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Erste europäische Internetzeitschrift für Rechtsgeschichte
http://www.forhistiur.de/
Herausgegeben von:
Prof. Dr. Rainer Schröder (Berlin)
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Rezension vom 16. März 2006
© 2006 fhi
Erstveröffentlichung
Zitiervorschlag:
http://www.forhistiur.de/zitat/0603schoenberger.htm
ISSN 1860-5605
Natascha Doll,
Recht, Politik und „Realpolitik“
bei August Ludwig von Rochau (1810-1873).
Ein wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Politik und Recht
im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2005, 206 S., ISBN 3-465-03427-9, 39.-€.
Rezensiert von: Christoph Schönberger (Freiburg/Konstanz)
„Realpolitik“ ist ein ebenso vielgebrauchtes wie vieldeutiges Wort. Als deutsches Lehnwort ist es sogar ins Englische eingegangen; dort bezeichnet realpolitik eine nüchterne,
nicht an Ideen, sondern an Interessen orientierte Außenpolitik, wie sie etwa einem Henry
Kissinger zugeschrieben wurde. In Deutschland wird der Begriff in der Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert gern verwendet, um die Situation nach dem Scheitern der Revolution von 1848 zu charakterisieren. Das liberale Bürgertum, so heißt es, habe sich danach mit den alten Mächten des monarchischen Staatswesens arrangiert und seinen revolutionären Elan aufgegeben. Das Stichwort dafür soll der heute weitgehend unbekannte
August Ludwig von Rochau geliefert haben, mit seinen 1853 anonym erschienenen
„Grundsätzen der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands“.
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Die von Joachim Rückert betreute Frankfurter Dissertation von Natascha Doll stellt diese
verbreitete Erzählung in Frage. Rochaus „Realpolitik“, so ihre These, sei keineswegs Ausdruck einer quietistischen Anpassung an den status quo gewesen, sondern eine von der
zeitgenössischen französischen Soziologie Auguste Comtes inspirierte Strategie für den
schrittweisen Machterwerb des liberalen Bürgertums (vgl. insbesondere das Resümee auf
S. 175 ff.). Rochau habe also, vereinfacht gesagt, nicht die liberalen Ziele der Achtundvierziger aufgegeben, sondern nur deren gescheiterte Mittel. Doll untersucht im einzelnen
das Werk Rochaus und seinen verfassungspolitischen Gehalt (S. 20 ff.) und erörtert insbesondere in sehr instruktiver Weise dessen Rezeption der Comteschen Soziologie (S. 81 ff.).
Danach ordnet sie Rochaus Realpolitik eingehend in die zeitgenössische rechts- und
staatswissenschaftliche Diskussion der Mitte des 19. Jahrhunderts ein und behandelt dabei
eine Fülle von Autoren von Dahlmann bis hin zu Treitschke und Julius Fröbel (S. 103 ff.).
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Dolls zentrale These überzeugt. Anliegen von Rochaus „Realpolitik“ war nicht eine resignative Anpassung an die reaktionären Kräfte nach 1848, sondern ein von der frühen
französischen Soziologie inspirierter Blick auf die treibenden gesellschaftlichen Kräfte
seiner Zeit, und das war für Rochau in erster Linie der bürgerliche Mittelstand. Rochau,
der im vormärzlichen Pariser Exil die soziologischen Ideen eines Saint-Simon oder Auguste Comte kennengelernt hatte (vgl. S. 14 f., 82, 96), attackierte mit Lust die idealistische Tradition des deutschen politischen Denkens, wie sie im liberalen Professorenparlamentarismus der Paulskirche zum Ausdruck gekommen war. Aber der Frankfurter Wachenstürmer von 1833 und alte Achtundvierziger lief nach 1848 keineswegs zur Reaktion
über. Vielmehr teilte er mit der Comteschen Soziologie die Vorstellung von einer in den
gesellschaftlichen Kräften selbst wurzelnden Entwicklungsnotwendigkeit, die mittelfristig
auch die politische Ordnung verändern mußte. Philosophiegeschichtlich paßte das zwar
durchaus in die häufig beobachtete Phase des Zusammenbruchs der idealistischen Tradition nach dem Tod Hegels und zudem zu einer Epoche, die stark von der aufkommenden
Naturwissenschaft, vom neuen Pathos der Empirie geprägt wurde (S. 3 ff.). Aber Rochau
war überzeugt, daß die Kräfte der Zeit der bürgerlichen Vorherrschaft entgegenarbeiteten –
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ganz anders etwa als die berühmte Selbstkritik des Liberalen Hermann Baumgarten aus
dem Jahr 1866, die resignativ ein Zurücktreten des Bürgertums hinter Monarchie und Aristokratie empfahl (dazu S. 170 ff.). Ganz anders ist Rochau aber häufig in späteren Interpretationen verstanden worden. Hier wurde „Realpolitik“ zum Schlagwort für die Beschreibung eines vermeintlich rückgratlosen, bismarckhörigen Bürgertums in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie so häufig in der Geschichte der politischen Semantik
hatte auch hier der Schöpfer des Wortes etwas ganz anderes damit im Sinn als dessen spätere Verwender oder Interpreten.
Jenseits dieser Erkenntnis wirft die Studie allerdings die Frage auf, ob sich die eingehendere Beschäftigung mit Rochaus Werk als solchem denn wirklich gelohnt hat und noch weiterhin lohnt. Frau Doll scheint selbst daran zu zweifeln, denn sie widmet immerhin die
Hälfte ihres ohnehin kurzen Buches anderen Autoren derselben Epoche, von denen nur
wenige sich ausdrücklich mit Rochau auseinandersetzten (S. 103 ff.). Vielleicht wäre es
sinnvoll gewesen, Rochaus Werk noch stärker vor dem Hintergrund jenes Dualismus von
hochfliegendem Idealismus und krudem machtpolitischem Realismus zu interpretieren, der
für das deutsche politische Denken so häufig charakteristisch war, und von der Partei der
„Grünen“ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts noch einmal nach Art einer Coda nachgespielt worden ist (vgl. dazu auch auf S. 9 den Hinweis auf einen Versuch des Sozialhistorikers Wolfgang Kraushaar, Rochau mit Joschka Fischer in Parallele zu setzen). Die spätere
Fehlrezeption Rochaus erklärt sich zu einem guten Teil gerade daraus, dass er in diesen
sehr deutschen Dualismus nicht hineinpaßte. Französisches Gesellschaftsdenken ist hier im
19. Jahrhundert stets viel welthaltiger gewesen, ähnlich wie der französische Roman, dem
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der deutsche bis Fontane nichts Vergleichbares zur Seite stellen konnte. Rochaus Beeinflussung durch die französische Soziologie ist es wohl gewesen, die es ihm ermöglichte,
einen etwas nüchterneren Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit zu werfen, ohne in einen prinzipienlosen machtpolitischen Scheinrealismus zu verfallen. Durch
besondere Originalität hat sich Rochau dabei aber wiederum nicht ausgezeichnet. Daß wir
seinen Namen überhaupt noch kennen, hat ironischerweise allein mit jenem Wort Realpolitik zu tun, das er so ganz anders verstanden wissen wollte als die sich auf ihn beziehende
Überlieferung. Natascha Doll ist in jedem Fall ein schönes kleines Stück Revisionismus
gelungen.
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