Europa muss sich neu definieren Robert Nef, Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts und Präsident der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur „Europäismus kann … auch die gefährliche Tendenz eines abschließenden Kontinentalismus bedeuten, der die Überheblichkeit, Unduldsamkeit und Feindlichkeit des Nationalismus auf eine höhere geographische Stufe überträgt.'' - Wilhelm Röpke Die EU ist nach ihrem Selbstverständnis bzw. Selbstmissverständnis weder ein komplex vernetztes System von Staatsverträgen souveräner Staaten, noch ein Staatenbund, noch ein Bundesstaat, noch eine zentral verwaltete technokratische Infrastruktur-Bürokratie, sondern von allem ein wenig. Sie definiert sich als „ein politisch-wirtschaftlich- kultureller Zusammenschluss sui generis“. Das muss zu Problemen führen. Tatsächlich ist die EU wahrscheinlich ein bürokratisch-korporatistisches Imperium, ein politisches Kartell, in dem die wirtschaftlich Einflussreichen die kleinen bzw. wirtschaftlich Schwächeren mit Transferzahlungen bei guter Laune halten und dafür finanzielle und politische Tribute einziehen und gleichzeitig den Wettbewerb der Systeme nach Möglichkeit ausschalten. Die EU ist von ihrer Entstehungsgeschichte und von ihren Strukturen her ein Versuch, die Krisen des national strukturierten, sozialdemokratischen Industriezeitalters auf supranationaler bzw. kontinentaler Ebene zu überwinden. Eigentlich werden aber die durch eine allgemeinverbindliche demokratisch legitimierte nationale Gesetzgebung nicht mehr lösbaren Probleme, zum Beispiel in der gemeinsamen Währungspolitik, in der gescheiterten gemeinsamen Flüchtlings- und Immigrationspolitik und in der tickenden Zeitbombe der kollektiven Altersvorsorge (ein immer akuteres Problem, das in der Tagespolitik verdrängt wird), einfach auf die europäische Ebene gehoben. Der von breiten Kreisen bis ins Zentrum der bürgerlichen Parteien hinein postulierte und praktizierte „Vorrang der Politik“ ist nichts anderes als der dogmatisierte Irrtum des 19. und 20. Jahrhunderts. Es ging und geht um die Ersetzung des religiösen Glaubens durch den Glauben an den Staat und um eine Ersetzung der Privatautonomie durch ein allgemeinverbindliches Netzwerk von letztlich untauglichen Regulierungen. Die EU ist mithin ein veraltetes Projekt, das im strukturkonservativen Denken des Merkantilismus, des Kalten Krieges und des entmündigenden Daseinsvorsorgestaates verhaftet geblieben ist und das für die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schlecht geeignet ist. Die heutige EU hat ihre Wurzeln in der Montanunion, die nach dem Zweiten Weltkrieg die beiden als kriegsentscheidend eingestuften Industrien „Kohle und Stahl“ in einen transnational-europäischen Verbund verstaatlichter Betriebe hinüberführte. Ludwig Erhard stellte sich als Liberaler dagegen, weil er eine Vormachtstellung der traditionell zentralistisch und merkantilistisch eingestellten Franzosen befürchtete. Die Vorbehalte gegenüber diesem etatistischen Verständnis von Industrie- und Wirtschaftspolitik haben sich bis heute eher verstärkt als abgeschwächt. Es soll damit aus der Sicht eines Schweizers, der die Vorteile der Mehrsprachigkeit und die Vorteile einer Vielfalt von kulturellen Prägungen und Mentalitäten hoch einschätzt, keine antifranzösische Stimmungsmache betrieben werden. Aber die erwähnten Vorteile können sich nur dann auswirken, wenn die Vielfalt nicht durch harmonisierende und zentralisierende Einfalt wieder zunichte gemacht wird. Es braucht zwischen unterschiedlichen Kulturen keine emotionale Sympathie und keinen „europäischen Patriotismus“ und auch keinen Wunsch nach immer mehr Angleichung. Es braucht gegenseitigen Respekt und die Bereitschaft miteinander in Frieden Geschäfte zu machen und voneinander zu lernen und auch im richtigen Moment „Nein“ sagen zu können. Vor allem Deutschland sollte sich nicht von der zentralistischen, interventionistischen und protektionistischen Mentalität der Franzosen beeinflussen lassen, sonst gerät die EU als Binnenmarkt noch mehr ins Fahrwasser einer wohlfahrtsstaatlichen, korporatistische Umverteilungs- und Haftungsunion, welche die diesbezüglichen Fehler vieler Nationalstaaten auf der kontinentalen Ebene wiederholt. Drei bedrohliche Krisen würden dadurch heraufbeschworen und beschleunigt: Die Finanzkrise, die Vollzugskrise und die Vertrauenskrise, und alle drei Krisen gefährden den inneren Frieden. Der Begriff „Binnenmarkt“ verspricht aus der Sicht eines Freihändlers nichts Gutes und Zukunftsträchtiges, und die Skepsis von Ludwig Erhard gegenüber den historischen Anfängen der EU erweist sich als ausserordentlich hellsichtig. Die Europäer stehen vor der Wahl, ob sie durch noch mehr Regulierung, Zentralisierung und Harmonisierung eine Legitimitäts- und eine Vollzugskrise ansteuern wollen, oder ob sie noch rechtzeitig den Aufbruch wagen zu offeneren Strukturen. Die Europäer müssen ihre Vielfalt wahren und pflegen und den Weg zu einer neuen EFTA im ursprünglichen Sinn einer „European Free Trade Association“ beschreiten, einer nach innen und außen offenen Gemeinschaft, in der die Mitglieder hohe Autonomie genießen. Aus diesem Grund sollten wir die Ambitionen der politisch- administrativen nationalstaatsähnlichen Megastruktur und allfällige Weltmachtträume hinter uns lassen. Europa braucht enge und flexible wirtschaftliche und kulturelle Kontakte auf der Basis des fremdherrschaftsfreien Tauschs. Als Basis einer gemeinsamen Sicherheitspolitik genügt ein robustes militärisches Friedensbündnis mit nationalen Streitkräften, welche die Defensive sicherstellen und interne und allenfalls gegenseitig wieder aufflammende Aggressionsgelüste im Keim ersticken können. Freihandel entsteht nicht durch neue komplizierte bilaterale und multilaterale Regeln, sondern durch den von den Beteiligten selbstbestimmten Abbau bestehender Schranken. Für die Veranstaltung der Hayek -Gesellschaft in Berlin vom 19. April 2016 überarbeitete und ergänzte Fassung eines Artikels auf der Webseite des Liberalen Instituts der Schweiz publizierten Beitrags. Kritik erwünscht. www.libinst.ch [email protected]