„Der betäubte Schmerz“ Sucht als Überlebens

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Originalarbeit S. 19 - 21
„Der betäubte Schmerz“
Sucht als Überlebens-Strategie
Wolfgang Ghedina (1), Patricia Oleksy (2)
(1) Psychiatrisches Krankenhaus des Landes Tirol, Hall in Tirol
(2) UMIT, Private Universität für Gesundheitswissenschaften,
Medizinische Informatik und Technik, Hall in Tirol
Zusammenfassung
Die möglichen Folgen von „süchtigem" Verhalten, also
jenseits von genussvollem, sind jedem bekannt.
In diesem Beitrag werden einige weitere Aspekte beleuchtet, weshalb Substanzmittelkonsum, -missbrauch
und schließlich -abhängigkeit nicht nur problematisch
sind, sondern auch eine überlebenserhaltende Strategie
darstellen können.
Weiters soll Suchtverhalten auch als identitätsstiftende
Reaktion auf innere Leere, Haltlosigkeit, Hoffnungslosigkeit oder Traumatisierung eines Individuums ebenso wie
einer größeren Population verstanden werden.
Sucht als Überlebensstrategie könnte also bedeuten,
dass manche Menschen durch Konsumieren legaler oder
illegaler Drogen unaushaltbare emotionale Zustände
abwenden können und Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren versuchen. Schmerzhafte biographische Erfahrungen und Traumatisierungen werden „betäubt“, sodass
unbewusste (abgewehrte) und bewusste Affekte, Kognitionen, Erinnerungen und unkontrollierbare quälende Impulse eher ertragen werden können.
Sucht ist somit überlebens-sichernder Lebensstil, Bewältigungsmechanismus oder Coping-Strategie geworden
und im Sinne eines Kompromisses als Symptombildung
zur Stabilisierung zu sehen.
Schlüsselwörter
Symptome, Kompensation, Copingmechanismen, Sucht
Einleitung
Symptome im Sinne von Krankheitszeichen werden in
der westlichen Medizin und Psychologie oftmals als „defizitäre“ Erscheinungen sowie „Defekte“ gesehen. So zeigt
etwa ein schmerzhafter Zahn einen Substanzdefekt an.
Der Schmerz kann als Warnsignal interpretiert werden,
welcher zu medizinischen Handlungen leitet, die den
erkrankten Zahn vor weiterem Schaden bewahren sollen.
Das Symptom Schmerz signalisiert drohende Gefahr der
physischen und psychischen Integrität eines Individuums
und stellt somit unverzichtbare Voraussetzung für unbewusste und bewusste Handlungsfolgen, die überlebenssichernde Anpassung an innere oder äußere Stressoren
ermöglicht. Schmerz ist in diesem Zusammenhang eine
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notwendige und sinnvolle (wenn auch unangenehme)
Sinneswahrnehmung.
In der Schmerzdefinition der IASP (International Association for the Study of Pain) wird dieses Phänomen folgendermaßen beschrieben (Göbel 1988): „Schmerz ist ein
unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit
tatsächlicher oder drohender Gewebeschädigung einhergeht…"
Daraus wird ersichtlich, dass Symptome (hier Schmerz)
als Sinnes- und Gefühlserlebnis Erscheinungen physischer und psychischer Prozesse sein können. Die sensorisch-emotionale Wahrnehmung vermittelt einen drohenden Schaden, einen Reizzustand oder eventuell sogar
einen psychodynamischen Konflikt.
Über den Sinn der Symptome
Bereits in seinen „Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse“ beschreibt Sigmund Freud in einem
Kapitel („Der Sinn der Symptome“), dass „das Symptom
sinnreich sei und hänge mit dem Erleben des Kranken
zusammen“. Freud führt mehrere Beispiele an und formuliert diese Ideen auch in anderen Kapiteln im Zusammenhang mit Träumen oder Fehlleistungen, die er auch
als „neurotische Symptome“ bezeichnet. Er weist auf
Pierre Janet und Josef Breuer hin, welche beide bereits
im auslaufenden 19. Jahrhundert Sinnhaftigkeit und Zusammenhänge zwischen Symptomen und innerseelischen Konflikten vermuteten (Freud 1992/1917).
Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie, postulierte nach seiner 1907 erschienenen „Studie über Minderwertigkeit von Organen“, dass „angeborene Konstitutionsanomalien nicht nur als Erscheinungen der Degeneration aufzufassen seien, sondern (…) zu kompensatorischen Leistungen und Überleistungen“ führen.
„Diese kompensatorische, seelische Anstrengung geht
oft, um die Anspannungen im Leben bewältigen zu können, auf anderen, neuen Wegen (…) und erfüllt so den
Zweck, ein gefühltes Defizit zu decken, (…) in der wundervollsten Weise“, meint Adler.
In der Neurose sieht Adler den Zweck, das Endziel der
Überlegenheit erreichen zu helfen, um Minderwertigkeitsgefühle durch Kompensation und Entwicklung eines
entsprechenden Lebensplans auszugleichen (Adler 2001/
1930).
Er geht von der Prämisse aus, dass menschliches Verhalten zielgerichtet ist. Dreikurs meint ganz im Sinne
Alfred Adlers, dass „nervöse Störungen“ dann auftreten
wenn und dadurch anzeigen dass „man vor Aufgaben
steht, denen man sich nicht gewachsen fühlt. Die Symptome, ob sie nun minimal oder intensiv sind, stellen eine
Art Sicherung dar.“ (Dreikurs 2005/1933).
Symptome sind demnach kompensatorische Kompromissbildungen innerpsychischer Dynamiken um psychische Anspannungen aushaltbar zu machen. Das Symp19
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tom wird dadurch auch Ausdruck einer versuchten Problembewältigung. Es spiegelt gleichzeitig einen Konflikt
wider wie einen möglichen Lösungsversuch.
Auch jenseits der Psychoanalyse findet die Idee der
Sinnhaftigkeit von Symptomen in der Literatur Eingang.
So schreibt Daniel Hell in einem seiner Bücher („Welchen
Sinn macht Depression?“) über die bindungsverstärkende Komponente der Depression. Hell führt aus, dass
eheliche Beziehungen Stabilisierung erfahren durch
negative Rückkoppelungen in der Depression. Die depressive Kommunikationsweise führe zu einem „Herunterschaukeln der Beziehungsdynamik, was das Zerreißen
der beiderseitigen Bindung erschwert“ (Hell 2002).
Freud schreibt „das Symptom sei sinnreich und hänge
mit dem Erleben des Kranken zusammen“ und betont
damit die Subjektivität des Erlebens des Kranken. Das
Symptom könnte demnach geradezu als individuelle
Anpassung an biographische, persönliche Erfahrungen
eines krankgewordenen Menschen erscheinen. Oleksy
konnte an Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigen wie konstruktive (oftmals auch unbewusste) Motivationen selbstschädigender Handlungen neben
destruktiven Komponenten koexistieren (Oleksy 2007).
Sie konnte in Anlehnung an Sachsse (2002) mittels Patienteninterviews darstellen, dass viele betroffene Borderline-Patienten durch Handlungen wie Schneiden, Ritzen
oder Brennen ihren emotionalen Zustand verbessern und
Stabilisieren konnten. Manche berichteten sogar über
lebenserhaltende Distanzierung von Suizidalität durch
selbstverletzende Verhaltensweisen.
Objektpsychologischen Modellen entsprechend entsteht
bei Alkoholikern mit Kontrollverlust und vielen Heroinabhängigen ein (auto)destruktiver Prozess, bei welchem ein
„malignes introjiziertes frühes Objekt“ vergiftet und vernichtet werden soll. Süchtige Menschen mit Traumaerfahrungen versuchen demnach ihre emotionalen
Schmerzen zu bewältigen.
Dieser „Selbstheilungscharakter“ süchtigen Verhaltens
findet sich auch in Ich-psychologischen Modellen wieder,
wonach strukturell geschwächte Ich-Anteile durch die
Wirkung von Drogen kompensiert werden sollen (Rost
1987).
Viele Süchtige scheinen ihren Emotionen ausgeliefert zu
sein, sodass relativ undifferenzierte Affekte und Wahrnehmungen mittels Drogen betäubt werden müssen. Die
Reiz- und Spannungsreduktion stabilisiert in Krisen und
schützt vor emotionaler Überflutung. Gerhard spricht in
diesem Zusammenhang von der Entwicklung einer
„Scheinidentität“ und Verlust des Realitätsbezugs. Die
zunächst sinnhafte Kompensation und Abwehr von unbewältigbaren emotionalen Erfahrungen und Erinnerungen
gerät damit auch an ihre Grenzen. Die Erhöhung aus der
traumatischen und bedrückenden Erniedrigung, das
vorübergehende Gefühl des Lebendigseins und die
Grandiositätsphantasien (Kohut 1976) durch Drogenwirkung brechen früher oder später zusammen.
Durch Abwehr traumatischer Erlebnisse entsteht oft innere Leere, ein Gefühl der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz und Perspektivlosigkeit. Durch „Einfuhr, Aufnahme
und Wirkung“ von Drogen wird Leben suggeriert.
Sucht als Symptom und die Droge
als Selbstheilungsversuch
Scheidt (1976) meint dazu: „Der Drogenkonsument strebt
danach, ein falsches Selbst über den Rausch aufzulösen
(…) um endlich (…) an das wahre Selbst zu gelangen.“
Insbesondere frühe traumatische Erfahrungen in den
ersten und somit prägenden Lebensjahren können zu
späteren psychischen Störungen führen. Sogenannte
frühe interpersonale Traumatisierungen wie kindliche
körperliche Misshandlung oder sexualisierte Gewalt und
mangelhafte Versorgung durch Bezugspersonen sind in
der Literatur als Risikofaktoren für Substanzmissbrauch
in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter identifiziert
worden (Kaplan et al. 1999). Es kann in der Folge zu
Bindungsstörungen, Problemen des Selbstwerts und der
Identität kommen, weiters auch zu dysfunktionalem Coping und schließlich zur Störung der Affektregulation
(Schäfer et al. 2006). Laut Schäfer ist die psychiatrische
Komorbidität bei Suchtpatienten mit Traumatisierungen
auffallend. Die erhöhten Prävalenzraten finden sich bei
der Posttraumatischen Belastungsstörung, der BorderlinePersönlichkeitsstörung, bei Angsterkrankungen und Depressionen.
Süchtiges Verhalten kann bei traumatischer Erfahrung
überlebenssichernder Lebensstil, Bewältigungsmechanismus oder Coping-Strategie sein und als Symptombildung zur Stabilisierung gesehen werden. Sowohl für
Betroffene als auch für behandelnde Therapeuten gilt es
aber die Suche nach dem wahren Selbst zu ermöglichen
indem die Sucht nicht mehr nur als Störung sondern auch
als vorübergehende Form der Bewältigung gesehen wird.
Neue gesündere Alternativen werden erkennbar wenn
die Sucht als „sinnhafte“ Reaktion auf psychische Verletzung verstanden wird und somit nicht mehr im Zentrum
des therapeutischen Interesses steht.
In seinem Beitrag „zur Psychoanalyse der Sucht“ beschreibt Gerhard, dass Substanzmissbrauch und Sucht
Symptome eines abgewehrten Konflikts darstellen können (Gerhard 2003). Einem inneren Zwang folgend müssen Stoffe aufgenommen werden. Bei schwachem Selbstwertgefühl und Gewöhnungseffekten verliert der Betroffene
zunehmend die Kontrolle über seinen Konsum.
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Summary
Everybody knows about the possible consequences of
addictive conduct; meaning behavior that goes beyond
delightful experience. Some other aspects why the consumption of, abuse of and finally addiction to substances
are not just problematic but can also be a strategy of
survival are shown in this article.
Addiction should also be seen as a means of finding
identity – a reaction to inner emptiness, uninhibitedness,
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hopelessness or traumatization of an individual as well as
of a bigger part of population.
Addiction as a means of survival could also mean that
some people can avoid unbearable emotional conditions
and try to compensate a feeling of inferiority through the
consumption of legal or illegal drugs. Painful biographical
experiences and trauma are „stunned“; it is easier to
endure unconscious (refused) and conscious emotions,
cognitions, memories, uncontrollable and agonizing impulses.
Addiction has turned to a style of life that helps to survive,
a mechanism to cope with difficulties, a coping strategy. It
must be seen in the broader sense of a compromise, as a
formation of symptoms to become stable.
Keywords
symptom, compensation, coping mechanism, addiction
Literatur
Adler, A. (2001/1930): Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch,
48-51
Dreikurs, R. (2005/1933): Grundbegriffe der Individualpsychologie. Stuttgart: Klett-Cotta
Freud, S. (1992/1917): Vorlesungen zu Einführung in die
Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch
Zwischen Lifestyle und Sucht. Drogengebrauch und
Identitätsentwicklung in der Spätmoderne. Gießen: Psychosozial-Verlag
Sachsse, U. (2002): Selbstverletzendes Verhalten. Psychodynamik-Psychotherapie. Das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht
Schäfer, I.; Krausz, M. (2006): Trauma und Sucht. Konzepte – Diagnostik – Behandlung. Leben Lernen Stuttgart:
Klett-Cotta
Scheidt, J. (1976): Der falsche Weg zum Selbst. Die
Drogenkarriere als gescheiterter Versuch der Selbstheilung. In: Gerhard, H. (2003): Zwischen Lifestyle und
Sucht. Drogengebrauch und Identitätsentwicklung in der
Spätmoderne. Gießen: Psychosozial-Verlag
Korrespondenzadressen
Dr. med. univ. Wolfgang Ghedina
Psychiatrisches Krankenhaus des Landes Tirol,
Primariat B, Drogenstation
Thurnfeldgasse 14,
A-6060 Hall in Tirol
E-Mail: [email protected]
MMag. Patricia Oleksy
UMIT – Private Universität für Gesundheitswissenschaften,
Medizinische Informatik und Technik
Eduard Wallnöfer-Zentrum 1
A-6060 Hall in Tirol
Gerhard, H. (2003): Zwischen Lifestyle und Sucht. Drogengebrauch und Identitätsentwicklung in der Spätmoderne. Gießen: Psychosozial-Verlag
Göbel, H. (1988): Über die Schwierigkeit einer umfassenden Definition des Phänomens Schmerz. Der
Schmerz: Volume 2: 89-93. Berlin, Heidelberg: SpringerVerlag
Hell, D. (2002): Welchen Sinn macht Depression? Ein
integrativer Ansatz. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt
Verlag, 46
Kaplan, S. J. et al. (1999): Child and adolescent abuse
and neglect research: A review of the past 10 years. Part
I: Physical and emotional abuse and neglect. J. Am.
Acad. Child Adolesc. Psychiatry 38, 1214-1122
Kohut , H. (1976): Vorwort zu J.v. Scheidt: Der falsche
Weg zum Selbst. Die Drogenkarriere als gescheiterter
Versuch der Selbstheilung. In: Gerhard, H. (2003): Zwischen Lifestyle und Sucht. Drogengebrauch und Identitätsentwicklung in der Spätmoderne. Gießen: Psychosozial-Verlag
Oleksy, P. (2007): „Sinn im Unsinn. Konstruktive Aspekte
selbstschädigenden Verhaltens bei Borderline-Patienten“.
Diplomarbeit an der Bildungswissenschaftlichen Fakultät
der Leopold- Franzens-Universität Innsbruck
Rost, W. D. (1987): Psychoanalyse des Alkoholismus.
Theorie, Diagnostik, Behandlung. In: Gerhard, H. (2003)
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