SWR2 Essay

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„Diese reizende Symmetrie von Widersprüchen“
Über die Arabeske in den Künsten
Manuskript
Barbara Kiem
Spr. Doris Wolters
Zit. 1 Karl-Rudolf Menke
Zit. 2 Martin Ruthenberg
M 1:
Johann Sebastian Bach: Partita Nr. 1, 2. Satz
Murray Perahia
CD Sony, 88697565602
Spr.:
Die musikalischen Arabesken heben sich leicht und biegsam – schwingen in
spielerischen Bögen wieder zurück. Derartige auf- und abwärtsgleitende Bewegungskurven erregen unsere Aufmerksamkeit, wir bewegen uns innerlich
mit – ein Linienziehen im Erlebnisraum der Psyche – einerlei, ob wir musikalischen Ornamenten nachhören, Sprachspiralen mitdenken oder arabeske
Verläufe nachzeichnen, die der Fläche übergeben sind.
Eigentlich ist die Arabeske ja ein Begriff aus der bildenden Kunst und weist
auf die Manier mit stilisierten Blatt- und Blumenranken Rahmenleisten von
Gemälden auszuzieren. Figurative geometrische Linien lassen aufsteigend
Blumengewinde, Fabelwesen, Genien und Tiere hervorwachsen. Diese
schmückenden Gebilde verdrängen zum Ende des 18. Jahrhunderts allmählich die Wirkung der Bilddarstellung; die nebensächlichen dekorativen Elemente erregen mehr Aufmerksamkeit als die eigentliche Hauptsache. Damit
bereitet sich eine erstaunliche Erfolgsgeschichte der Arabeske vor, die sich
bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts fortsetzen wird.
Seit Kant ist die Arabeske als Denkfigur für die kunsttheoretische Diskussion
zunehmend bedeutsam geworden, was einen Konfliktraum öffnet, die strengen Maximen des Klassizismus werden aufgelockert. Das freie zufällige Linienspiel, Ironie und Karikatur haben Konjunktur und leiten über zu den ästhetischen Entwürfen der Romantiker. Friedrich Schlegel und Novalis erheben die Arabeske sogar zum zentralen ästhetischen Modell. Die Frühromantiker wollen die Grenzen und Regeln der einzelnen Künste überschreiten; jede möchte die Rolle der anderen Medien mit einbeziehen, man hofft, eine
gemeinsame Substanz aufzufinden. So greifen die Themen ineinander; Novalis gebraucht die paradoxe Formulierung von der „Wechseldurchdringung“
und wie die romantische Poesie durch Musikalisierung auf nie Gehörtes verweist, so reizt es die Komponisten, durch Klangmagie die poetischen Essenzen erlebbar zu machen. Zeitgleich sucht der romantische Maler Philipp Otto
Runge seine bildnerische Gestaltung literarisch-musikalisch zu vermitteln:
Die feinen Gewebe seiner arabesken Variationen – die fließende Reihung –
–1–
versteht er als beseelte musikalische Bewegung, als eine bildgewordene Melodienfolge. Sein >Tageszeitenzyklus< gilt als Realisation des frühromantischen Arabeskenbegriffs in der Malerei.
Historisch betrachtet hatte sich die ornamentale Arabeske in Abwandlung der
hellenistisch-römischen Pflanzenranke unter der dominanten Einflusssphäre
des arabischen Kulturraums entwickelt. Daher der Name >Arabeske< oder
auch >Maureske<.
Die arabisch-islamische Kunst ist von ihrer religiösen Gebundenheit gekennzeichnet, vor allem durch das Verbot der figürlichen Darstellung, das im Koran angedeutet ist und von der Theologie ausdrücklich eingefordert wird. Das
strenge Bilderverbot verhinderte die freie und eigenständige Entfaltung der
bildnerischen Künste. Daher wurden hauptsächlich die Baukunst und das
Kunstgewerbe gepflegt und damit verbunden die dekorativen Elemente.
Auch die Gestaltung der Ornamente unterlag den Regeln, die die islamische
Weltanschauung einfordert. So sind auch Naturabbildungen verpönt, sie gelten als ein Nachäffen der göttlichen Schöpfung. Naturähnliche Gebilde werden ornamental umgewertet und in rhythmischer Reihung wiederholt. Bevorzugt findet man Band- und Flechtmuster, Abwandlungen von
Arabeskenranken, Rosetten, Palmetten. Häufig zeigen sich die Ornamente
als geometrische Linien, was auf die ausgeprägte Nähe der Araber zum Mathematischen deutet. Viele der ornamentalen Bildungen sind nicht unbedingt
von Naturformen abgeleitet, sondern umgekehrt; man erkennt: geometrische
Ordnungen greifen in den Bereich des Lebendigen hinein.
Als Bereicherung des Formenschatzes dienten die Arabesken der Ausgestaltung des Hintergrundes und der Umrahmung. Neben der Baukunst sind das
Kunsthandwerk und die Buchmalerei zu nennen, außerdem die
Teppichknüpferei, Stoffmalerei, Keramik und die Metallarbeiten.
Seit der Renaissance wird die Bezeichnung >Arabeske< meist mit der >Groteske< verbunden; wobei die Arabeske zur abstrakten Linie, die Groteske
eher zu Fantastischem und Verzerrtem neigt. Die antiken Grotesken wurden
vor allem als Wandgestaltung in unterirdischen Grabgewölben – italienisch
>grotta< – gefunden, daher der Name: >Groteske<. Man nahm damals die
Motive und Techniken der alten Schmuckformen wieder auf für die Gestaltung von Säulen, Wandpilastern und Archevolten; ein Beispiel hierfür sind
–2–
Raphaels Arabesk-Grotesken in den Loggien des Vatikans. In späteren Zeiten werden die Darstellungen ausschweifender und fantastischer, die Verzierungen verselbstständigen sich überbordend; man denkt an die derben Barockgrotesken oder die anmutigeren Formen des Rokoko, während der Klassizismus des 18. Jahrhunderts wiederum den strengeren Stil der hellenistischen Epoche bevorzugt.
Schon seit der Antike wird in der bildenden Kunst unterschieden zwischen
der eigentlichen Hauptdarstellung und den schmückenden Ornamenten, die
sich der genauen inhaltlichen Fixierung entziehen. Die rankenden Arabesken
und Grotesken sollen das Ganze nur umgaukeln, nur umspielen. Solch eine
Umrahmung verziert die Darstellung, macht sie wertvoll, man kann so allmählich stufenweise das Heiligtum des Kunstwerks dem Blick zugänglich
machen.
Als Zierrat war die Ornamentik lange eine Sache des Kunsthandwerks, bis
sie im Verlauf des 18. Jahrhunderts theoriefähig wird. Aber die postulierten
Ideale widersetzen sich der Akzidenzfunktion, dem reinen Schmuckcharakter. Das Auszierende soll jetzt durchaus auf das jeweilige Kunstwerk bezogen sein.
Zit.1:
Die Zierrath muss also nichts Fremdartiges enthalten, sie muss nichts enthalten, wodurch unsere Aufmerksamkeit von der Sache selbst abgezogen wird,
sondern sie muss vielmehr das Wesen der Sache, woran sie befindlich ist,
auf alle Weise andeuten und bezeichnen, damit wir in der Zierrath die Sache
selbst wiedererkennen.i
Spr.:
Bemerkt Goethes Freund, der Kunsthistoriker Karl Philipp Moritz. Er bezeichnet „das Streben nach Verzierung“ als einen Grundtrieb der Seele. Die
Ornamentik soll nicht die wirklich „hohe Kunst“ betreffen, sondern dieselbe
umrahmen oder auch abschirmen. So ergibt sich eine Grenze zwischen Sockel, Rahmen oder der Kontur.
Zit.1:
Warum verschönert der Rahmen ein Gemälde, als weil man es isoliert, aus
dem Zusammenhang sondert.ii
Spr.:
Das Zufällige, Verspielte wird ausgesondert, damit die Wirkung des Mittelstücks sich würdevoll ausleben kann. Die Kunst des Klassizismus inszeniert
einen asketischen Ausdruck des Erhabenen, der sich über die Antike zu
rechtfertigen hat. Eventuellen Abweichungen haben die Kunstakademien
–3–
Grenzen zu setzen durch das genaue „Studium der Antike“. Ein sich ständig
reflexiv ausweisender Stilwille; was der Verstandeskontrolle entgeht, gilt als
verdächtig.
So wird das Vergnügen an arabesk-grotesken Formungen häufig als manieristische oder wollüstige Kunstproduktion angeprangert. Das Edle, Erhabene
darf nicht korrumpiert werden durch die genussvolle Freude des Auszierens.
Sind die leichten, ornamentalen Linien der Arabeske, wie Kant sagt: „innere
Form des zweckfreien und interesselosen Spiels der Einbildungskraft“ oder
führt dieses ästhetische Spiel zur leeren, überflüssigen Spielerei?
Kurz vor der französischen Revolution gerät die Arabeske in ein Kreuzfeuer
der Kritik. Man spricht von „nichts bedeutenden Sudeleyen“ und „Ungeheuern der zügellosesten Einbildungskraft“, die von aufgeklärten Landesfürsten
verboten werden müssten. Gegen diese lustfeindliche Argumentation wendet
sich Goethe, für den Verzierungen zwar eine subordinierte Kunst darstellen,
aber als Elemente des Schmückenden gerne gesehen sind. Goethe, der ja
überzeugt war vom Zusammenspiel von Natur und Kunst, sah in den umrankenden Ornamenten keine Grenze, sondern eher ein Bindeglied. In einer in
Italien entstandenen kleinen Schrift mit dem Titel >Von Arabesken< heißt es:
Zit.2:
Wir wollen unseren Lesern anschaulich machen, auf welche Weise die Arabesken von den Alten gebraucht worden sind.
Die Zimmer in den Häusern des ausgegrabenen Pompei sind meistens klein;
durchgängig findet man aber, dass die Menschen, die solche bewohnten, alles um sich her gern verziert und durch angebrachte Gestalten veredelt sahen. [...] auf einer Wand von mäßiger Höhe und Breite findet man in der Mitte
ein Bildchen angebracht, das meistens einen mythologischen Gegenstand
vorstellt. Es ist oft nur zwischen zwei und drei Fuß lang [...] und hat als
Kunstwerk mehr oder weniger Verdienst. Die übrige Wand ist in Einer Farbe
abgetüncht; die Einfassung derselben besteht aus sogenannten Arabesken,
Stäbgen, Schnirkel, Bänder, aus denen hie und da eine Blume oder sonst ein
Lebewesen hervorblickt, alles ist meistens sehr leicht gehalten, und alle diese Zierarten, scheint es, sollen nur die einfarbige Wand freundlicher machen:
Und indem sich ihre leichten Züge gegen das Mittelstück bewegen, dasselbe
mit dem Ganzen in eine Harmonie bringen. [...]
–4–
Fröhlichkeit, Leichtsinn, Lust zum Schmuck, scheinen die Arabesken erfunden und verbreitet zu haben, und in diesem Sinn mag man sie gerne zulassen; besonders wenn sie wie hier, der bessern Kunst gleichsam zum Rahmen dienen.iii
Spr.:
Als Spielart der Bewegung und der Lebensfreude sind die arabesken Ornamente willkommen, sie sollen aber im Sinne der klassizistischen Ästhetik am
Rande des Geschehens verbleiben. Goethes Unterordnen des
Arabeskenhaften zugunsten des Mittelstücks ist unmissverständlich. Für ihn
regt die fließende Leichtigkeit des Arabesk-Grotesken aber die schweifende
kreative Einbildungskraft zu gesteigerter Wirksamkeit an. Goethe sieht es als
die Aufgabe der künstlerischen Fantasie an, zwischen dem „Natürlichen“ und
dem „Unmöglichen“ zu vermitteln, um dann das erhoffte „Wahrscheinliche“,
das ganze Neuartige hervorzubringen. Der Künstler darf nicht äußerlich abbilden, vielmehr soll er die Tendenzen der Natur erfassen, um sie weiterzuentwickeln. Was sein könnte, das Mögliche, nicht das Wirkliche, liegt den
künstlerischen Schöpfungen zugrunde. Um 1790 ist das Prinzip der Arabeske von Goethe in Analogie zu den natürlichen Bildungsgesetzen beschrieben
worden, die als Vorbild für den Künstler gelten sollen, wenn er „sprossende
und rankende Blumenverzierung erfinden will“. Dem Geheimnis des vielfältigen Pflanzenwachstums spürte Goethe während seiner gesamten Italienreise nach. Er entdeckte das Bewegungsmoment des steten „Bildens und Umbildens“. Das gestaltende Prinzip ist dabei die transformative Energie der
Metamorphose. In jeder lebendigen Pflanze sah er
Zit.2:
ein Bewegliches, ein Werdendes, ein Vergehendes [...] Gestaltlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre von der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen
Zeichen der Natur.iv
Spr.:
Für Goethe nehmen die Kräfte, die die Pflanze bilden, verschiedene Formen
an: Die Keimblätter entstehen, der Stängel, Kelch, Krone, Staubgefäße, Griffel, Blüte und die Frucht, schließlich kommt es zur Bildung des neuen Samens. Goethe bezeichnet die „sukzessiv gegliederte Steigerung eine fortschreitende“, das Zurückschwingen auf frühere Formen, die „rückschreitende
Metamorphose“. Eine Polarität und Steigerung des wechselnden Ausdehnens und wieder Zusammenziehens. Eine stetige Unruhe, Goethe bemerkt:
–5–
Zit.2:
... dass nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern dass vielmehr alles in einer steten Bewegung
schwanke.v
Spr.:
Goethe geht es um ein Ganzes aus zusammenwirkenden Bildungsgesetzen.
Die unterschiedlichen Gestalten ergeben sich als Folge einer zugrunde liegenden Idee, der >Urpflanze<, die in der einzelnen Pflanze wie auch im kreativen menschlichen Geist auflebt. Er will deutlich machen, dass beide Bereiche, Natur und Kunst, dem Gesetz der „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ folgen.
Bei aller Verehrung für den Dichter und Naturforscher Goethe konnten die
Frühromantiker das Ideal der „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ nicht vorbehaltlos akzeptieren. Für sie kann die Vielfalt nur fragmentarisch erfahrbar werden. Die Darstellungsmöglichkeit eines großen Ganzen wird angezweifelt,
Ordnung und Symmetrie werden infrage gestellt und mit ihren Gegensätzen
konfrontiert.
Als Entdeckung einer neuen ästhetischen Dimension gibt Friedrich Schlegel
um 1800 eine folgenreiche Deutung der Arabeske. In seinem >Gespräch
über die Poesie< findet sich die >Rede über die Mythologie<. Hier spricht
Schlegel von der Ähnlichkeit der arabesken Struktur mit seiner Konzeption
einer neuen „romantischen Poesie“. Die Reflexionsfigur der Arabeske beschreibt er als ein Verwandlungskunstwerk nach dem Prinzip des „Anbildens“
und wieder „Umbildens“, ähnlich Goethes Äußerungen über die Metamorphose der Pflanzen. Schlegel betrachtet die Arabeske weniger als Linienführung, sondern als ein spezielles künstlerisches Organisationsprinzip, für ihn
die paradoxe Begegnung und Vereinigung von Gegensätzen.
Zit.1:
Ja, diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon
selbst eine indirekte Mythologie zu sein. [...] Gewiss ist die Arabeske die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie. [...] Denn das ist
der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für
–6–
das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der
alten Götter.vi
Spr.:
Die Aufwertung der arabesken Struktur ist nicht als Angriff auf die Vernunft
aufzufassen, vielmehr sollen die starren Regelwerke, die gültigen Gesetze
des Verstandes gebrochen werden, um der „Verwirrung der Fantasie“ Raum
zu geben, die mit einer Fülle von Gestaltungen spielen kann, um dann das
„künstlich Geordnete“ hervorgehen zu lassen. Ein Werk des Menschen, nicht
der Natur.
Arabeske Figuren erwähnt Schlegel auch als Beispiel für den, wie er sagt:
„großen Witz der romantischen Poesie“. Alle Kategorien des Witzes und des
Grotesken wie Humor, Ironie, Karikatur oder Parodie haben für Schlegel ein
Gemeinsames: Sie kreisen um das Rätsel des Zusammenhangs von Form
und Materie.
Zit.1:
So spielt das Groteske mit wunderlichen Versetzungen von Form und Materie, liebt den Schein des Zufälligen und Seltsamen und kokettiert gleichsam
mit unbedingter Willkür.vii
Spr.:
Willkürliches, Zufälliges als Eigenschaften des Arabesk-Grotesken sind für
Schlegel jene an keinen Zweck gebundenen freien Verbindungen von Linien
und Figuren. Er verweist auf die Mathematik, die auch auf spielerischen
Kombinationen basiere und ebenfalls als Prinzip des Chaotischen gelten
könne. Mit chaotisch ist die unendliche Fülle logischer Möglichkeiten gemeint, die mathematisch denkbar sind, mit normalem Verstand aber nicht
gemessen werden können.
Für die Technik des romantischen Romans soll aus dem Prinzip der unendlichen Fülle eine neue Machart entstehen: eben das Verwirrspiel, eine Art
Serpentinenstil, die Sätze lassen sich drehen und wenden, sie können sich
vorwärts- und rückwärtsbewegen oder in ironischer Verkehrung die gewohnte Anordnung von unten und oben, Zentrum und Peripherie unterlaufen. Es
entstehen Schnittpunkte der sich überkreuzenden Zeit- und Raumlinien.
Als Beispiel für solch eine arabeske Literatur zitiert Schlegel die Werke von
Jean Paul, bei denen das Verhältnis zwischen dem Erzählstrang und den
nebensächlichen Abschweifungen als arabesk-grotesk verzerrt erscheint,
sodass Unterscheidungen sinnlos sind und das Erkennen eines Themas
nicht mehr möglich ist.
–7–
Schlegels Freund Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, präzisierte in vielen seiner Fragmente die frühromantischen Positionen. Einer seiner Aphorismen lautet:
Zit.2:
Nur das Unvollständige kann begriffen werden – kann uns weiterführen. Das
Vollständige wird nur genossen.viii
Spr.:
Der arabeske, künstlerische Prozess wird als eine sich stets weiterrankende,
unabschließbare Reflexionsfigur vorgestellt. Um neue, unbekannte Spielräume zu öffnen, findet Novalis vielfältige Formulierungen für arabeske Verfahren in seinen fortlaufenden Selbstgesprächen – den Fragmenten – als
Bruchstücke einer nie endenden Progression. Das permanente Überbieten
ist ein wesentlicher Teilaspekt der frühromantischen Utopie. Vollständige Abschlüsse werden nicht angestrebt, die Linien- und Rankenwerke zeigen keine
final ausgerichtete Bewegung und vermitteln kein positives Gefühl der Erfüllung. Novalis spricht von dem freiwilligen Entsagen, ein Absolutes zu umkreisen; denn Letztbegründungen lassen sich wiederum durch progressive Bildungen hintergehen. Eine Kunst der Transformation, des unendliche Potenzierens, die offen ist für eine Vielzahl von Deutungen. Erhoffte Tendenzen,
die zu assimilierender Wirksamkeit treiben, was Novalis als >romantisieren<
bezeichnet.
Um die Simultanität der Zeiten und Räume erlebbar zu machen, erweist sich
die Form des Kunstmärchens als besonders geeignet für das frühromantische Erzählen; so z. B. Novalis Märchen >Hyazinth und Rosenblüthe<, das
durch seine Offenheit zu widersprüchlichsten Interpretationen einlädt und
daher zum Arabesken tendiert, wie etwa das Gegeneinander der beiden Zeitlinien oder die Art und Weise, wie Bilder, Ideen, Begriffe ineinandergeschlungen sind. Die Verbindung von Blumensymbolik und Poesie ist ein
zentraler Topos im Werk von Novalis. Als Dichter wird er besonders mit der
Kreation der >Blauen Blume< verbunden, aus seinem Roman >Heinrich von
Ofterdingen<. Mit dieser Bildvision ist ein vielschichtiger Komplex von Ideen
zusammengefasst. Die Blume, die Heinrich im Traum erblickt, ist zum Symbol des ganzen Werkes von Novalis und der gesamten Romantik geworden.
An diesem zweifelhaften Klischee lässt sich offenbar nichts mehr ändern. In
–8–
seiner besonnen, kühlen Rede – Novalis meidet die Erregtheit der Zeichen –
schildert er gleich zu Beginn des Romans die Traumvision Heinrichs.
Zit.2:
Eine Art von süßem Schlummer umfiel ihn [...]. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hineinquoll und sich darin
zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in
einiger Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als
das gewöhnliche, der Himmel war schwarz-blau und völlig rein. Was ihn aber
mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der
Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund
um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben und der köstlichste
Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete
sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als
sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden
glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume
neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.ix
Spr.:
Ein Gesicht neigt sich aus dem Kelch entgegen. Pflanzliches und Menschliches erscheinen als vermischt. Man kann es als Eigenschaft des Arabesken
oder auch des Grotesken lesen.
Die romantische Blütenmetaphorik setzt andere Akzente als Goethes Pflanzenmetamorphose. Bei Novalis ist zu lesen:
Zit.2:
Die Blüthen sind Allegorien des Bewusstseins, oder des Kopfes. Eine höhere
Fortpflanzung ist der Zweck dieser höheren Blüthen [...] eine progressive
Fortpflanzung der Personalität.x
Spr.:
Die höheren Blüten bezeugen die menschliche Fähigkeit, sich über sich
selbst zu erheben, über sich hinauszuwachsen in einer „spiralförmigen Progression“, wie es Novalis ausdrückt.
Die „spiralförmige Progression“ als eine aufstrebende arabeske Bewegung
vorgestellt; wie ein energetisch zeitlicher Vorgang analog den musikalischen
Verläufen.
„Man muss schriftstellern wie komponieren“, schreibt Novalis. Ein anderer
Aphorismus zeigt die Bedeutung des Arabeskenhaften, um die Grenzen der
Künste zu übergreifen.
–9–
Zit.2:
Die eigentlich sichtbare Musik sind die Arabesken, Muster, Ornamente.xi
Spr.:
Auch die romantischen Komponisten werden hellhörig für die subtilen poetischen Essenzen, wie sie die Blumenmetaphorik ahnen lässt.
Zit.1:
Eine musikalische Blumensprache war eine meiner frühesten Ideen.xii
Spr.:
Schreibt der feinsinnige, literarisch gebildete Robert Schumann. Zahlreiche
seiner Kompositionen umspielen die Blumenmotivik. Diese Sublimierungen
erreichen eine erstaunliche Beziehungsdichte von musikalischer und poetischer Intention.
In einem Brief an seine Frau Clara von 1839 heißt es:
Zit.1:
Sonst hab ich fertig: Variationen über kein Thema: Girlande will ich das Opus
nennen; es verschlingt sich Alles auf eigene Weise durcheinander. Außerdem ein Rondelette ein kleines, und dann will ich die kleinen Sachen, von
denen ich so viele habe, hübsch zusammenreihen und sie >Kleine Blumenstücke< nennen.xiii
M 2:
Robert Schumann: Arabeske
András Schiff
Teldec, 4509-99176-2
Spr.:
Dieses >Blumenstück< nimmt Bezug auf einen Roman von Jean Paul,
Schumanns verehrtem Lieblingsdichter. Der Romantitel beginnt mit der Wortfolge: Blumen, Frucht und Dornenstücke. Jean Paul hatte sich wiederum von
der Malerei anregen lassen. In einem Brief schreibt er: „Die Dornenstücke –
eine närrische Biographie in meiner Manier – müssen fertig gefärbt werden.“
Das andere der kleinen Blumenstücke nannte Schumann zuerst >Girlande<.
Mit der späteren Überschrift >Arabeske< überträgt er erstmals diese Bezeichnung auf die musikalische Praxis als Titel eines Klavierstücks und deutet damit auf den romantischen Wunsch einer Verschmelzung der einzelnen
Künste.
Zit.1:
... dem Maler wird das Gedicht zum Bild, der Musiker setzt die Gemälde in
Töne um. [...] Die Ästhetik der einen Kunst ist die der anderen; nur das Material ist verschieden.xiv
– 10 –
Spr.:
Mit der >Arabeske< op. 18 setzt Schumann die strukturellen Eigenschaften
des Arabeskenhaften in die Gesamtform eines Rondos um, mit drei Couplets
und einer Coda, die jeweils das Geschehen reflektieren – dramatischexpressiv oder verweilend nach innen gewandt.
Anstelle eines ausgearbeiteten Themas – Schumann sagt ja „Variationen
über kein Thema“ – klingt nur ein unruhiger Auftakt durch einen Vorschlag
aufgereizt.
M 3:
Robert Schumann: Arabeske
(s. M 2)
Spr.:
Der gesamte Verlauf vollzieht die Fortspinnung dieses kleinen Motivs; jeder
Ton verweist sogleich wieder auf den folgenden, dem wiederum das Motiv
angegliedert wird; ineinander verschränkte Auftakte, die sich durch erneute
Auftakte wieder aufheben.
M 4:
Robert Schumann: Arabeske
(s. M 2)
Spr.:
Nach dem sinnenden Betrachten wieder jene fortströmende Bewegung. Die
romantische Idee des unendlichen Verweisens realisiert an einer musikalischen Kleinform.
M 5:
Robert Schumann: Arabeske
(s. M 2)
Spr.:
Wie sich für Schumann „alles auf eigene Weise durcheinander verschlingt“
zeigt auch ein anderes Stück aus den >Waldszenen< op. 80. Diese Szenen
entrücken in die Waldeinsamkeit, das Innerste und Geheimnisvollste des romantischen Naturempfindens. Im tiefen Dickicht stehen >Einsame Blumen<.
Schumanns subtile Farbenkunst zeichnet hier ein lyrisch-intensives Bild. Das
schlicht anmutende Stück entpuppt sich als eine bis ins Detail durchgeformte
Komposition.
– 11 –
M 6:
Robert Schumann: Einsame Blumen
Claudio Arrau
Philips, 432 676-2
Spr.:
Die beiden Stimmen sind kunstvoll kontrapunktisch verflochten. Die Polyphonie der rechten Klavierhand – die linke begleitet über lange Strecken
akkordisch – demonstriert Schumanns Bestreben, strenge Imitationen und
Fortführungen zu gestalten. Die Verknüpfungen sind derart eng gefügt, dass
sie häufig gleichzeitig erklingen – Reibungen der großen und kleinen Sekunde – wie winzige Dornenstiche.
M 7:
Robert Schumann: Einsame Blumen
(s. M 6)
Spr.:
Ein polyphones Geflecht; musikalisierte verwobene Girlanden, Knospen, Blüten, arabeske Windungen.
Von wunderlichen klanglichen Rankenwerken hatte auch E.T.A. Hoffmann
gesprochen; wobei er damit vornehmlich seine Ansichten über die reine Instrumentalmusik beschreibt: Klingende Bewegungszüge, die sich selbst genügen. Schon Kant nannte das Vergnügen an musikalischen Kunstwerken
ein „interesseloses Wohlgefallen, ein Geformtes, das keinem von außen auferlegten Zweck dient“.
Zit.2:
Tönend bewegte Formen sind einzig und allein der Inhalt und Gegenstand
der Musik.xv
Spr.:
Dieser häufig zitierte Satz aus der Studie >Vom musikalisch Schönen< des
Musikschriftstellers Eduard Hanslick von 1854 gab wiederholt Anlass zu heftigen Kontroversen. In dem zweckfreien gegenstandslosen auf reine Schönheit bezogenen Formenspiel sah Hanslick auch eine Analogie zwischen der
Instrumentalmusik und der lebendigen Arabeske.
Zit.2:
Wir erblicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend, dort kühn emporstrebend, sich findend und loslassend in kleinen und großen Bögen korrespondierend [...] überall ein Gegen- und Seitenstück begrüßend, eine
Sammlung kleiner Einzelheiten und doch ein Ganzes. Denken wir uns nun
eine Arabeske nicht tot und ruhend, sondern in fortwährender Selbstbildung
– 12 –
vor unseren Augen entstehend, wie die starken und feinen Linien einander
verfolgen, aus kleiner Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann wieder
senken, sich erweitern, zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und Anspannung das Auge stets neu überraschen [...] Denken wir uns
vollends diese lebendige Arabeske als tätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern
dieser Bewegung ergießt, – wird dieser Eindruck dem Musikalischen nicht
einigermaßen nahekommend sein?xvi
Spr.:
Die arabeske Dynamik kann der musikalischen „einigermaßen nahe kommen“. Hanslicks feinfühlig ausgeformter Text bleibt sehr nah am Visuellen,
tendiert also zur bildenden Kunst, zu außermusikalischen Assoziationen. Das
ist verwunderlich, denn Hanslick wandte sich vehement gegen alle Bestrebungen, die verschiedenen Künste zusammenführen zu wollen, und er bekämpfte jegliche Art von programmatisch oder poetisch inspirierter Musik. So
provozierte er jenen überanstrengten Streit zwischen den Anhängern der
Programm-Musik und der sogenannten Absoluten-Musik, Zeiterscheinungen,
über die man sich wundern, aber auch leicht hinwegsetzen kann. Allerdings
hat es auch vordergründig ausmalende Musikstücke gegeben, ohne allegorisch-poetischen Charakter, die zu sehr auf dem Boden der Realität verbleiben. Aber Komponisten aus verschiedensten Zeiten haben sich durch Wahrnehmungen und Sinnzusammenhänge des Lebens anregen lassen, um sie
als Szenen innerlich so intensiv wie möglich zu erleben und dann die dadurch ausgelösten Gefühle in Musik zu verwandeln.
Mit seinen vereinseitigten Positionen wehrt sich Hanslick aber gegen ein
übertriebenes Rein-Erklären, gegen hermeneutisches Ausdeuten. Er will die
Eigenständigkeit der musikalischen Kunst verteidigen.
Zit.2:
Die Musik will nun einmal als Musik aufgefasst sein und kann nur aus sich
selbst verstanden, in sich selbst gemessen werden.xvii
Spr.:
Musik sieht Hanslick als höchste genuine Schöpfung des künstlerischen
Geistes an. Durch das körperlose Material ist das Komponieren:
Zit.2:
... ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material.xviii
Spr.:
Diese pointierte Formulierung könnten aber auch Vertreter anderer Künste
für ihre Tätigkeit beanspruchen; und was die Arabeske als Figur so interes-
– 13 –
sant macht, ist, dass sie gleichermaßen bedeutsam ist für die Ästhetik der
bildenden, der musikalischen wie auch der Sprachkunst.
So findet der französische Dichter Charles Beaudelaire ähnlich lautende Bezüge. Er sieht in der Arabeske
Zit.1:
die geisthaltigste aller Zeichnungen, das natürliche Vermögen eines freien
Geistes.xix
Spr.:
„Natürlich“ wird hier wie schon bei Novalis nicht als naturhaft-abbildlich verstanden, sondern als eine Potenz der unbeschränkten Fantasie – als dem
Geistigen entsprechend, der Natur des Geistes gemäß.
In Frankreich beginnt eine konsequente und verschärfte Weiterentwicklung
des frühromantischen Ideengutes. Auch hier wird das Ideal eines großen
Ganzen nur noch in Bruchstücken erlebbar – wird in Widersprüche und Gegensätze zersplittert. Arabeskenartiges umfasst jetzt auch das Bizarre, Verzerrte und den burlesken Spaß. Grotesk Hässliches erhält einen hohen Stellenwert, es soll entlasten vom Anspruch des Schönen, was als Befreiung
vom Ballast des Erhabenen erlebt wird.
Mit der bewussten Abschaffung des trunkenen oder des empfindsamen Herzens erwächst eine Faszination für das Irreale und Absurde bis hin zum Satanischen. Beaudelaire spricht vom „aristokratischen Vergnügen zu missfallen“, er will den Leser gezielt verwirren und verunsichern durch „die Würze
des Befremdens“, wie er es ausdrückt. Die Objekte der Wirklichkeit werden
dem gewohnten Umgang entzogen und in eine dissonante Spannung versetzt, denn der Dichter will die Worte vor der Abnützung des Alltäglichen
schützen. Eindeutigkeit des Inhalts degradiert die Sprache zu reiner Zweckinformationen und profaner Schwatzhaftigkeit. Indem ein Gedicht sperrigen
Widerstand leistet, schreckt es jene Leser ab, die ein tradiertes Konsumverhalten beibehalten wollen.
Es gilt, den unterschiedlichen Klangsuggestionen nachzuhören, dem vielschichtigen Bedeutungshintergrund. Oft löst sich die Farbe vom Dinglichen,
die Atmosphäre verselbstständigt sich zu sachentbundenen schwebenden
Imaginationen, arabesken Linien und Bewegungsfolgen: auf- und absteigende Figurationen, Spiralen, Zickzacks, angenähert an die Abstraktionen der
Mathematik und den zeitlichen Bewegungskurven der Musik. Stephan Mallarmé erhofft sich eine rein geistige Form, die „totale Arabeske“ als wortlose
– 14 –
Chiffrierung. Die sinnfreien Linien der arabesk-grotesken Strukturen wurden
im Kreis der französischen Symbolisten um Mallarmé zu noch höherer ästhetischer Bedeutung aufgewertet.
Mallarmé schaute neidvoll auf die Komponisten, die seiner Meinung nach mit
ihren Kunstmitteln souveräner arbeiten könnten, da sie nicht auf ein so abgenutztes Material wie das der Sprache Rücksicht nehmen müssten.
Zit.2:
So ein Gedicht ist von der Musik selbst eingegeben, die wir plündern und
paraphrasieren müssen, da unsere eigene Musik mit Dumpfheit geschlagen,
ungenügend ist. [...] Die Kontemplation der Gegenstände, das Bild, das aus
den von ihnen ausgelösten Träumereien auffliegt, das ist der Gesang.xx
Spr.:
Er spricht von leicht hineingespielten Imaginationen im Innenraum des Bewusstseins; changierende, psychische Momente, die sich nicht fixieren lassen, vielleicht aber durch die entstofflichten Ornamente des Tanzes kurzfristig sichtbar werden können. Es ist die frei werdende Sehnsucht nach dem
schwerelosen Körper, der sich über Gegebenes hinwegzusetzen vermag. In
verblüffender Weise versammelten diese Eigenschaften die beiden Amerikanerinnen Isodora Duncon und Loïe Fuller, die Wegbereiterinnen des modernen Ausdruckstanzes.
In dieser Zeit des Jugendstils, der Art Nouveau, staunten die Pariser über die
Visionen, die wechselnd farbigen Lichteffekte- wie Loïe Fuller sie mit Gazeund Seidenschleiern und mithilfe der modernen Elektrizität zu inszenieren
vermochte. Mit den oszillierenden Schleierwirbeln ihres Serpentinentanzes
kreierte sie eine neuartige abstrakte Bewegungskunst im Raum des freien
Spiels der Fantasie. Mallarmé nahm ein von der individuellen Tänzerin Loïe
Fuller losgelöstes Geschehen wahr, die Tanzende verschwindet aus der
Perspektive des Betrachters, sie wird zur bewegten Metapher, ein entmaterialisiertes Spiel, das Analogon zum vibrierenden, fließenden Leben der Psyche – Momente der Verwirklichung des Ideals der reinen bewegten Arabeske.
Von der „göttlichen Arabeske“ schwärmt auch Mallarmés Komponistenfreund
Claude Debussy. Seine musikalische Sprache reflektiert und transzendiert
die Problemstellungen der symbolistischen Ästhetik. Wie bei Beaudelaire
oder Mallarmé ist auch für Debussy die wichtigste Eigenschaft der Arabeske
die Abstraktheit ihrer reinen Linie, die er in vielen seiner Kompositionen zu
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realisieren suchte. Der gleichförmige Fluss seiner musikalischen Arabesken
ist von keinerlei dramatischer oder syntaktischer Stringenz gekennzeichnet.
Die Denkfigur >Arabeske< bietet Debussy die Möglichkeit, sich von den Traditionen der Wiener Klassik und der deutschen Musik des 19. Jahrhunderts
abzusetzen; er will auf ein älteres Prinzip zurückgreifen, das er als das „ursprünglichere“ bezeichnet. Debussy verfolgt die Entwicklung ausgehend vom
Gregorianischen Choral, für ihn die „Urgestalt“ der „göttlichen Arabeske“,
über die frühen Meister Palestrina, Orlando di Lasso und andere, die in ihren
Kompositionen arabeske Linien konzipierten – aber das Geflecht durch widerstandsfähige Kontrapunkte festigten – bis hin zum Höhepunkt: der Musik
Johann Sebastian Bachs, bei der Debussy die musikalische Arabeske „in fast
makelloser Reinheit“ verwirklicht sieht.
Zit.1:
Das Erregende an Bachs Musik ist nicht so sehr der Charakter der Melodien
als vielmehr ihr Kurvenverlauf. Noch mehr wirkt die gleichlaufende Bewegung der Linien, ihr zufälliges Zusammentreffen, ihre einmütiges Zusammengehen, auf die Empfindung ein [...] Die Schönheit konnte sich trotz der
strengen Ordnung, in die der große Meister sie stellte, mit dieser freien unaufhörlich zu neuen Gestalten drängenden Phantasie bewegen, die uns noch
heute in Erstaunen setzt.xxi
Spr.:
Mit vielen seiner Werke gliedert Debussy sich durchaus ein in diese Traditionskette; er möchte die vermeintlich verloren gegangenen ornamentalen
Konzeptionen wieder beleben.
Tatsächlich erinnern die beiden frühen Klavierstücke mit dem Titel >Arabeske< von 1888 an das vorklassische figurative Spiel der Cembalisten. Mit einer Reihung von auskomponierten Verzierungen verweist Debussy auf alte
Traditionen.
M 8:
Claude Debussy: Deux Arabesques
Peter Frankl
Turnabout, 0004
Spr.:
Die andere >Arabeske< beginnt mit ausschwingenden melodischen Kurven,
die gerade erwähnte „gleichlaufende Bewegung“. Ab dem sechsten Takt
wachsen zwei ineinander verwobene arabeske Linien hervor. Die linke Kla– 16 –
vierhand öffnet mit ausholenden Dreiklangsbrechungen einen weit gespannten Klangraum – währenddessen die rechte in triolisch absteigender Linie
abwechselnd konkave und konvexe Melodiebögen aneinanderreiht.
M 9:
Claude Debussy: Deux Arabesques
(s. M 8)
Spr.:
Wie bei Schumann wird hier das Arabeskenhafte als ein a-thematisches Weiterfließen dargestellt. Auch die Harmonik vermeidet jegliche Polarisierung.
Den jeweiligen Einleitungen folgt kein Hauptteil, vielmehr entstehen weitere
arabeske Figuren.
M 10:
Claude Debussy, Deux Arabesques
(s. M 8)
Spr.:
Jenes schwerelose Gleiten der musikalischen Fantasie, als Bewegung des
freien Geistes, die Debussy als die „natürliche“ Linie bezeichnet hat.
M 11:
Claude Debussy: Deux Arabesques
(s. M 8)
– 17 –
Anmerkungen
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ii
iii
iv
v
vi
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viii
ix
x
xi
xii
xiii
xiv
xv
xvi
xvii
xviii
xix
xx
xxi
>Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert<, herausgegeben
von Herbert Bede, Frankfurter Forschungen zur Kunst, Band 11, Gebrüder Mann Verlag
– Berlin 1984, S. 121
>Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert<, herausgegeben
von Herbert Bede, Frankfurter Forschungen zur Kunst Band 11, Gebrüder Mann Verlag
– Berlin 1984, S. 126
J. W. von Goethe >Von Arabesken<, in: >Italienische Reise<, Teil 2, Deutscher Klassikerverlag, Frankfurt a. M. 1993, S. 877
Goethe >Morphologie< von 1807, zit. nach Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler,
München 1989, Bd. 6, S. 519
Goethe >Die Metamorphose der Pflanze<, zit. nach Kindlers Neues Literaturlexikon,
Kindler, München 1989, Bd. 6, S. 519
Friedrich Schlegel >Gespräch über die Poesie<, in: >Kritische Schriften und Fragmente<, Ferdinand Schöningh, Paderborn 1988, Bd. 2, S. 204
Friedrich Schlegel >Gespräch über die Poesie<, Athenäums-Fragmente Nr. 389, in:
>Kritische Schriften und Fragmente<, Ferdinand Schöningh, Paderborn 1988, Bd. 2.
Novalis, zitiert nach Herbert Uerlings, >Friedrich von Hardenberg<, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1991, S. 226
Novalis >Heinrich von Ofterdingen<, Carl Hanser Verlag, München 1978, Bd. 1, S. 242
Novalis, zitiert nach Herbert Uerlings, >Friedrich von Hardenberg<, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1991, S. 256
Novalis Schriften, Notiz von 1799, zit. nach Musik in Geschichte und Gegenwart,
Sachteil: A, Bärenreiter, Kassel 1994, S. 684
Robert Schumann >Briefwechsel<, GS 1, S. 43, zitiert nach: >Robert Schumann Interpretationen seiner Werke<, herausgegeben von Helmut Loos, Laaber Verlag 2005,
Bd. 1, S. 109
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Eduard Hanslick >Vom Musikalisch Schönen<, Breitkopf und Härtel, Wiesbaden 1975,
S. 59
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S. 59
Eduard Hanslick >Vom Musikalisch Schönen<, Breitkopf und Härtel, Wiesbaden 1975,
S. 62
Eduard Hanslick >Vom Musikalisch Schönen<, Breitkopf und Härtel, Wiesbaden 1975,
S. 65
Charles Beaudelaire, zit. nach Hugo Friedrich >Die Struktur der modernen Lyrik<, Rowohlts Enzyklopädie, Hamburg 1956, S. 57
Stéphane Mallarmé, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1995, S. 315
Claude Debussy >Monsieur Croche<, in: >Sämtliche Schriften und Interviews<, übersetzt von Josef Häusler, Reclam, Stuttgart 1972, S. 35–38
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