Vom Stammbaum der Sprachen WAS UNS GENE VERRATEN D as einzigartige Talent, überaus komplexe sprachliche Strukturen zu beherrschen, verdankt der Mensch dem Zusammenspiel seiner genetischen Grundausstattung mit der Umwelt, die diese Fähigkeit permanent beeinflusst und formt. Sprache ist die Grundlage unserer Gesellschaft, unserer Kultur und Wissenschaft. Ihre Form, Verbreitung und ihr Erwerb in Kindheit und Erwachsenenalter sind daher ebenso einer Untersuchung wert wie die Frage nach ihrer Verarbeitung im Gehirn, dem Einfluss auf Denken und Handeln, Kultur und Erziehung. Was ist das Besondere an den Genen des Menschen, dass sie ihm den Gebrauch von Sprache erlauben? Und in welchem Zusammenhang steht diese Fähigkeit mit anderen kognitiven Leistungen? Noch vor Kurzem ließen sich diese Fragen kaum sinnvoll stellen. Erst rasante Fortschritte der vergangenen Jahre haben uns ermöglicht, den genetischen Kode – und damit die genetische Grundlage der Sprache – schnell und kostengünstig zu entziffern. Drei Beispiele für aktuelle Forschungsprojekte sollen das im Folgenden demonstrieren. GEnE UnD DiE inDiViDUELLE SPrAchkoMPEtEnZ Das menschliche Genom »erschafft« die Sprachen nicht selbst, lenkt aber doch den Aufbau des Gehirns und anderer Organe in Bahnen, die eine Sprachbeherrschung ermöglichen – und ist damit auch für die teils erheblichen individuellen Unterschiede in den Fähigkeiten verantwortlich: Während die einen ganz besondere Talente beim Umgang mit Sprache an den Tag legen, leiden andere im Extremfall unter schweren angeborenen Sprachstörungen1. Elektrisiert wurde die Fachwelt vom Fund eines Gens, das einer Sprechstörung (Dyspraxie) zu Grunde liegt2. Betroffene haben unter anderem mit erheblichen Artikulationsschwierigkeiten zu kämpfen. Die Untersuchung einer von erblicher Dyspraxie betroffenen englischen Familie ergab, dass bei ihnen eine Mutation im Gen FOXP2 auf Chromosom 7 dafür verantwortlich ist, das indirekt am Aufbau der Sprachzentren im Gehirn beteiligt ist (Bild 1). Mittlerweile scheint es sogar, als könnte der gleiche Mechanismus auch bei anderen, deutlich häufigeren Sprachdefiziten eine Rolle spielen. Doch damit ist FOXP2 noch lange nicht das »Sprachgen«, als das es die Medien häufig titulieren. Dieselbe Mutation, die für die Artikulationsstörungen verantwortlich ist, schadet beispielsweise auch der Leber; obendrein taucht die gesunde, nicht mutierte Form bei zahlreichen Tierarten auf, so etwa bei der Maus – und die kann definitiv nicht sprechen. Das Gen ist eben nur eine von vielen genetischen Komponenten, die allesamt an der ordentlichen Entwicklung unserer Sprachfähigkeit mitwirken3. Doch zweifellos war seine Entdeckung der erste, wenn auch kleine Durchbruch bei der Suche nach den genetischen Grundlagen der menschlichen Sprache4. GEnE UnD BEVÖLkErUnGEn Anthropologen gehen heute davon aus, dass sich der moderne Mensch von Afrika aus über den Erdball verbreitete. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Sprachen und genetischen Unterschieden zwischen den Bevölkerungen, die diese Sprachen sprechen? Kürzlich haben Forscher demonstriert, wie weit genetische und linguistische Klassifizierungen auseinanderklaffen können – auch in Europa: Hier gehören praktisch D ie Sprachen sind teil der kulturen – und zugleich deren wichtigste Grundlage. Die Fähigkeit, sie zu entwickeln, zu erlernen und anzuwenden, ist jedoch teil unseres gemeinsamen genetischen 86 Bild 1 | Das FOXP2Gen scheint für eine bestimmte Sprachstörung verantwortlich zu sein. Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft | 2010+ alle Sprachen zur indoeuropäischen Sprachfamilie, mit Ausnahme des Baskischen, von dem keine Verwandten bekannt sind, und den finnougrischen Sprachen mit ihren prominentesten Vertretern Ungarisch und Finnisch. Die Forscher zeigten nun, dass heutige Finnen mit den Indoeuropäern genetisch wesentlich näher verwandt sind als mit ihren Nachbarn, den Samen, obwohl deren Sprache zur gleichen Familie zählt wie Finnisch5. Andere Projekte beleuchten den Kontakt vorgeschichtlicher Bevölkerungsgruppen, etwa in Afrika oder Sibirien. In welcher Weise führen bestimmte Kontaktsituationen zu charakteristischen Veränderungen in den beteiligten Sprachen? Molekulargenetische Methoden können hier nützlich sein, um Arten des Kontakts zu rekonstruieren, indem sie beispielsweise einen Flaschenhals- oder Gründereffekt aufspüren oder Anhaltspunkte für eine einstige Vermischung von Volksgruppen liefern. Stimmen die genetische und die sprachliche Zugehörigkeit einer Gruppe hingegen nicht überein, kann dies ein Hinweis auf einen Sprachwechsel sein6. Auch die Ausbreitung von Sprachen über weiträumige geographische Gebiete lässt sich mit Methoden der Genetik erforschen. Wo der klassische Ansatz, die vergleichende historische Linguistik, primär mit Ähnlichkeiten im Vokabular zweier Idiome arbeitet und im günstigsten Fall auf die letzten paar tausend Jahre zurückblicken kann, wendet ein neues Projekt nun in Biologie und Genetik gängige Verfahren zur Konstruktion kladistischer Stammbäume an, um aus phonologischen, morphologischen und syntaktischen Merkmalen der fraglichen Sprachen Stammbäume zu rekonstruieren. Bislang haben Forscher so Erbes. Diesen Aspekten der Sprache widmen sich die Forscher der Max­Planck­institute für Psycholinguistik, evolutionäre Anthropologie sowie kognitions­ und neurowissenschaften. Geistes-, sozial- und HumanwissenscHaften Die Methoden der Genetik bereichern die Erforschung sprachlicher Phäno­ mene, aber auch die Suche nach dem Ursprung der Sprache. Genvarianten sind für individuelle Unterschiede im Sprachvermögen mitverantwortlich. Bestimmte erbliche Veranlagungen könnten die Ausbildung jeweils eigener sprachlichen Strukturen fördern. Bild 2 | Die hoch entwickelten Sprachen Melanesiens werden anhand von Stammbäumen erforscht 2. die komplizierte Sprach- und Besiedlungsgeschichte Melanesiens untersucht, dem Gebiet nördlich und nordöstlich von Australien, die sich durch eine große Differenziertheit auszeichnet (Bild 2). Jetzt konzentrieren sie sich auf die besonders komplizierten Verhältnisse innerhalb der Papua-Sprachen7,8. Bild 1: Science Photo Library / Ramon Andrade; Chinesin: Getty Images / Guang Niu; Café unten: Getty Images / National Geographic / Jodi Cobb GEnE UnD DiE StrUktUrEn Von SPrAchEn Keine der rund 7000 noch lebenden Einzelsprachen ist angeboren. Möglicherweise gibt es aber doch gewisse genetische Dispositionen für spezifische strukturelle Eigenschaften. Das wurde für den Unterschied zwischen Tonsprachen und Nichttonsprachen mit hoher Plausibilität gezeigt. Chinesisch zählt zu den bekanntesten Vertretern des ersten Sprachtyps, der sich aber auch in zahlreichen anderen Weltgegenden, insbesondere in Afrika findet. Bei Tonsprachen kann eine Silbe verschiedene Bedeutungen tragen, je nachdem, ob sie (im Mandarin) mit einem gleich bleibend hohen, steigenden, fallend-steigenden oder fallenden Ton ausgesprochen wird. Betrachtet man die weltweite Verteilung dieser Sprachen, so fällt auf, dass sie der Verteilung eines von zwei Allelen – also Ausprägungen – der Gene ASPM und Microcephalin entspricht9,10. Natürlich sind beide Allele weder notwendig für den Erwerb einer Tonsprache noch führen sie automatisch zur Ausbildung dieser Sprachen. Dank verbesserter DNA-Analyse kann nun geklärt werden, ob es für andere Struktureigenschaften, Armut oder Reichtum der Flexion etwa, ähnliche genetische Dispositionen gibt. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt, wie umfassend neue Technologien die Forschung revolutionieren können. In der Linguistik stehen wir vor einer solchen Umwälzung, die die Quintessenz der menschlichen Natur betrifft. Im Lauf des nächsten Jahrzehnts werden Methoden der Genetik unser Wissen und Verständnis dessen vermehren, was unser aller Denken und Handeln zu Grunde liegt: die Sprache. ➟ Bibliographie siehe Seiten 94 und 95 Papuan Tip-Sprachen Kilivila Gapapaiwa Sudest Bali Meso-Melanesische Sprachen Takia Kairiru Jabêm Kaulong Siar Banoni Sisiqa Nord-Neuguineische Sprachen Taiof Tungag Nalik Kokota Roviana links Auch wenn Sprachen nicht angeboren sind, könnten bestimmte genetische Veranlagungen in einer genetisch ähnlichen Population die Herausbildung von Sprachen mit bestimmten strukturellen Eigenschaften bedingen – so unterscheiden sich beispielsweise die Tonsprachen – wie das Chinesische – von den Nichttonsprachen (wie dem Deutschen). 2010+ | Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft 87