Andrade; Chinesin: Getty Images / Guang Niu; Café unten: Getty Images / National Geographic / Jodi Cobb
GEnE UnD DiE StrUktUrEn
Von SPrAchEn
Keine der rund 7000 noch lebenden Einzelsprachen ist angeboren. Möglicherweise
gibt es aber doch gewisse genetische Dispositionen für spezifische strukturelle Eigenschaften. Das wurde für den Unterschied
zwischen Tonsprachen und Nichttonsprachen mit hoher Plausibilität gezeigt. Chinesisch zählt zu den bekanntesten Vertretern des ersten Sprachtyps, der sich aber
auch in zahlreichen anderen Weltgegenden, insbesondere in Afrika findet. Bei Tonsprachen kann eine Silbe verschiedene Bedeutungen tragen, je nachdem, ob sie (im
Mandarin) mit einem gleich bleibend hohen, steigenden, fallend-steigenden oder
fallenden Ton ausgesprochen wird. Betrachtet man die weltweite Verteilung dieser
Sprachen, so fällt auf, dass sie der Verteilung
eines von zwei Allelen – also Ausprägungen – der Gene ASPM und Microcephalin
entspricht9,10. Natürlich sind beide Allele
weder notwendig für den Erwerb einer Tonsprache noch führen sie automatisch zur
Ausbildung dieser Sprachen. Dank verbesserter DNA-Analyse kann nun geklärt werden, ob es für andere Struktureigenschaften, Armut oder Reichtum der Flexion etwa,
ähnliche genetische Dispositionen gibt.
Die Geschichte der Wissenschaft zeigt,
wie umfassend neue Technologien die Forschung revolutionieren können. In der Linguistik stehen wir vor einer solchen Umwälzung, die die Quintessenz der menschlichen Natur betrifft. Im Lauf des nächsten
Jahrzehnts werden Methoden der Genetik
unser Wissen und Verständnis dessen vermehren, was unser aller Denken und Handeln zu Grunde liegt: die Sprache.
➟ Bibliographie siehe Seiten 94 und 95
Papuan Tip-Sprachen
Kilivila
Gapapaiwa
Sudest
Bali
Meso-Melanesische Sprachen
Takia
Kairiru
Jabêm
Kaulong
Siar
Banoni
Sisiqa
Nord-Neuguineische Sprachen
Taiof
Tungag
Nalik
Kokota
Roviana
links
Auch wenn
Sprachen nicht
angeboren
sind, könnten
bestimmte
genetische
Veranlagungen
in einer
genetisch
ähnlichen
Population
die Herausbildung von
Sprachen mit
bestimmten
strukturellen
Eigenschaften
bedingen – so
unterscheiden
sich beispielsweise die
Tonsprachen –
wie das
Chinesische –
von den Nichttonsprachen
(wie dem
Deutschen).
2010+ | Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft
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