vanamali gunturu hinduismus

Werbung
VANAMALI GUNTURU
HINDUISMUS
VANAMALI
GUNTURU
HINDUISMUS
DIEDERICHS KOM
PAKT
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Gunturu, Vanamali:
Hinduismus / Vanamali Gunturu. –
Kreuzlingen ; München : Hugendubel, 2002
(Diederichs kompakt)
ISBN 3-7205-2344-6
© Heinrich Hugendubel Verlag,
Kreuzlingen / München 2002
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Zembsch’ Werkstatt, München
Textredaktion: Loel Zwecker, München
Produktion: Maximiliane Seidl
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer,
Germering
Druck und Bindung: Huber, Dießen
Printed in Germany
ISBN 3-7205-2344-6
INHALT
EINFÜHRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
I.
MERKMALE DES HINDUISMUS . . . . . . . . . . . . . 11
1. Allgemeine Merkmale des Hinduismus . . . 12
2. Besondere Merkmale des Hinduismus . . . . 13
II.
INDUSTAL-ZIVILISATION:
Die Wiege des Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die piktorale Seite und die
philosophische Seite einer Religion . . . . . .
2. Die Industal-Zivilisation
(2500–1800 v. Chr.) und ihre
Errungenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Archäologische Funde mit
religiöser Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Der lebendige Beitrag der
Industal-Zivilisation zum Hinduismus . . . .
III. VEDISCHE NOMADEN UND DER HINDUISMUS . .
1. Die Vorgeschichte und die Geschichte . . . .
2. Die vedische Literatur und
der Vedismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die vedischen Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Feuerrituale, Yajñas . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Die Veden kann niemand
vollständig verstehen oder studieren . . . . . .
6. Das Kastensystem, var navyavastha
.
und das Karmagesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Die Prägung des Hinduismus durch
den Vedismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
22
22
24
25
27
27
28
29
32
33
34
36
IV. PHILOSOPHIE DER UPANIS. ADEN UND
DIE REBELLISCHEN SEKTEN . . . . . . . . . . . . . . . 37
1. Die Philosophie der Upaniãaden und
der Erkenntnisweg Jñ≤nam≤rga . . . . . . . . . 37
2. Auflehnung und Abspaltungen . . . . . . . . . . 40
3. Auswirkung von rebellischen
Strömungen auf den Hinduismus . . . . . . . . 41
V.
DIE WELT DER NACHVEDISCHEN
HINDU-GÖTTER (1. TEIL) . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die weitere Entwicklung der Götter –
Verwandlung und Überleben der
Fähigsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
• Praj -apati – Brahma . . . . . . . . . . . . . . . . . .
• Indra – ViãÏu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
• Rudra – ¥iva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
• S‰rya . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
42
42
43
45
47
VI. DER TANTRISMUS UND DER HINDUISMUS . . . .
1. Die Veden und das Tantra . . . . . . . . . . . . .
2. Bestimmungen des Tantra
und die Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Mantra und Yantra . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Tantrische Meditation . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Die Rolle des Gurus . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Über Genuss zur Erlösung –
- as
- .....................
die fünf Mak ar
7. Gleichberechtigung und
die Förderung der niederen Kasten . . . . . .
8. Rebellion oder Treue zur Tradition? . . . . .
49
50
VII. BHAKTI – DIE ÄSTHETISCHE LIEBE ZU GOTT . . .
1. Satyam, ¥ivam und Sundaram
als Gottesattribute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Eine menschliche statt mechanistische
Beziehung zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Gesellschaftliche Reform . . . . . . . . . . . . . . .
57
59
60
VIII.SANKHYA
-YOGA-PHILOSOPHIE UND DAS
BEGRIFFLICHE GERÜST DES HINDUISMUS . . . . .
1. Sankya,
die Analyse (der Welt) . . . . . . . . . .
2. Parin. ama,
die Entwicklung . . . . . . . . . . . . .
3. Der Lahme und der Blinde . . . . . . . . . . . . .
62
63
63
64
50
51
52
53
54
55
56
58
4. Die Hilfestellung des Sankya-Yoga
bei der Erklärung der Denkpositionen
verschiedener religiöser und
philosophischer Strömungen . . . . . . . . . . . . 65
5. Yoga und Gymnastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
IX. DIE WELT DER NACHVEDISCHEN
HINDU-GÖTTER (2. TEIL) . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Abstrakte Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Weitere anthropomorphische Götter . . . . .
3. Tiergottheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Die göttlichen Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Flüsse und Berge als Gottheiten . . . . . . . . .
X.
68
68
68
69
70
71
DIE HINDUISTISCHE AUFFASSUNG VON
ZEIT UND ZEITALTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Schöpfung und die Aufteilung der
unendlichen Zeit: Yugas, Manvantars
und Kalpas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Pralaya, die Zerstörung . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die Qualität der Zeit: Yugas . . . . . . . . . . .
4. Die Qualität der Zeit: Muhurtas
.........
73
74
74
75
XI. DIE LEBENSFÜHRUNG UND DER HINDUISMUS . .
- as,
- die vier Lebensziele . . . . . . . .
1. Puru s. arth
2. Die Asramas, vier Lebenstufen . . . . . . . . . .
3. Tod und Wiedergeburt . . . . . . . . . . . . . . . .
77
77
78
80
73
XII. DIE WICHTIGEN RITUALE DES HINDUISMUS . . . 82
1. Sandhyavandanam,
das Dämmerungsgebet – Kaleidoskop
der lebendigen Vergangenheit . . . . . . . . . . 82
2. Die Verfeinerungsrituale, Samskaras
. . . . . 88
SCHLUSSWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ZUM AUTOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
BEGRIFFSGLOSSAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
LITERATUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
92
93
95
E I N F Ü H RU N G
8
Mit einer Zahl von 780,5 Millionen Hindus in mehr als 94
Ländern ist der Hinduismus die drittgrößte Religion der
Welt. Etwa 1,5 Millionen Hindus leben in Europa und
2 Millionen in Nordamerika. Nach der Volkszählung des
Jahres 1991 beträgt die Zahl der in Indien lebenden Hindus etwa 672,5 Millionen, 82,8 Prozent der gesamten Bevölkerung des Landes. Obwohl der Hinduismus keine
Staatsreligion Indiens ist – der Staat und die Verfassung
des Landes sind säkular, d.h. nicht religiös ausgerichtet –,
und obwohl die Hindu-Gesellschaft dieses Landes seit
mehr als zwei Jahrhunderten und immer intensiver einer
»Verwestlichung« ausgesetzt ist, die in wissenschaftlichen
und technologischen Bereichen fortschreitet, vermindert
sich die Zahl der gläubigen Hindus nicht. Anders, als dies
bei den beiden großen Kirchen in Europa der Fall ist, findet sich die Hindu-Gesellschaft nicht mit Austritten aus
der Religionsgemeinschaft konfrontiert. Parallel zum
Vormarsch des Materialismus scheint sich die Religiosität
umso mehr zu behaupten. Auf einer Reise durch das Land
zu den Pilgerorten gewinnt man den Eindruck, dass die
Zahl der Gläubigen zunimmt. Auffallend dabei ist der
große Anteil der Jugendlichen, die nach materiellem
Wohlstand streben und trotzdem nicht von ihren Wurzeln im Hinduismus abgetrennt sind.
Der technische Fortschritt in Indien scheint den Glauben nicht verdrängen zu können. Ganz im Gegenteil: Die
neuesten Erfindungen werden von Hindus ohne zu zögern in den Dienst ihrer Religion gestellt. Während die
Zella des ViãÏu-Tempels in Tirupati (im Bundestaat
Andhra Pradesh) bereits in den siebziger Jahren klimatisiert wurde (Tausende von Gläubigen besuchten Tag und
Nacht das Allerheiligste in dem schlecht belüfteten und
beleuchteten Tempel), wird der Andrang der Gläubigen
seit neuestem mittels Computer reguliert, damit sie nicht
länger als eine Viertelstunde Schlange stehen müssen.
Vormals mussten die Gläubigen Stunden, manchmal tagelang Schlange stehen, um in den Genuss von darsana,
den Anblick Gottes, zu kommen. Viele Tempel haben
heute eine eigene Website und E-Mail-Adressen. Ein in
Deutschland lebender Hindu kann im Internet indische
Hindu-Tempel besichtigen, Gottesdienste erleben oder
per E-Mail im eigenen Namen pujas und abhishekas (hinduistische Gottesdienste) ordern.
Erstaunt stellt man fest, dass wissenschaftliche und
technologische Fortschritte auf die Hindus nicht dieselbe Auswirkung haben wie auf die westlichen Völker.
Der Hinduismus war in der Geschichte immer wieder gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen
Umwälzungen ausgesetzt. Aus bedrohlichen Situationen ging dieser Mehrgötterglaube jedes Mal gestärkt
hervor, indem er die Kontrahenten aufnahm und assimilierte. Jedes Mal ergab sich daraus eine Erneuerung
der Religion mit Folgen für die Gesellschaft. Wie zu
zeigen sein wird, kann man im indischen Kontext nicht
von einer Renaissance, sondern von einer Reihe von
Renaissancen sprechen. Jede neue Bedrohung, äußere
sowie innere, führte zu einer neuen Stufe in der Entwicklung der Religion. Ihre Entwicklung ist noch nicht
abgeschlossen worden, und sie kann nicht abgeschlossen werden. Denn der Hinduismus ist eine lebendige,
dynamische Religion. Die Antwort der gläubigen Hindus auf die Globalisierung, d.h. die Verwestlichung des
Globus und seiner Märkte, nämlich das Internet in den
Dienst der Götter zu stellen, und die wachsende Zahl
der Götter und Gläubigen sind der unverkennbare Beweis dafür.
Diese Einführung in den Hinduismus versucht den
Hinduismus nicht nur leicht verständlich und authentisch darzustellen, sondern auch zu zeigen, worin seine
Dynamik liegt und womit sie zu erklären ist.
Für Anregungen zu diesem Buch danke ich Corinna Marina Newiger, Andrea Rosenegger, Pastoralreferentin in
einer Germeringer Gemeinde, und meiner Frau, Carmen Gunturu.
9
Es ist eine indische Tradition, nach abgeschlossenem
Studium dem Guru, Lehrer, ein Geschenk zu machen. In
Verehrung und Bewunderung widme ich dieses Buch
meinem Doktorvater Herrn Dr. Eberhard Avé-Lallemant (Universität München).
Germering, Frühjahr 2002
10
Vanamali Gunturu
I.MERKMALE DES
HINDUISMUS
Es ist das gute Glück oder Unglück des Hinduismus,
dass er kein offizielles Kredo hat.
Mahatma Gandhi
Wird ein Europäer auf einer Indienreise mit dem Hinduismus konfrontiert oder hört er in Vorträgen über diese
indische Religion, so ist er oft verwirrt. Ein vages, unbefriedigendes Bild von Vielgötterei, von endlosen, unzumutbaren Wiedergeburten und von einer in Kasten aufgeteilten Gesellschaft entsteht. Alles scheint chaotisch, ja
anarchisch zu sein, wie der Verkehr auf den indischen
Straßen. Hat diese Religion irgendwelche konkret festzumachenden Konturen wie das Christentum oder der Islam? Selbst für Kenner ist es ein schwieriges Unterfangen, den Hinduismus zu definieren oder seine
Wesensbestimmungen zu beschreiben, schwieriger als
bei den Buchreligionen wie dem Judaismus.
Bereits der Name Hinduismus zeigt gewisse Schwierigkeiten auf. Die Inder selbst nannten ihren Glauben san≤tana dharma, »die ewige Religion« oder »das ewige Gesetz«
oder vaid≥ka dharma, »die vedische Religion«. Diese Religion enthält jedoch Elemente, die bestimmt später in der
indischen Geschichte entstanden und in sie integriert worden sind – ihre Gestalt änderte sich von Zeit zu Zeit. Mehr
noch: Sie zeigt gewisse Grundeigenschaften, die aus einer
vor-vedischen Zeit (die vedische Zeit beginnt um 1800
v. Chr.) stammen. Insofern sind diese Bezeichnungen unzulänglich, obwohl sie das Selbstverständnis dieser Religion verkünden. Die Perser und Araber nannten die Bewohner Indiens »Hindus«, die, vom Westen aus gesehen,
jenseits des Flusses »Sindhu« (des Indus) wohnten, und
daher stammt der Name »Hinduismus« für ihre Religion.
Der Hinduismus ist eine durch die Jahrhunderte gewachsene und in der geschichtlichen Entwicklung gewordene Religion mit vielen Schichten und Facetten. Er gewann in jeder historischen Epoche neue Merkmale dazu,
11
wobei ihm die alten Merkmale nicht ganz verloren gingen. Er wusste immer das rebellische Neue mit dem Alten
zu versöhnen und sich zur nächsten Stufe zu erheben. Seine Bewegung umfasste nicht nur die Welt der Götter und
der Riten, sondern auch das gesellschaftliche Leben. Die
Beweglichkeit dieser Religion ist damit zu erklären, dass
sie nicht bis zum bitteren Ende an ihren Dogmen hing
und dass sie nie eine zentralistisch organisierte Religion
gewesen ist. Sie ließ ihren Anhängern Freiraum. Daher
konnte sie sich ausdehnen und verschiedene philosophische Richtungen und Gebetsformen entwickeln.
Aus demselben Grund der fehlenden Strenge war der
Hinduismus jedoch nicht fähig, der Hindu-Gesellschaft
Einigkeit zu stiften. Zeitweilig litten die Hindus unter
diesem Nachteil. Angesichts der drohenden fremden
Völker hätten die Hindus gerne eine Religion gehabt,
die das Volk zu vereinigen und zu mobilisieren vermocht
hätte. Zu Verteidigung oder Angriff waren das Christentum oder der Islam besser imstande als der Hinduismus.
Man fragt sich, ob diese Schwäche des Hinduismus mit
seinem undeutlichen Erscheinungsbild zusammenhängt.
Mit vielen, scheinbar auseinander fließenden Strömungen scheint der Hinduismus nicht eine Religion,
sondern ein Bündel von Religionen zu sein, und der
Fremde gerät schnell in Verwirrung. Ist das wirklich eine
Religion, was uns als Hinduismus bekannt ist?
Gandhi sieht zugleich das Glück und das Unglück
darin, dass es keine einstimmige Definition vom Hinduismus gibt. Er besitzt jedoch einige Merkmale, einige,
die diese Religion mit anderen großen Weltreligionen
teilt und einige, die für ihn spezifisch sind.
1.ALLGEMEINE MERKMALE
DES HINDUISMUS
12
• Er ist eine Religion, die man in der Vergangenheit unmittelbar von Gott empfangen hat.
• Der Glaube an die Existenz Gottes bildet den Kern des
Hinduismus wie auch den Kern vieler anderer Religio-
nen. Diese Aussage mutet einem wie ein Gemeinplatz
an. Was wäre eine Religion ohne Gott? Wie eine Ehe
ohne Ehepartner, könnte man sagen. Man denke jedoch an den Buddhismus, eine auch auf indischem Boden entstandene Religion, die Gottes Existenz zurückweist, oder an den Jainismus, ungefähr in derselben
Zeit wie der Buddhismus in Indien entstanden, der
Gott dem vollkommenen Menschen, Arhat, subsumiert.
• Gott und die Welt stehen in einer engen Beziehung
zueinander. Er ist, je nach der Richtung innerhalb des
Hinduismus (es gibt viele Richtungen), entweder der
Schöpfer der Welt, die Welt selbst, oder die Leinwand, worauf die Illusion »Welt« projiziert wird.
• Im Hinduismus ist die unsterbliche Seele der wesentliche Teil des Menschen, während sein vergänglicher
Körper und körperliche Begierden bloße Hindernisse
auf dem spirituellen Weg darstellen.
• Der Mensch hat ein religiöses und ethisches Leben zu
führen. Die Erfüllung der religiösen und religiös ethischen Gebote führt ihn zum Glück, während die Verstöße gegen sie ihn und seine Umwelt ins Unglück und
in die Hölle stürzen.
2.BESONDERE MERKMALE
DES HINDUISMUS
• Anders als das Christentum oder der Judaismus kann
die Hindu-Religion nicht auf eine historische Persönlichkeit wie Jesus oder ein Gründungsereignis wie
die Offenbarung der Gebote auf dem Berg Sinai
zurückgeführt werden. Ihre Ursprünge liegen in einer unvordenklichen Vergangenheit. Bis Ende des
19. Jahrhunderts glaubten die westlich orientierten
Wissenschaftler, der Hinduismus sei höchstens 3800
Jahre alt. Um 1800 v. Chr. seien die so genannten »Indo-Arier« auf der Suche nach Weideflächen für ihr
Vieh in den indischen Subkontinent eingezogen und
damit hätten die indische Geschichte und die indische
13
Religion, der Hinduismus, ihren Anfang genommen.
Die archäologische Entdeckung einer verlorenen und
vergessenen Zivilisation im Nordwesten des Subkontinents anfangs des 20. Jahrhunderts korrigierte diese
Auffassung, und damit verlängerte sich die Vergangenheit Indiens und des Hinduismus um 2000 Jahre. Eine
fast 5000 Jahre alte Religion ist eine ewige Religion,
San≤tana Dharma, könnte man meinen. Die Hindus
meinen damit aber etwas anderes.
Sie meinen, zwar wurden die Wahrheiten, welche den Inhalt der Veden und des Hinduismus bilden, von Ùãis, Weisen, zu einem gewissen Zeitpunkt in der Vergangenheit
erblickt. Das Erblicken dieser Wahrheiten ist jedoch
nicht mit ihrer Geburt gleichzusetzen. Sie gab es immer,
auch bevor sie von den Weisen erblickt worden waren –
wie das Newtonsche Gravitationsprinzip, welches immer,
auch vor seiner Entdeckung, in der Natur wirksam gewesen ist (Swami Vivekananda, Bd. 1., S. 7). Der Standort
dieser Wahrheiten ist der Himmel, von wo aus sie sich
den Weisen Indiens offenbarten. Eine auf solchen Wahrheiten beruhende Religion ist San≤tana Dharma, die ewige Religion oder die vedische Religion. Nach Ansicht
gläubiger Hindus ist ihre Religion mit der Schöpfung
entstanden und wurde ihnen von Gott gegeben.
• Der Glaube an Gott ist der Eckpfeiler fast aller Religionen. Während die Buchreligionen monotheistisch
und patriarchalisch sind, ist der Gottesglaube im Hinduismus facettenreicher, und an ihm kann man noch
heute deutlich verschiedene Schichten dieser Religion
erkennen.
14
Zum einen ist die Gottesauffassung der Hindus polytheistisch, wobei verschiedenen Göttern verschiedene Funktionen zukommen. Während Brahma gemäß den vedischen Gesetzen die Welt erschafft, schützt sie ViãÏu, und
¥iva zerstört sie. Zum anderen ist der Hinduismus kein
Patriarchat. Göttinnen spielen in dieser Religion und in
ihren Mythen eine genauso wichtige Rolle wie die Götter, ja sogar eine wichtigere. Und die Hindu-Götter und
-Göttinnen sind nicht allein stehend. Brahma zum Beispiel ist mit Sarasvati, ViãÏu mit Lakãmi und ¥iva mit
P≤rvat≥ vermählt. Die Göttinnen sind nicht schwach und
werden keineswegs aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt. Sie sind gleichberechtigt und sogar mächtiger als
die Götter. Wenn gefährliche Dämonen den Weltfrieden
bedrohen und wenn selbst ViãÏu und Śiva nicht in der
Lage sind, die Welt vor ihnen zu schützen, bitten Götter
Göttinnen um Hilfe. Es sind die Göttinnen, die schließlich die unbesiegbaren Dämonen vernichten!
Damit ist nicht alles über diesen Mehrgötterglauben
gesagt. Neben den Göttern und Göttinnen gibt es Tiere,
Pflanzen, Berge und Flüsse, die für den Hindu selbst
Götter sind oder die Götter verkörpern. Die Kobra, zum
Beispiel, verkörpert subrahmaÏya, ¥iv≤s Sohn; in südindischen Tempeln werden Kobras tatsächlich verehrt. Der
Pipal-Baum (ficus religiosa), der an vielen Pilgerorten und
in Tempeln zu finden ist, gilt als die Verkörperung der
hinduistischen Trinität und der heiligen Schriften. Gläubige halten zum Beispiel den Berg Arunacala in Tiruvannamalai (Tamilnadu) für ¥iva; alle Flüsse wie Ganga, Yamuna, Narmada, Kaveri sind Göttinnen für die Frommen
– und das nicht in einem symbolischen Sinn.
Der Himmel und die Erde der Hindus sind voller
Götter und Göttinnen. Es ist verwirrend, wenn Swami
Vivekananda, einer der bedeutendsten Vertreter des
Hinduismus, trotzdem behauptet, der Hinduismus sei eine monotheistische Religion (ders., Bd. 1. S. 15). Dieser
Mehrgötterglaube hat in seiner Entwicklung nicht nur
verschiedene Verehrungsformen hervorgebracht, er versuchte auch sie immer wieder mit philosophischen Lehren zu untermauern. Swami Vivekananda bekannte sich
zu einer solchen philosophischen Lehre, advaita ved≤nta
(dem Nicht-Dualismus), welche die Existenz von einem
einzigen allgegenwärtigen, absoluten Wesen, brahman,
vertritt, die Vielzahl der Götter und die Vielfalt in dieser
Welt leugnet und diese als eine bloße Illusion oder Ignoranz, m≤ya, erklärt.
Der Theismus der Hindus ist polytheistisch mit einer
Neigung zum Matriarchat. Er ist auch monotheistisch.
15
Der Gläubige eignet sich den Aspekt dieser Religion an,
der seiner geistigen Entwicklungsstufe entspricht. Und
je nach seiner spirituellen Verfassung wendet er sich dem
monotheistischen oder polytheistischen Aspekt der Gottesauffassung zu.
• Größtenteils ist der Hinduismus eine Bilder verehrende Religion. Die Statuen oder Statuetten der Götter
und Göttinnen werden nach ihren genauen Beschreibungen aus den heiligen Schriften entweder aus Stein
oder Metall angefertigt und in Tempeln – dev≤laya
oder mandira – auf dem Altar zeremoniell hingestellt.
Dabei wird mit Sanskrit-Mantras – mystischen Hymnen oder Formeln – in den Bildern der jeweilige Gott
zum Leben erweckt. Erst in dieser Zeremonie, pr≤Ïapratiãœha, Installierung des Lebens, wird ein Stück
Stein oder Metall in Gott verwandelt und erst ab dann
wird es im religiösen Sinn verehrungswürdig.
16
Es gibt jedoch Richtungen innerhalb des Hinduismus,
die Gott entweder abstrakt durch geometrische Zeichnungen darstellen – die so genannten Man≤las oder cakr≤s, wie sie in der tantrischen Richtung vorkommen –,
oder solche, die durch ein konsequentes streng rationales
Denken zu dem Schluss gelangen, dass Gott keine Form,
geschweige denn eine anthropomorphische Form haben
kann. Ihre Meditation gilt daher einem form- und namenlosen Gott.
• Die Beziehung zwischen Gott und seiner Schöpfung
ist nicht so einfach wie in den Buchreligionen. Zunächst gibt es den Schöpfergott Brahma, der die Welt
nach den vedischen Gesetzen erschafft. Die Schöpfung der Welt ist jedoch kein einmaliges Ereignis. Die
Welt, ihre Entwicklung und die sie begleitenden vier
Zeitalter (kÙtayuga, tret≤yuga, dv≤parayuga und kaliyuga) sind im Hinduismus zyklisch gedacht. Sie entstehen, entwickeln sich, verfallen und vergehen, um wieder neu erschaffen zu werden. Demnach gibt es viele
Apokalypsen. Die eigentliche Apokalypse findet jedoch im Leben der einzelnen, heilsuchenden Gläubigen statt, welche die Weltillusion überwinden und
sich von der Kette der Wiedergeburten lösen. Jemand, der sich auf so einem Erlösungsweg befindet,
sieht keinen Unterschied zwischen Gott und seiner
Schöpfung. Er begreift, dass die sich entwickelnde
und eine Vielfalt von Namen und Formen zeigende
Welt nichts anderes als Gott selbst ist. Er begreift,
dass er aufgrund seiner Ignoranz, M≤ya, die Welt auf
Gott projiziert hat, dass es außer Gott nichts gibt.
• Die Auffassung, derzufolge es außer dem allmächtigen
Gott nichts gebe, er die Ursache des ganzen Weltgeschehens und das absolute Gute sei, ist kennzeichnend
für den Hinduismus. Diese Religion kennt keinen
Teufel, die Verkörperung des Bösen und keine Erbsünde, die Sünde schlechthin. Selbst die Dämonen,
welche das Leben der Menschen und Götter bedrohten, sind nicht dem christlichen Teufel gleich. Die
Hindu-Mythologie beweist, dass die Dämonen Kinder Gottes sind, in ihrem letzten Leben große Verehrer Gottes gewesen sind und ihre ganze zerstörerische
Macht ein Geschenk des barmherzigen Gottes gewesen ist. Der zehnköpfige Dämon r≤vaÏa des Epos
r≤m≤yaÏa war zum Beispiel der Urenkel des Schöpfers
Brahma, den er sehr verehrte. Außerdem war R≤vaÏa
in seinem vergangenen Leben ein ergebener Diener
von ViãÏu, dem Erhalter des Universums. Im Hinduismus ist die Trennung zwischen dem Guten und dem
Bösen nicht so endgültig und radikal wie im Christentum. Ähnlich ist es auch mit der Unterscheidung zwischen einem Frommen und einem Nicht-Frommen.
Ein nicht-frommer Mensch ist potenziell fromm und
kann jederzeit Gottes Gnade erfahren. Und jedes Lebewesen ist verantwortlich für sein eigenes Schicksal,
welches es mit den eigenen Handlungen gestaltet.
Nur das sich daraus ergebende eigene individuelle
Karma erben die Seelen.
• Nach Hindu-Auffassung sind die Seelen unsterblich,
ihre Verkörperung ist jedoch kein einmaliges Ereignis. Mit dem Tod eines Menschen verlässt die Seele
den Körper, um sich wieder zu inkarnieren. Sie wird
immer wieder geboren, bis sie Erlösung findet. Bei der
17
Wiedergeburt muss die Seele nicht jedes Mal als
Mensch geboren werden. Welche Form die Seele annimmt, hängt von ihrem karma, dem Gesamtergebnis
aller, guter sowie schlechter, Handlungen des Menschen ab. Das Karma ist wie ein Bankkonto. Es begleitet die Seele unausweichlich und bestimmt ihre Daseinsbedingungen. Ist das Karma positiv, gut, so heißt
es puÏya. Aufgrund des PuÏya widerfahren der Seele
bessere Geburt und bessere Lebensbedingungen, und
aufgrund eines schlechten Karmas, p≤pa, die gegenteiligen. Anhand des Karmas werden die wie Zufälle
scheinenden Erfahrungen Krankheit – Gesundheit,
Armut – Reichtum, Krieg – Frieden usw. rational erklärt. Hinter der Karma-Auffassung steckt der Gedanke, dass nichts in der Welt oder in der Natur zufällig
ist, dass die Daseinsbedingungen der Menschen von
ihren eigenen Handlungen verursacht werden. So gesehen, ist es das Karmagesetz, welches das Leben bestimmt, nicht so sehr Gott als Richter. Gott ist in diesem Zusammenhang ein bloßer Zeuge, s≤kãin, des
Weltgeschehens. Daher wird der Hindu-Gott manchmal von westlichen Theologen als ein nicht richtender
Gott bezeichnet. Obwohl diese Charakterisierung logisch zu sein scheint und in der indischen Philosophie
teilweise vorkommt, ist sie nicht ganz stimmig.
Zwar ist das Karmagesetz überwältigend, aber der
Mensch kann es mit Willenskraft und Gotteshilfe überwinden. Viele Hindu-Zeremonien weisen darauf hin,
dass der allmächtige Gott über dem Karmagesetz steht.
Selbst das schlimmste Karma kann er beseitigen und seinen Verehrern Glück schenken.
18
Nicht nur Menschen haben nach Hindu-Auffassung eine
Seele, sondern auch Tiere und selbst die Pflanzen. Ihre
Seele kann sich je nach dem Karma als ein »besseres«
oder als ein »schlechteres« Wesen inkarnieren. Demnach könnte ein Hund als Mensch und ein Mensch als
Hund oder Schwein wiedergeboren werden. Der
Mensch hat jedoch die höchste Geburt, die es gibt, weil
allein der Mensch in der Schöpfung das Unterscheidungsvermögen besitzt. Allein er ist fähig, das Wahre
von dem Unwahren, das Vergängliche vom Ewigen zu
trennen. Zu den unwahren, weil vergänglichen Dingen
gehören der Körper sowie die Materie. Aufgrund der Ignoranz identifiziert sich die Seele mit dem Körper, und
das ist die Urquelle aller Bindung. Das Ziel religiösen
und ethischen Strebens liegt in der Überwindung dieser
Bindung. Trotzdem ist der Hinduismus keine »körperfeindliche Religion«.
• Das Kastensystem mit den vier Kasten ist bezeichnend
für die Hindu-Gesellschaft. Diese sind 1. br≤hmaÏa,
die Priester, 2. kãatriya, die Krieger, 3. vai±ya, die Bauern und Kaufleute, und 4. ±‰dra, die Arbeiter. In der
traditionellen Hindu-Gesellschaft beschäftigten sich
die Br≤hmaÏas mit geistlichen Tätigkeiten und mit
dem Lehren. Die Kãatriyas waren die Soldaten oder
die Könige. Die Vai±yas erzeugten Getreide und andere Nahrungsmittel für die Gesellschaft oder trieben
Handel und zahlten Steuern an den König. Ś‰dras waren die Arbeiter-Kaste. Den drei oberen Kasten zu
dienen war ihre Pflicht, dharma. Dharma ±≤stras, Bücher mit sakralen Gesetzen, definierten die Pflichten
jeder Kaste.
Der Mensch hat Zugang zu einer dieser Kasten nur über
seine Geburt. Jemand wird in eine bestimmte Kaste geboren und bleibt bis zu seinem Tod darin. Seine Kinder
gehören automatisch zu seiner Kaste und können sie
nicht beliebig wechseln. Durch Verstöße gegen die Kastennormen kann jemand aus seiner Kaste ausgestoßen
werden, aber er kann keiner anderen Kaste beitreten.
Ursprünglich war das Kastensystem als eine Arbeitsteilung und Spezialisierung der Berufe gedacht, und die
Grenzen zwischen den Kasten waren nicht so streng gezogen. Mit der Zeit erstarrte das Kastensystem und wurde ein Käfig für seine Angehörigen. Heiraten darf man
beispielsweise nur innerhalb seiner Kaste.
Diese Beschreibung des Kastensystems gilt jedoch nur
für die orthodoxe Hindu-Gesellschaft. Seit 1947, der
19
20
Unabhängigkeit Indiens von den Briten, hat sich Indien
eine säkulare, areligiöse Verfassung gegeben, welche unter anderem die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und die freie Berufswahl verkündet. Heute ist das
Kastensystem wie die Religion selbst eine private Angelegenheit der Inder.
• Das religiöse Leben eines frommen Hindus setzt sich
vier Ziele – Dharma, artha, k≤ma und mokãa – Gerechtigkeit, materieller Wohlstand, Erfüllung der körperlichen Begierden und die Erlösung. Keines dieser Ziele darf ein »normaler« Mensch – im Gegensatz zu
großen Seelen, die mit einer bestimmten Sendung als
Menschen zur Welt kommen – einseitig verfolgen. Eine ausgewogene Lebensführung verlangt nach Verwirklichung aller vier Ziele. Hindus betrachten ihre
Religion als ein Mittel zu diesem Zweck (Sri Chandrasekhara Saraswati von Kamakoti, Hindu Dharma, darin Kapitel 3, siehe http://www.kamakoti.org/hindudharma/part1/chap3.htm).
• Hindus waren nie besonders talentiert für die Bildung
einer funktionierenden Organisation. Nur einmal in
ihrer alten Geschichte, meinen die Historiker, gab es
einen effizienten Staat. Ein schwacher, nahezu fehlender Staat charakterisiert ihre Geschichte. Dasselbe gilt
auch für die Sphäre ihrer Religion. An der jahrhundertelangen Entwicklung des Hinduismus ist bemerkenswert, dass er keine nennenswerte Organisation
entwickelt hat, welche ihn behütet und das Leben der
Menschen in der Gesellschaft und ihre Bestrebungen
kontrolliert hätte oder versucht hätte, andere Menschen zu bekehren. Der Hinduismus ist durch seine
ganze Geschichte keine missionierende Religion gewesen. An den indischen Universitäten werden bis
heute keine Fächer wie Hindu-Theologie oder Missionararbeit gelehrt, wie es in Deutschland üblich ist.
Dass sich diese Religion trotzdem auf dem ganzen
Subkontinent und andernorts verbreitet hat und dass
das religiöse Leben und ihre Riten größtenteils überall
gleich sind, ist ein Wunder.
Man fragt sich in diesem Zusammenhang, ob der Polytheismus bei der Entstehung einer starken Organisation
wie eines Staates oder einer Kirche ein Hindernis sein
könnte, wohingegen der Monotheismus vorteilhafte Bedingungen dafür schaffen würde. Man denke an das Römische Reich und an den Vatikan.
Eine dezentralisierte Religion mit keiner einzigen Organisation wie die Kirche, sondern mehreren losen Zentren, verstreut im ganzen Land mit vielen Göttern und
das ganze Leben umspannenden Riten und Mythen, bestimmt das Erscheinungsbild des Hinduismus. Betrachtet man seine verschiedenen Gesichter, scheint der eine
Aspekt dem anderen zu widersprechen. Auf den folgenden Seiten werden verschiedene Aspekte und Schichten
dieser Religion dargestellt. Es ist der Versuch, eine
Landkarte vom Hinduismus zu zeichnen, die, wie bei einem fremden Land der Fall, zur Orientierung dienen
kann.
21
I I . I N D U S TA L - Z I V I L I S AT I O N :
DIE WIEGE DES
HINDUISMUS
1 . D I E P I K TO R A L E S E I T E U N D D I E P H I LOSOPHISCHE SEITE EINER
RELIGION
Wie jede Religion hat auch der Hinduismus zwei Seiten.
Die eine enthält Vorstellungen von Göttern, Riten, Mythen und von Himmel und Erde. Diese Seite lässt sich mit
Hilfe der Sprache konkret beschreiben – oder bildlich darstellen. Ein Außenstehender wird bei seiner ersten Begegnung mit dieser Seite der Religion konfrontiert. Beim
Hinduismus etwa fallen ihm die unzähligen Reliefs oder
Statuen von Göttern an den Tempeln auf oder die Priester
und Gläubigen, die sich ganz anders verhalten als in einer
Kirche oder Moschee, oder die Welt der Mythen mit ihren
Dämonen, Göttern, deren Gattinnen und Kriegen. Dies
ist die »piktorale Seite« (Gunturu 2000, S. 33).
Die andere Seite der Religion, die philosophische, ist
die, welche ihre Weltanschauung darstellt, gewisse Annahmen oder Praktiken zu erklären oder rechtfertigen
versucht. Diese Seite lässt sich nur abstrakt darstellen.
Die piktorale Seite des Hinduismus ist reichhaltig.
Hier findet sich die ganze Bandbreite an Gottesvorstellungen – vom primitivsten Polytheismus bis zum höchst
entwickelten Monismus. Die Industal-Zivilisation hat zu
dieser Seite einen bedeutenden Beitrag geleistet.
2 . D I E I N D U S TA L - Z I V I L I S AT I O N
(2500–1800 v. CHR.) UND IHRE
E R RU N G E N S C H A F T E N
22
Als ein paar Eisenbahnarbeiter im Jahre 1921 in der damaligen Provinz Sindh auf die Spuren einer vergessenen
Zivilisation stießen, wurden die Archäologen aktiv. Die
darauf folgenden Entdeckungen im Industal – dazu ge-
hört u.a. die Freilegung von sechs für damalige Verhältnisse hoch entwickelten Städten im Nordwesten des Subkontinents – versetzten die Anfänge der indischen
Geschichte um viele Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit. Mit einer Fläche von 1 299600 Quadratkilometern erstreckte sich diese Zivilisation über die Regionen
von Punjab, Haryana, Sindh, Baluchistan, Gujarat, Rajasthan und das Grenzgebiet von Uttar Pradesh. Kein anderer Kulturkreis der Bronzezeit war so groß wie dieser.
Stadtplanung war das bemerkenswerteste an dieser
Kultur. Sechs der rund 1000 bekannten Siedlungen auf
dem Subkontinent waren Städte – Harappa, Mohenjodaro, Chanhu-daro, Lothal, Kalibangan und Banawali.
Harappa und Mohenjo-daro sind die wichtigsten. Beide
hatten jeweils eine Zitadelle, welche möglicherweise von
den Herrschern bewohnt wurde. Die Städte unterhalb der
Zitadelle hatten neun Meter breite, schnurgerade Straßen, die einander rechtwinklig schnitten und so die ganze
Stadt schachbrettartig in Blöcke teilten. Ihre Bewohner
bauten hier große, mehrstöckige Häuser aus gebrannten
Backsteinen, deren Größe über die ganze Zeitspanne dieser Zivilisation (ca. 2500–1800 v. Chr.) standardisiert war.
Das Abwasser von den Häusern wurde durch Rohre in die
geschlossene Kanalisation der Straßen geleitet.
Ihre Bewohner domestizierten Rinder, Ziegen, Schafe,
Schweine, Hühner, Katzen, Hunde, Kamele und Elefanten. Die Bauern dieser Zivilisation kultivierten so viel
Gerste, Weizen und Reis und andere Nahrungsmittel, dass
sie die städtische Bevölkerung ernähren und genug Steuern an die Herrscher abgeben konnten. Die Gegenstände
und Werkzeuge, die man bei den Ausgrabungen gefunden
hat, verweisen auf eine gut entwickelte, aktive Heimindustrie. Ihre Weber arbeiteten mit Wolle und Baumwolle;
Goldschmiede stellten Schmuck aus Silber, Gold, Edelund Halbedelsteinen her; glasierte Keramik wurde in allen
Größen zu allen Zwecken angefertigt. Archäologen fanden
jedoch nur eine kleine Menge Waffen aus Bronze.
Ihre Waren, darunter als Hauptexportware die Baumwolle, schickten sie auf selbst gebauten Booten in alle
Welt.
23
UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Vanamali Gunturu
Hinduismus
Gebundenes Buch, Broschur, 96 Seiten, 10,5 x 18,0 cm
ISBN: 978-3-7205-2344-8
Diederichs
Erscheinungstermin: August 2002
Der Hinduismus ist mit über 780 Millionen Gläubigen die drittgrößte Religion der Welt. Hindus
leben in insgesamt 94 Ländern, sind also über den ganzen Erdball verteilt. Und doch erscheint
die große Religion Indiens für viele unnahbar und schwer begreifbar - angesichts einer langen,
wechselhaften Tradition, einer verwirrend vielfältigen Götterwelt und einer nahezu unbekannten
Symbolik. Was ist und was will der Hinduismus? Welche Bedeutung haben die Götter Shiva,
Vishnu und Brahma? Was verbirgt sich hinter den Begriffen "Yoga" und "Tantrismus" oder
"Mantra" und "Yantra"? Welches sind die wichtigsten hinduistischen Rituale? Diederichs
kompakt gibt die Antworten.
Herunterladen