WS 2009/10 Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung: Zwischen Revolution und deutscher Reichsgründung 1871: Europäische Geschichte 1848-1871. 11. Der Aufbruch der deutschen Einheitsbewegung und die „neue Ära“ in Preußen A. Neue Ära in Preußen I. Das Ende des Reaktionssystems Ende der fünfziger Jahre geriet das Reaktionssystem, das nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 etabliert worden war, zunehmend in die Defensive. Angesichts des rapiden wirtschaftlichen und sozialen Wandels und des sozialen Aufstiegs des Bürgertums erschien das Unterdrückungssystem nicht mehr zeitgemäß. 1858/59 waren es vor allem zwei Vorgänge, die Bewegung in die scheinbar erstarrte deutsche Politik brachten und einen politischen Aufbruch einleiteten: die "Neue Ära" in Preußen und der italienische Einigungskrieg. II. Die Neue Ära in Preußen Am 9. Oktober 1858 übernahm Prinz Wilhelm für den nicht mehr regierungsfähigen König und Bruder Friedrich Wilhelm IV. die Regentschaft; am 26. Oktober folgte der Verfassungseid des Regenten. Dies nahmen liberale Abgeordnete des preußischen Abgeordnetenhauses zum Anlass, die Wiederherstellung freiheitlicherer Zustände anzumahnen. Trotz der Vergangenheit des neuen Regenten als Kartätschenprinz und Liquidator der Revolution richteten sich in der öffentlichen Meinung große Hoffnungen auf Wilhelm. Am 5. November 1858 entließ Wilhelm das Reaktionsministerium Manteuffel und berief ein neues Ministerium mit dem Fürsten Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, dem altliberalen 48er Minister von Auerswald sowie dem Führer der konservativ-liberalen Wochenblattpartei Bethmann-Hollweg. Ziel der Reformkräfte war es, zum einen in Preußen einen Ausgleich zwischen den Machtansprüchen der alten Eliten und denjenigen der aufstrebenden gesellschaftlichen Kräfte anzustreben, zum anderen ging es auch darum, neue Wege in der deutschen Politik einzuschlagen. Am 8. November 1858 folgte Wilhelms Rede vor dem Staatsministerium, die als Regierungsprogramm angelegt war. Sie enthielt einerseits ein Bekenntnis zu Reformen und sprach von "moralischen Eroberungen", die Preußen in Deutschland anstreben sollte. Andererseits erteilte der König aber jeder "Kapitulationspolitik" gegenüber liberalen Vorstellungen eine Absage. Dennoch weckte die Rede große Hoffnungen in der öffentlichen Meinung. Die personellen Veränderungen (Bismarck wurde von Frankfurt als Gesandter nach St. Petersburg versetzt), die liberalere Pressepolitik, die "freieren" Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus und die Wahlerfolge der Liberalen veränderten die preußische Politik und strahlten auf ganz Deutschland aus. B. Die Neuformierung der deutschen Nationalbewegung A. BIEFANG, Politisches Bürgertum in Deutschland. Nationale Organisation und Eliten 1857-1868, Düsseldorf 1994. H. BIERMANN, Ideologie statt Realpolitik. Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik vor der Reichsgründung, Düsseldorf 2006. I. Politische Ansprüche und Ziele des Bürgertums Der wirtschaftliche und soziale Wandel der fünfziger Jahre und der damit verbundene Aufstieg des Bürgertums sorgten ebenso wie die neuen politischen Entwicklungen in Europa dafür, dass sich Ende der fünfziger Jahre die deutsche Nationalbewegung neu zu formieren begann. Sie stützte sich auf die gewachsene gesellschaftliche Macht, die dem Bürgertum in den fünfziger Jahren durch die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfolge zugefallen war. Es entstand ein neuer Fortschrittsoptimismus, die Zukunft schien dem Bürgertum zu gehören. Deshalb wirkte nun das Reaktionssystem zunehmend anachronistisch, es kam zu neuen politischen Forderungen des Bürgertums nach Einheit und Freiheit. Die sogenannte Entpolitisierung des Bürgertums nach 1848/49 darf also nicht überschätzt werden. Die neuen Formierungsversuche des Bürgertums wiesen Unterschiede zu 1848/49 auf. Realpolitik wurde zum neuen Schlagwort der Innen- wie der Außenpolitik. Klassisch formuliert wurde dies im 1853 erschienenen Buch des liberalen Publizisten Ludwig August von Rochau "Grundsätze der Realpolitik". Die Argumentation des Buches lief darauf hinaus: Wer künftig Erfolge erringen will, darf sich nicht mehr nur an Programmen und Ideen orientieren, sondern er muss vor allem von den Realitäten ausgehen. Konkret hieß das: - Orientierung an der wachsenden wirtschaftlichen Stärke - Abkehr von Appellen an das "Volk" wegen zweifelhafter politischer Haltung der Massen, Furcht vor der sozialen Revolution, Klasseninteresse des Bürgertums rückt allmählich vor gesamtgesellschaftliche Reformansätze (Ausnahmen: SchulzeDelitzsch) - stärkere Hinwendung zu Preußen, besonders im nord- und mitteldeutschen Bürgertum. DROYSEN u. andere Historiker betonten den deutschen Beruf des protestantisch geführten Hohenzollernstaates. Die kleindeutsch-borussische Geschichtsauffassung wurde zu einem wichtigen Bestandteil bürgerlich-protestantischen Fortschrittsglaubens. Hier verbanden sich Preußentum, Fortschrittsglauben und liberaler Protestantismus. Der Katholizismus wurde in diesem Zusammenhang als Verkörperung des Undeutschen und Unwissenschaftlichen bekämpft (z. B. Kritik am 1854 von Papst Pius IX. verkündeten Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariae) - Das Freiheitspostulat trat innerhalb des Liberalismus hinter die Einheitsforderung zurück. Der preußische Machtstaat schien für die Einheitspolitik notwendig, um den noch starken deutschen „Partikularismus“ zu brechen und die Machtbehauptung des deutschen Nationalstaates in Europa dauerhaft zu gewährleisten. Auch die internationalen Zusammenhänge der deutschen Frage wurden innerhalb der Realpolitik neu bewertet. II. Neue politische Organisationen des Bürgertums Diese Hinwendung zur Realpolitik und der Aufstieg einer jüngeren Führungsgeneration ließen zugleich die alten Gegensätze zwischen Liberalen und Demokraten zurücktreten und ermöglichten die Bildung neuer nationaler Organisationen. 1858 entstand in Gotha der "Kongress der Volkswirte", der vor allem die Vollendung der Wirtschaftseinheit unter liberalen Vorzeichen propagierte, aber auch die politische Einheit anmahnte. Im Mai 1859 erneuerte der Württemberger Liberale Hölder die alte Forderung nach Volksvertretung beim Deutschen Bundestag. Im September 1859 kam es nach mehreren Vorkonferenzen (Eisenacher Erklärung) in Frankfurt am Main zur Gründung des Deutschen Nationalvereins. Er setzte sich aus führenden liberalen und demokratischen Politikern wie Rudolf von Bennigsen, Hermann Schulze-Delitzsch, Fedor Streit, Hugo Fries u. a. zusammen. Seine Schwerpunkte lagen in Nord- und Mitteldeutschland, besonders starken Zulauf erhielt der Nationalverein in Thüringen. Der Nationalverein tendierte von Anfang an stark zugunsten der kleindeutschen Lösung. Gerade angesichts der unsicheren außenpolitischen Verhältnisse in Europa sollte Preußen die Führung der deutschen Geschäfte übernehmen. Der Nationalverein war aber kein Werkzeug Preußens. Richtschnur seiner Politik war vor allem das Bekenntnis zur Reichsverfassung von 1849. Die neue, professionell geführte Organisation hatte ihren Sitz in Coburg und zählte 1862, auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, etwa 25 000 Mitglieder. Unter den Mitgliedern dominierte das Besitz- und Bildungsbürgertum. Allerdings suchte der Nationalverein auch die Anbindung an die wieder expandierenden Vereinsbewegung (Schützen, Turner, Sänger), um so den eigenen Zielen eine größere Massenbasis zu verschaffen. Weitere wichtige Organisationen im Umfeld des Nationalvereins waren der 1861 zusammentretende „Deutsche Handelstag“ als Dachorganisation der deutschen Handelskammern sowie die Abgeordnetentage, zu denen sich Vertreter der deutschen Landtage seit Beginn der sechziger Jahre regelmäßig trafen. Die neue Aufbruchstimmung in der deutschen Öffentlichkeit machte sich auch durch große Feste bemerkbar. Wichtig waren die Schillerfeiern im November 1859 und die nationalen Treffen der Sänger, Turner und Schützen. Die neuen Entwicklungen fanden zugleich ihren nachhaltigen Niederschlag in Publizistik und Wissenschaft (1858 Gründung der "Preußischen Jahrbücher"/ Heinrich von Treitschke; 1859 "Historische Zeitschrift"/Heinrich von Sybel; Sybel-Ficker Streit um das mittelalterliche Kaisertum). In der öffentlichen Meinung dominierten zunächst klar die kleindeutschen Kräfte. 1862 kam es zur Gründung des "Deutschen Reformvereins". Es war der gesamtdeutsche Verband der großdeutschen Kräfte. Er hatte seinen Schwerpunkt im Süden und setzte sich aus sehr heterogenen Gruppen zusammen: großdeutsch-konservativ-partikularistische, großdeutschklerikale, großdeutsch-liberale (Oskar von Wydenbrugk, Heinrich von Gagern) und großdeutsch-demokratische Richtung (Fröbel). Das Ziel des Reformvereins war eine Bundesreform unter Führung Österreichs. Außer der klaren Tendenz gegen die preußische Hegemonie gab es im Verein nur wenige Gemeinsamkeiten. Er hatte auch insgesamt eine geringere Resonanz als der Nationalverein. C. Die Innenpolitik Österreichs 1859-1865: H. RUMPLER, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburger Monarchie, Wien 1997. P. J. KATZENSTEIN, Disjoined Partners. Austria and Germany since 1815, Berkeley 1976. G. STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848-1918, Wien 1985. Österreichs Chance, sich als deutsche Führungsmacht zu etablieren, hing davon ab, ob es ihm noch einmal gelingen würde, sich zu modernisieren und mit den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritten der anderen deutschen Staaten Schritt zu halten. Nach Jahrzehnten wachsender Entfremdung ergaben sich um 1860 neue Chancen für die österreichische Deutschlandpolitik. Nach der Niederlage in Italien konzentrierte man sich mehr auf die deutsche Frage (neuer Außenminister von Rechberg). Zugleich erfolgte angesichts der Krise der Staatsfinanzen und des wachsenden inneren Drucks auch die Abkehr vom Neoabsolutismus. Im Laxenburger Manifest vom Juli 1859 versprach Kaiser Franz Joseph zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung. Am 20. Oktober 1860 wurde mit dem Oktoberdiplom ein ständisch-föderalistisches Reformkonzept vorgelegt. Es stieß auf die Kritik der in den deutschen Gebieten der Habsburger Monarchie dominierenden Liberalen. Sie forderten einen modernen, konstitutionell-zentralistischen Staatsaufbau. Diesen Forderungen kam der zum Staatsminister berufene liberale Reformer Anton von Schmerling im Februarpatent des Jahres 1861 weit entgegen: stärkerer zentralistischer Gesamtstaat, Zugeständnisse in der Verfassungsfrage, Erweiterung des Wahlrechts, stärkere Rolle der bürgerlichen Mittelschichten, damit aber auch stärkere Rolle der deutschen Bevölkerung. Im Mai 1861 trat das neue, indirekt gewählte (über die Landtage der einzelnen Kronländer) gewählte Parlament (Reichsrat) zusammen. Die ungarischen Vertreter waren aber nicht erschienen, weil die Ungarn an ihren 1849 gescheiterten Forderungen nach mehr Autonomie festhielten. Im übrigen standen die liberalen Reformkräfte, die aus den deutschsprachigen Gebieten kamen, unter starkem Druck der föderalistischen deutschen Rechten und der slawischen Abgeordneten. Das neue Reformprogramm konnte nur teilweise durchgesetzt werden. Österreichs Bemühungen um innere Reformen brachten zwar Sympathiegewinne im übrigen Deutschland. Die inneren Gegensätze im Reformlager, die ungelöste Nationalitätenproblematik und vor allem auch die Halbherzigkeit des Kaisers bremsten den Reformelan aber rasch wieder ab. 1865 trat Schmerling zurück. Nachfolger wurde der konservativ-klerikale Grafen Belcredi, der die Dinge wieder mehr in föderalistische Bahnen lenkte und dann vor allem das dualistische Konzept eines österreichisch-ungarischen Ausgleichs betrieb, der aber erst 1867 erreicht wurde. D. Politischer Aufbruch in den Mittel- und Kleinstaaten: Überblick bei: W. SIEMANN, Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871. Frankfurt a. M. 1990. L. GALL, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968. H. SEIER (Hrsg.), Akten und Dokumente zur kurhessischen Parlaments- und Verfassungsgeschichte 1848-1866, Marburg 1987. Auch in vielen deutschen Mittel- und Kleinstaaten lockerte sich seit Ende der fünfziger Jahre das Reaktionssystem, teils durch Einsicht der Regierenden (König Max II. von Bayern), teils durch Druck neuer politischer Bewegungen. Vielfach kam es zu einer neuen liberalen Reformwelle (Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung, Judenemanzipation, Presse- und Vereinsgesetzgebung). Am weitesten ging das Großherzogtum Baden, wo der reformorientierte Großherzog Friedrich I. (seit 1856) 1860 ein liberales Ministerium berief. Die neue Regierung (Lamey, Roggenbach) wurde von der liberalen Kammermehrheit getragen, die bislang gegen die konservative Regierung opponiert hatte. Der Liberalismus wurde zur "regierenden Partei", das Großherzogtum Baden zum Experimentierfeld für die Regierungsfähigkeit des deutschen Liberalismus. Baden machte durch deutschlandpolitische Initiativen und eine zügige Reformpolitik auf sich aufmerksam. Mit der dezidiert antiultramontanen Schul- und Kirchenpolitik setzten die Liberalen einen "Kulturkampf" in Gang, der bald immer größere Opposition in der katholischen Bevölkerung hervorrief. Ganz anders als in Baden entwickelten sich die Verhältnisse in Kurhessen, wo der Monarch einen Kampfkurs gegen die liberale Opposition einschlug. Die Liberalen verlangten die Rückkehr zur Verfassung von 1831, die der Kurfürst – unterstützt vom Deutschen Bund – nach 1849 einseitig aufgekündigt hatte. Die preußische Regierung der "Neuen Ära" unterstützte seit 1859 den Kampf der kurhessischen Liberalen. Österreich stand erst auf der Seite des autokratischen Kurfürsten. 1862 schwenkte allerdings auch Österreich in der kurhessischen Verfassungsfrage um. Durch die Haltung des Deutschen Bundes wurde der Kurfürst gezwungen, zu den alten verfassungspolitischen Grundsätzen zurückzukehren. Verfassungskämpfe wie in Kurhessen verstärkten im Bürgertum die Forderung, schneller zu Fortschritten in der deutschen Einigungspolitik zu kommen und damit den Handlungsspielraum autokratischer klein- und mittelstaatlicher Monarchen zu vermindern. In Kurhessen, Nassau und Hannover setzte im Bürgertum bereits eine Abwendung vom eigenen Staat ein. In Kurhessen verteidigte Preußen aus machtpolitischen Gründen das Anliegen der Liberalen. Im eigenen Land prallten zur selben Zeit Liberale und der Regierung aber immer heftiger aufeinander. Der Konsens der "Neuen Ära" zerbrach.