Fall 2, Äußerungsrechte des Bundespräsidenten

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Kolloquium zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle
Sommersemester 2014
S. 1/1
Fall 2: „Äußerungsrechte des Bundespräsidenten“
– nach BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 10. Juni 2014, 2 BvE 4/13 –
Sachverhalt:
Kurz vor der Bundestagswahl im August 2013 nahm Bundespräsident Gauck an einer Gesprächsrunde vor mehreren hundert Berufsschülern in einem Schulzentrum in Berlin teil. In der Veranstaltung wies der Bundespräsident unter anderem auf die Bedeutung von freien Wahlen für die Demokratie hin und forderte zu sozialem und politischem Engagement auf. Auf die Frage einer Schülerin
ging der Bundespräsident auf Ereignisse ein, die mit den Protesten von Mitgliedern und Unterstützern der NPD gegen ein Asylbewerberheim in Berlin-Hellersdorf in Zusammenhang standen.
Der Bundespräsident führte dabei zunächst aus, dass er das Abreißen von Wahlplakaten nicht gutheiße, und ergänzte dann unter anderem:
„[D]ass in der Mitte unseres Volkes ausgerechnet rechtsradikale Überzeugungen wieder Gehör finden, das finde ich so eklig, ich kann gar nicht sagen wie eklig. Aber solange eine Partei
nicht verboten ist, darf sie auch sich äußern, und das müssen wir auch ertragen. Eine freie Gesellschaft kann den Irrtum nicht verbieten und kann auch nicht verbieten, dass irrige Meinungen geäußert werden. Die können wir bekämpfen. Und wir bekämpfen die. Und das beruhigt
mich. Wir brauchen da auch nicht nur unsere staatlichen Instanzen […]; wir brauchen da Bürger, die auf die Straße gehen, die den Spinnern ihre Grenzen aufweisen […]. Dazu sind Sie alle aufgefordert […] Ich bin stolz, Präsident eines Landes zu sein, in dem die Bürger ihre Demokratie verteidigen“.
Die NPD sieht sich durch diese Äußerungen in ihren Rechten verletzt. Wie auch die Bundesregierung müsse sich der Bundespräsident bei der Öffentlichkeitsarbeit zurückhalten und dürfe den Meinungswettbewerb der Parteien im Wahlkampf nicht beeinflussen. Gerade der Bundespräsident dürfe
als „pouvoir neutre“ nicht vor politischen Parteien warnen. Zudem überschritten die Äußerungen
des Bundespräsidenten die Grenzen des Zulässigen. So habe der Bundespräsident in Kenntnis der
Gewaltbereitschaft der Gegendemonstrationen diese ohne ausdrückliche Gewalt-Distanzierung gutgeheißen. Die Bezeichnung von Mitgliedern, Aktivisten und Unterstützern der NPD als „Spinner“
habe den Boden einer sachlichen Diskussion verlassen. Nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont grenzten die Äußerungen an Schmähkritik. Die NPD sucht Rechtsschutz vor dem
Bundesverfassungsgericht. Hat ihr form- und fristgerechter Antrag Aussicht auf Erfolg?
.
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Lösung
A. Zulässigkeit des Organstreits, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff.
BVerfGG
I.
Parteifähigkeit, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG
• NPD als Antragssteller: Parteifähigkeit politischer Parteien im Organstreit?
o Organteil gemäß § 63 BVerfGG: (–)
o P. „Anderer Beteiligter“ i.S.v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG?
Nach stRspr sind politische Parteien „andere Beteiligte“
soweit sie mit anderen Verfassungsorganen um Rechte
aus ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status (hier:
Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 GG) streiten  (+)
• BPräs als Antragsgegner: Ausdrücklich in § 63 BVerfGG genannt.
II.
Verfahrensgegenstand, § 64 Abs. 1 BVerfGG
Rechtlich erhebliche Maßnahme des Antragsgegners: „Jedes Verhalten, das geeignet ist, die Rechtsstellung des Antragsstellers zu
beeinträchtigen“ (vgl. BVerfGE 118, 277 [317]).
Hier: Äußerungen des BPräs (+)
III.
Antragsbefugnis, § 64 Abs. 1 Alt. 1 BVerfGG
Mögliche Verletzung des Rechts der NPD auf Chancengleichheit
bei Wahlen gemäß Art. 21 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 GG.
IV.
Form (§ 23 BVerfGG), Frist (§ 64 Abs. 3 BVerfGG) und Rechtsschutzbedürfnis
V.
Ergebnis der Zulässigkeitsprüfung
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S. 2/5
B.
Begründetheit des Organstreits
I.
Recht der NPD auf Chancengleichheit bei Wahlen gem. Art. 21
Abs. 1 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 GG
• Chancengleichheit der Parteien als wesentliches Element der demokratischen Grundordnung des GG: Freie Konkurrenz der Parteien im politischen Wettbewerb soll einen offenen demokratischen
Willensbildungsprozess ermöglichen.
• Insbesondere: Keine Einwirkung von Staatsorganen auf den Wahlkampf – auch durch Kundgabe negativer Werturteile zugunsten
oder zulasten einer Partei.
II.
Verletzung des Rechts der NPD auf Chancengleichheit bei Wahlen
durch die Äußerungen des Bundespräsidenten?
1.
Verfassungsrechtliche Maßstäbe für Äußerungen des Bundespräsidenten
a)
Befugnis des Bundespräsidenten zur Äußerung
• Keine durch GG ausdrücklich zugewiesene Befugnis.
• Aber anerkannt Repräsentations- und Integrationsaufgabe:
o Einheit des Gemeinwesens soll durch öffentliche Auftritte
des BPräs sichtbar gemacht und mittels Autorität des Amtes
gefördert werden – umfasst auch Äußerungen (vgl. auch
Fall 1).
„Der Bundespräsident kann […] den mit dem Amt verbundenen Erwartungen nur gerecht werden, wenn er auf gesellschaftliche Entwicklungen und allgemeinpolitische Herausforderungen entsprechend seiner Einschätzung eingehen
kann und dabei in der Wahl der Themen ebenso frei ist wie
in der Entscheidung über die jeweils angemessene Kommunikationsform.“
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b)
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Allgemeine Grenzen für öffentliche Äußerungen des Bundespräsidenten
• Gebot angemessener Distanz: BPräs muss eine angemessene Distanz zu Zielen und Aktivitäten von politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen wahren.
• Jedoch: Keine (justiziable) Pflicht zur umfassenden und nachvollziehbaren Abwägung aller Gesichtspunkte.
c)
Spezifische Grenzen für öffentliche Äußerungen aus Art. 21 Abs. 1 GG
• Bindung des BPräs an Art. 21 Abs. 1 GG (+)
• Übertragbarkeit der bisher vom BVerfG entwickelten Maßstäbe für
Verletzungen von Art. 21 Abs. 1 GG durch öffentliche Äußerungen anderer staatlicher Stellen?
P. (Zulässige) Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung vs. (unzulässige) Einwirkung auf den Wahlkampf?
(-) wg. fehlender Vergleichbarkeit: BPräs nicht Teil des Wettbewerbs um politischen Einfluss.
P. Grenzen negativer Werturteile in den Verfassungsschutzberichten
des Bundesinnenministeriums (vgl. BVerfG, NVwZ 2013, S. 568 ff.)?
(-) wg. fehlender Vergleichbarkeit: BPräs nicht befugt, Öffentlichkeit regelmäßig über radikale Bestrebungen zu informieren.
• (Eigener) Maßstab für BPräs: Befugnis zur Äußerung, auch wenn
dadurch die Rechtsstellung von Parteien berührt wird, soweit dies
zur Erfüllung der Repräsentations- und Integrationsaufgabe dient.
o Zulässig: Äußerungen, die dem Gemeinwohl verpflichtet
sind und nicht auf die Ausgrenzung oder Begünstigung einer
Partei um ihrer selbst willen zielen.
 Auch Hinweis auf Missstände und Fehlentwicklungen
sowie auf Verursacher, auch wenn damit bestimmte
politische Partei als Verantwortliche identifiziert wird.
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Der Bundespräsident „kann in diesem Sinn integrierend nur wirken, wenn es ihm freisteht, nicht nur die
Risiken und Gefahren für das Gemeinwohl, sondern
auch mögliche Ursachen und Verursacher zu benennen.“
o Unzulässig: Äußerungen, die keinen Beitrag zur sachlichen
Auseinandersetzung liefern, sondern ausgrenzend wirken
(Beleidigungen oder „Schmähkritik“).
 Aber: Je nach Kommunikationssituation auch zugespitzte Wortwahl zulässig.
o Kontrolle durch BVerfG: Weiter Gestaltungsspielraum, der
nur daraufhin überprüft wird, ob BPräs „unter evidenter
Vernachlässigung seiner Integrationsfunktion und damit
willkürlich Partei ergriffen hat“.
2. Anwendung der Maßstäbe im konkreten Fall
• Öffentliche Unterstützung gewaltsamer Proteste in Berlin?
(-), vielmehr bereits ausdrückliche Missbilligung des Abreißens von Wahlplakaten und Hinweis auf die Meinungs- und
Versammlungsfreiheit (Art. 5 GG, Art. 8 GG).
• Verwendung der Formulierung „Spinner“?
o Zwar: Äußerung ist zumindest auch auf NPD und ihre Anhänger bezogen und enthält ein negatives Werturteil, das als
diffamierend und ausgrenzend empfunden werden kann.
o Aber: Aus Gesamtzusammenhang klar, dass Spinner hier als
„Sammelbegriff für Menschen [verwendet wird], die die Geschichte nicht verstanden haben und, unbeeindruckt von den
verheerenden Folgen des Nationalsozialismus, rechtsradikale – nationalistische und antidemokratische – Überzeugungen vertreten (zur grundgesetzlichen Ordnung als Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft vgl. BVerfGE 124, 300 <327 ff.>)“.
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Gerade durch Verbindung mit Aufforderung zu bürgerschaftlichem Engagement hat BPräs „für die dem Grundgesetz entsprechende Form der Auseinandersetzung mit solchen Ansichten […] geworben und damit die ihm von Verfassungs wegen gesetzten Grenzen negativer öffentlicher
Äußerungen über politische Parteien nicht überschritten“.
 Beide Äußerungen sind von den Befugnissen des BPräs gedeckt.
III.
Ergebnis der Begründetheitsprüfung
C. Gesamtergebnis
Der Antrag der P-Partei ist zulässig, aber unbegründet. Er hat daher
keine Aussicht auf Erfolg.
Vertiefungshinweise für Fälle 1 & 2:
Allgemein zum Bundespräsidenten als Verfassungsorgan:
Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 2013, § 14; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010,
§ 15; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 6. Aufl. 2013, Rn. 2150 f.; Degenhart,
Staatsrecht I, 29. Aufl. 2013, Rn. 720 ff. (insbes. auch Rn. 742 f. zu bisherigen öffentlichen
Äußerungen verschiedener Bundespräsidenten).
Zum „Klausurklassiker“ der „Prüfungsbefugnisse des Bundespräsidenten“:
Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 2013, S. 324 ff./Rn. 867 ff; ausführlich Maurer,
Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 17, Rn. 86 ff. Für eine aktuelle Übungsexamensklausur zur
verwandten Frage nach den Prüfungsbefugnissen des Bundespräsidenten bei Ernennungen s.
Jochum, (Original-)Referendarsexamensklausur – Öffentliches Recht: Staatsorganisationsrecht – Der Kapitän muss (noch) nicht gehen, JuS 2014, S. 350 ff.
Zu den Grundzügen des Verfahrens in der Bundesversammlung einschließlich eines
historischen Überblicks über frühere Bundesversammlungen:
Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten – Rechtliche
Grundlagen und Staatspraxis, JuS 2004, S. 278 ff; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten: Sehnsucht nach präsidentieller Obrigkeit?, ZParl 2013, S. 276 ff.
Zum Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht:
Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 79 ff.; Hillgruber/Goos,
Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 303 ff.; Geis/H. Meier, Grundfälle zum Organstreitverfahren, Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG, JuS 2011, S. 699 ff.
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