Gedanken zu Orpheus - War Orpheus Musiktherapeut?

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Gedanken zu Orpheus 47
HANNA SCHIRMER, BERLIN
Gedanken zu Orpheus oder:
War Orpheus Musiktherapeut?
Orpheus gilt als Sohn der Muse Kalliope und des Thrakers Oiagros oder auch des
Gottes Apollon (vgl.: FINK, G 1993). Schon als Kind wurde Orpheus von Apollon
unterrichtet, die Lyra zu spielen. Die Lyra ist eine Erfindung von Hermes, der sie spielte
und dazu sang. Er schenkte sie seinem Bruder Apollon und auf dieser Lyra nun lernte
Orpheus zu spielen und zu ihren Klängen zu singen. Folgerichtig erhielt er sie nach
seiner Ausbildung von Apollon zum Geschenk.
So ist Orpheus mit den Begabungen für einen Sänger und Musiker ausgestattet, der die
Herzen der Menschen seiner Umgebung erreichen kann, ja der sogar - so wird berichtet
- Tiere, Bäume und Felsen durch seine Lieder bewegt.
Er gewann Eurydike zu seiner Frau, und das Drama, das Stoff für spätere Opern und
Theaterstücke werden wird, beginnt, als sie, durch einen Nebenbuhler bedrängt, fliehend
auf eine Schlange tritt, von der sie durch den giftigen Biss getötet wird.
Das, was im Mythos geschieht, muss geschehen. Das, was geschieht, beschreibt den
Prozeß von Reifung, den Orpheus durchläuft.
So, wie Orpheus sich hineinbegibt in den Ausdruck seiner Musik, seines Gesanges, so
erfüllen ihn nun Trauer und Verzweiflung über Eurydikes Tod. Und mit der Fähigkeit,
seine inneren Bewegungen in Musik umzusetzen, und mit dem Vorsatz, Geschehenes
ungeschehen zu machen, wandert er bis zur südlichsten Spitze des Peloponnes, dem
Tainaron. (vgl. KERÉNYI, K. (1966) 1988). Dort befindet sich nach der Sage einer der vier
Unterweltströme. Charon, der Fährmann, läßt sich durch Orpheus‘ Gesang erweichen
und setzt ihn über in das Totenreich. – 1
Das Totenreich wird nach seinem Herrscher, dem Hades benannt. Hades selbst wird im
Laufe der Zeit mit Pluton gleichgesetzt. (vgl. FINK, G). So, wie das Totenreich beschrieben
wird, z.B. bei VERGIL in der „Georgica“ (VERGIL, 29 v. Chr., vgl.: STORCH 1997, S. 28ff) oder
in OVIDs „Metamorphosen“ (PUBLIUS OVIDIUS NASO, B UCH X, VERS 10-75), erinnert es an
die „Göttliche Komödie“, ein Epos, das DANTE ALIGHIERI (1265-1321) Anfang des 14.Jh.
verfaßt hat und das die visionäre Wanderung des Dichters durch die drei Reiche des
Jenseits - Inferno, Purgatorio, Paradiso (Hölle, Fegefeuer, Paradies) – beschreibt. Durch
das Inferno bis zum Läuterungsberg begleitet ihn bezeichnenderweise VERGIL, als
Vertreter der Vernunft, der Philosophie und der griechischen Bildung. Über 100 Jahre
später hat der Maler SANDRO BOTTICELLI (1444-1510) die Stationen dieser Wanderung
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bildlich dargestellt. Es gab unlängst eine Ausstellung im Berliner Kupferstichkabinett,
in der diese Zeichnungen komplett gezeigt wurden, und man konnte sich mit ihrer Hilfe
die Vorstellungen des Mittelalters von der Hölle und dem Fegefeuer vor Augen führen.
Diese Vorstellungen sind vielleicht angeregt durch die Beschreibungen des Hades in
der griechischen Mythologie oder auch ein Relikt aus der griechischen Vorzeit.
Zu Pluton, dem „Herrn, der die Herrschaft im wüsten Reiche der Schatten führt“, so
wird er bei OVID genannt (a.a.O. Vers 15), und seiner Gattin Persephone führt der Weg
des leiderfüllten, verzweifelten Orpheus. Ihnen trägt er zur Leier singend seine Bitte
vor, ihm Eurydike wiederzugeben. Und alle, die ihn hören, zeigen auf irgend eine Art
ihre Bewegung: Die bleichen Seelen weinen. Es bellt der Kerberos nicht, Ixions feuriges
Rad bleibt stehen, Tantalos langt nicht nach dem verschwindenden Wasser oder den
unerreichbaren Früchten, Tityos‘ Leber wird nicht von den Geiern gehackt, die Danaiden
setzen ihre löcherigen Krüge ab und hören mit dem vergeblichen Wassertragen auf und
Sisyphos setzt sich auf seinen Stein.
Mythische Figuren, die nicht leben, die nicht sterben können, trifft Orpheus in der
Unterwelt an. Sie arbeiten, bewegen sich, aber es gibt keine Entwicklung. Ihre Tätigkeiten
gelingen nicht und sind qualvoll. Ebenso ist es qualvoll, diese unsinnigen Tätigkeiten
fortwährend wiederholen zu müssen. Ewig. Doch beim Erklingen der Musik, die Orpheus spielt, und seines Gesangs, halten alle ein
und inne und lauschen. Es scheint, als würden sie Atem schöpfen, einmal ihre sinnlose
Ruhelosigkeit vergessen. Es scheint, nun würde es auch für sie Hoffnung auf
Veränderung, auf Entwicklung und Leben geben (vgl.: SCHIRMER, H, 2000).
Es sind die Gefühle von Schmerz und Hoffnung, die sich durch Orpheus‘ Musik zu
transportieren scheinen. Gefühle, die dumpfe Wiederholungen nicht erlauben, Gefühle,
die zum Leben gehören, Gefühle, die – sind sie erst verarbeitet - , zur weiteren
menschlichen Entwicklung und Reifung verhelfen.
„Ei dorme, e la mia centra,
Se pietà non impetra
Ne l’indurato core, almen il sonno
Fuggir al mio cantar gl’occhi non ponno...“
„Er schläft. Wenn auch meine Leier
kein Mitleid in seinem harten Herzen
wecken konnte so konnten doch seine Augen
bei meinem Gesang dem Schlaf nicht widerstehen...“
(STRIGGIO, A.: „L’Orfeo“, Dritter Akt,
übers. v. U. J ÜRGENS-HASENMEYER, in CSAMPAI/HOLLAND 1988)
Die hinreißende Musik, die MONTEVERDI komponiert hat, könnte aber ebensogut zu der mythischen
Version gehören, die Orpheus‘ Gesang mit der Macht ausstattet, die Bewohner der Unterwelt so zu
rühren, daß sie ihm seine Wünsche erfüllen.
2
Die Vernichtung von Sodom und Gomorrha, sowie die Errettung Lots, der mit seiner Frau
und seinen beiden Töchtern zuvor aus der Stadt Sodom geführt wurde, s. 1. Mose, 19. Die oben
erwähnte Textstelle steht im Vers 26: „Sein Weib aber sah sich um und wurde eine Salzsäule.“
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Orpheus kann durch den Ausdruck seiner Musik Unbelebtes beleben. Orpheus kann
durch seine Lieder Versteinertes rühren. So erhält er unter einer Bedingung Eurydike
zurück: Er darf sie nicht ansehen. Diese Aufgabenstellung läßt einen Initiationsritus
vermuten, wie wir ihn aus unzähligen Märchen kennen: Wenn die Aufgabe bewältigt
ist, bekommt der Held die begehrte Jungfrau, den ersehnten Reichtum. Die Aufgaben –
Prüfungen -, die im Märchen bestanden werden müssen, scheinen unlösbar. Häufig
erhält der Protagonist mächtige Hilfe, weil er an das Gute und die Liebe glaubt und
selbst gut und liebenswert ist. Die Aufgabe, die Orpheus aufgetragen bekommt, scheint
leicht zu lösen. Doch Orpheus sucht nicht den leichten Weg, seine Wünsche zu erfüllen:
Die ihm gestellte Aufgabe durfte nicht gelöst, die Bedingung nicht erfüllt werden. Es
scheint, daß von der Nicht-Lösung der Aufgabe sein weiteres Leben abhängt! Es scheint,
daß kindlicher Glaube allein ihm nicht mehr möglich ist.
Er darf sie nicht ansehen.
Um sie anzusehen, müsste er zurückschauen.
- Und was hat sie gesehen, als sie sich umsah? Die biblische Frau Lot, die zur Salzsäule
erstarrte, weil sie sich umsah - was hat sie gesehen? - 2
Therapeuten haben täglich mit Menschen zu tun, die die Fähigkeit verloren haben,
zurückzuschauen in ihre Vergangenheit. Ihnen ist in Vergessenheit geraten, was gewesen
ist: das Schlimme, das Schöne, das Leben davor. Auch haben Therapeuten damit zu
tun, Menschen zu zeigen, wo sie hinsehen können. Oft haben diese die Augen
verschlossen, um den Schrecken nicht zu sehen. So sehen sie auch nicht das Schöne,
und sie sehen auch nicht das sich Verändernde.
Was bedeutet „Sehen“ in einem Kontext, in dem es um das „Hören“ und „Fühlen“ geht?
Im Drama „Eurydike“ von J EAN ANOUILH sagt der Geiger Orpheus zu der toten
Schauspielerin Eurydike:
„Es wäre leicht festzustellen, ob du in diesem Augenblick die Wahrheit
sprichst, denn dein Auge ist dann klar wie der Spiegel des Wassers am
Abend. Wenn du lügst oder deiner nicht ganz sicher bist, hast du einen
dunkelgrünen Ring um die Pupille, der sich dadurch verengt...“ –. (ANOUILH,
J., 1942: „Eurydike“, Dritter Akt. In: Dramen I, 1973, S. 281)
ANOUILHs Orpheus weiß also nur, wenn er hinsieht. Auch der Orpheus des griechischen
Mythos weiß nur, wenn er hinsieht. Er, der Singende, Hörende, Fühlende wird, wenn er
hinsieht, sehen und wissen.
3
Dieser Schluß ist die zweite von 1609 stammende Version, die, so vermutet man, von MONTEVERDI
selbst verändert wurde. In der Schlußfassung der Uraufführung von 1607 flieht Orpheus vor den
Bacchantinnen, die ein wildes Fest feiern. Auch in dieser Version sieht man das Bemühen des
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Sehen und Wissen aber ist Erkenntnis. Gemeint ist nicht nur Orpheus’ Erkenntnis über
seine Ohnmacht, Eurydike zurückgewinnen zu können. Es ist nicht nur die Erkenntnis,
daß aus dem Tod niemand zurückkehren kann, sondern es ist die Erkenntnis von der
Sterblichkeit des Menschen.
Der Ablauf des Mythos wurde in den späteren Orpheus-Verarbeitungen zu
verschiedenen Zeiten unterschiedlich behandelt. Zwei berühmte Beispiele will ich
anführen:
Im Libretto von RANIERI DE‘ CALZABIGI, das die Grundlage für GLUCKs Oper „Orpheus
und Eurydike“ bildet, steht die Liebe über allem, und deshalb wird der Gott Amor als
Lenker des Schicksals in die Geschehnisse miteinbezogen. Die Handlung ist etwa so
aufgebaut, wie es im Märchen sein kann: Durch Unachtsamkeit und seine übergroße
Liebe verliert Orpheus seine soeben wiedergewonnene Eurydike ein zweites Mal. Doch
weil seine Liebe groß und echt ist, wird sie am Ende dem untröstlichen Orpheus durch
Amor zum Geschenk gemacht: Ein Happy End, wie es von einer Oper im 18. Jahrhundert
erwartet wurde.
MONTEVERDIs Librettist, ALESSANDRO STRIGGIO d.J., hat sich hingegen schon eher an die
griechische Vorlage gehalten. In seinem Text zu „L’Orpheo“, dem ersten Musiktheater,
das als Gattung „Oper“ bezeichnet werden kann, verliert Orpheus zwar Eurydike wieder,
weil ein Geräusch hinter ihm ihn zweifeln läßt, ob sie ihm folgt, und er sich also umschaut.
Und er wird ob seiner übergroßen Liebe gerügt:
„Orfeo vinse l’Inferno e vinto poi
Fu dagl’affetti suoi.
Degno d’eterna gloria
Fia sol colui ch’avrà di se vittoria.“
„Orpheus besiegte die Hölle und wurde dann
von seiner Leidenschaft besiegt.
Ewigen Ruhm aber verdient nur der,
der sich selbst besiegt.“
(STRIGGIO, A.: „L‘Orfeo“, vierter Akt,
in CSAMPAI/HOLLAND 1988)
läßt STRIGGIO den Chor der Geister singen, was auf einen unglücklichen Ausgang
hinweisen könnte. Dennoch wird Orpheus am Schluß der Oper durch seinen Vater
Apollo der Ruhm der Unsterblichkeit verliehen. – So wird auch diese Orpheus-Version
dem Anspruch des Publikums nach Unterhaltung und glücklichem Ende gerecht.3
Librettisten, die Treue zur griechischen Vorlage mit den Ansprüchen des Publikums zu vereinen
(vgl. LEOPOLD, S., 1988, S. 83 ff).
Gedanken zu Orpheus 51
Doch nun zurück zum griechischen Mythos:
Orpheus muss Eurydike in der Unterwelt lassen. Unter dem Zeichen von Trauer macht
er weiter Musik. - Ist sein Gesang tiefer, inniger geworden?
Aus Treue zu Eurydike wird er künftig nur Knaben lieben, so berichtet es OVID. Es gibt
aber auch Quellen, in denen gesagt wird, daß von nun an Orpheus Knaben erzieht und
sie die Enthaltsamkeit von Fleischgenuß lehrt, ihnen Lieder vom Anfang der Dinge und
von den Göttern singt (vgl. KERÉNYI, K. a.a.O. S. 14). Dass Orpheus Lehrer wurde, ist
nach seiner Schmerzerfahrung durch Eurydikes Tod, der schmerzhaften,
erkenntnisreichen Erfahrung im Hades und seiner vermutlichen Fähigkeit, diese
Erfahrungen musikalisch zu verarbeiten, evident.
Seine Knabenliebe wird als Grund angenommen, daß ihn „ciconische Frauen“, die wilden
Maenaden, aus Rache über Orpheus’ Verschmähung des weiblichen Geschlechts
gemordet und in Stücke zerrissen haben.
Von seiner Todesart ist man erschreckt: ‚Zerreißen‘, ‚Zerstückeln‘ erinnert an Zustände
in der akuten Psychose. Ihm, dem Sänger, dem Musiker, bleibt ihm auch das nicht
erspart? - Dann trösten GOETHEs Worte im ‚Dämon‘:
„...und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“
(GOETHE, W.V.: „Urworte. Orphisch.“ In STORCH,
W., 1997, S. 164))
Sein Kopf wird vom Fluß Hebrus mitgenommen und in das Meer zur Insel Lesbos
getrieben. Der klagend singende Kopf. Seine Leier ist seither als Sternbild an den
Himmel gebannt.
Das Ende des Mythos berichtet, daß Orpheus‘ Kopf im Apollon-Tempel untergebracht
ist und nun weissagt - denn er ist „Seher“, d. h. Wissender, Weiser. Orpheus besaß die Fähigkeit zu hören und zu fühlen und erwarb sich die Fähigkeit zu
sehen und zu wissen. Beides konnte er mit singenden Worten und klingender Lyra
seiner Umwelt und uns, seiner Nachwelt vermitteln.
Literatur
ANOUILH,J. (1942): „Eurydike“. In: „Dramen I“, Albert Langen – Georg Müller Verlag
GmbH München 1973
CSAMPAI, A., HOLLAND, D. (Hg.): „CLAUDIO MONTEVERDI Orfeo, CHRISTOPH WILLIBALD
GLUCK Orpheus und Eurydike – Texte, Materialien Kommentare“;
Rowohlt, Hamburg 1988
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FINK, G.: „Who’s who in der antiken Mythologie“, dtv München, 1993
GOETHE, W. V.: „Urworte. Orphisch.“, in: STORCH, W.: „Mythos Orpheus“ Reclam
Verlag Leipzig 1997
KERÉNYI, K. (1966) „Der Mythos von Orpheus und Eurydike“
in: CSAMPAI, A., H OLLAND, D. (Hg.) „CLAUDIO MONTEVERDI Orfeo, CHRISTOPH
WILLIBALD GLUCK Orpheus und Eurydike; Rowohlt Hamburg 1988
LEOPOLD, S.: „Orpheus in Mantua und anderswo“, in: CSAMPAI, A., HOLLAND, D. (Hg.)
„CLAUDIO MONTEVERDI Orfeo, CHRISTOPH WILLIBALD GLUCK Orpheus und Eurydike;
Rowohlt Hamburg 1988
SCHIRMER, H.: „Man müßte ein Ende finden können – Improvisationen zwischen
Traum und Zeit“, in: BVM - Einblicke, „Abschied und Neubeginn“ Heft 10, 2000
STORCH, W. (Hg.): „Mythos Orpheus“, Reclam Verlag Leipzig 1997
STRIGGIO, A.: „L’Orfeo“ Libretto. Übers. v. U. JÜRGENS-HASENMEYER, in: CSAMPAI, A.,
HOLLAND, D. (Hg.) „CLAUDIO MONTEVERDI Orfeo, CHRISTOPH WILLIBALD GLUCK
Orpheus und Eurydike“; Rowohlt Hamburg 1988
PUBLIUS OVIDIUS NASO: „Metamorphosen“ Hg. ERICH RÖSCH, Ernst Heimeran Verlag,
München 1972
Hanna Schirmer, Weinmeisterhornweg 105, 13593 Berlin
e-Mail: [email protected]
(Footnotes)
1
Es mutet merkwürdig an, wenn im Libretto (von ALESSANDRO STRIGGIO verfaßt) von MONTEVERDIs
„Orfeo“ der Fährmann durch die Musik eingeschläfert wird.
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