1 VON 300 Das 20. Jahrhundert von 1935 bis Juni 1999 Inhalt SAARGEBIET STIMMT FÜR RÜCKGLIEDERUNG 1935-1938: DIE "GUTEN JAHRE" DES NATIONALSOZIALISMUS AUSSCHLUß VON JUDEN AUS DER WEHRMACHT DEUTSCH-ENGLISCHES FLOTTENABKOMMEN NÜRNBERGER GESETZE WERDEN BESCHLOSSEN MASSENRAUSCH REICHSPARTEITAG ENTLASSUNG JÜDISCHER BEAMTER VERSCHÄRFUNG DER MAßNAHMEN GEGEN JUDEN DEUTSCHE TRUPPEN BESETZEN DAS RHEINLAND ITALIEN ANNEKTIERT ABESSINIEN SPANISCHER BÜRGERKRIEG EIN VOLK IM GLEICHSCHRITT DER "ANSCHLUß" ÖSTERREICHS KONFERENZ VON MÜNCHEN REICHSPOGROMNACHT ZUSAMMENFASSUNG ALLER JUDEN HITLER ENTFESSELT DEN KRIEG DEUTSCHLAND ÜBERFÄLLT POLEN ENGLAND UND FRANKREICH ERKLÄREN DEN KRIEG WASHINGTON ERKLÄRT NEUTRALITÄT ATTENTAT AUF HITLER IM BÜRGERBRÄUKELLER DER "KOMISCHE KRIEG" VERUNSICHERT FRANZOSEN BEGINN DES SOWJETISCHEN ANGRIFFS AUF FINNLAND CHURCHILL WIRD NEUER BRITISCHER PREMIERMINISTER DEUTSCHLAND ÜBERFÄLLT NEUTRALE STAATEN DIE WEHRMACHT MARSCHIERT AUF PARIS ZU DEUTSCHE TRUPPEN IN PARIS ITALIEN TRITT IN DEN KRIEG EIN "WESERÜBUNG" IST ABGESCHLOSSEN DE GAULLE ORGANISIERT WIDERSTAND AUS DEM EXIL HUNTZIGER ERHÄLT KAPITULATIONSBEDINGUNGEN PÉTAIN WIRD "CHEF DES FRANZÖSISCHEN STAATES" LUFTSCHLACHT UM ENGLAND "UNTERNEHMEN SEELÖWE" BEGINNT DREIMÄCHTEPAKT BESIEGELT HITLER ERLÄßT WEISUNG "BARBAROSSA" WEHRMACHT MARSCHIERT IN JUGOSLAWIEN EIN RUDOLF HEß FLIEGT NACH SCHOTTLAND "KOMMISSARBEFEHL" SANKTIONIERT MASSENMORDE VERNICHTUNGSKRIEG IM OSTEN DIE WEHRMACHT ÜBERFÄLLT DIE SOWJETUNION HEYDRICH ORGANISIERT DIE "ENDLÖSUNG" VERKÜNDUNG DER ATLANTIKCHARTA JAPANISCHER ANGRIFF AUF PEARL HARBOR PEARL HARBOR DEUTSCHLAND UND ITALIEN ERKLÄREN USA DEN KRIEG WASHINGTON-PAKT GEGEN SEPARATFRIEDEN HOLOCAUST WANNSEEKONFERENZ BESCHLIEßT DIE "ENDLÖSUNG" ALLIIERTE GEHEIMTREFFEN EL ALAMEIN UND STALINGRAD TOTALER KRIEG DIE TODESFABRIK AUSCHWITZ ALLIIERTE PLANEN "ZWEITE FRONT" LANDUNG IN DER NORMANDIE BEGINN DES ALLIIERTEN BOMBENKRIEGES 5 5 6 6 7 7 7 8 8 8 9 9 9 9 10 10 10 10 10 11 11 12 12 12 13 13 13 13 14 14 14 15 15 15 15 16 16 16 17 17 17 18 18 18 19 19 19 19 20 20 20 20 20 21 21 21 2 VON 300 DEPORTATIONEN AUS FRANKREICH UND DER SCHWEIZ SEE-LUFT-SCHLACHT UM DIE MIDWAY-INSELN ALLIIERTE KONFERIEREN IN MOSKAU DIE SCHLACHT VON EL ALAMEIN DEUTSCHE MARSCHIEREN IN SÜDFRANKREICH EIN ALLIIERTE GEHEIMTREFFEN BEDINGUNGSLOSE KAPITULATION GEFORDERT USA BEGINNEN TAGESANGRIFFE AUF DEUTSCHE STÄDTE MILITÄRS VERÜBEN ATTENTATE AUF HITLER DIE SECHSTE ARMEE GIBT AUF EL ALAMEIN UND STALINGRAD TOTALER KRIEG GOEBBELS RUFT ZUM TOTALEN KRIEG AUF AUFSTAND IM WARSCHAUER GHETTO ALLIIERTE BERATEN LANDUNG IN ITALIEN AMERIKANER ERÖFFNEN OFFENSIVE IM PAZIFIK DIE LETZTE OFFENSIVE AN DER OSTFRONT ALLIIERTE LANDEN IN ITALIEN "OPERATION GOMORRHA" VERWÜSTET HAMBURG TEHERAN LEGT GRUNDSTEIN ZUR DEUTSCHEN TEILUNG LANDUNG IN DER NORMANDIE ALLIIERTE LANDEN IN DER NORMANDIE ZUSAMMENBRUCH DER HEERESGRUPPE MITTE WIRTSCHAFTSKONFERENZ IN BRETTON WOODS WIDERSTAND GEGEN HITLER ATTENTAT DES 20. JULI 1944 SCHEITERT UNO-MODELL IN DUMBARTON OAKS ENTWICKELT DE GAULLE IN PARIS RUMÄNIEN ERKLÄRT DEUTSCHLAND DEN KRIEG ERSTER ABSCHUß VON V2-RAKETEN LUFTLANDUNG BEI ARNHEIM UND NIMWEGEN ROOSEVELT LEHNT "MORGENTHAU-PLAN" AB MORGENTHAU SCHLÄGT AGRARLAND VOR "VOLKSSTURM" - HITLERS LETZTES AUFGEBOT SOWJETS NEHMEN OSTPREUßEN ARDENNENOFFENSIVE GESCHEITERT KZ AUSCHWITZ WIRD VON SOWJETS BEFREIT JALTA-KONFERENZ BESCHLIEßT BESATZUNGSZONEN DRESDEN AUS DER LUFT ZERSTÖRT HITLER ERLÄßT "NEROBEFEHL" ARABISCHE LIGA GEGRÜNDET DIE ROTE ARMEE STEHT VOR BERLIN GRÜNDUNGSVERSAMMLUNG DER VEREINTEN NATIONEN SHAKEHANDS IN TORGAU HITLERS ENDE KAPITULATION UND NEUBEGINN BEDINGUNGSLOSE KAPITULATION WELTORGANISATION UNO POTSDAMER ABKOMMEN UND ALLIIERTER KONTROLLRAT EIN KONTROLLRAT FÜR DEUTSCHLAND ÜBERNAHME DER REGIERUNGSGEWALT SOWJETS ERMÖGLICHEN PARTEIGRÜNDUNGEN UNTERZEICHNUNG DER UN-CHARTA IN SAN FRANCISCO WELTORGANISATION UNO ERSTE ATOMZÜNDUNG IN NEW MEXICO POTSDAM REGELT GEMEINSAMES VORGEHEN INFERNO IN HIROSHIMA HIROSHIMA BINNEN SEKUNDEN VERNICHTET JAPAN KAPITULIERT ZIONISTISCHER WELTKONGREß PLANT DEN STAAT ISRAEL IN DER US-ZONE ENTSTEHEN BUNDESLÄNDER DER STUTTGARTER LÄNDERRAT TRITT ZUSAMMEN 22 22 22 23 23 23 23 24 24 25 25 25 25 25 26 26 27 27 27 28 28 28 28 29 29 29 30 30 31 31 31 31 32 33 34 34 34 35 35 35 36 36 36 37 37 37 38 38 38 39 40 40 40 41 41 41 41 42 42 42 43 43 3 VON 300 NÜRNBERGER PROZEß BEGINNT WAFFENSTILLSTAND IN CHINA WARNUNGEN AUS DER MOSKAUER US-BOTSCHAFT EINIGUNG ÜBER INDUSTRIENIVEAU IN DER SBZ VEREINEN SICH KPD UND SPD ZUR SED NAZIS AUF DER ANKLAGEBANK UNÜBERBRÜCKBARE SPANNUNGEN AUFBAUHILFE FÜR EUROPA EINE WELT - ZWEI LAGER ERSTER DEUTSCHER VOLKSKONGREß TAGT IN BERLIN MOSKAU REGIERT OSTEUROPA JÜDISCHER STAAT GEGRÜNDET D-MARK ERSETZT REICHSMARK LUFTBRÜCKE NACH BERLIN VERBINDUNGSWEGE NACH BERLIN ABGERIEGELT GEBURTSSTUNDE DER BRD ATOM-MONOPOL FÄLLT CHINA WIRD KOMMUNISTISCH DIE OSTZONE WIRD EIN STAAT BONN WIRD BUNDESHAUPTSTADT KOREAKRIEG MITBESTIMMUNGSGESETZ IN BONN VERABSCHIEDET WIEDERGUTMACHUNG STALINS TOD - NEUE HOFFNUNG? VOLKSAUFSTAND IN DER DDR KRIEG IN INDOCHINA "TOR! TOR! TOR!" ZWEI STAATEN - ZWEI BLÖCKE KRIEG AM SUEZKANAL TAUWETTER IM OSTBLOCK? EUROPA WÄCHST ZUSAMMEN DER SPUTNIK-SCHOCK AFRIKA DEN AFRIKANERN BÜRGERKRIEG IM KONGO CHRONIK DER ENTKOLONIALISIERUNG AFRIKAS DER IRAK DRÄNGT AUF DIE ANNEXION KUWAITS MAUER BETONIERT TEILUNG ALGERIEN WIRD UNABHÄNGIG DIE MAUER FORDERT ERSTES TODESOPFER KONZIL REFORMIERT KIRCHE DIE KUBAKRISE ENDE DER ÄRA ADENAUER DIE SCHÜSSE VON DALLAS DAS ERSTE PASSIERSCHEINABKOMMEN KRIEG IN VIETNAM ESKALIERT SERIE VON FLUGZEUGABSTÜRZEN IN EUROPA KULTURREVOLUTION IN CHINA SECHS-TAGE-KRIEG CHRONIK DES NAHOSTKONFLIKTS SEIT 1947 REBELLION DER STUDENTEN PRAGER FRÜHLING GLEICHBERECHTIGUNG GRIFF NACH DEN STERNEN SOZIALLIBERALE KOALITION KAMPF GEGEN DIE ELEMENTE DIALOG MIT DEM OSTEN MACHTWECHSEL IN DER DDR WELTWÄHRUNGSSYSTEM? BLOODY SUNDAY POLITIK DER ENTSPANNUNG ERSTER STAATSVERTRAG REGELT DEN VERKEHR INTERNATIONALER TERRORISMUS 43 44 44 44 45 46 47 49 50 51 53 54 55 55 56 59 60 62 62 63 65 67 70 72 73 75 75 77 83 84 86 87 90 95 96 99 100 101 103 103 104 108 109 109 110 114 114 118 118 122 125 125 130 132 134 135 135 136 138 138 140 141 4 VON 300 EUROPA DER NEUN MILITÄRPUTSCH IN CHILE ÖLKRISE ERFAßT DIE WELT FAHRVERBOT FÜR AUTOS VERHÄNGT SPÄHER, SPITZEL UND SPIONE EUROPAS LETZTE DIKTATUREN BUNDESKANZLER BRANDT TRITT ZURÜCK NATO-PARTNER IM KRIEG WATERGATE BÜRGERKRIEG IM LIBANON SÜDVIETNAM KAPITULIERT VIETNAMKRIEG TERROR IM WOHLFAHRTSSTAAT TREUHAND-CHEF VON DER RAF ERMORDET FRIEDEN IM NAHEN OSTEN? DREI PÄPSTE IN EINEM JAHR SCHNEEKATASTROPHE SUCHT NORDDEUTSCHLAND HEIM KILLING FIELDS ISLAMISCHE REVOLUTION SCHWARZE TYRANNEN NEOKONSERVATIVE WENDE ERSTE DIREKTWAHL ZUM EUROPAPARLAMENT RUSSEN IN AFGHANISTAN BÜRGER GEGEN ATOMKRAFT ATTENTAT AUF REAGAN MONARCHIE IM WANDEL KRIEGSRECHT IN POLEN WENDE IN BONN GEWERKSCHAFT "SOLIDARNOSC" AUFGELÖST NATO-DOPPELBESCHLUß GLASNOST IN MOSKAU RÜCKKEHR DER SEUCHEN? HINTERHOF MITTELAMERIKA SIEBEN TOTE BEI "CHALLENGER"-EXPLOSION SUPER-GAU IN TSCHERNOBYL HONECKER MIT ALLEN EHREN EMPFANGEN ABRÜSTUNG WIRD MÖGLICH EXPLOSION AUF ÖLPLATTFORM FORDERT 167 TOTE FLUGSTAFFEL STÜRZT IN ZUSCHAUERMENGE IRAN ERLÄßT MORDBEFEHL GEGEN RUSHDIE MASSAKER IN PEKING UMWÄLZUNG IN OSTEUROPA DER FALL DER MAUER JUNTAS TRETEN AB WIEDERVEREINIGUNG ENDE DES KALTEN KRIEGES ERSTES GESAMTDEUTSCHES PARLAMENT GEWÄHLT ALLIIERTE BOMBARDIEREN BAGDAD JUGOSLAWIEN ZERFÄLLT AUFLÖSUNG DES WARSCHAUER PAKTS EG-GIPFELTREFFEN IN MAASTRICHT UDSSR EXISTIERT NICHT MEHR VERTRAG VON MAASTRICHT RESTORE HOPE IN SOMALIA BUNDESWEHR IM UN-EINSATZ DAS GRUNDRECHT AUF ASYL WIRD GEÄNDERT RECHTE GEWALT AUTONOMIE FÜR PALÄSTINENSER ENDE DER APARTHEID GREENPEACE GEGEN SHELL SKANDAL UM KINDERSCHÄNDER GIFTMÜLLSKANDAL DER ENTSORGUNGSBETRIEBE 142 143 144 145 146 146 147 148 149 152 152 153 163 165 166 167 167 167 168 170 171 172 173 179 180 181 182 185 186 189 192 193 197 200 202 206 208 209 210 212 214 219 219 224 232 233 234 235 237 238 242 243 244 248 251 251 252 252 254 260 268 268 5 VON 300 ERSTER SCHWARZER UNO-CHEF STANDORT DEUTSCHLAND HALE BOPP MEETS PLANET EARTH BOOMREGION ASIEN? IWF UND WELTBANK DIE SCHULDENKRISE DER ENTWICKLUNGSLÄNDER RECHTSRADIKALER SPRICHT VOR DER BUNDESWEHR FLUGZEUG STÜRZT AUF WOHNGEBIET DIE RAF MACHT SCHLUß BLUTSPUR DER ISLAMISTEN NORDIRLAND: TERRORANSCHLAG GEFÄHRDET FRIEDENSPROZEß ROT-GRÜN REGIERT IN BONN ERSTER DEUTSCHER KRIEGSEINSATZ SEIT 1945 BOMBEN AUF BELGRAD 270 271 272 275 279 280 281 281 283 286 288 288 295 296 Saargebiet stimmt für Rückgliederung Wie in Versailles beschlossen, stimmt die Bevölkerung des Saargebiets über ihre Zukunft ab: Anschluß an Frankreich, Verbleib unter internationaler Verwaltung oder Rückkehr nach Deutschland. Die Nationalsozialisten setzen sich vehement für die Rückgliederung ein. Mit 91 Prozent Stimmen für die Rückgliederung an das Deutsche Reich wurde das Referendum ein klarer Sieg für Hitler. An der außenpolitischen Isolation des Deutschen Reiches vermochte er jedoch wenig zu ändern. Unter den im Saargebiet noch bestehenden Parteien hatte es über die Abstimmungsempfehlungen lebhafte Auseinandersetzungen gegeben. Als besonders problematisch erwies sich die Unfähigkeit der meisten Parteien, zwischen Nation und Nationalsozialismus zu trennen: Die meisten Wahlberechtigten empfanden beide Begriffe zwangsläufig als synonym oder zumindest untrennbar miteinander verbunden, was die internationale Diskussion über die Verhältnisse in Deutschland wieder aufleben ließ. In dieser aufgeheizten Stimmung wurde die Möglichkeit vertan, die deutsch-französischen Beziehungen zu verbessern und über die Saar zu einer Kooperation zu gelangen. Am 17. Januar beschloß der Völkerbundsrat die Rückgabe des Saargebiets an Deutschland. 1935-1938: Die "guten Jahre" des Nationalsozialismus Das Jahr 1935 markiert den Zeitpunkt, an dem die Maßnahmen, mit denen die Nationalsozialisten Deutschland seit der "Machtergreifung" überzogen hatten, deutliche Auswirkungen zu zeigen begannen. Die politische Opposition war ausgeschaltet, eine Phase der Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft begann, die bis 1938 dauern sollte, dem Zeitpunkt, als Hitlers aggressive Außenpolitik die Toleranzgrenze der anderen europäischen Staaten überschritt. Der Großteil der Bevölkerung empfand die Auswirkungen zunächst positiv. Die Nachrichten, die den Deutschen zugänglich gemacht wurden und die später zu den Legendenbildungen - Stichwort Autobahnbau - um die wirtschafts- und sozialpolitischen Erfolge Hitlers beitragen sollten, verschwiegen gezielt die negativen Aspekte der Entwicklung. Die Arbeitslosigkeit war seit 1933 um mehr als zwei Drittel auf zwei Millionen gesunken, bis 1938 waren lediglich einige Hunderttausend ohne Arbeit. Daß die Wirtschaftskrise aber zum Zeitpunkt der "Machtergreifung" ohnehin im Abflauen begriffen war und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ohne die Nationalsozialisten eine Phase der Entspannung begonnen hätte, wurde von der Propaganda ebenso verschwiegen wie auch die verzerrende Wirkung der arbeitsmarktentlastenden Maßnahmen "Wehrpflicht" und "Ehestandsdarlehen", mittels derer zahlreiche Arbeitssuchende vom Markt abgezogen wurden. Ausschlaggebend für den großen Anklang, den die nationalsozialistischen Maßnahmen in der Bevölkerung fanden, war die Allgegenwart der Propaganda, die ständig ein Bild einer 6 VON 300 um den allgemeinen Wohlstand bemühten Partei zu vermitteln versuchte. Im Mittelpunkt: Hitler. Hitler beim ersten Spatenstich für die Autobahn, Hitler auf dem KDF-Dampfer, Hitler mit Kindern: In den Wochenschauen sah der Zuschauer einen zupackenden "Führer", stets bereit zu einem kurzen Gespräch mit seinen in immer größeren Zahlen zu den Veranstaltungen strömenden Anhängern. Was Hitler in diesen Jahren erreichte und was bei einer deutlichen Mehrheit der Deutschen ankam, war das Gefühl, wieder "wer zu sein", "dazuzugehören". Hitlers Wunsch, aus den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit und den Jahren der politischen Instabilität der Weimarer Republik heraus eine gesellschaftsübergreifende Volksgemeinschaft, ähnlich der vielzitierten klassenlosen Gesellschaft in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges zu schaffen, wurde von vielen Deutschen geteilt - und mit Beginn der spürbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen von vielen als realisiert empfunden. Neben der 1936 erreichten, annähernden Vollbeschäftigung und den Bequemlichkeiten der staatlichen Organisationen wie der KDF, schmeichelten auch die politischen Erfolge Hitlers Einführung der Wehrmacht, Besetzung des Rheinlandes - dem zwanzig Jahre lang unterdrückten und mißhandelten Nationalstolz einer ganzen Generation. Mit der engen Einbindung aller Deutschen in die "große Volksgemeinschaft" durch möglichst frühzeitige Erfassung und Manipulierung des Individuums in HJ und BDM machte sich Hitler das weit verbreitete Gefühl der Verunsicherung und der Angst zu Nutzen. Angst vor Arbeitslosigkeit, Inflation, sozialer Ausgrenzung. Die dunklen Schatten, die Hitlers Politik von Beginn an begleiteten - bereits im März 1933 wurde in Dachau das erste Konzentrationslager eröffnet - schienen noch 1935 nur wenige zu sehen, nur wenige bemerkten das plötzliche Verschwinden von Nachbarn, kaum jemand durchblickte den Schleier der schönen Fassade, mit dem Goebbels' Propagandamaschinerie das Land kontinuierlich überzog. 21.05.35 Ausschluß von Juden aus der Wehrmacht Nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und dem damit einhergehenden Bruch des Versailler Vertrags erläßt die Reichsregierung ein "Wehrgesetz". Dieses schreibt nochmals fest, daß jeder deutsche Mann wehrpflichtig sei und als Soldat rückhaltlos für den Führer und das nationalsozialistische Reich einzutreten habe. Juden sind vom Wehrdienst ausgenommen. Der "Arierparagraph" des Gesetzes, Paragraph 15 Absatz 1, lautete: "Arische Abstammung ist eine Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst..." ... und Absatz 3: "Nur Personen arischer Abstammung können Vorgesetzte in der Wehrmacht werden." Bereits im Februar 1934 war ein sogenannter "Arierparagraph" bei der Reichswehr eingeführt worden, nach dem jüdische deutsche Männer nicht mehr aufgenommen werden durften. 18.06.35 Deutsch-englisches Flottenabkommen Die Unterzeichnung des Flottenabkommens wird in Deutschland als großer außenpolitischer Erfolg gefeiert. "Sonderbotschafter" von Ribbentrop war bereits kurz nach der Machtergreifung von Hitler beauftragt worden, auf dem Gebiet der Seerüstung im Sinne einer "Politik der getrennten Interessensphären" eine deutsch-britische "Aussöhnung" herbeizuführen. London betrachtete zwar Hitlers einseitige Ankündigung einer uneingeschränkten Aufrüstung mit steigender Sorge, war aber dennoch an einem Ausgleich mit Deutschland 7 VON 300 interessiert, um als bisher unbestrittene Seemacht Nr. 1 einen Rüstungswettlauf zu vermeiden. Die eigentliche Bedeutung des Abkommens ging über den nur temporären militärischen Aspekt hinaus. Wie der Abschluß des Reichskonkordats und der Verständigungsvertrag mit Polen stellte es einen außenpolitischen Prestigeerfolg für das nationalsozialistische Deutschland dar. Die Koalition der Stresafront zerbrach dagegen infolge der englischen Mißachtung von Interessen der Flottenmächte Frankreich und Italien nach kurzer Zeit, ohne die beabsichtigte Wirkung einer Isolierung des Deutschen Reichs erreicht zu haben. 10.09.35 Nürnberger Gesetze werden beschlossen Der Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg, der "Parteitag der Freiheit", beschließt die antisemitischen "Nürnberger Gesetze". Die beiden wichtigsten sind das "Reichsbürgergesetz" und das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre". Der Ausschluß der Juden aus der deutschen Gesellschaft hat begonnen. Dem vorangegangenen Terror gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland war nun eine juristische Basis gegeben. Im "Reichsbürgergesetz" wurde eine Unterscheidung zwischen Staatsbürgern und Reichsbürgern eingeführt, wobei Juden nur die – untergeordnete – Staatsangehörigkeit besaßen. Mit dem "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" wurde die Ehe und außereheliche Beziehungen mit "Nichtariern" unter Strafe gestellt und der Begriff der "Rassenschande" eingeführt. Der Nachweis einer "arischen" Abstammung war von nun an Vorbedingung für jede öffentliche Anstellung. Selbst das Hissen der Reichsflagge und der Hakenkreuzfahne durch Juden wurde strafbar. Die Parteitagsbeschlüsse führten zu einem drastischen Anstieg der Emigration deutscher Juden. Doch für viele unter ihnen bedeutete das Exil nur eine vorläufige Sicherheit. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich (1938) und der Tschechei (1939) fanden die Nürnberger Rassengesetze und alle anderen antisemitischen Verordnungen auch dort sofortige Anwendung. Massenrausch Reichsparteitag Die Reichsparteitage in Nürnberg sind der alljährliche Höhepunkt der nationalsozialistischen Machtinszenierung. In den gigantischen Kulissen des Parteitagsgeländes und unter Einsatz einer architekturgleichen Lichtregie findet ein wahrer "Gottesdienst" statt – der Gottesdienst an einem Götzenbild: Adolf Hitler. Die zu Ornamenten erstarrten Menschenmassen bilden die äußere Staffage. Die Wochenschau trug die Bilder des Reichsparteitag ins ganze Reich hinaus. Sie sollten den Deutschen das Wesen der NS-Ideologie sinnlich erfahrbar machen. Mit hochgradig suggestiven Bildern und Filmen sollte Regisseurin Leni Riefenstahl ein Bewußtsein für die "Volksgemeinschaft" geschaffen werden, in der das Individuum sich der Klarheit, Ordnung und Einheit des Ganzen willenlos unterordnet. Gleichzeitig sollte der einzelne Teilnehmer und Betrachter sollte das Gefühl vermittelt bekommen, ein wichtiges Rädchen im Gesamt"organismus" des "Volkskörpers" zu sein. Ein Gefühl von Allmacht sollte die Deutschen erfassen und von dem scheinbar gottgleichen und allmächtigen "Führer" auf die Masse übergehen. Die strenge Dramaturgie sollte diese fast religiöse Erregung steigern, um schließlich in einem Höhepunkt zu gipfeln, in dem der Heilsbringer und Masse wie in einem Vereinigungsakt miteinander verschmelzen. 32.12.35 Entlassung jüdischer Beamter Zum Jahreswechsel 1935/36 werden alle jüdischen Beamten aus dem Staatsdienst entlassen. Die gesetzliche Grundlage hatten die Nationalsozialisten mit der Verkündung der "Nürnberger Gesetze" bereits auf dem letzten Reichsparteitag geschaffen. 8 VON 300 Für die nicht oder nur teilweise juristisch gedeckten Diskriminierungen von Juden im Deutschen Reich war durch die Nürnberger Gesetze nachträglich eine gesetzliche Absicherung versucht worden. Verantwortlich für die Durchführung der antisemitischen Gesetze war der seit 1933 im Amt befindliche Reichsinnenminister Wilhelm Frick. Noch Ende 1935 startete eine beispiellose Hetze in Verbindung mit weiteren juristischen Maßnahmen gegen jüdische Bürger. Den Juden wurde das Wahlrecht aberkannt, jüdische Notare und Ärzte im Staatsdienst, Lehrer und Professoren wurden mit Berufsverbot belegt. In den Folgemonaten, besonders in der Zeit um die Olympischen Spiele in Berlin, als die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Deutschland lag, hielt sich das Regime mit Verordnungen und diskriminierenden Maßnahmen gegen Juden zurück. Erst Ende 1937 verschärfte die NS-Regierung ihren antijüdischen Kurs wieder. 01.01.35 Verschärfung der Maßnahmen gegen Juden Während in Berlin die Olympischen Spiele, das "Fest der Völker", gefeiert wird und die Nationalsozialisten sich weltoffen und tolerant geben, wird vertuscht, was sich in den letzten Monaten in Deutschland abgespielt hat: der Beginn der öffentlichen Diskriminierung und die Verfolgung von Juden. Mit dem sogenannten Reichsparteitag der Freiheit im September 1935 hatte die Hoffnung jüdischer Bürger auf eine positive Wendung ihres Schicksals in Deutschland deutlich abgenommen. Viele waren seither emigriert, ihr Besitz und ihr Vermögen wurden entschädigungslos konfisziert. Die Zurückgebliebenen waren gezwungen, ihren Beruf aufzugeben und versuchten, unter schwierigsten Bedingungen eine neue Existenz aufzubauen. Im Laufe der Jahre 1936 bis 1938 wurden die antisemitischen Maßnahmen laufend verschärft. Durch etwa 250 Verordnungen wurden die Juden aus nahezu allen Berufen verdrängt. Waren sie schon seit der Machtergreifung das bevorzugte Opfer nationalsozialistischer Willkür, so lieferte die Ermordung des deutschen Botschafters in Paris durch einen Juden im November 1938 den Vorwand für den entscheidenden Schlag: die von offizieller Seite vorbereitete und von Teilen der deutschen Bevölkerung mitgetragene "Reichspogromnacht" - im Nazi-Jargon: "Reichskristallnacht". 07.03.36 Deutsche Truppen besetzen das Rheinland Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht war ein erster gelungener Test. Jetzt prüft Hitler die Entschlossenheit der Siegermächte von 1918 erneut: Der Einmarsch deutscher Truppen in das entmilitarisierte Rheinland beginnt. Die geringe Zahl der eingesetzten Soldaten und der Befehl, sich erforderlichenfalls sofort zurückzuziehen, wiesen den Akt weit eher als politisches Hasardspiel aus denn als bedrohliches militärisches Unternehmen. Hitler nannte später die 48 Stunden nach dem Einmarsch "die aufregendste Zeitspanne in meinem Leben". Die weltpolitische Lage Ende 1935 hatte Hitler die Möglichkeit zum Einmarsch verschafft: Kein Staat trat für den Erhalt der in Versailles konzipierten europäischen Friedensordnung ein und leistete ihm ernsthaft Widerstand. Frankreich befand sich in innerem Zwist, Großbritannien beließ es bei verbalen Protesten. Als Vorwand für diesen Bruch des Abkommens von Locarno verwies Hitler auf die Ratifizierung des gegen das Deutsche Reich gerichteten französisch-russischen Beistandspaktes, der letztlich eine Folge der aufsehenerregenden deutsch-polnischen Verständigung von 1934 war. Sich der Tragweite der Situation bewußt, suchte er nachteilige Konsequenzen von vornherein zu mildern, indem er den Vertragsbruch mit einem geschickten Bündnisangebot nach Außen verband und gleichzeitig seine innere Stellung durch ein Plebiszit propagandistisch aufwertete. 09.05.36 Italien annektiert Abessinien 9 VON 300 Der italienische Marschall Pietro Badoglio zieht Anfang Mai 1936 mit seinen Soldaten in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba ein. Der italienische Eroberungsfeldzug in Äthiopien wird somit früher als erwartet beendet. Bereits Anfang März 1936 war der äthiopische Widerstand gegen die Italiener zusammengebrochen. Ausgerüstet mit modernsten Waffen hatte Italien die Afrikaner in einem ungleichen Kampf geschlagen. Auf einer Parade in Addis Abeba wurde den Äthiopiern nun die deutliche Überlegenheit vorgeführt. Vier Tage danach erklärte Mussolini in Rom offiziell die Annexion Abessiniens. Der Völkerbund, der einige der vorgeschriebenen Sanktionen gegen Italien verhängt hatte, hob diese wenig später wieder auf, obwohl der aus seiner Hauptstadt geflüchtete Kaiser Haile Selassie (l.) vor demselben Gremium in einer engagierten Rede um Gerechtigkeit gebeten hatte. Als Nebeneffekt des Abessinienkriegs wurde im deutsch-italienischen Vertrag die außenpolitische Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten begründet – die "Achse Berlin-Rom". 18.07.36 Spanischer Bürgerkrieg Spanien 1936: Ein unvorstellbar brutal geführter Bürgerkrieg erschüttert das Land. Der Faschistenführer Franco bekämpft mit seinen Truppen die republikanische Regierung. Spanien wird zum Testfall für Europa. Wie kein Ereignis zuvor, spaltet der Bürgerkrieg den Kontinent: Alle Versuche, den Krieg auf Spanien zu begrenzen, scheitern. Europa bekennt Farbe: Hitler und Mussolini mit Franco, Stalin und die Komintern gegen Franco. 01.08.36 Ein Volk im Gleichschritt Olympia in Berlin: Höhepunkt des Täuschungsmanövers, mit dem Hitler seit Jahren In- und Ausland blendet. Noch einmal gelingt es ihm, das Bild eines friedliebenden, demokratischen Staates zu vermitteln. An Statisten zur Vermittlung eines solch intakten Bildes mangelte es nicht: Direkt nach der Machtergreifung hatte Hitlers Terrorregime mit der Gleichschaltung aller Lebensbereiche begonnen. Bereits seit drei Jahren marschierten die Deutschen im Gleichschritt auf Kriegskurs. 11.03.38 Der "Anschluß" Österreichs Hitlers Prügelkolonnen beherrschen die Straßen in Österreichs Städten. In Wien besetzen Nazis den Sitz des Regierungschefs. Schuschnigg ist mit seinem Versuch, Österreich zu retten, gescheitert. Auf massivem Druck aus Berlin kapitulierte die Regierung der Alpenrepublik: Hitlers Marionette Seyß-Inquart wurde neuer Kanzler. Und während die 8. Armee die Grenze überschritt und die Heimat des "Führers" "heim ins Reich“ holte, kreisten Hitlers Gedanken schon um seinen nächsten Coup. 20.09.38 Konferenz von München In München entscheiden Hitler und Mussolini gemeinsam mit Daladier und Chamberlain über das Schicksal der Tschechoslowakei. Ein letztes Mal geben Engländer und Franzosen Hitlers Annexionshunger nach. Das überwiegend deutsch besiedelte Sudetenland sei seine letzte territoriale Forderung, versicherte Hitler. Und noch einmal schenkten sie ihm Glauben: "Peace for our time" sei gesichert, verkündete Chamberlain bei seiner Rückkehr. Doch Hitler hatte sein nächstes Opfer bereits fest im Visier. 09.11.38 10 VON 300 Reichspogromnacht In der Reichspogromnacht, von den Nazis zynisch "Reichskristallnacht" genannt, erreicht die Hetze gegen die Juden in Deutschland ihren vorläufigen Höhepunkt. Überall im Reich werden die Synagogen in Brand gesteckt. Seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten war das Leben der Juden immer stärker eingeschränkt worden. Doch in dieser Nacht fielen erstmals reichsweit Juden dem Terror des durch gezielte Propaganda aufgehetzten Pöbels zum Opfer. 04.07.39 Zusammenfassung aller Juden Die bisher gültige "Reichsvertretung", in der laut Reichsbürgergesetz alle in Deutschland lebenden Juden in einer "Reichsvereinigung" zusammengefaßt gewesen waren, wird ab dem 4. Juli 1939 durch die "Reichsvereinigung der deutschen Juden" ersetzt. Sie soll für eine totale staatliche Kontrolle auch über die jüdischen Organisationen sorgen. Die alte Organisation hatte vor allem die Aufgabe, die Auswanderung der Juden zu betreiben. Jüdische Kulturvereinigungen wurden damit als Zweigstellen der "Reichsvereinigung" unterstellt und standen in Berlin unter der direkten Aufsicht der Gestapo. Während die "Reichsvertretung" noch eine unabhängige Einrichtung war, erlaubte der Status einer "Reichsvereinigung" dem NS-Regime direkten Zugriff auf die jüdischen Einrichtungen. Innenminister Wilhelm Frick wurde ermächtigt, jüdische Vereine und Organisationen aufzulösen oder in die "Reichsvereinigung" zwangsweise einzugliedern. 01.09.39 Hitler entfesselt den Krieg "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!" Mit diesen Worten verkündet Hitler vor dem Reichstag den Beginn des Feldzugs gegen Polen - der Zweite Weltkrieg beginnt. Im Bündnis mit der Sowjetunion fiel Hitlers Wehrmacht über den hoffnungslos unterlegenen Nachbarn her. Nach vier Wochen war Polen verloren. Hitler und Stalin teilten sich die Beute. Großbritannien und Frankreich waren nicht länger gewillt, Hitlers Eroberungsdrang tatenlos hinzunehmen, und erklärten dem Deutschen Reich den Krieg. Deutschland überfällt Polen Massaker an Deutschen im Polnischen Korridor, Überfall polnischer Soldaten auf den deutschen Sender Gleiwitz: Diese Nachrichten erreichen die Deutschen in den letzten Augusttagen 1939. Kaum jemand zweifelt an ihrem Wahrheitsgehalt, doch Polens Schicksal steht schon längst fest. Mit gezielter Fehlinformation liefert sich Hitler den fehlenden Vorwand zum Losschlagen: Mit dem deutschen Überfall auf Polen beginnt der Zweite Weltkrieg. Schon einige Stunden zuvor waren die deutschen Armeen in Polen einmarschiert. Die überlegene Luftwaffe legte das polnische Verkehrsnetz lahm und zerstörte die Flugzeuge noch am Boden. Panzerverbände und motorisierte Einheiten überrannten die polnischen Verteidigungslinien und kesselten den Gegner ein. In nur 18 Tagen "Blitzkrieg" wurde Polen geschlagen. Die Hauptstadt Warschau verteidigte sich noch einige Tage, mußte aber nach schweren Bombenangriffen am 27. September kapitulieren. England und Frankreich kamen Polen nicht zu Hilfe, obwohl sie durch den Beistandspakt dazu verpflichtet gewesen wären, erklärten jedoch am 3. September nach Ablauf einer Frist dem Reich den Krieg. Hitler zeigte sich unbeeindruckt und ging mit seinem neuen Verbündeten Stalin an die Aufteilung der Beute. Für die polnische Bevölkerung begannen sechs Jahre unvorstellbarer Unterdrückung und Terrors. 03.09.39 England und Frankreich erklären den Krieg 11 VON 300 Frankreich und England fordern den Rückzug der deutschen Truppen aus Polen. Hitler lehnt ab, sein Krieg kennt weder Recht noch Moral. Daraufhin erklären beide Länder dem Deutschen Reich den Krieg. Am 3. September um 11 Uhr lief das englische, um 17 Uhr das französische Ultimatum ab, womit der Kriegszustand auch im Westen eingetreten war. Nach der polnisch-französischen Militärkonvention vom 19. Mai 1939 war Frankreich verpflichtet, spätestens 15 Tage nach Beginn eines deutschen Angriffs auf Polen im Westen eine Offensive gegen Deutschland zu starten. Die Alliierten nutzten allerdings die anfängliche deutsche Schwäche nicht aus und unterließen die zugesagte Entlastungsoffensive. So beschränkten sich die Aktivitäten an der Westfront zunächst auf Land- und Luftaufklärung. Zur See starteten die Westalliierten eine bis 1941 wenig wirksame Seeblockade gegen Deutschland. Die Regierungen der beiden Alliierten reagierten auf die Kriegserklärung mit der Bildung von Kriegskabinetten. Die Regierungschefs Édouard Daladier und Neville Chamberlain übernahmen die Koordinierung des gemeinsamen Vorgehens. An der Seite Chamberlains stand zudem mit Winston Churchill als Erstem Lord der Admiralität ein unerbittlicher Kämpfer für den kommenden Waffengang gegen das Reich. 05.09.39 Washington erklärt Neutralität Nachdem Frankreich, Großbritannien und das Commonwealth Deutschland den Krieg erklärt hatten, erklärte zwei Tage später Amerika seine Neutralität. Der Krieg bleibt somit vorerst auf das Deutsche Reich, Polen, Großbritannien und Frankreich begrenzt. Die konkrete Form der Neutralität war allerdings noch ungeklärt. Präsident Roosevelt kämpfte im Senat um eine Neuauflage des Neutralitätsgesetzes von 1937, das am 1. Mai 1939 ausgelaufen war. Nach dem Wortlaut dieses Gesetzes war der Präsident ermächtigt, den Barverkauf ("Cash") bestimmter kriegswichtiger Güter und deren Abtransport auf nicht amerikanischen Schiffen ("Carry") zu erlauben. Diese sogenannte "Cash-and-carry"-Regel war in den USA stets umstritten gewesen, da es die Gefahr barg, daß sich Amerika trotz der erklärten Neutralität in den Krieg verstricken könnte. Nach den schnellen Erfolgen der deutschen Armee in Polen gelang es Roosevelt im November 1939 dann doch, das Neutralitätsgesetz durchzudrücken. Nun benötigte er die Zustimmung des Kongresses bei der Auswahl der zu beliefernden bzw. zu boykottierenden Länder. Der Verkauf von Munition und Kriegsgerät wurde damit eingeschränkt; auch konnte Roosevelt verbotene Zonen für die US-Schiffahrt proklamieren. Am 4. November erklärte er die Gewässer um Großbritannien und Irland, den Ärmelkanal, einen Großteil der Küste Skandinaviens, die Ostsee und weite Teile der Biskaya zum Sperrgebiet für die amerikanische Schiffahrt. 08.11.39 Attentat auf Hitler im Bürgerbräukeller Am Abend des 8. November findet im vollbesetzten Münchner Bürgerbräukeller die alljährliche Veranstaltung zum "Heldengedenken" statt, als um 21.20 Uhr eine Bombe explodiert. Wenige Minuten zuvor hatte Hitler mit führenden Nationalsozialisten den Raum verlassen. Der Attentäter, der schwäbische Tischler Georg Elser wurdenoch am selben Tag beim Versuch, in die Schweiz zu gelangen, von Zollbeamten festgenommen. Er wollte sich von dort aus zur Tat bekennen, um die Verfolgung Unschuldiger zu verhindern. Als Motiv gab er an, er habe den Krieg verhindern wollen, auf den er Deutschland unweigerlich zutreiben sah. Er habe den Entschluß gefaßt, die politische Führung zu beseitigen, damit gemäßigte und friedfertigere Kräfte die Herrschaft übernehmen könnten. Obwohl Elser ein umfassendes Geständnis ablegte, glaubte die Gestapo nicht an eine Alleintäterschaft und vermutete ausländische Auftraggeber. Als unmittelbare Reaktion auf das Attentat wurden 21 Juden im Konzentrationslager Buchenwald exekutiert. Elser wurde als "bevorzugter Sonderhäftling" zunächst in das KZ Sachsenhausen eingeliefert und erst am 9. April 1945 im KZ Dachau hingerichtet. 12 VON 300 30.11.39 Der "komische Krieg" verunsichert Franzosen Die Lage an der Grenze zu Belgien beunruhigt im Herbst 1939 auch die französische Bevölkerung. Vereinzelt hört man Artilleriefeuer, ansonsten aber bleibt es ruhig. Spähtrupps am Boden und in der Luft erkunden die Lage auf der gegnerischen Seite. Die Spannung steigt. Hitlers Kalkül war aufgegangen: Den Kriegserklärungen aus London und Paris waren keine entschiedenen Aktionen gefolgt. Die nach der Eroberung Polens frei werdenden Reserven nutzte er nun, um die Grenzanlagen im Westen zu verstärken. Der französische Ministerpräsident Daladier hatte die Evakuierung eines 12 Kilometer breiten Streifens zwischen der Grenze und der Maginotlinie angeordnet, an der seitdem 21 französische Divisionen untätig warteten. Ein zu diesem Zeitpunkt noch erfolgversprechender Angriff der den Deutschen zahlenmäßig um ein Dreifaches überlegenen Briten und Franzosen blieb aus. Auch als die Deutschen im Oktober mit dem Ausbau der Grenzanlagen begannen, unterblieben Störmanöver. Hitler seinerseits, der Frankreich noch vor Wintereinbruch überfallen wollte, mußte seine Pläne ein ums andere Mal verschieben und – als sich Mitte November die Wetterlage dramatisch verschlechterte – auf das nächste Frühjahr verlegen. Bis April 1940 war der deutsche Aufmarsch abgeschlossen, die Truppenstärke entsprach nun etwa der der Alliierten. Wegen ihres technischen Vorsprungs befand sich die Wehrmacht allerdings jetzt deutlich im Vorteil: Der Angriff im Westen konnte beginnen. Beginn des sowjetischen Angriffs auf Finnland Am 30. November 1939 beginnt mit Luftangriffen auf Helsinki und verschiedene andere Städte der sowjetische Angriff auf Finnland. Vorausgegangen waren wochenlange Versuche Moskaus, die finnische Regierung zur Annahme seiner Bedingungen zu überreden. Den neun schwachen Divisionen des finnischen Generals Mannerheim (li.) standen auf sowjetischer Seite vier Armeen mit starken Panzer- und Artillerieverbänden gegenüber. Trotzdem gelang es den finnischen Truppen in diesem Winterkrieg immer wieder, mit ihrer sogenannten "Motti-Taktik" russische Verbände im unwegsamen Gelände aufzusplittern, einzukesseln und vernichtend zu schlagen. Die finnische Armee konnte den Angreifer so bis März 1940 aufhalten. Dann beendete Stalin nach massivem Druck der Westmächte den Krieg. 10.05.40 Churchill wird neuer britischer Premierminister Winston Churchill, seit langem der innerparteiliche Gegenspieler Chamberlains, löst diesen im Amt des Premierministers ab. Chamberlain (u.l.), so scheint es, ist nicht der richtige Mann, um es nach dem deutschen Überfall auf die neutralen Länder Holland und Belgien mit Hitler aufzunehmen. Churchill, ein entschiedener Gegner der Beschwichtigungspolitik seines Vorgängers, kündigte in seiner Antrittsrede eine Intensivierung des Krieges gegen Deutschland an und forderte die Briten dafür zu großen Opfern auf. Doch auch er konnte nicht verhindern, daß die Westmächte mit der Besetzung Frankreichs noch im Mai ein weiteres militärisches Desaster erleben mußten. Nach dem britischen Rückzug aus Dünkirchen rechnete Hitler fest damit, daß England "klein beigibt" und den Weg zu einem "vernünftigen Friedensschluß" ebnet. Doch der neue Premier dachte nicht an Frieden mit Hitler, auch wenn dieser öffentlich beteuerte, das Empire nicht zerstören und einen Friedensschluß aushandeln zu wollen. London, so hoffte Hitler wie auch Göring, werde rasch einlenken und auf Deutschland zukommen. Als nichts dergleichen geschah, griff Hitler zum bewährten Mittel: England sollte mit Gewalt zum Ausgleich gezwungen werden. 13 VON 300 Deutschland überfällt neutrale Staaten Um 5.30 Uhr beginnt der deutsche Angriff. Unterstützt von starken Fliegerverbänden rückt die Wehrmacht unaufhaltsam an einer Frontlinie von der Nordsee bis zur luxemburgischfranzösischen Grenze vor. Fallschirmjäger landen im Fort Eben-Emael und in Rotterdam. Während Eben-Emael gestürmt wird, bleibt der Angriff auf Rotterdam stekken. Um die Stadt schnell einnehmen zu können, befiehlt Göring einen Luftangriff auf die Altstadt. Die Meldung über die anlaufenden Kapitulationsverhandlungen erreichte einige Flugzeugbesatzungen erst, als sie sich bereits im Anflug auf die Stadt befanden, andere überhaupt nicht. 57 Flugzeuge warfen fast 100 Tonnen Bomben auf die Altstadt und verursachten eine Feuersbrunst, der etwa 900 Menschen und das gesamte Stadtzentrum zum Opfer fielen. Da inzwischen auch die übrigen holländischen Verteidigungslinien durchbrochen waren, wurde der Kampf in Holland eingestellt. Am 14. Mai begann von Frankreich aus der Einmarsch nach Belgien. Am 17. Mai wurde Brüssel kampflos von deutschen Truppen besetzt. Im Auftrag König Leopolds III. wurde die Kapitulation am 28. Mai unterzeichnet. Luxemburg war durch den Angriff förmlich überrannt worden. 05.06.40 Die Wehrmacht marschiert auf Paris zu Anfang Juni: Belgien und Holland haben kapituliert, die zweite Phase des deutschen Angriffs im Westen beginnt: Hitler befiehlt den schnellen Vorstoß gegen die Seine und die untere Marne. Innerhalb weniger Tage wurden die französischen Truppen überrannt. Zeitgleich rückten die Truppen auch nach Südosten, Richtung Schweizer Grenze vor und befanden sich somit im Rücken der als uneinnehmbar geltenden Maginotlinie. Diese nach Osten gerichtete Befestigungsanlage wurde damit von Westen her durch schnelle motorisierte deutsche Verbände erreicht. Unter dem Schutz der überlegenen deutschen Luftwaffe konnten sich die Bodentruppen und Panzerverbände mit ihrer "Blitzkrieg"-Taktik gegen die französischen Verteidiger überall durchsetzen. Am 12. Juni mußte der größte Teil der britisch-französischen Truppen unter General Maxime Louis Weygand in St. Valery an der Küste des Ärmelkanals kapitulieren. Die deutschen Truppen marschierten auf Paris. Deutsche Truppen in Paris "Revanche für Versailles" - mit einer Parade auf den Champs-Elysées nimmt Hitler Rache für den "Diktatfrieden" von 1919. Zehn Monate nach Beginn des Krieges liegt Frankreich gedemütigt am Boden. Die französische Kapitulation ließ Hitler in demselben Eisenbahnwaggon unterzeichnen, in dem Deutschland 1918 vor Frankreich kapituliert hatte. Doch der Triumph war nicht vollständig: Fast 340.000 britische Soldaten waren den Deutschen bei Dünkirchen über den Kanal entkommen. 10.06.40 Italien tritt in den Krieg ein Als sich der Zusammenbruch Frankreichs bereits abzeichnet, überfällt auch Italien den westlichen Nachbarn. Vollmundig verkündet der Duce Mussolini seinen Landsleuten, daß das "proletarische und faschistische Italien gegen die reaktionären und plutokratischen Demokratien" in den Krieg eingetreten sei. Man wollte schlichtweg noch vor dem formellen Eingeständnis der französischen Niederlage gegen das Reich die Voraussetzungen für italienische Ansprüche bei der Verteilung der Beute schaffen . Tatsächlich lag dem Eintritt Italiens eine fatale Fehleinschätzung der eigenen militärischen Stärke zugrunde. 14 VON 300 Die italienischen Truppen waren bei ihren Angriffen auf französisches Territorium in den Alpen und im Süden bei Nizza wenig erfolgreich, einziges Erfolgserlebnis blieb die Eroberung der kleinen Stadt Menton. Schon am 24. Juni unterschrieb eine französische Delegation in Rom den Waffenstillstand mit Italien. Zentraler Punkt dieser Vereinbarungen war die Einrichtung entmilitarisierter Zonen im französisch-italienischen Grenzgebiet und in Nordafrika. Fast sämtliche Versuche, einen von den Erfolgen Deutschlands unabhängigen und ähnlich erfolgreichen "Parallelkrieg" zu führen, wären ohne Hilfe des "Achsenpartners" gescheitert. "Weserübung" ist abgeschlossen Die "Blitzkrieg-Strategie" geht auf. Nur zwei Monate nach Beginn des Einmarsches in Norwegen fordert König Hakon VII. (u. l.) seine Truppen auf, die Kampfhandlungen einzustellen und bietet Hitler die Kapitulation an. Für Hitler war das Unternehmen "Weserübung" ein großes Wagnis gewesen, da sich Dänemark und Norwegen mit je 34.000 Mann Heerestruppen, etwa 250 Flugzeugen sowie etlichen U-Booten und Panzerschiffen zur Wehr setzen konnten. Der Verrat durch Oberst Hans Oster gefährdete die Aktion zusätzlich, es bestand die Gefahr einer schwedische Invasion. Auch der Wettlauf mit Großbritannien, das mit seinen Zerstörern den Vormarsch der Wehrmacht durch einen Flankenstoß beenden hätte können, machte die "Weserübung" zu einem Unterfangen mit ungewissen Ausgang. Als Hitler den Angriff im Westen startete, sah sich Großbritannien gezwungen, seine Truppen aus Norwegen abzuziehen. Da Dänemark schon am 10. April seine Kapitulation erklärt hatte, mußten sich die norwegischen Truppen aufgrund fehlender Unterstützung alsbald der deutschen Besatzung ergeben. 18.06.40 De Gaulle organisiert Widerstand aus dem Exil Frankreich ist geteilt. Doch die Trennungslinie verläuft nicht nur über die Landkarte, der Riß trennt unversöhnlich diejenigen, die mit den Besatzern kollaborieren, von denen, die sie bekämpfen. In seinem Londoner Exil ernennt sich General Charles de Gaulle zum Führer des provisorischen "Nationalkomitees Freies Frankreich" und zum legitimen Chef der französischen Exilregierung. In einem flammenden Appell machte der General seinen Landsleuten Mut, Frankreich habe eine Schlacht, aber nicht den Krieg verloren. Der britische Premier Churchill reagierte umgehend mit der Anerkennung de Gaulles und sagte Unterstützung zu. Am 8. August schloß London ein Militärbündnis mit de Gaulle ab. Seine "freifranzösischen Truppen" wurden danach britischem Kommando unterstellt, solange sie nicht gegen Frankreich eingesetzt werden sollten. Unverzüglich nahm de Gaulle den Kampf gegen die Regierung Pétain auf. Schauplatz des Kampfes war zunächst Afrika, wo die Vichy-Truppen nach und nach zurückgedrängt wurden. Weiterer Schwerpunkt war die Organisation des Widerstandes in Frankreich selbst. 21.06.40 Huntziger erhält Kapitulationsbedingungen Der Ort der französischen Kapitulation konnte kein anderer sein: Derselbe Wald von Compiègne, derselbe Eisenbahnwaggon, in dem 1918 die deutsche Delegation nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg den Waffenstillstand unterschreiben mußte. Die "Schmach" von damals sollte durch die Ortswahl doppelt und dreifach auf Frankreich zurückfallen. Am 21. Juni nahm General Charles Huntziger die deutschen Bedingungen entgegen. Für weite Teile der deutschen Bevölkerung – allen voran die Nationalsozialisten – war die Niederlage von 1919 und den Versailler Vertrag auch nach über 20 Jahren immer noch ein Trauma. Deutschlands Ehre sollte für alle sichtbar wiederhergestellt werden. Die Bedingungen beinhalteten die Besetzung Nord- und Westfrankreichs, die Atlantik- und Kanalküste geriet ganz in deutsche Hand. Das "Reich" erhielt damit einen Vorposten für die Luftverteidigung Deutschlands und eine Luftabsprungbasis für den Kampf gegen England. 15 VON 300 Weiterhin wurde eine französische Regierung unter Leitung von Marschall Philippe Pétain in der sogenannten "freien Zone im unbesetzten Frankreich" mit Sitz in Vichy eingesetzt. Frankreich mußte sich außerdem verpflichten, seine Flotte nicht an Großbritannien auszuliefern. Einen Tag später wurde die Kapitulation Frankreichs unterzeichnet. 12.07.40 Pétain wird "Chef des französischen Staates" Der seit dem 17. Juni 1940 amtierende Ministerpräsident Marschall Phillipe Pétain nimmt am 12. Juli als Staatsoberhaupt die Bezeichnung "Chef des französischen Staates" an. Die neue Regierung mit Sitz in dem Badeort Vichy wurde von den USA anerkannt und war zuständig für den unbesetzt gebliebenen, südlichen Teil Frankreichs. Empört reagierte hingegen General Charles de Gaulle, der wenige Wochen zuvor in London das "Nationalkomitee Freies Frankreich" gegründet und sich selbst zum Chef der legitimen Regierung ernannt hatte. Die neue Nationalversammlung in Vichy verabschiedete eine neue autoritäre Verfassung für den "Etat Français", mittels derer die parlamentarische Demokratie außer Kraft gesetzt wurde. Die 1870 gegründete "Dritte Französische Republik" hatte zu existieren aufgehört. Wie in den anderen besetzten Gebieten auch, wurde kurz nach dem Regierungsantritt der prodeutschen Regierung das Rechtssystem des Reiches übernommen. Am 18. Oktober trat mit dem "Judengesetz" das erste Rassengesetz Frankreichs in Kraft. 13.08.40 Luftschlacht um England "Wir werden ihre Städte ausradieren!" Hitler entfesselt den Bombenkrieg gegen Großbritannien. Die widerspenstige Insel soll "friedensreif" gebombt werden. Tausende deutscher Bomber nahmen Kurs auf die Industriezentren. Doch vor der Invasion zögerte Hitler. Görings Luftwaffe sollte den Feind in die Knie zwingen. Der Terror gegen Unschuldige, der in Warschau und Rotterdam begonnen hatte, nahm nun ungeheure Ausmaße an. Coventry wurde zum Fanal. "Unternehmen Seelöwe" beginnt Trotz der Niederlage Frankreichs zeigt sich der neue britische Premier Winston Churchill nicht bereit, mit Hitler zu einer Einigung zu kommen. Daraufhin beginnt die deutsche Führung das "Unternehmen Seelöwe", die Invasion der Britischen Inseln. Am sogenannten "Adlertag" begann die "Luftschlacht um England". Deutsche Flugzeuge griffen Ziele im Süden Englands an. In der Nacht vom 24. auf den 25. August warfen deutsche Bomber – wahrscheinlich versehentlich – Bomben über bewohntes Stadtgebiet ab. Die "Royal Air Force" antwortete auf den Terror gegen die Zivilbevölkerung am nächsten Tag und bombardierte mit 81 Maschinen die deutsche Hauptstadt: Der sogenannte "strategische Luftkrieg" hatte begonnen, das Ziel, die Demoralisierung der Zivilbevölkerung, erreichte keine der beiden Seiten. Vier Wochen später erklärte Hitler die Vernichtung der englischen Städte zum vorrangigen Ziel des Luftkrieges. Seither griff die Luftwaffe Nacht für Nacht Wohngebiete in London an. Planmäßig wurden zivile Objekte bombardiert, die Bevölkerung flüchtete sich in U-Bahnschächte, Kinder wurden evakuiert. Doch die britische Flugabwehr hielt stand: "Noch nie hatten so viele so wenigen so vieles zu verdanken", urteilte Churchill über die Verdienste der "Royal Air Force". 27.09.40 Dreimächtepakt besiegelt Mit dem Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan formieren sich die faschistischen Mächte zum Kampf gegen den Rest der Welt. Vom Charakter her ähnelt der Pakt eher einer Interessengemeinschaft als einem Kriegsbündnis: Enge Militärabsprachen sind nicht vorgesehen. 16 VON 300 Der Pakt (li. eine zeitgenössische Karikatur) sollte vor allem die USA von einem Kriegseintritt an der Seite Großbritanniens abhalten. Er kreiste aber zugleich die UdSSR ein und mußte über kurz oder lang zu einer Annäherung Stalins an die Westmächte führen. Dagegen sollten weitere Länder Europas zum Beitritt ermuntert werden. Trotz intensiver Bemühungen Hitlers lehnte Spaniens Diktator Franco den Beitritt allerdings ab. Dafür konnten im Frühjahr 1941 jedoch einige Staaten Südosteuropas zum Schulterschluß mit Hitler-Deutschland bewegt werden. Die Erwartung der japanischen Regierung, mit dem Abschluß des Pakts die USA zu einem "Desinteressement" in China veranlassen zu können, erfüllte sich nicht. Vielmehr reagierte die Regierung Roosevelt gegenüber Japan mit ersten Ausfuhrbeschränkungen. Es kam nunmehr zu einer Eskalation von Maßnahmen auf japanischer und amerikanischer Seite. 18.12.40 Hitler erläßt Weisung "Barbarossa" Seit Mai arbeiten Angehörige der Wehrmachtsführung an der Ausarbeitung eines Planes für den Krieg gegen die Sowjetunion. Jetzt, im Dezember, unterschreibt Hitler die Weisung Nr. 21. Sein Ziel: Die Vernichtung der jüdisch-bolschewistischen Bevölkerung in Osteuropa. Der Kriegsherr plant den Vernichtungskrieg. Die sogenannte Weisung "Barbarossa" sah vor, "auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen". Der ursprünglich für Mai 1941 vorgesehene Angriff wurde wegen der Einbeziehung Jugoslawiens in den Balkanfeldzug und wegen der wetterabhängigen Straßenverhältnisse im Osten schließlich auf den 22. Juni festgelegt. 06.04.41 Wehrmacht marschiert in Jugoslawien ein Von Österreich, Ungarn und Bulgarien aus rücken Truppenverbände der Wehrmacht und ihrer Verbündeten in Jugoslawien ein. Belgrad wird im Unternehmen "Strafgericht" schwer bombardiert, das durch Minderheitenprobleme belastete jugoslawische Heer überrannt. Schon am 10. April wurde in Zagreb ein "Unabhängiger Staat Kroatien" proklamiert, mit dem Chef der rechtsradikalen "Ustascha"-Bewegung, Ante Pavelic, an der Spitze. Anfang Mai wurde Jugoslawien in deutsche und italienische Besatzungszonen eingeteilt, der neue Dreibundpartner Bulgarien rückte nach Abschluß der Kämpfe in Mazedonien ein. In London bildete König Peter II. (l.) eine Exilregierung. Ministerpräsident Simovic entkam nach Ägypten, während in Belgrad die Kapitulation der jugoslawischen Armee unterzeichnet wurde. Etwa 330.000 jugoslawische Soldaten gerieten in Kriegsgefangenschaft. Am 25. März hatte der jugoslawische Ministerpräsident Dragisa Cvetkovic die Beitrittsurkunde seines Landes zum "Dreimächtepakt" unterschrieben. Doch schon zwei Tage später wurde er durch einen Staatsstreich des Generals Dusan Simovic gestürzt. Die neue Regierung lehnte den Pakt mit Hitler strikt ab. Dieser befahl nun, gleichzeitig mit dem Angriff auf Griechenland auch die Zerschlagung Jugoslawiens. Der ursprünglich für Mai vorgesehene Angriff auf die UdSSR wurde wegen der unvorhergesehenen Entwicklung verschoben. 10.05.41 Rudolf Heß fliegt nach Schottland Führerstellvertreter Rudolf Heß startet in Augsburg zu einem Flug nach Schottland. In der Nähe von Glasgow springt er mit einem Fallschirm ab, seine Maschine zerschellt auf einem Feld. Ein Bauer, der den leichtverletzten Heß fand, übergibt ihn den britischen Sicherheitskräften. Zunächst gab sich der Führerstellvertreter als Alfred Horn aus, erklärte jedoch später, er sei gekommen, um die Möglichkeiten einer Verständigung mit Großbritannien auszuloten. Ansprechpartner hätte der Herzog von Hamilton sein sollen, den Heß bei den Olympischen 17 VON 300 Spielen 1936 in Berlin kennengelernt hatte und dessen Schloß in unmittelbarer Nähe der Absprungstelle lag. Wahrscheinlich ohne Rücksprache mit Hitler wollte Heß den Briten die Anerkennung ihres Empires anbieten, wenn sie sich ihrerseits aus kontinentalen Belangen heraushielten. Als die Briten sein Angebot ablehnend beantworteten, drohte Heß mit der "Versklavung Großbritanniens". Premierminister Winston Churchill bezeichnete Heß als psychopathischen Fall. Auch Hitler erklärte am 13. Mai, Heß sei entweder "wahnsinnig" oder "von englischer Seite bewußt in eine Falle gelockt" worden. 06.06.41 "Kommissarbefehl" sanktioniert Massenmorde Nach dem Erlaß des OKW, der Straffreiheit für gesetzwidrige Vorgehen gegen Zivilisten in den besetzten Gebieten gewährte, erläßt Hermann Göring den berüchtigten "Kommissarbefehl": Wehrmachtsangehörige werden angehalten, die politischen Kommissare der Sowjetarmee "grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen". Seit Mitte Mai lief die propagandistische Vorbereitung der Wehrmacht: Die "Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland" sahen "rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden" vor. Wie zuvor in Polen folgten Himmlers Sondereinheiten des SD und der SS auch beim Überfall auf die Sowjetunion der Wehrmacht und setzten den Befehl in die Tat um. Tag für Tag wurden mehrere hundert Personen willkürlich von Wehrmachts- und SS-Angehörigen erschossen. Für Hitler ging es nun um die Ausschaltung des "jüdisch-bolschewistischen Todfeindes". Ende März 1941 hatte er die Wehrmachtführung auf den "Kampf gegen die feindliche Weltanschauung" eingestimmt. Der "jüdische Bolschewismus" solle in einem "Vernichtungskrieg ... mit barbarischer Härte ... ausgerottet" werden. 22.06.41 Vernichtungskrieg im Osten Hitler wagt den Zweifrontenkrieg. Noch vor Beendigung des Krieges gegen England will er die Sowjetunion in einem schnellen Feldzug niederwerfen. Über drei Millionen Mann treten zum Angriff auf die überraschten Sowjets an. In einem Vernichtungskrieg sollte der "jüdisch-bolschewistische" Todfeind ausgerottet und neuer "Lebensraum" im Osten erobert werden. Nach schnellen spektakulären Erfolgen kam der deutsche Vormarsch bei Wintereinbruch vor Moskau zum Stehen. Die Kriegswende kündigte sich an... Die Wehrmacht überfällt die Sowjetunion Gemeinsam mit Stalin hatte Hitler Polen zerschlagen, Moskau hielt sich seither an die Verträge. Fassungslos erfahren Bevölkerung und Militärs von Hitlers Schlag: Ohne Vorankündigung inszeniert er den größten Truppenaufmarsch aller Zeiten. Mit dem Unternehmen "Barbarossa" begann der Krieg gegen Hitlers wahren Feind: die Bolschewisten und die Juden. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion sollten Hitlers Wahnideen von der Eroberung neuen "Lebensraums" im Osten in die Tat umgesetzt werden. Ein nicht gekannter Vernichtungskrieg fand seinen Anfang. Drei Millionen Soldaten überschritten in den frühen Morgenstunden die Ostgrenze des Reiches. Die Rote Armee wurde von dem Überfall völlig überrascht, erst nach einigen Wochen konnte die Mobilisierung und Heranführung der Reserven organisiert werden. Stalin rief das Volk zum Widerstand gegen die deutschen Eindringlinge auf und verkündete den "Großen Vaterländischen Krieg". Der Krieg im Osten war von Hitler als "Vernichtungskrieg" geplant. Mit unvorstellbarer Brutalität gingen die Deutschen gegen sowjetische Truppen und die Zivilbevölkerung vor. Besonders jene vier SS-Einheiten, die hinter der Armee in die eroberten Gebiete 18 VON 300 nachrückten, erfüllten die Weisungen Hitlers zur "Vernichtung" von Kommunisten, Juden und anderen "radikalen Elementen" mit grausamer Präzision. 31.07.41 Heydrich organisiert die "Endlösung" Der Völkermord an den Juden bekommt einen Namen und ein Gesicht: Feldmarschall Hermann Göring beauftragt Reinhard Heydrich mit der Durchführung der "Endlösung der Judenfrage". Tatsächlich hatten die Deutschen bereits seit dem Einmarsch in Polen mit der "Vernichtung" der Juden begonnen. Die hohe Zahl der "zu liquidierenden Personen" erforderte jedoch effektivere Methoden, zumal die bisherige Praxis der Massenerschießungen – wie es in der Anweisung an Heydrich hieß - "... eine zu große Belastung für die SS-Männer darstellten, die dies durchführen mußten ...". Heydrich galt als besonders rücksichtslos und ging seinen Auftrag, "... alle erforderlichen Vorbereitungen zur Gesamtlösung der Judenfrage...", unverzüglich an. Schon nach der Reichspogromnacht 1938 war er mit der Lösung des Judenproblems befaßt worden. Nun sollten Juden in die Lager in den besetzten Ostgebieten deportiert werden, wo seit September 1941 sogenannte "Probevergasungen" vorgenommen wurden. Wenig später begannen die planmäßigen "Massenvernichtungen" in den Gaskammern von Auschwitz, Treblinka, Majdanek und anderen KZs, während 1942 gemäß den Beschlüssen der Wannseekonferenz die Deportationen der Juden europaweit enorm anstiegen. 14.08.41 Verkündung der Atlantikcharta Noch vor Kriegseintritt der USA verkünden US-Präsident Franklin Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill nach einem Treffen auf den Kriegsschiffen "Augusta" und "Prince of Wales" im Nordatlantik vor Neufundland die "Atlantikcharta". Den nationalsozialistischen Zielen eines von Deutschland beherrschten Großraumes, in dem die unterdrückten Völker ohne Anerkennung der Menschenrechte zu Sklaven herabgewürdigt werden sollten, stellten die beiden Staatsmänner die Vision der "Einen Welt" gegenüber. In einer Acht-Punkte-Erklärung wurden die an den "Vier Freiheiten" orientierten Kriegsziele der Alliierten zusammengefaßt: Unter anderem sollten territoriale Veränderungen ohne Zustimmung der Betroffenen nicht anerkannt werden. Jedes Volk könne die Regierungsform wählen, unter der es leben wolle. Freier Handel und freier Zugang zu den Rohstoffen solle das Wirtschaftsleben bestimmen. Innerhalb ihrer Grenzen sollten alle Menschen in Frieden und Sicherheit, frei von Furcht und wirtschaftlicher Not leben können. 07.12.41 Japanischer Angriff auf Pearl Harbor Ein friedlicher Sonntag Nachmittag im amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii. In die vorweihnachtliche Stimmung mischt sich plötzlich das Brummen eines Bomber-Geschwaders. Dann bricht die Hölle los. Der Krieg im Pazifik wurde mit einem Überraschungsschlag japanischer Trägerflugzeuge gegen den Hauptstützpunkt der amerikanischen Pazifikflotte eröffnet. Von sechs japanischen Flugzeugträgern waren die Kampfflugzeuge aufgestiegen, um die amerikanische Flotte anzugreifen. Fünf amerikanische Schlachtschiffe wurden versenkt, drei weitere schwer beschädigt. Die amerikanischen Flugzeugträger befanden sich zufällig nicht im Hafen. Die Regierung in Washington rechnete mit einem Angriffsschlag der Japaner, nachdem die Verhandlungen an einem toten Punkt angelangt waren; sie erwartete jedoch nur Landungen auf den Philippinen und in Malaysia, die auch am gleichen Tag noch erfolgten. Mit einem Angriff auf amerikanisches Terrain hatten sie nicht gerechnet. Der japanische Angriff beendete die bis dahin eher zugunsten der "Isolationisten" verlaufene öffentliche Diskussion in den USA über eine Beteiligung am europäischen Krieg 19 VON 300 schlagartig: zwei Tage später befanden sich die Vereinigten Staaten im Kriegszustand mit den "Achsenmächten". 08.12.41 Pearl Harbor Ein Überraschungsangriff auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor zwingt die USA in den Krieg mit Japan. Vier Tage später läßt Hitler seine Kriegserklärung folgen. Große Teile der Flotte waren versenkt, Roosevelt zögerte nicht mehr: Der Kriegserklärung folgten Generalmobilmachung und die Umstellung der gesamten Wirtschaft auf Krieg. Schlagartig befand sich die USA in einem Zweifrontenkrieg. Der Präsident gab die Losung aus: "Germany first" und behielt sie trotz großer Verluste im Pazifik bei. 11.12.41 Deutschland und Italien erklären USA den Krieg Drei Tage nach dem japanischen Überfall auf Pearl Habour und den Kriegserklärungen Japans und der USA erklären Hitler und Mussolini den Vereinigten Staaten den Krieg. Zwar waren das Deutsche Reich und Italien durch den im Oktober 1940 mit Japan abgeschlossenen "Dreimächtepakt" nicht zu diesem Schritt verpflichtet, doch Hitler wollte die Gelegenheit nutzen, die USA von Beginn an in einen Zweifrontenkrieg verwickeln. Die militärischen Fähigkeiten des japanischen Bundesgenossen schätzte Hitler allerdings recht gering ein und glaubte nicht, daß das Land längere Zeit im Krieg gegen die USA standhalten könne. Die US-Amerikaner sollten von Anfang an zu einem Krieg auf zwei Ozeanen, Pazifik und Atlantik, gezwungen werden, und die Kräfte des neuen Gegners auf diese Weise zersplittert werden. Für US-Präsident Franklin D. Roosevelt galt aber nach wie vor die Devise "Deutschland zuerst", so daß die amerikanischen Streitkräfte im Pazifik vorerst nur hinhaltenden Widerstand leisteten. 01.01.42 Washington-Pakt gegen Separatfrieden Im Washington-Pakt erklären 26 im Kampf mit den "Achsenmächten" befindliche Staaten, keinen Sonderwaffenstillstand abzuschließen. Die Erklärung bildet den Abschluß der am 22. Dezember in Washington zusammengetretenen Arcadia-Konferenz zwischen USPräsident Roosevelt und dem britischen Premier Churchill. Der japanische Angriff auf Pearl Harbor im Dezember hatte die Amerikaner endgültig in den Krieg hineingezogen, nun sollte zur Durchsetzung der Ziele der "Atlantikcharta" (li. Roosevelt und Churchill vor der Unterzeichnung) eine entsprechende Strategie gefunden werden. Roosevelt und Churchill betonten, an der schon im März festgelegten Strategie "Germany first" – die Deutschland als primäres Ziel der gemeinsamen Anstrengungen definierte – festzuhalten. Die Vertreter der 26 Staaten, unter ihnen auch die UdSSR und China, erklärten, als "Vereinte Nationen" zu den Prinzipien der "Atlantikcharta" zu stehen und verpflichteten sich, keinen Separatfrieden zu schließen und alle militärischen und wirtschaftlichen Mittel gegen den "Dreimächtepakt" Adolf Hitlers, Benito Mussolinis und Kaiser Hirohitos einzusetzen. Mit dieser Erklärung wurde ein Grundstein für das Entstehen der UNO gelegt. 20.01.42 Holocaust Im gediegenen Ambiente einer Villa am Berliner Wannsee planen Nazibürokraten unter Reinhard Heydrich die Durchführung des schlimmsten Verbrechens der Hitler-Diktatur: die Ausrottung der jüdischen Rasse in Europa. Millionen hilfloser Menschen - Männer, Frauen, Kinder - sollten in den nächsten Jahren in den Konzentrationslagern unsägliche Qualen erleiden: Sechs Millionen Juden werden in den Vernichtungsfabriken "vergast" oder von den Erschießungskommandos der Nazis kaltblütig ermordet. 20 VON 300 Wannseekonferenz beschließt die "Endlösung" Am Berliner Wannsee beraten unter der Führung des Chefs des RSHA, Reinhard Heydrich, 13 Ministerialbeamte und führende SS-Leute über die Umsetzung der im Vorjahr beschlossen "Endlösung" der Judenfrage. Detailliert hielt Adolf Eichmann in seinem Sitzungsprotokoll fest, wie die "Evakuierung aller Juden nach dem Osten" organisiert werden sollte: Zwangsarbeit, Mißhandlungen, Evakuierung in "Durchgangsghettos" und "natürliche Verminderung". Nach Einschätzung Heydrichs waren von den "Maßnahmen" etwa 11 Millionen Menschen in Europa betroffen. Im Kern ging es um die Einbindung der Ministerien und der Sicherheitspolizei und um die Koordinierung der verschiedenen "Zentralinstanzen", vor allem in den besetzten Ostgebieten. Im Protokoll wurden "Erschießungen" oder "Vergasungen" zwar nicht ausdrücklich erwähnt, doch jeder Anwesende wußte, daß hier das Todesurteil für Millionen verhängt wurde. Die administrative und technische Organisation der als "Endlösung" bezeichneten Massenvernichtung wurde jetzt perfektioniert. Unter der Leitung Eichmanns wurden die Todesfabriken auf- und ausgebaut, beim Verkehrsministerium Züge für die Deportationen angefordert und Transportrouten festgelegt. 14.01.43 Alliierte Geheimtreffen Roosevelt begnügt sich nicht mit dem absehbaren Sieg über Deutschland: Er will die bedingungslose Kapitulation. In Casablanca einigte er sich mit Churchill auf die Grundsätze zur systematischen Bombardierung Deutschlands: Nach der nachhaltigen Schwächung und Demoralisierung des Reiches wollten Amerikaner und Briten dort selbst die Regierungsgewalt übernehmen. Auf weiteren Konferenzen sollten die Pläne konkretisiert werden. 02.02.43 El Alamein und Stalingrad Wendepunkte des Krieges. Den Sieg der Briten in Afrika können die Deutschen noch verkraften, die Niederlage in Rußland aber wird zum Menetekel der deutschen Katastrophe. Nach der Meldung über die Einkesselung der sechsten Armee hatte Hitler General Paulus die Kapitulation verboten, verhindern konnte er sie dadurch allerdings nicht. Mehr als 200.000 Soldaten waren gefallen oder gingen in Gefangenschaft. Hitlers Antwort: der Aufruf zum "totalen Krieg" durch Propagandaminister Goebbels. 18.02.43 Totaler Krieg Auf die Niederlage von Stalingrad reagiert die Nazi-Regierung mit blinder Zerstörung. Der Krieg kann nicht mehr gewonnen werden, Hitler und Goebbels weihen ihr Volk dem Untergang. "Totaler als ihr ihn euch heute nur vorstellen könnt" sollte nach Goebbels’ Worten der Krieg werden, der auf Stalingrad folgte. Und seine Zuhörer nahmen ihn an. Was dies bedeutete, zeigten die folgenden Monate. Am Ende des Krieges warf Hitler Frauen, Greise und Kinder in die Schlacht. 26.03.42 Die Todesfabrik Auschwitz In Auschwitz sterben bis zum Oktober 1944 etwa drei bis vier Millionen Menschen, in der Mehrzahl Juden, aber auch für die verfolgten Sinti und Roma, für politische Gegner und andere bedeutet Auschwitz Folter und Tod. Kurz nach Anlaufen der Aktion Reinhard begann am 26. März 1942 mit der Ankunft der ersten Deportationszüge aus der Slowakei in Auschwitz das in Umfang und Ausführung 21 VON 300 wohl furchtbarste Kapitel in der Geschichte des Holocaust. Nach den "Probevergasungen" von Juden in den KZ im September 1941 und dem Beginn der Massenvergasungen in Chelmno wurde im Mai 1942 im Außenlager Auschwitz-Birkenau mit der ersten datierbaren Ermordung von 1.500 jüdischen Männern, Frauen und Kindern auch hier der organisierte Massenmord aufgenommen. Neben den streng durchorganisierten "Vergasungen" – Lagerhäftlinge mußten unter Stockund Knüppelschlägen wie im Akkord die Toten aus den Gaskammern zu den Massengräbern schaffen – wurden weiterhin Massenerschießungen vor den sich stetig füllenden Gräbern vorgenommen: Die Kapazitäten der Gaskammern waren bereits zu Beginn der Aktion für die Anzahl der "zu vergasenden" Juden zu gering. Um die Krankenabteilungen des KZ frei zu bekommen, erhielten die Patienten von den Lagerärzten Phenolinjektionen direkt ins Herz. 08.04.42 Alliierte planen "Zweite Front" Der britische Premier Churchill traf in London mit zwei Vertrauten des US-Präsidenten Roosevelt zusammen: Harry Hopkins und George Marshall (li.). Bei den Gesprächen ging es um die Eröffnung einer "zweiten Front" im Westen. Diese Entlastung forderte Stalin seit langem. Zwar war der Vormarsch der Deutschen im Osten im Winter zum Stillstand gekommen, die sowjetische Frühjahrsoffensive hatte aber keinen durchschlagenden Erfolg gehabt. Deshalb herrschte auch im anglo-amerikanischen Lager eine gewisse Sorge, der russische Widerstand könne erneut zusammenbrechen. Roosevelt hatte Churchill bereits am 2. April angekündigt, daß ihm die beiden Gesandten den Plan zur Eröffnung einer zweite Front im Westen vorlegen würden. Vorgesehen war die Invasion Frankreichs über die Route Calais – Le Havre. An der "Round-up" benannten Operation sollten 30 amerikanische und 18 britische Divisionen, sowie 5.800 Flugzeuge teilnehmen. Vorangehen sollte ihr die Aktion "Sledgehammer" zur Eroberung einer französischen Halbinsel. Churchill lobte zwar den Plan insgesamt, machte jedoch wegen vieler Details den beiden Unterhändlern gegenüber nur eine äußerst vage Zusage. 06.06.44 Landung in der Normandie Der Sturm auf Hitlers "Festung Europa" beginnt. In der Normandie landen alliierte Truppen. Victory-E-Day rückt in greifbare Nähe. Stalin hatte vehement auf die Errichtung dieser zweiten Front im Westen gedrängt, nachdem schon Mitte 1943 die Befreiung Italiens angelaufen war. Nun aber näherten sich die Alliierten nach der Befreiung von Paris mit geballter Macht den Grenzen des Reiches. 30.05.42 Beginn des alliierten Bombenkrieges Die Briten verstärken ihre Luftangriffe auf Deutschland: Der Krieg gegen die britische Bevölkerung, den Hitler befahl, schlägt nun auf die Deutschen zurück. Mit dem ersten "1.000-Bomber-Angriff" der "Royal Air Force" auf Köln beginnt der strategische Luftkrieg. Luftmarschall Arthur Harris hatte für kurze Zeit alle in England verfügbaren schweren Bomber zusammengefaßt, die innerhalb von 90 Minuten nahezu 1.500 Tonnen Bomben, in der Mehrzahl Brandbomben, abwarfen. In der stundenlang wütenden Feuersbrunst fanden 474 Einwohner der Stadt den Tod. Auch Essen und Bremen wurden in den ersten Tagen bombardiert. Britische Luftangriffe wurden von nun an regelmäßig geflogen. Mit immer stärkeren Kräften und bevorzugt nachts flog die RAF nach Deutschland ein und bombardierte wichtige Industriestädte; 1.000 Angriffe zählte man 1942, darunter 17 schwere. Diese Entwicklung setzte sich such im folgenden Jahr fort, als insgesamt 135.000 Tonnen Bomben auf Deutschland niedergingen. Rüstungszentren wie Duisburg, Düsseldorf oder Nürnberg 22 VON 300 wurden ebenso schwer getroffen wie Talsperren und die Raketenabschußbasen in Peenemünde. 01.06.42 Deportationen aus Frankreich und der Schweiz Im dritten Kriegsjahr haben die Nationalsozialisten die Errichtung der Vernichtungslager in den östlichen Gebieten so gut wie abgeschlossen. Die Deportation und "Vernichtung" der Juden aus Deutschland und den besetzten Ländern beginnt nun in vollem Umfang. Die Umsetzung der "Endlösung" wurde mit unvorstellbarer Gründlichkeit in Angriff genommen. Im Juni 1942 begannen die Deportationen aus Frankreich. Allein am 16. Juli wurden über 12.800 Juden in Paris verhaftet. Vor ihrer Deportation nach Auschwitz mußten sie mehrere Tage in qualvoller Enge in einem Stadion zusammengepfercht ausharren. Auch in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg begannen die Deportationen, bis Ende Juli zählte die nationalsozialistische Statistik 6.000 getötete holländische Juden. Unrühmlich reihte sich auch die neutrale Schweiz am 13. August in die Chronologie des Schreckens ein, als sie begann, jüdische Flüchtlinge zurückzuweisen und so ihrem Henker zu überlassen. Erst im Juli 1944 wurden Juden – wie es im Bürokratenjargon hieß – als "allgemein gefährdet" eingestuft. 04.06.42 See-Luft-Schlacht um die Midway-Inseln Die See-Luft-Schlacht um die Midway-Inseln bedeutet eine erste Wende im pazifischen Krieg. Sie dauert insgesamt drei Tage und endet mit einer schweren Niederlage der japanischen Flotte unter Admiral Nagumo. Im Verlauf der Kämpfe wurden vier der stärksten und modernsten japanischen Flugzeugträger von US-Trägerflugzeugen versenkt. Die Japaner zerstörten den amerikanischen Träger "Yorktown". Als Folge der Niederlage bei Midway mußten die Japaner ihre Landungsabsicht auf den Aleuten aufgeben. Auch die Eroberung Neuguineas, Voraussetzung für eine Landung in Australien, konnte von den Japanern mit den verbliebenen Kräften nicht zum Abschluß gebracht werden. Mit der Schlacht war der Wendepunkt im Pazifikkrieg erreicht, die japanische Flotte hatte ihre Offensivfähigkeit verloren. Das Blatt wendete sich nun zugunsten der Alliierten, deren Materialüberlegenheit immer deutlicher wurde und die mit ihrer Gegenoffensive im Pazifik, dem "Inselspringen", begannen. 12.08.42 Alliierte konferieren in Moskau Am 12. August empfängt der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow den britischen Premierminister Winston Churchill und den amerikanischen Botschafter in Moskau, Averell Harriman zu gemeinsamen Beratungen in Moskau. In sechstägigen Verhandlungen, an denen auch Josef Stalin teilnahm, präsentierten sie der Weltöffentlichkeit eine Abschlußerklärung, in der sie den Willen ihrer Regierungen bekundeten, "... diesen gerechten Befreiungskrieg mit aller Kraft und Energie ..." und bis zur "... vollständigen Vernichtung des Nationalsozialismus' ..." zu führen. Das Kommuniqué war sehr floskelhaft formuliert und enthielt wenig konkrete Vorschläge über ein etwaiges gemeinsames Vorgehen. Während der Konferenz war allerdings doch wesentlich deutlicher verhandelt worden. Vor dem Hintergrund der jüngsten deutschen Erfolge an der Ostfront und in Afrika hatten Briten und Amerikaner den sowjetischen Diktator in ihre Pläne einer alliierten Landung in Nordafrika eingeweiht. Bei weiteren Verhandlungen im Oktober 1943 wurden weitreichende Beschlüsse bezüglich einer Zusammenarbeit gefaßt. 23.10.42 23 VON 300 Die Schlacht von El Alamein Wende auf dem Kriegsschauplatz Nordafrika. Vor El Alamein in Ägypten endet der Vormarsch des deutschen Afrikakorps. Am 23. Oktober 1942 ging der neue Oberbefehlshaber der britischen Afrikaarmee, Feldmarschall Bernard Montgomery, zum Gegenangriff über. Er hatte im August seinen unglücklich agierenden Vorgänger, General Claude Auchinleck, abgelöst. Seit Juli versuchten die deutschen und italienischen Angreifer, einen Durchbruch an der Front bei El Alamein zu erzielen, die eigenen Nachschublinien durch die Cyrenaika waren aber zu lang. Die Briten erhielten dagegen ständig Verstärkung aus den ägyptischen Häfen. Am 6. September gab Generalfeldmarschall Erwin Rommel seine Angriffe auf. Die Westalliierten hatten die erste große Verteidigungsschlacht in diesem Krieg gewonnen. Gut versorgt mit amerikanischem Material und mit beträchtlicher Überlegenheit an Geschützen, Panzern und Flugzeugen eroberten die Briten die Stellungen der "Achsenmächte". Obwohl Hitler die Parole "Sieg oder Tod" ausgegeben hatte, mußte Rommel den Rückzug befehlen, um wenigstens einen Teil seiner Soldaten vor der Vernichtung zu bewahren. Im November landeten alliierte Truppen im Rücken der deutschen Front in Marokko und Algerien. Das deutsche Afrikakorps war nun in einen Zweifrontenkrieg verwickelt. Am 23. Januar 1943 räumten die deutschen Truppen die libysche Hauptstadt Tripolis und zogen sich bis an die tunesische Grenze zurück. 11.11.42 Deutsche marschieren in Südfrankreich ein Als Reaktion auf die Landung der Alliierten in Nordafrika besetzt die Wehrmacht nun auch den südlichen Teil Frankreichs. Dieser war im Juni 1940 nicht okkupiert worden, sondern der sogenannten Vichy-Regierung von Marschall Philippe Pétain unterstellt worden. Der mittlerweile 86jährige stand seither vor der fast unmöglichen Aufgabe, durch die Errichtung eines deutschhörigen Regimes die Interessen der Deutschen erfüllen, gleichzeitig jedoch Rücksicht auf die durch die Besetzung gedemütigte französische Volksseele nehmen zu müssen. In den Morgenstunden überschritt die Wehrmacht die Demarkationslinie, während gleichzeitig die Truppen Mussolinis die italienisch-französische Grenze bei Ventimiglia überschritten. Auch Korsika wurde von Italienern besetzt. Unbesetzt blieb neben Vichy nur der südfranzösische Kriegshafen Toulon. Die dort liegende Flotte versenkte sich am 27. November aus Angst vor einer Übernahme durch die Deutschen selbst. In vielen Städten in Südfrankreich kam es während der nächsten Monate zu Razzien und Massenverhaftungen. Die Alliierten hatten die in Nordafrika stehenden Vichy-Truppen förmlich überrannt. Am 10. November hatte Pétain heimlich dem Waffenstillstand mit den Alliierten zugestimmt. Um die Deutschen zu beruhigen enthob er wenig später den dortigen Oberbefehlshaber, François Darlan, seines Amtes. Verärgert über die Taktik Pétains und seines Ministerpräsidenten Laval, den Hitler in München zum gemeinsamen Vorgehen gegen Großbritannien überreden wollte, befahl der "Führer" den Einmarsch in Südfrankreich. 14.01.43 Alliierte Geheimtreffen Roosevelt begnügt sich nicht mit dem absehbaren Sieg über Deutschland: Er will die bedingungslose Kapitulation. In Casablanca einigte er sich mit Churchill auf die Grundsätze zur systematischen Bombardierung Deutschlands: Nach der nachhaltigen Schwächung und Demoralisierung des Reiches wollten Amerikaner und Briten dort selbst die Regierungsgewalt übernehmen. Auf weiteren Konferenzen sollten die Pläne konkretisiert werden. 14.01.43 Bedingungslose Kapitulation gefordert 24 VON 300 In der marokkanischen Hafenstadt Casablanca beraten der britische Premierminister Churchill und US-Präsident Roosevelt über die weitere Strategie der Alliierten. Wichtigstes Ergebnis der Konferenz war die Forderung nach der "bedingungslosen Kapitulation" der Achsenmächte. Anders als im Ersten Weltkrieg wollten die Siegermächte die Unterlegenen zur Anerkennung der Niederlage zwingen und das weitere Schicksal dieser Staaten selbst in die Hand nehmen, ohne sich schon während des Krieges auf Friedensregelungen festzulegen. Neben dieser politischen Entscheidung beschloß die Konferenz die Weiterführung des Krieges im Mittelmeerraum. Außerdem sollte die deutsche U-Boot-Gefahr bekämpft und der Bombenkrieg gegen Deutschland intensiviert werden: Britische Nachtangriffe sollten künftig durch Bombardements der Amerikaner bei Tage auf Schlüsselziele der Rüstungsindustrie ergänzt werden. Entsprechend der Einstellung des Chefs der Royal Air Force, Arthur Harris (li.), wurde der folgende Entschluß formuliert: "Vordringliches Ziel ist die fortschreitende Zerstörung und Desorganisation des deutschen militärischen, industriellen und wirtschaftlichen Systems sowie die Untergrabung der Moral des deutschen Volkes bis zu einem Grade, daß seine Fähigkeit zum bewaffneten Widerstand entscheidend geschwächt ist". 27.01.43 USA beginnen Tagesangriffe auf deutsche Städte Die amerikanische Luftwaffe begann Ende Januar 1943 von ihren Stützpunkten in Großbritannien aus, Tagesangriffe auf deutsche Städte zu fliegen. Erstes Ziel war Wilhelmshaven. Drei Tage später folgte dann der erste Tagesangriff auf Berlin. Da die Ostfront einen großen Teil der deutschen Luftwaffe band, hatte sich bereits seit 1942 eine englische Luftüberlegenheit im Westen herausgebildet. Im März 1942 hatte die britische Luftoffensive gegen Fabrikstädte und U-Boot-Basen in Deutschland begonnen. Am 30. Juni 1943 setzte die sogenannte "Combined Bomber Offensive" ein. Dies bedeutete, daß die US-Flugzeuge am Tage ausgesuchte Ziele präzise zu zerstören trachteten, während die britische "Royal Air Force" in der Nacht Flächenbombardements über den Städten niedergehen ließ. Diese Taktik ging auf einen Beschluß der Konferenz von Casablanca zurück: Um die Achsenmächte zur bedingungslosen Kapitulation zu bringen, sollten die Luftangriffe intensiviert und vor allem Tagesangriffe geflogen werden. 02.02.43 Militärs verüben Attentate auf Hitler Nach der Schlacht von Stalingrad fällt die Stimmung in der Wehrmacht noch tiefer als im Vorwinter. Die Erkenntnis, daß der Krieg verloren ist, wächst. Unabhängig voneinander planen mehrere Offizierscliquen Attentate auf Hitler. Die Pläne scheiterten jedoch alle in der Durchführung. Auf dem Rückflug von einem Truppenbesuch an der Ostfront gelang es am 13. März zwei Offizieren, eine Bombe ins Flugzeug Hitlers zu schmuggeln, die aber nicht detonierte. Eine Woche später mißlang ein Selbstmordattentat eines Wehrmachtsoffiziers. Auf sowjetische Initiative konstituierte sich unter den in Stalingrad Gefangengenommenen im Juli 1943 ein "Nationalkomitee Freies Deutschland", in dem auch Generalfeldmarschall Friedrich Paulus aktiv war. Das Komitee versuchte offen und durch Geheimpropaganda, den Widerstand des deutschen Ostheeres zu brechen. Für den Widerstand innerhalb der Armee bedeutete die auf der Konferenz von Casablanca von Roosevelt erhobene Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands das Ende der Hoffnung, daß ein ohne Hitler abgeschlossener Waffenstillstand doch noch zu Kompromissen bezüglich der Bedingungen führen könne. 02.02.43 25 VON 300 Die sechste Armee gibt auf Stalingrad, Februar 1943: Erschöpft nach monatelanger Belagerung kapitulieren die letzten Wehrmachtsteile. Von den rund 250.000 Soldaten im Kessel sind 34.000 ausgeflogen worden und 91.000 in Gefangenschaft geraten. Nur 6.000 überleben die Hölle. Die übrigen bezahlen den Kampf um die Stadt mit ihrem Leben. Stalingrad wird zum Fanal: Der Krieg im Osten ist verloren. Die 6. Armee unter General Paulus war von der Roten Arme in erbitterten Häuserkämpfen in zwei Teile gespalten worden. Seit Wochen waren die entkräfteten Soldaten von jeder Versorgung abgeschnitten. Erschöpfung, Unterernährung und Mangel an Munition ließen ihren Widerstand zusammenbrechen. Am 31. Januar legten die Deutschen die Waffen nieder. Paulus selbst gehörte wenige Monate später zu den Gründungsmitgliedern der Widerstandsgruppe "Freies Deutschland". Im Reich begann nun die Mobilisierung der letzten Reserven. Hitler reagierte auf die Niederlage und ordnete wutentbrannt die Zerstörung der industriellen Infrastruktur des Landes auf dem Rückzug an. Am 18. Februar forderte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in der "Sportpalastrede" den "totalen Krieg". El Alamein und Stalingrad El Alamein und Stalingrad: Wendepunkte des Krieges. Den Sieg der Briten in Afrika können die Deutschen noch verkraften, die Niederlage in Rußland aber wird zum Menetekel der deutschen Katastrophe. Nach der Meldung über die Einkesselung der sechsten Armee hatte Hitler General Paulus die Kapitulation verboten, verhindern konnte er sie dadurch allerdings nicht. Mehr als 200.000 Soldaten waren gefallen oder gingen in Gefangenschaft. Hitlers Antwort: der Aufruf zum "totalen Krieg" durch Propagandaminister Goebbels. 18.02.43 Totaler Krieg Auf die Niederlage von Stalingrad reagiert die Nazi-Regierung mit blinder Zerstörung. Der Krieg kann nicht mehr gewonnen werden, Hitler und Goebbels weihen ihr Volk dem Untergang. "Totaler als ihr ihn euch heute nur vorstellen könnt" sollte nach Goebbels’ Worten der Krieg werden, der auf Stalingrad folgte. Und seine Zuhörer nahmen ihn an. Was dies bedeutete, zeigten die folgenden Monate. Am Ende des Krieges warf Hitler Frauen, Greise und Kinder in die Schlacht. Goebbels ruft zum totalen Krieg auf Die Niederlage der 6. Armee bei Stalingrad versetzt die Deutschen in Schock. Propagandaminister Goebbels versucht in einer mitreißenden Rede, die Bevölkerung neu zu motivieren. Auch die anhaltenden Bombenangriffe der Briten hatten die Stimmung in der Bevölkerung auf den Nullpunkt sinken lassen. Goebbels wollte aller Welt die bedingungslose Bereitschaft des deutschen Volkes zum totalen Kriegseinsatz demonstrieren. Am 18. Februar 1943 hielt er bei einer Kundgebung in Berlin die Rede, die als Beispiel für Massendemagogie in die Geschichte einging. Fanatisch stimmte er die hysterische Menge auf noch härteren Einsatz ein, die in der Frage "Wollt ihr den totalen Krieg?" gipfelte. Die Zuhörer antworteten mit tausendfachem "Ja". Die Nazis hatten nun ihre Legitimation für eine Austragung des Krieges bis zum bitteren Ende, bis zur Vernichtung Deutschland durch die nun in Schwung gekommene Gegenoffensive der Alliierten. 19.04.43 Aufstand im Warschauer Ghetto 26 VON 300 Im April 1943 komm es im Warschauer Ghetto zum bewaffneten Aufstand. Als Wehrmachtsbataillone versuchen, die letzten etwa 65.000 von ehemals 500.000 Bewohnern des Ghettos für den Transport ins Konzentrationslager Treblinka zusammenzutreiben, leisten die Juden heftigen Widerstand. Die Deutschen zogen sich zunächst zurück, kehrten jedoch wenig später wieder und nahmen das Ghetto unter Feuer. Erst nach Wochen wurde der Widerstand gebrochen, das Ghetto gänzlich niedergebrannt, alle Bewohner ermordet. Am 16. Mai meldete der zuständige Kommandant Jürgen Stroop: "Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschaus besteht nicht mehr ... Gesamtzahl der erfaßten und nachweislich vernichteten Juden beträgt insgesamt 56.065." Er wurde für seine "Leistungen" mit dem "Eisernen Kreuz Erster Klasse" ausgezeichnet. Der Aufstand, der von Anfang an keine wirkliche Aussicht auf Erfolg hatte, zeigte, daß viele Juden nicht länger bereit waren, sich wehrlos in den sicheren Tod schicken zu lassen. Wenige Wochen nach dem Aufstand befahl der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, die Auflösung aller polnischen Ghettos. 12.05.43 Alliierte beraten Landung in Italien Am 12. Mai trifft US-Präsident Roosevelt mit dem britischen Premierminister Winston Churchill zur sogenannten "Trident"-Konferenz in Washington zusammen. Die Besprechungen dauerten bis zum 25. Mai. Meinungsverschiedenheiten gab es hinsichtlich des weiteren Vorgehens in Europa: Die USA drängten auf die baldige Invasion in Frankreich, Großbritannien wollte diese verschieben und sich auf das Mittelmeer konzentrieren. Churchill gab während der Gespräche dem amerikanischen Druck nach und stimmte dem 1. Mai 1944 als Zeitpunkt für die alliierte Landung in Frankreich zu. Dieser Termin wurde später gemeinsam mit Stalin in Teheran endgültig bestätigt. Ferner bestand Churchill darauf, daß das nächste Ziel der Allianz die Landung in Italien und die Kapitulation Mussolinis sein müsse. Unter der Vermittlung General Eisenhowers (li.) fanden die beiden schließlich einen Kompromiß: Umfang und Zeitplan der Operationen im Mittelmeer sollten vom Ausgang des Kampfes auf Sizilien abhängig gemacht werden. Sei der Widerstand dort nur schwach, könne sofort auf das Festland übergesetzt werden, nur bei erbitterter Gegenwehr sollte die Operation eingeschränkt oder verschoben werden, um keine Kräfte von dem geplanten Landungsunternehmen in der Normandie abziehen zu müssen. 30.06.43 Amerikaner eröffnen Offensive im Pazifik Im Südpazifik starten die Alliierten eine Großoffensive gegen die japanischen Streitkräfte und erobern Insel für Insel verlorengegangenes Terrain zurück. Zunächst landeten amerikanische Marineinfanteristen mit sechs Transportern auf der Salomonen-Inselgruppe Neugeorgia. Trotz der Unterstützung durch acht Zerstörer auf See kamen die US-Truppen nur langsam voran. Den zähen Widerstand der japanischen Verteidiger konnten sie erst nach tagelangen, verlustreichen Kämpfen brechen. Die Landung auf Neugeorgia bedeutete den Beginn des sogenannten "Inselspringens". Zweites Ziel war eine weitere Salomonen-Inselgruppe. Nur wenige Tage später ließ General MacArthur die Operation "Cartwheel" anlaufen, eine Reihe amphibischer Unternehmen, durch die Rabaul zurückerobert werden sollte. Zum Schauplatz der ersten dieser Landeoperationen hatte er die Insel Rendova bestimmt. Am 6. Juli 1943 begannen amerikanische Flugzeuge mit dem Bombardement der japanischen Flugplätze auf Bougainville. Amerikanische Truppen landeten schließlich am 4. September 1943 im Ostteil Neuguineas. Damit begannen monatelange erbitterte Kämpfe mit den dort stationierten 50.000 japanischen Soldaten. Der japanische Generalstab sah sich am 30. September 1943 gezwungen, die Hauptverteidigungslinie auf die Marianen und die Westkarolinen zurückzuverlegen. 27 VON 300 05.07.43 Die letzte Offensive an der Ostfront Anfang Juli beginnt bei Kursk die Operation "Zitadelle", die größte Panzerschlacht des Krieges. Ziel der Wehrmacht war es, wieder die Initiative zu übernehmen und die sowjetischen Kräfte im Frontbogen von Kursk einzuschließen. Alle Reserven waren mobilisiert worden. Die beiden Heeresgruppen von Kluge und Manstein sollten die Zangenbewegungen durchführen und waren extra für das Unternehmen mit neuen Panzertypen ausgerüstet worden. Diese Verzögerungen gab der Roten Armee allerdings Zeit, sich vorzubereiten. Die Verteidiger des Frontbogens von Kursk, Marschall Rokossowskij und Marschall Watutin, konnten über 1,3 Millionen Soldaten zusammenziehen. In den Morgenstunden begann die gigantische Materialschlacht. Insgesamt etwa 6.000 Panzer und über 4.500 Flugzeuge standen sich gegenüber. Schnell wurde deutlich, daß die Deutschen unterlegen waren, schon nach wenigen Kilometern konnten die Panzer in den tief gestaffelten Stellungen der Verteidiger unter enormen Verlusten gestoppt werden. Insgesamt drang die Wehrmacht im Norden nur 10, im Süden 18 Kilometer vor. Am 12. Juli wurde das Scheitern der Offensive offensichtlich, zumal die Luftwaffe dringend zusätzlich benötigte Flugzeuge nach Italien verlegen mußte, wo die Alliierten auf Sizilien gelandet waren. 10.07.43 Alliierte landen in Italien Unter dem Kommando von Feldmarschall Bernard Montgomery und General George Patton landen alliierte Truppen auf Sizilien. Der Widerstand der Italiener bricht daraufhin schnell zusammen. Die Befreiung Italiens beginnt. König Vittorio Emanuele befahl die Festnahme Mussolinis und ernannte Marschall Badoglio zum Ministerpräsidenten. Dieser versicherte Deutschland, Italien werde weiterkämpfen, nahm aber Friedensverhandlungen mit den Alliierten auf. Am 3. September wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der vorerst noch geheimgehalten wurde. Am selben Tag landeten britische Einheiten auf dem italienischen Festland. Für die Wehrmacht galt nun der "Fall Achse": Rom wurde besetzt, die italienische Armee entwaffnet. Die Regierung Badoglio konnte zu den Alliierten fliehen. Am nächsten Tag landeten die Amerikaner bei Salerno, und die deutschen Verteidiger mußten sich auf eine Linie nördlich von Neapel zurückziehen. Zwar gelang es, Mussolini aus der Haft zu befreien und unter seiner Führung in Salo eine Marionettenregierung für das nördliche Italien zu installieren. Faktisch war jedoch Hitlers wichtigster europäischer Partner aus dem Krieg ausgeschieden. Zudem erklärte die Badoglio-Regierung am 13. Oktober 1943 Deutschland den Krieg und wurde von den Alliierten als "Mitkriegführender" anerkannt. 25.07.43 "Operation Gomorrha" verwüstet Hamburg Fünf Tage und Nächte wüten alliierte Bomber über Hamburg. Unter dem Namen "Operation Gomorrha" wird die Stadt von einem nie gekannten Feuersturm heimgesucht. Über 700 britische Bomber begannen mit einem Angriff auf Altona, Eimsbüttel und Hoheluft. Mehr als 2.200 Tonnen Bomben fielen auf die Stadt und töteten 1.500 Menschen. Während der nächsten beiden Tage griffen US-Bomber Werftanlagen und Fabriken im Hafengebiet an. In der dritten Nacht flog die Royal Air Force das schwerste Bombardement der Kriegsgeschichte und zerstörte den gesamten Ostteil der Stadt. Annähernd 40.000 Menschen starben, mehr als 1,2 Millionen flohen mit ihren Habseligkeiten ins Umland oder wurden mit rasch zusammengezogenen Transportmitteln evakuiert. In diesem Chaos fand in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli ein erneutes britisches Bombardement auf bisher noch nicht betroffene Stadtteile Hamburgs statt. Erneut kamen schätzungsweise 800 Menschen ums Leben. 28 VON 300 Mit einem letzten Angriff auf Elmshorn endete die "Schlacht um Hamburg": In vier Nächten hatten mehr als 8.000 Tonnen Bomben die Stadt weiträumig zerstört. 100 Bomber der Royal Air Force gingen verloren, 552 Flieger fanden den Tod. 28.11.43 Teheran legt Grundstein zur deutschen Teilung In Teheran treffen die Regierungschefs der beiden Westallierten, Roosevelt und Churchill, erstmals persönlich mit dem sowjetischen Diktator Josef Stalin zusammen. Themen des Treffens waren die Zusammenarbeit in und nach dem Kriege, die Errichtung einer zweiten Front im Westen sowie die gemeinsame militärische Zusammenarbeit gegen Japan und Hitler-Deutschland. Roosevelt und Churchill informierten Stalin über die geplante Landung der Alliierten in Südfrankreich. Für den sowjetischen Diktator bedeutete dies die Erfüllung seiner bereits im Sommer 1941 erhobenen Forderung nach der Errichtung einer zweiten Front auf dem europäischen Festland. In London wurde als Folge der Konferenz die "Europäische Beratende Kommission" aus den Vertretern der drei Großmächte eingerichtet, die am 12. September 1944 ein erstes "Zonenprotokoll" unterzeichnete. Dieses legte die spätere Zonengrenze zwischen Ost und West in Deutschland fest. Ein weiteres Ergebnis des Treffens in Teheran war die vorläufige Einigung auf die Curzon-Linie als zukünftige polnische Ostgrenze. Dafür sollte Polen Gebietsentschädigungen auf Kosten Deutschlands bis zur Oder erhalten. 06.06.44 Landung in der Normandie Der Sturm auf Hitlers "Festung Europa" beginnt. In der Normandie landen alliierte Truppen. Victory-E-Day rückt in greifbare Nähe. Stalin hatte vehement auf die Errichtung dieser zweiten Front im Westen gedrängt, nachdem schon Mitte 1943 die Befreiung Italiens angelaufen war. Nun aber näherten sich die Alliierten nach der Befreiung von Paris mit geballter Macht den Grenzen des Reiches. Alliierte landen in der Normandie Seit drei Jahren hatte Stalin die Errichtung einer "Zweiten Front" im Westen gefordert, doch erst in Teheran stimmten Roosevelt und Churchill zu. Jetzt ist es soweit: Mit geballter Macht beginnen die Alliierten den Sturm auf Europa. Unter dem Schutz ihrer Flotte und der überlegenen Luftwaffe gelang es den alliierten Verbänden trotz schwerer Verluste, mit 6.400 Landungsfahrzeugen an mehreren Stellen der französischen Küste zwischen Cherbourg und Caen zu landen. Schon am ersten Tag erreichten etwa 150.000 britische, amerikanische, kanadische, polnische und französische Soldaten das Ufer. Hitler hatte die Landung bei Calais erwartet und sich geweigert, Truppen in die Normandie zu entsenden. Als er erkannte, daß keine zweite Invasion stattfinden würde, hatte das alliierte Expeditionsheer den kritischen Küstenstreifen bereits überwunden, und alliierte Flugzeuge verhinderten jeden geordneten deutschen Gegenangriff. Die erdrückende Materialüberlegenheit zwang die deutsche Abwehrfront ständig zum Rückzug. Am 26. Juni eroberten die britischen und amerikanischen Truppen Cherbourg. Bis Ende Juni hatten die alliierten Invasoren über 850.000 Soldaten und etwa 150.000 Fahrzeuge über den Kanal gebracht. 09.06.44 Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte Erneutes Debakel an der Ostfront: Die Vernichtung der Heeresgruppe Mitte stellt sogar die Katastrophe von Stalingrad in den Schatten. Drei Tage nach der alliierten Landung in der Normandie begann am 9. Juni 1944 auch an der Ostfront eine Offensive gegen die deutsche Armee. Stalins Truppen gelang es, die 29 VON 300 deutsche Mittelfront an mehreren Stellen zu durchbrechen und starke deutsche Verbände bei Orscha und Witebsk einzukesseln. Obwohl Hitler die Orte zu "festen Stellungen" erklärt hatte, mußten sich die deutschen Verbände unter hohen Verlusten den Durchbruch erkämpfen und weit nach Westen zurückziehen. Anfang Juli war die Herresgruppe Mitte praktisch vernichtet. Neben der 9. Armee wurden auch die 3. Panzerarmee und die 4. Armee aufgerieben. Insgesamt waren etwa 350.000 deutsche Soldaten gefallen oder in Kriegsgefangenschaft geraten. Im Juli setzten die Sowjets ihren Vormarsch nach Westen fort und erreichten Ende des Monats im Norden die ostpreußische Grenze, in der Mitte die Stadt Warschau und im Süden Belgrad. Der Sturmlauf der sowjetischen Truppen löste eine Fluchtwelle von Volksdeutschen nach Westen aus. Angesichts der prekären Lage der Deutschen fielen nun die Verbündeten aus. Nachdem im August Rumänien die Fronten wechselte und im September einen Waffenstillstand mit der UdSSR unterzeichnete, mußte sich auch die deutsche Gebirgsarmee in Nordfinnland auf norwegisches Gebiet zurückziehen. 01.07.44 Wirtschaftskonferenz in Bretton Woods Noch während das Schlachtengetöse des Zweite Weltkrieges tobt, kommen auf Anregung Großbritanniens und der USA Delegierte aus 44 Ländern zusammen, um die Grundzüge der Weltwirtschaft für die Nachkriegszeit zu gestalten. Konkretestes Ergebnis ist die Gründung von IWF und Weltbank. In der Abgeschiedenheit des kleinen Örtchens Bretton Woods im US-Staat New Hampshire wollten die Wirtschaftsfachleute Institutionen schaffen, die ein Auseinanderbrechen der Weltwirtschaft, wie in den 30er Jahren geschehen, für immer ausschließen würden. Die bestehende Devisenbewirtschaftung sollte einem dauerhaften System der Währungskonvertibilität weichen. Ein verbindliches Regelwerk sollte erneuten Rückfällen in Protektionismus und Autarkie - mit all ihren politischen Implikationen - vorbeugen. Die Diskussion stand stark unter dem Einfluß des persönlich anwesenden britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Das Ergebnis war die Einführung eines Gold-Devisen-Standards: Der Dollar fungierte nun weltweit als Leitwährung und war jederzeit in Gold umtauschbar. Die anderen Währungen standen in einem festen Austauschverhältnis zum Dollar. Der IWF sollte die Zentralbanken bei Maßnahmen zur Stabilisierung ihrer Wechselkurse unterstützen. Der Weltbank war die Funktion zugedacht, günstige Kredite für strukturschwache Staaten bereitzustellen. Das Bretton-Woods-System hatte wesentlichen Anteil am Aufschwung der Weltwirtschaft nach dem Krieg. Erst die Währungskrisen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahren brachten es zum Einsturz. 20.07.44 Widerstand gegen Hitler Teile des Offizierskorps wagen den Staatsstreich. Sie wollen den längst verlorenen Krieg beenden und retten, was kaum mehr zu retten ist. Doch ihr Attentat auf Hitler scheitert, wie schon andere zuvor. Der Widerstand im Dritten Reich hatte vielfältige Formen und Motive. Auch der Kreis der "Verschwörer" des 20. Juli umfaßte nicht nur Militärs, sondern auch bürgerliche und linke Oppositionelle. Ihr Scheitern beendete jede Hoffnung, das NS-Regime von innen her zu beseitigen. Doch ihre Tat setzte ein Fanal für das "andere Deutschland". Attentat des 20. Juli 1944 scheitert Immer mehr Offiziere erkennen den wahren Charakter des Krieges und wollen ihn stoppen. Das Attentat auf das Führerhauptquartier ist ein letzter Versuch, dem sinnlosen Sterben an den Fronten ein Ende zu setzen und Hitler endgültig zu vernichten. 30 VON 300 Hohe Wehrmachtsoffiziere unter Führung von Oberst von Stauffenberg (l.) hatten das Attentat vorbereitet. Stauffenberg selbst deponierte die Bombe im Konferenzraum der "Wolfsschanze". Gegen 12.45 Uhr explodierte die Bombe, vier Personen wurden getötet, fast alle Anwesenden erlitten Verletzungen. Hitler , geschützt durch den schweren Tisch, wurde nur leicht verletzt. Die Attentäter, noch in dem Glauben, Hitler sei tot, begannen in Berlin und Paris mit der Durchführung des "Walküre-Planes", Parteifunktionäre und SS-Einheiten wurden verhaftet und entwaffnet. Als bekannt wurde, daß Hitler überlebt hatte, ließ Oberst Remer, Befehlshaber des Berliner Wachbataillons, das Hauptquartier der Verschwörer stürmen. Gegen 23.00 Uhr wurde das Gebäude eingenommen und die anwesenden Putschisten verhaftet. Generaloberst Beck erschoß sich bei der Festnahme, Stauffenberg, Oberst Albrecht Mertz, General Friedrich Olbricht und Oberleutnant von Haeften wurden sofort durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und gegen Mitternacht erschossen. 21.08.44 UNO-Modell in Dumbarton Oaks entwickelt Vertreter der Vereinigten Staaten, Englands, der Sowjetunion und Chinas tagen in Dumbarton Oaks bei Washington, um erste Grundsätze für eine Nachfolgeorganisation des Völkerbundes festzulegen. Der Völkerbund hatte sich als unfähig erwiesen, den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu unterbinden und sich dadurch endgültig diskreditiert. Roosevelt war jedoch fest entschlossen, eine neue, im Zweifelsfall funktionstüchtigere Weltorganisation an dessen Stelle treten zu lassen. Sie sollte aus der Kriegskoalition der Alliierten hervorgehen und den Namen "Vereinte Nationen" (United Nations Organisation, UNO) tragen. Vom 21. August bis zum 7. Oktober 1944 wurde nun in Dumbarton Oaks das Basismodell der UNO geschaffen. Eine Art Komitee der Großmächte - der spätere Sicherheitsrat - sollte mit allen Möglichkeiten ausgestattet sein, um künftigen Bedrohungen des Weltfriedens sofort, und wenn nötig gewaltsam, begegnen zu können. Man einigte sich, zusätzlich zu den in Dumbarton Oaks vertretenen Nationen auch noch dem gerade von der Naziherrschaft befreiten Frankreich den Status einer Großmacht zuzugestehen, das damit einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat inklusive Vetorecht erhalten würde. Die konkrete Ausgestaltung des eigentlichen Vertragstextes der UN-Charta blieb jedoch der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen im folgenden Frühjahr in San Francisco vorbehalten. 25.08.44 De Gaulle in Paris In einem von der Bevölkerung begeistert gefeierten Siegesmarsch zieht General Charles de Gaulle in Paris ein. Auch als wiederholt Schüsse aus Gewehren der letzten noch in Stadt befindlichen Deutschen fallen, setzt er den Marsch fort, was seiner Popularität in Frankreich eine neue Dimension verlieh. Nach der erfolgreichen Landung in der Normandie im Juni hatten die alliierten Truppen den Vormarsch verlangsamt, als Paris in Sichtweite war. Hiermit entsprachen sie einem Wunsch der französischen Verbündeten in General de Gaulles "Komitee für die nationale Befreiung", einen sichtbaren Beitrag zur Befreiung des Landes zu leisten. Am 19. August begann die "Résistance" in Paris einen Aufstand gegen die deutschen Besatzer. Mehrere deutsche Soldaten wurden getötet, Gebäude besetzt und Wehrmachtsfahrzeuge beschossen. Entgegen der Weisung Hitlers leitete der deutsche Kommandant der Stadt, General Dietrich von Choltitz, keine Gegenaktionen ein. Die Stadt wurde damit vor der Zerstörung bewahrt, eine Eskalation der Kämpfe verhindert. Der von Choltitz unterschriebene Waffenstillstand wurde in der ganzen Stadt befolgt, die deutschen Soldaten gefangengenommen. 31 VON 300 Rumänien erklärt Deutschland den Krieg Das Bündnis der Mittelmächte beginnt zu bröckeln: Zwei Tage nach dem Sturz des Ministerpräsidenten Ion Antonescu erklärt Deutschlands ehemaliger Verbündeter Rumänien dem Reich den Krieg. Auslöser für den Richtungswechsel Rumäniens war die Offensive der Roten Armee gegen die Heeresgruppe Südukraine, in deren Verlauf die Sowjets die rumänische Grenze überschritten und wenig später die Ölfelder von Ploesti eroberten. Angesichts dieser Situation nahm König Michael I. (li.) Waffenstillstandsverhandlungen mit der UdSSR auf und enthob die hitlerfreundliche Regierung in Bukarest des Amtes. Hitler reagierte auf die Absetzung der Regierung und ließ die rumänische Hauptstadt von der Luftwaffe bombardieren. 08.09.44 Erster Abschuß von V2-Raketen Drei Monate nach dem ersten Einsatz der V1 schlägt in London eine V2-Rakete ein. Diese "Vergeltungswaffe" ist der Vorläufer einer Interkontinentalrakete. Etwa fünf Minuten nach ihrem Abschuß bei den Haag ging die Rakete im Londoner Stadtteil Chiswick, nieder. Die Schäden die die in Peenemünde entwickelte neue "Wunderwaffe" anrichtete, blieben allerdings gering. Im weiteren Verlauf des Krieges beschossen die V1- und V2-Flugkörper hauptsächlich Ziele im Süden Englands. Doch die neue V-Waffe, deren Reichweite bis auf 370 Kilometer vergrößert wurde, erwies sich als zu ungenau für den Einsatz gegen begrenzte Ziele. Auch psychologisch führte ihr Einsatz nicht – wie Hitler gehofft hatte – zur Zermürbung der britischen Bevölkerung, sondern eher zu einer Verschärfung des Widerstandes gegen Deutschland. Bis zum 8. November, als Goebbels erstmals die V2-Rakete erwähnte, wurde die neue "Wunderwaffe" von beiden Seiten nicht kommentiert. Erst danach sprach Churchill von "mysteriösen" Explosionen, die sich in den vergangenen Wochen ereignet hätten. 17.09.44 Luftlandung bei Arnheim und Nimwegen Im größten Luftlandeunternehmen des 2. Weltkrieges ("Market Garden") landen 35.000 alliierte Fallschirmjäger bei Arnheim, Nimwegen und Eindhoven. Ziel des Angriffs sind die strategisch wichtigen Brücken über Maas, Waal und Rhein. Während die amerikanischen Luftlandeeinheiten die Brücken in Eindhoven und Nimwegen unversehrt besetzen konnten, scheiterten die Briten bei der Einnahme der Brücke von Arnheim. Nachdem die 1. Luftlandedivision relativ reibungslos gelandet war, marschierte sie in Arnheim ein und besetzte lediglich den östlichen Teil der Brücke. Inzwischen reagierte das weiter westlich stationierte und vom alliierten Geheimdienst nicht gemeldete II. SS-Panzerkorps unter General Bittrich. Die deutschen Panzer vereitelten jeden weiteren Versuch der englischen Fallschirmjäger, die Brücke einzunehmen, und kesselten die Einheiten schließlich ein. Entsatzversuche aus der Luft durch polnische Fallschirmjäger und der Aufbruch des Kessels durch alliierte Panzerverbände scheiterten am erbitterten deutschen Widerstand. Am 25. September mußten die Briten kapitulieren. Von den etwa 10.000 britischen Fallschirmjägern kamen über 8.000 ums Leben oder gerieten in deutsche Gefangenschaft. 22.09.44 Roosevelt lehnt "Morgenthau-Plan" ab Roosevelt zog seine bereits erteilte Unterschrift zum "Morgenthau"-Plan zurück. Er entschied sich zu diesem Schritt, nachdem Außenminister Hull und Berater Stimson massiv gegen den Plan opponiert hatten. Der "Morgenthau-Plan" (li. der Urheber des Plans, Henry Morgenthau) war von Roosevelt und Churchill im Rahmen ihrer Konferenz im kanadische Quebec Mitte September 1944 abgesegnet worden. Er sah die Verkleinerung und Zerteilung Deutschlands sowie dessen 32 VON 300 Zurückführung auf den Stand eines Agrarstaates nach der Beendigung des Krieges vor. Damit sollte jede weitere Fähigkeit Deutschlands zur Kriegführung unterbunden werden. Der sich schon abzeichnende Ost-West-Konflikt bestärkte vor allem Roosevelt, Churchill und de Gaulle in der Auffassung, daß Deutschland bei einem möglichen Zerwürfnis mit Stalin von entscheidender strategischer Bedeutung sein würde. Morgenthau schlägt Agrarland vor Der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau schlug im September 1944 vor, Deutschland nach seiner Kapitulation zu teilen und in ein Agrarland zu verwandeln. Präsident Roosevelt verwarf den Plan, und sein Nachfolger Harry S. Truman, der nach dem Krieg eine neue Politik gegenüber Deutschland einschlug, trennte sich von Morgenthau. Auszüge aus dem "Morgenthauplan": "1. Entmilitarisierung Deutschlands Es wird das Ziel der alliierten Mächte sein, die vollständige Entmilitarisierung Deutschlands in der kürzestmöglichen Zeit nach der Kapitulation durchzuführen. Das bedeutet vollständige Entwaffnung der deutschen Armee und des Volkes einschließlich der Beseitigung oder Vernichtung von allem Kriegsmaterial, die totale Vernichtung der gesamten deutschen Rüstungsindustrie und die Entfernung oder Zerstörung der anderen Schlüsselindustrien, die die Grundlage zur militärischen Macht sind. 2. Neue Grenzen Deutschlands a) Polen wird den Teil von Ostpreußen bekommen, der nicht an Rußland geht und den südlichen Teil Schlesiens. b) Frankreich soll das Saargebiet und die angrenzenden Teile zwischen Rhein und Mosel erhalten. c) Wie in Ziffer 4 ausgeführt, soll eine internationale Zone geschaffen werden, die das Ruhrgebiet und die angrenzenden Industriegebiete einschließt. 3. Teilung des neuen Deutschlands Das übrige Gebiet Deutschlands soll in zwei selbständige unabhängige Staaten aufgeteilt werden, (1) einen süddeutschen Staat, der Bayern, Württemberg, Baden und einige kleinere Gebiete umfaßt, und (2) einen norddeutschen Staat, der einen großen Teil des alten Staates Preußen, Sachsen, Thüringen, sowie mehrere kleinere Staaten umfaßt. Es soll eine Zollunion zwischen dem neuen süddeutschen Staat und Österreich gebildet werden, das seine politischen Grenzen von vor 1938 wieder erhält. 4. Das Ruhrgebiet Die Ruhr, das umliegende Industriegebiet, einschließlich des Rheinlandes, des Kieler Kanals und aller deutschen Gebiete nördlich des Kieler Kanals. Hier liegt das Herz der deutschen Industriemacht. Dieses Gebiet soll nicht nur vollkommen demontiert werden, sondern so weit geschwächt und kontrolliert werden, daß es in absehbarer Zeit nicht wieder ein Industrieraum werden kann. (...) 5. Entschädigungen und Reparationen Reparationen in Form zukünftiger Zahlungen und Überlassungen sollen nicht verlangt werden. Entschädigungen und Reparationen sollen aus dem zu übergebenden und jetzt vorhandenen deutschen Besitz an Bodenschätzen und Gebieten geleistet werden. (...) 6. Erziehung und Propaganda a) Alle Schulen und Universitäten sollen geschlossen werden, bis von der alliierten Erziehungskommission Umerziehungspläne entworfen sind. Es ist möglich, daß es eine beträchtliche Zeit dauern wird, bis irgendeine höhere Schule wieder eröffnet werden kann. Mittlerweile ist das Studium von deutschen Studenten an ausländischen Universitäten verboten. Volksschulen sollen, sobald geeignete Lehrkräfte und Lehrbücher zur Verfügung stehen, eröffnet werden. 33 VON 300 b) Alle deutschen Radiostationen und Zeitungen, Zeitschriften, Wochenblätter etc. sollen eingestellt werden, bis geeignete Kontrollmaßnahmen und ein Programm fertiggestellt sind. 7. Politische Dezentralisierung Der Militärverwaltung in Deutschland wird in der Anfangszeit die Erarbeitung der Voraussetzung zur Teilung Deutschlands übertragen. (...) 8. Beteiligung des Militärs an der örtlichen deutschen Wirtschaft Die einzige Aufgabe des Militärs bei der Kontrolle der deutschen Wirtschaft soll seine Mitwirkung bei militärischen Unternehmungen und der militärischen Besitznahme sein. Die alliierte Militärbehörde wird keine Verantwortung für wirtschaftliche Aufgaben wie Preiskontrolle, Rationierung, Arbeitslosigkeit, Produktion, Wiederaufbau, Verteilung, Verbrauch, Unterbringung, Transportwesen übernehmen oder irgendwelche Maßnahmen treffen, die zur Aufrechterhaltung oder Stärkung der deutschen Wirtschaft dienen, ausgenommen jene, die für militärische Operationen wichtig sind. Die Verantwortung für die Erhaltung der deutschen Wirtschaft und des deutschen Volkes kommt dem deutschen Volke zu, das versuchen muß, mit den Schwierigkeiten unter Ausnützung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel fertig zu werden. 9. Kontrolle über die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft Während einer Periode von mindestens 20 Jahren nach der Kapitulation sollen geeignete Kontrollen einschließlich von Kontrollen des Außenhandels und strenge Beschränkungen der Kapitaleinfuhr durch die Vereinten Nationen aufrechterhalten werden. Sie sollen in den neu errichteten Ländern die Möglichkeit einer Ausdehnung von Schlüsselindustrien für die militärische Leistungsfähigkeit Deutschlands verhindern und andere Schlüsselindustrien kontrollieren. 10. Landwirtschaftsprogramm Der Großgrundbesitz soll zerschlagen und unter Bauern verteilt werden. Das System der Erbfolge und des Anteiles soll geändert werden. 11. Bestrafung von Kriegsverbrechen und Sondergruppen Ein Programm für die Bestrafung von gewissen Kriegsverbrechen und für die Behandlung von nazistischen Organisationen und anderen Sondergruppen wird in Beilage 11 vorgelegt. (...) 14. Verantwortung der Vereinigten Staaten Obwohl die USA bei allen internationalen Kommissionen und Ausschüssen für Deutschland militärisch und zivil vertreten sein würden, sollten die Nachbarländer Deutschlands auf dem europäischen Festland die polizeiliche und verwaltungsmäßige Verantwortung für Deutschland übernehmen. Insbesondere sollten dabei russische, französische, polnische, tschechische, griechische, jugoslawische, norwegische, holländische und belgische Soldaten mitverwendet werden. Unter diesem Gesichtspunkt können die Truppen der Vereinigten Staaten in verhältnismäßig kurzer Zeit zurückgezogen werden." 25.09.44 "Volkssturm" - Hitlers letztes Aufgebot Vormarsch der Alliierten von allen Seiten, die Armee ist geschlagen. Hitler mobilisiert die letzten Reserven: Kinder und Greise sollen Deutschland retten. Ab dem 25. September 1944 waren alle waffenfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren durch einen Erlaß zum Dienst im "Deutschen Volkssturm" aufgerufen. Dessen Aufbau, Organisation und Leitung zur Verteidigung des "Heimatbodens" wurde den jeweiligen Gauleitern übertragen. Fast eine Million Alte, Jugendliche und Kranke wurden zu der Truppe, deren Kampfkraft selbst in der Bevölkerung als gering eingestuft wurde, eingezogen. Dieses letzte Aufgebot sollte vor allem den Ansturm der Roten Armee im Osten aufhalten. Ohne ausreichende Ausbildung und Ausrüstung war der Volkssturm jedoch ein 34 VON 300 untaugliches Unternehmen gegen einen bei weitem überlegenen Gegner, das bis Kriegsende 200.000 Alten und Jugendlichen den Tod brachte. 16.10.44 Sowjets nehmen Ostpreußen Erstmals seit Kriegsbeginn betreten Teile der Roten Armee Reichsgebiet. Unter General Iwan Tschenjachowski überschreitet die 3. Weißrussische Armee die litauische Grenze. Der angestaute Haß der Sowjets richtet sich gegen die Zivilbevölkerung und entlädt sich in einer hemmungslosen Soldateska. Binnen zwei Wochen eroberten die Sowjets Goldap und Ebenrode. Zwar gelang es den Deutschen noch einmal, die Rote Armee zu vertreiben, doch mit der Offensive im Januar wurde das Gebiet dann fast vollständig sowjetisch besetzt. Nur Königsberg blieb in deutscher Hand. Schon bei ihrem ersten Einmarsch im Oktober hatte sich der in vier Jahren angestaute Haß der Rotarmisten in schrecklichen Massakern entladen. Hemmungslos wütete die Soldateska der Sowjets unter Alten und Jungen, Männern und Frauen. Fast jeder Sowjetsoldat hatte durch die deutsche Armee schwere menschliche Verluste hinnehmen müssen. Zudem waren sie bei der Befreiung der von Deutschen verwüsteten Gebiete seit Monaten ständig Zeugen des nationalsozialistischen Rassenhasses geworden. Das durch die tägliche Konfrontation mit dem Tod erreichte Ausmaß an Abgestumpftheit entlud sich nun im Feindesland in einem furchtbaren Morden, Foltern und Vergewaltigen. 23.12.44 Ardennenoffensive gescheitert Die Ardennenoffensive ist eine Verzweiflungstat Hitlers, ein unsinniger Versuch, den Vormarsch der hoffnungslos überlegenen Alliierten aufzuhalten. Als eine Woche nach Beginn des Angriffs das Wetter besser wird, schlagen die Westmächte zurück. Einen Tag vor Heiligabend klarte das Wetter auf, und die deutsche Offensive scheiterte endgültig im nun einsetzenden alliierten Bombenhagel. Aus dem Führerhauptquartier kamen die üblichen Weisungen: "Das eroberte Gelände halten und nicht zurückzuziehen" befahl Hitler. Einmal mehr setzte es sich in Widerspruch zu seinen Militärs: Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, der Oberbefehlshaber West, hatte die Ausweglosigkeit der Lage erkannt. Folgerichtig wurden die deutschen Verbände unter dem Ansturm der Alliierten bis Mitte Januar 1945 in ihre Ausgangsstellung zurückgedrängt. Bilanz der Ardennenoffensive: Etwa 20.000 deutsche und 30.000 alliierte Soldaten hatten ihr Leben verloren. 27.01.45 KZ Auschwitz wird von Sowjets befreit Für die wenigen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz enden Jahre der Hölle: Einheiten der 1. Ukrainischen Front erreichen auf ihrem Vormarsch nach Westen das Gelände des Lagers. Den Soldaten bietet sich bei ihrer Ankunft ein Bild des Grauens. Die Leichen von etwa 650 der zuletzt umgekommenen Lagerinsassen lagen unbestattet auf dem gefrorenen Boden, 7.600 Menschen, die meisten bis zum Skelett abgemagert und dem Hungertod nahe, wurden lebend geborgen. Die Versuche der Nationalsozialisten, die Spuren ihres barbarischen Treibens zu vernichten, waren nur unzureichend durchgeführt worden. Fassungslos standen die sowjetischen Soldaten vor den Überresten der gesprengten Gaskammern, Krematorien und den langen Massengräbern, in denen nur ein Teil der Leichen der etwa drei Millionen Menschen lagen, die seit Herbst 1941 hier auf bestialische Weise umgebracht worden waren. Viele Leichen waren in den Krematorien verbrannt, ihre Asche fortgeschüttet worden. 04.02.45 35 VON 300 Jalta-Konferenz beschließt Besatzungszonen Zwischen dem 4. und 11. Februar 1945 konferieren Stalin, Roosevelt und Churchill in Jalta auf der Krim. Ziel der "Jalta-Konferenz" ist eine Ergänzung der 1943 auf der "TeheranKonferenz" gefaßten Beschlüsse. So sollten alle militärischen Operationen in Zukunft gemeinsam koordiniert werden. Weiterhin wurde die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen angekündigt – wie im ersten und zweiten "Zonenprotokoll" der "Europäischen Beratenden Kommission" beschlossen. Als weitere Punkte zur Besetzung Deutschlands und zum Krieg gegen Japan wurden vereinbart: Reparationszahlungen; Gebietsabtretungen; Bildung eines "Alliierten Kontrollrates"; totale Entwaffnung der Wehrmacht; Bildung einer provisorischen polnischen Regierung durch einen Zusammenschluß der Exilregierung mit dem in der Sowjetunion ins Leben gerufenen "Lublin-Komitee"; Anerkennung der Curzon-Linie mit geringen Abweichungen zugunsten Polens, das im Westen durch deutsche Gebiete entschädigt werden sollte; Zusammentritt der Vereinten Nationen in San Francisco zur Festlegung ihrer Gründungscharta; der Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan drei Monate nach dem Ende des Krieges in Europa. 13.02.45 Dresden aus der Luft zerstört Dresden war bislang von Bombenangriffen verschont geblieben. Im Februar 1945 ist die Stadt übervölkert von Flüchtlingen aus den Ostteilen des zusammenbrechenden Reiches. In dieser Situation befiehlt Arthur Harris, Chef der Royal Air Force, einen Angriff auf die Stadt. Es wurde einer der schwersten Angriffe des gesamten Krieges, die Stadt wurde nahezu vollständig zerstört. In zwei Angriffswellen warfen 800 "Lancaster"-Bomber etwa 2.700 Tonnen Bomben ab. Die Stadt besaß keine nennenswerte Industrie, sie war weder unmittelbares Kampfgebiet noch wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die einzige militärische Anlage, der Flugplatz Klotzsche mit Kasernen und Lagern, blieb unzerstört. Das historische "Elbflorenz" wurde dagegen von den Bomben dem Erdboden gleichgemacht. Die britischen Bomber warfen erst große Mengen Sprengbomben ab, um Fenster und Dächer der Häuser zu zerstören, anschließend wurden Brandbomben abgeworfen, deren Feuer sich durch die entstehende Zugluft in kürzester Zeit ausbreitete. Nur wenige Stunden nach dem britischen Angriff luden mehr als 500 amerikanische Bomber knapp 800 Tonnen Bomben über der Stadt ab. Am nächsten Tag wurde die bereits völlig zerstörte Elbmetropole erneut von US-Bombern angegriffen. Die Zahl der Opfer blieb unklar. Schätzungen schwanken zwischen 25.000 und 245.000 Toten. In der 650.000 Einwohner zählenden Stadt hatten sich etwa 500.000 Flüchtlinge aus Schlesien angesammelt, die nirgendwo registriert waren. 19.03.45 Hitler erläßt "Nerobefehl" Die endgültige Niederlage bereits vor Augen, kommt Hitler auch jetzt kein Gedanke an Kapitulation. In seinen Augen hat das deutsche Volk vor der Geschichte versagt, weshalb er es nun dem Untergang weiht. Ausdrücklich befiehlt er die Zerstörung sämtlicher Industrie- und Versorgungsanlagen im Reichsgebiet: Nichts von Wert soll den Alliierten in die Hände fallen. Nachdem Hitler bereits im Februar mit massiven Gesetzesverschärfungen versucht hatte, den Verteidigungswillen der Deutschen zu stärken, unternahm er nun den verzweifelten Versuch, mit einer Strategie der "verbrannten Erde" den Vormarsch von Russen, Briten und Amerikanern aufzuhalten oder wenigstens zu behindern. Der Nerobefehl spaltete die Wehrmachtsführung endgültig. Die Zurechnungsfähigkeit des Führers wurde von immer mehr Offizieren nun auch öffentlich angezweifelt, viele weigerten sich, den Befehl an die Truppen weiterzugeben. Selbst Reichsminister Albert Speer, ein treuer Parteigänger Hitlers, forderte zur Mißachtung der Führerweisung auf. Andere hohe Nazifunktionäre waren dagegen entschlossen, ihrem Eid auf Hitler bis zum bitteren Ende 36 VON 300 treu zu bleiben. Noch am 3. April erließ Himmler einen letzten Befehl, um das Volk zum Durchhalten zu zwingen: Jedem, Soldat oder Zivilist, der sein Haus vor herannahenden Feindtruppen durch Hissen der Weißen Fahne zu retten versuchen sollte, wurde mit Hinrichtung gedroht. 22.03.45 Arabische Liga gegründet Die Staatschefs von Ägypten, dem Irak, dem Jemen, Saudi-Arabien, dem Libanon, Syrien und Transjordanien wollen an einem Strang ziehen. Die Gründung der Arabischen Liga soll den ersten Schritt einer umfassenden Kooperation bilden. Bereits seit August 1943 war offiziell über die Schaffung der Liga verhandelt worden. Das Ziel der Ligagründer in der ägyptischen Hauptstadt Kairo war es, Abstimmungen in der Politik arabischer souveräner Staaten auf folgenden Gebieten zu erleichtern: Industrie, Landwirtschaft, Handel, Verkehr (Straßen, Luftfahrt, Schiffahrt) und Kultur. Jeder Mitgliedstaat hatte eine Stimme im Ligarat. Ein bewaffneter Konflikt unter Mitgliedsstaaten wurde verboten. Bei Aggressionen von außen verpflichteten sich die Mitglieder, geeignete Abwehrmaßnahmen im Ligarat zu besprechen. Es wurde beschlossen, ein ständiges Generalsekretariat in Kairo einzurichten, das britische Protektorat Palästina wurde eingeladen, einen arabischen Vertreter zur Teilnahme an den Beratungen zu entsenden. Den Großteil der Kosten der Liga sollte Ägypten mit 42 Prozent übernehmen. Transjordanien hatte mit drei Prozent die geringsten Kosten zu tragen. Die Arabische Liga war ein erster Schritt, eine "arabische Nation" zu bilden. Mit dem Zusammenschluß wurde eine Stärkung der arabischen Länder gegenüber den westlichen Kolonialmächten angestrebt. Besonders wichtig war den Mitgliedern das Eintreten für ein arabisches Palästina und gegen ein jüdisches Israel. 16.04.45 Die Rote Armee steht vor Berlin Der Anfang vom Ende: Unter der Führung der Marschälle Schukow und Konjew startet die russische Armee mit zweieinhalb Millionen Soldaten an Oder und Neiße ihre Endoffensive gegen Berlin. Ihnen stehen gerade noch 100.000 schlecht ausgerüstete deutsche Soldaten gegenüber. Bereits am 21. April lag Berlin in Reichweite der sowjetischen Artillerie und war vier Tage später vollständig eingeschlossen. Deutsche Gegenangriffe blieben erfolglos. In der Stadt entbrannte ein erbitterter Häuserkampf, während die 1. Ukrainische und die 1. Weißrussische Front unaufhaltsam vorrückten. Zur gleichen Zeit verstärkten auch die Westalliierten ihren Vormarsch. Am 18. April besetzten US-Soldaten Magdeburg und Düsseldorf. Leipzig wurde einen Tag später von den Amerikanern besetzt, während die Briten an diesem Tag die Elbe erreichten. Am 25. April kam es bei Torgau zu dem historischen Zusammentreffen amerikanischer und sowjetischer Soldaten. Am 22. April fiel der Berliner Außenbezirk Weißensee, die anderen folgten während der nächsten Tage. Am 26. April war die Stadt eingeschlossen, die US-Luftwaffe flog den letzten Angriff auf die Hauptstadt. Der Ring um die Stadt schloß sich immer enger. Als am 30. April Rotarmisten die sowjetische Flagge auf dem Reichstag hißten, nahm sich Hitler im Bunker das Leben. Zwei Tage später kapitulierte Berlin. 25.04.45 Gründungsversammlung der Vereinten Nationen 850 Delegierte aus 47 Staaten treten in San Francisco zur Gründungsversammlung der "Vereinten Nationen" (UNO) zusammen. Auf der Versammlung wird die in Dumbarton Oaks entworfene Charta, die Verfassung der UNO, diskutiert und zur Beschlußfähigkeit gebracht. In Dumbarton Oaks, hatten Vertreter Englands, der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und Chinas die Auflösung und Ersetzung des bisherigen Völkerbundes durch die "Vereinten 37 VON 300 Nationen" (UNO) beschlossen. Die neue Organisation sollte deutlich schlagkräftiger als ihr Vorgänger sein und eine Plattform zur dauerhaften Sicherung des Weltfriedens bilden. Die UN-Charta geht in vielen Teilen auf die Atlantikcharta vom August 1941 zurück. Sie regelt in einer Präambel und 19 Kapiteln die Ziele und Grundsätze der "Vereinten Nationen", die Mitgliedschaftsbedingungen und die Zusammensetzung der Organisation. Die Mitgliedsstaaten haben sich in ihrem internationalen Verhalten an den Grundsätzen der Charta zu orientieren, was die Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten ausschließt. Im Juni 1945 traten die mittlerweile 51 Mitglieder der Gemeinschaft zur Unterzeichnung der UN-Charta zusammen. Shakehands in Torgau Das Ende des nationalsozialistischen Deutschland steht kurz bevor: Bei Torgau an der Elbe treffen zum erstenmal westalliierte und sowjetische Truppen aufeinander. Die Rote Armee hatte am 16. April unter Führung von Marschall Schukow und Marschall Konjew mit etwa zweieinhalb Millionen Soldaten an Oder und Neiße ihre Endoffensive gegen Berlin gestartet. Die etwa 100.000 schlecht ausgerüsteten deutschen Soldaten leisteten eine verzweifelte, aber chancenlose Abwehrschlacht. Von Westen her rückten unaufhaltsam Briten und Amerikaner vor, es ging auch um Vorteile bei der Errichtung der Nachkriegsordnung. Am 18. April wurden Magdeburg und Düsseldorf besetzt, gleichzeitig drang die US-Armee auf tschechoslowakisches Gebiet vor. Auch Leipzig fiel einen Tag an die Amerikaner, während die Briten gleichzeitig die Elbe erreichten. Der Oberkommandierende der alliierten Truppen, General Dwight D. Eisenhower lehnte es den weiteren Vorstoß Osten ab und befahl aus seinen Truppen, an der Mulde und Elbe haltzumachen. Im Norden schnitten die Briten die in den Niederlanden stehenden deutschen Truppen ab und stießen durch Westfalen vor. 30.04.45 Hitlers Ende Berlin ist gefallen, nun kann auch Hitler die Fakten nicht mehr leugnen. Alle Versuche, den Untergang seines "Dritten Reiches" zu verhindern, sind gescheitert. Einen Tag, nachdem er seine Geliebte Eva Braun geheiratet hat, entzieht sich der deutsche Diktator seiner Verantwortung durch Selbstmord. Die genauen Umstände sind ungeklärt. Angeblich fand Hitlers Sekretär, Reichsleiter Martin Bormann, die Leichen Adolf Hitlers, der sich in den Kopf geschossen hatte, und Eva Brauns, die sich mit Kaliumcyanid vergiftet hatte, in den Privaträumen. Die beiden Leichen wurden auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers dann offenbar im Garten der Reichskanzlei von Mitarbeitern verbrannt. Einen Tag nach Hitler beging auch Goebbels mit seiner Frau vor dem Bunker der Reichskanzlei Selbstmord, nachdem er seine sechs Kinder ermordet hatte. Auch Reichsinnenminister Himmler nahm sich nach seiner Festnahme durch die Alliierten am 21. Mai das Leben. 07.05.45 Kapitulation und Neubeginn Deutschland kapituliert, Hitler ist tot - sein Reich mit ihm untergegangen. Sein Wahn hat Millionen das Leben gekostet und den halben Kontinent verwüstet. Mit der bedingungslosen Kapitulation übernahmen die alliierten Siegermächte die Regierungsgewalt in Deutschland. Die Zukunft des Landes lag damit in den Händen der "großen Drei". Es sollte zum Spielball vor allem zweier Mächte werden: der Sowjetunion und der USA. 38 VON 300 Bedingungslose Kapitulation Die Niederlage Deutschlands ist nicht mehr aufzuhalten. In Reims kapituliert die deutsche Wehrmacht bedingungslos. Alle Staatsgewalt geht damit in die Hände der Siegermächte über. "Im Namen des Deutschen Oberkommandos" unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtsführungsstabes im "Oberkommando der Wehrmacht", im Hauptquartier der alliierten Streitkräfte das Kapitulationsdokument. Als Bevollmächtigter von Großadmiral Dönitz, den Hitler vor seinem Selbstmord am 30. April zu seinem Nachfolger berufen hatte, erklärte er die Kapitulation "aller Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft, welche sich zu diesem Zeitpunkt unter deutscher Kontrolle befanden". Die Kapitulation wurde gegenüber dem Obersten Befehlshaber der alliierten Expeditionsstreitkräfte, General Eisenhower, sowie Vertretern des Oberkommandos der Sowjettruppen unterzeichnet. Da der Oberbefehlshaber der Sowjets, Marschall Schukow, nicht anwesend war, wurde die Kapitulation gegenüber den Sowjettruppen zwei Tage später im russischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst wiederholt. Am 9. Mai 00.01 Uhr deutscher Sommerzeit trat die Kapitulation in Kraft. 26.06.45 Weltorganisation UNO Nie wieder soll ein Krieg wie der gerade zu Ende gehende über die Menschheit kommen. Die "Vereinten Nationen" sollen sicherstellen, daß alle Konflikte nur mehr mit friedlichen Mitteln beigelegt werden. Der Völkerbund hatte offensichtlich versagt. An seine Stelle sollte nach dem Willen der Unterzeichnerstaaten der UN-Charta eine Organisation "mit Zähnen" treten. Im "Sicherheitsrat", so hoffte man in Washington, ließe sich die erfolgreiche Kriegskoalition der alliierten Mächte fortsetzen. Potsdamer Abkommen und Alliierter Kontrollrat Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 regelt Grundzüge für eine gemeinsame Nachkriegspolitik der drei Kriegsalliierten. Bezeugten die "großen Drei" bei Abschluß des Abkommens noch eine gemeinsame Zukunft und übereinstimmende Interessen, zeigten sich doch bereits erhebliche Differenzen, deren Klärung die Konferenz mit wohlklingenden Formulierungen vertagt hatte. Einigen konnten sich die drei Siegermächte auf die vordergründigen Aufgaben der Militärregierungen, die "von jedem der Militärgouverneure in seiner Besatzungszone", wahrgenommen werden sollten. Einigen konnten sie sich auch auf Grundzüge der gemeinsamen Deutschlandpolitik: Worte wie Demilitarisierung, Entnazifizierung, Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher, Dezentralisierung der politischen Macht und Entflechtung der Großkonzerne umrissen schlagwortartig die gemeinsamen Ziele. Die inhaltliche Klärung dieser Begriffe aber gestaltete sich weit schwieriger. Neues Organ, das diese Fragen, die "Deutschland als Ganzes" betrafen, konkret klären sollte, wurde der eigens eingerichteten "Alliierten Kontrollrat". Dieser Alliierte Kontrollrat trat am 30. August 1945 in dem Gebäude des ehemaligen Berliner Kammergerichts zum erstenmal zusammen. Er hatte sich zunächst mit der Aufhebung nationalsozialistischer Gesetze und Verordnungen, mit der Entnazifizierung, der Entmilitarisierung und der Demontage von Industrieanlagen in Deutschland zu befassen. Die Konstituierung zentraler deutscher Verwaltungen, die in Potsdam vereinbart worden war, scheiterte lange am Einspruch Frankreichs. Das ständig zunehmende Mißtrauen zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion, das mehr und mehr in den Zustand des Kalten Krieges überging, die Sonderwünsche der französischen Besatzungsmacht sowie die unterschiedliche 39 VON 300 Entwicklung in den Besatzungszonen lähmten zusehends die Arbeit des Kontrollrates. Als sich die drei westlichen Militärgouverneure in der Kontrollratssitzung vom 20. März 1948 weigerten, dem sowjetischen Vertreter über die Londoner Sechsmächtekonferenz zu berichten, verließ die sowjetische Seite unter Protest den Sitzungssaal endgültig, womit die Tätigkeit des Alliierten Kontrollrates endete. Potsdamer Abkommen und Alliierter Kontrollrat Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 regelt Grundzüge für eine gemeinsame Nachkriegspolitik der drei Kriegsalliierten. Bezeugten die "großen Drei" bei Abschluß des Abkommens noch eine gemeinsame Zukunft und übereinstimmende Interessen, zeigten sich doch bereits erhebliche Differenzen, deren Klärung die Konferenz mit wohlklingenden Formulierungen vertagt hatte. Einigen konnten sich die drei Siegermächte auf die vordergründigen Aufgaben der Militärregierungen, die "von jedem der Militärgouverneure in seiner Besatzungszone", wahrgenommen werden sollten. Einigen konnten sie sich auch auf Grundzüge der gemeinsamen Deutschlandpolitik: Worte wie Demilitarisierung, Entnazifizierung, Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher, Dezentralisierung der politischen Macht und Entflechtung der Großkonzerne umrissen schlagwortartig die gemeinsamen Ziele. Die inhaltliche Klärung dieser Begriffe aber gestaltete sich weit schwieriger. Neues Organ, das diese Fragen, die "Deutschland als Ganzes" betrafen, konkret klären sollte, wurde der eigens eingerichteten "Alliierten Kontrollrat". Dieser Alliierte Kontrollrat trat am 30. August 1945 in dem Gebäude des ehemaligen Berliner Kammergerichts zum erstenmal zusammen. Er hatte sich zunächst mit der Aufhebung nationalsozialistischer Gesetze und Verordnungen, mit der Entnazifizierung, der Entmilitarisierung und der Demontage von Industrieanlagen in Deutschland zu befassen. Die Konstituierung zentraler deutscher Verwaltungen, die in Potsdam vereinbart worden war, scheiterte lange am Einspruch Frankreichs. Das ständig zunehmende Mißtrauen zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion, das mehr und mehr in den Zustand des Kalten Krieges überging, die Sonderwünsche der französischen Besatzungsmacht sowie die unterschiedliche Entwicklung in den Besatzungszonen lähmten zusehends die Arbeit des Kontrollrates. Als sich die drei westlichen Militärgouverneure in der Kontrollratssitzung vom 20. März 1948 weigerten, dem sowjetischen Vertreter über die Londoner Sechsmächtekonferenz zu berichten, verließ die sowjetische Seite unter Protest den Sitzungssaal endgültig, womit die Tätigkeit des Alliierten Kontrollrates endete. 05.06.45 Ein Kontrollrat für Deutschland Zur obersten Regierungsinstanz in Deutschland wird der Alliierte Kontrollrat. Jetzt müssen die vier alliierten Oberbefehlshaber Bernard Montgomery, Dwight Eisenhower, Georgi Schukow, und Jean-Joseph de Lattre de Tassigny (unten v.l.n.r.) gemeinsam über Deutschland entscheiden. Der Kontrollrat - geschaffen mit der "Berliner Erklärung" und im Potsdamer Abkommen explizit bestätigt - hatte die Aufgabe, die "angemessene Einheitlichkeit" der Aktionen der Oberbefehlshaber in ihren jeweiligen Besatzungszonen sicherzustellen. Weiterhin sollte er "die deutsche Zentralverwaltung" überwachen, die unter der Direktive des Kontrollrats arbeiten sollte, und die Nachkriegsverwaltung Groß-Berlins durch entsprechende Organe leiten. Entscheidungen des Kontrollrats mußten einstimmig sein. Entscheidungen über den endgültigen Status und die Grenzen Deutschlands verschob die "Berliner Erklärung" ausdrücklich auf einen späteren Zeitpunkt. 40 VON 300 Übernahme der Regierungsgewalt Eine Deutsche Regierung existiert nicht mehr. Mit der "Berliner Erklärung" geht die Regierungsgewalt offiziell in die Hände der Siegermächte, vertreten durch ihre Militärgouverneure, über. Die vier alliierten Oberbefehlshaber Bernard Montgomery, Dwight Eisenhower, Georgi Schukow, und Jean-Joseph de Lattre de Tassigny unterzeichneten in Berlin drei Deklarationen, aufgrund derer die vier verbündeten Siegerregierungen nach Auflösung der deutschen Regierung die oberste Gewalt übernehmen sollten. Dazu wurde Deutschland in den Grenzen von 1937 in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Groß-Berlin wurde von Streitkräften aller vier Siegernationen besetzt ("Viersektorenstadt"). Eine vierte Deklaration regelte die Organisation eines Kontrollrates. Eine oberste zivile deutsche Instanz gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Die "Geschäftsführende Reichsregierung", die Großadmiral Dönitz in Flensburg-Mürwik gebildet hatte, war am 23. Mai von britischen Soldaten verhaftet worden. Entscheidungen über den Status und die Grenzen Deutschlands verschob die "Berliner Erklärung" auf einen späteren Zeitpunkt. 10.06.45 Sowjets ermöglichen Parteigründungen Mit dem Befehl Nr. 2 erlaubt die Sowjetische Militäradministration die Neugründung politischer Parteien und Gewerkschaften in ihrer Besatzungszone. Man sicherte freie Betätigung zu, soweit sie die "endgültige Ausrottung der Überreste des Faschismus und die Festigung der Grundlagen der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten" anstreben. Die Sowjetunion war damit die erste Besatzungsmacht, die politisches Leben in Deutschland wieder neu erstehen ließ. Bereits einen Tag später wurde die KPD in Berlin unter der Leitung Wilhelm Piecks und Walter Ulbrichts gegründet, ein erstes Indiz für die besondere Rolle, welche die SMAD dieser Partei zugedacht hatte. Die Stärkung der KPD stand im Zentrum der Maßnahmen zur Neuregelung des politischen Lebens in der SBZ. Die Freiheit der nichtkommunistischen Parteien war dagegen begrenzt. Die SMAD forderte nicht nur eine entschiedene Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, sondern bis zum Jahresende immer offener die Unterordnung unter ihre Pläne zur Umstrukturierung der Gesellschaft. Ein wichtiges Instrument für die Disziplinierung der Parteien war der am 14. Juli 1945 von den vier zugelassenen Parteien (KPD, SPD, CDU, LDPD) gegründete "Block der demokratischen Parteien". Die Initiative dazu ging von der KPD aus und entsprach dem Willen der SMAD. Damit war bereits wenige Wochen nach Gründung der Parteien ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem Einparteiensystem gemacht. 26.06.45 Unterzeichnung der UN-Charta in San Francisco In San Francisco unterzeichnen die Mitgliedsstaaten die UN-Charta, auf die man sich auf der zweimonatigen Gründungsversammlung der UNO festgelegt hatte. Zu den 51 Gründungsmitgliedern gehörten neben der Sowjetunion als Ganzes auch die Ukraine und Weißrußland als selbständige Unterzeichnerländer. Die Sowjetunion konnte sich also mit ihrer Forderung nach einer Vertretung mit mehreren Stimmen, die sie auf der Jalta-Konferenz gegenüber den Westalliierten vorbrachte, durchsetzen, während alle anderen Mitglieder über jeweils nur eine Stimme verfügten. Die wichtigsten Organe der UNO bildeten die Vollversammlung, in der mindestens einmal im Jahr alle Mitgliedsstaaten zusammentraten und Beschlüsse faßten, und der sogenannte Sicherheitsrat. Er ist das entscheidende Instrument der Vereinten Nationen zur Beilegung internationaler Auseinandersetzungen. Alle UNO-Mitglieder sollten im Rahmen der UNCharta seinen Entscheidungen unterworfen sein. Dem Sicherheitsrat gehören fünf ständige Mitglieder (die Großmächte USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China (seit 1971 vertreten durch die VR China) sowie sechs bzw. zehn (seit 1963) wechselnde Mitglieder an. Die nichtständigen Mitglieder werden alle zwei Jahre von der Vollversammlung gewählt. 41 VON 300 Erster UNO-Generalsekretär wurde der Norweger Trygve Halvdan Lie, der auf der Vollversammlung in London 1946 einstimmig gewählt wurde. Weltorganisation UNO Nie wieder soll ein Krieg wie der gerade zu Ende gehende über die Menschheit kommen. Die "Vereinten Nationen" sollen sicherstellen, daß alle Konflikte nur mehr mit friedlichen Mitteln beigelegt werden. Der Völkerbund hatte offensichtlich versagt. An seine Stelle sollte nach dem Willen der Unterzeichnerstaaten der UN-Charta eine Organisation "mit Zähnen" treten. Im "Sicherheitsrat", so hoffte man in Washington, ließe sich die erfolgreiche Kriegskoalition der alliierten Mächte fortsetzen. 17.07.45 Erste Atomzündung in New Mexico Die erste Atombombe in der Geschichte der Menschheit explodiert in der Wüste von New Mexico. Eine Gruppe renommierter Wissenschaftler des "Manhattan Project" sowie führende Militärs versammeln sich, um die Wirkung der Waffe zu beobachten. Zum ersten Test der neu entwickelten Megawaffe war das Testgebiet in der Gegend von Los Alamos weiträumig abgesperrt worden. Zwei Tage dauerten die Vorbereitungen. Mit einem Zünder zur Auslösung der Explosion ausgestattet, wurde die Bombe in einem gewaltigen Stahlturm aufgehängt. Ein riesiger Blitz übergoß die Umgebung mit weißem Licht. Die Druckwelle reichte aus, um Personen in einem Umkreis von bis zu 10 Kilometern umzuwerfen; sie beschädigte Fenster und Häuser in einem Radius von bis zu 300 Kilometern. Dann breitete sich der erste Atompilz über das gesamte Versuchsgebiet aus und türmte sich 12 Kilometer hoch zum Himmel. Der Versuch war gelungen, die Militärs überglücklich. Dem weiteren Einsatz stand nichts mehr im Wege. In den USA arbeiteten zu diesem Zeitpunkt 125.000 Personen unter der wissenschaftlichen Leitung von Robert Oppenheimer (l.) an der Fertigstellung der Atombomben. Die militärische Projektleitung unterlag General Leslie L. Groves (l.). Präsident Truman plante eine Erweiterung der Produktion, für die noch etwa 65.000 Beschäftigte in Hilfsbetrieben benötigt wurden. Viele von ihnen arbeiteten schon seit mehr als zwei Jahren an der neuen Geheimwaffe, ohne genau um den Zweck zu wissen. 17.07.45 Potsdam regelt gemeinsames Vorgehen Drei unterschiedliche Sieger müssen auch nach dem Krieg an einem Strang ziehen - daß dies kein leichtes Unterfangen war, zeigte bereits die Potsdamer Konferenz auf Schloß Cäcilienhof. Hier trafen sich Josef Stalin, Harry Truman und Winston Churchill, der am 29. Juli von Clement Attlee als Premierminister abgelöst wurde, um Grundzüge einer gemeinsamen Nachkriegspolitik für Deutschland und Europa auszuhandeln. Sie einigten sich auf die Einrichtung eines "Alliierten Kontrollrats" und die Regelung von Reparationsansprüchen sowie Demontagen. Königsberg und der Nordteil Ostpreußens wurden der Sowjetunion, das übrige Ostdeutschland bis zur Oder-Neiße-Linie Polen zur Verwaltung übergeben. Festgelegt wurde auch die "Überführung" der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. Bei aller Einigung zeigten sich in Potsdam die ersten erheblichen Differenzen, da sich die jeweiligen Machtinteressen nur schwer verbinden ließen. 06.08.45 Inferno in Hiroshima 42 VON 300 Die einzigen bisher auf Menschen geworfenen Atombomben löschen die Großstädte Hiroshima und Nagasaki aus. Mit den Abwürfen beenden die USA den Weltkrieg, aber Hunderttausende von Menschen sterben einen qualvollen Tod. Präsident Truman hatte nach der Ablehnung der in Potsdam geforderten Kapitulation Japans den Einsatzbefehl gegeben. Die von der neuen Waffe völlig überraschte japanische Regierung unterbreitete nach der zweiten Bombe ein Kapitulationsangebot. Hiroshima binnen Sekunden vernichtet Am 6. August 1945 um 8.15 Uhr wirft ein US-Bomber auf Befehl des amerikanischen Präsidenten Harry Spencer Truman die Uran-Atombombe "Little-Boy" (li.) über Hiroshima ab und verwandelt die Stadt in ein Inferno. Eine auf der "Potsdamer Konferenz" ultimativ geforderte Kapitulation Japans war von der japanischen Regierung kategorisch abgelehnt worden. Da entschloß sich Truman zum Einsatz dieser Waffe, die sich im ersten Test in der Wüste von New Mexico Mitte Juli als durchschlagend erwiesen hatte. Offiziell begründete der Präsident diesen Schritt damit begründet, daß auf diese Weise ein verlustreicher Krieg um die Besetzung des Japanischen Mutterlandes vermieden werden könnte. Der thermonukleare Sprengsatz tötete auf einen Schlag mehr als 110.000 Menschen und zerstörte etwa 80 Prozent der Stadt. Die freigesetzte radioaktive Strahlung ließ auch in der Folgezeit viele weitere Menschen qualvoll zugrunde gehen. Die japanische Regierung war von der neuen Waffe völlig überrascht und über die weitere Vorgehensweise ratlos. Die Oberkommandierenden erkannten noch nicht die Hoffnungslosigkeit der Lage. Um Japan zur Kapitulation zu zwingen, befahl Truman, den Abwurf einer zweite Atombombe auf Nagasaki. 10.08.45 Japan kapituliert Nach den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki unterbreitet am 10. August 1945 die japanische Regierung den Alliierten ein Kapitulationsangebot. Um ihrem Kaisers Hirohito, dem in Japan gottähnliche Verehrung entgegengebracht wurde, die Chance zu geben, sein Gesicht zu wahren, stellte die Regierung in Tokio als Bedingung für die endgültige Kapitulation der japanischen Streitkräfte die Forderung "daß die Bedingungen der Übergabe nicht die Vorrechte des souveränen Herrschers (...) beeinträchtigen". Die formelle Unterzeichnung der Waffenstillstandsurkunde erfolgte dann knapp vier Wochen später auf dem amerikanischen Kriegsschiff "Missouri". Der Zweite Weltkrieg war damit endgültig beendet. Am 9. September 1945 rückten amerikanische Truppen unter dem Befehl von General Douglas MacArthur in Tokio ein. Das japanische Mutterland sowie die Riukiu-Inseln und Südkorea wurden von Amerikanern und Briten besetzt. Die Sowjetunion besetzte die Mandschurei, Nordkorea (bis zum 38. Breitengrad), Sachalin und die Kurilen. In den südostasiatischen Ländern, die nicht von den Alliierten erobert wurden (mit Ausnahme Burmas), übernahmen die umgebildeten Unabhängigkeitsregierungen die Macht. Diese Maßnahme sollte die Rückkehr der Kolonialmächte erschweren oder nach Möglichkeit ganz ausschließen. 15.08.45 Zionistischer Weltkongreß plant den Staat Israel Der zionistische Weltkongreß fordert die Errichtung eines Staates Israel. Das Programm, das Großbritannien als Mandatsmacht in Palästina vorgelegt wird, sieht neben der Staatsgründung die Einwanderung von einer Million Juden und den Abzug der britischen Truppen General Cunninghams vor. Die Forderung nach einem eigenen neuen Staat war die Reaktion der Juden in aller Welt auf die furchtbare Tragödie des Holocaust in Europa unter Hitler. Nach Bekanntwerden der Pläne wuchsen die Spannungen im Mittleren Osten. Während der neue amerikanische Präsident Harry Truman Großbritannien aufforderte, mindestens 100.000 Juden nach 43 VON 300 Palästina einwandern zu lassen, berief sich Saudi-Arabien auf eine Zusage Roosevelts, keine Entscheidung über Palästina ohne eine Absprache mit Juden und Arabern zu treffen. Allen voran Syriens Präsident al-Kuwwatli, aber auch Ägypten, der Libanon und der Irak warnten die USA vor außenpolitischen Konsequenzen, sollten sie sich für die Gründung eines Staates Israel einsetzen. Auch die Arabische Liga als Ganzes sprach sich am 31. Oktober 1945 scharf gegen die fortgesetzte jüdische Einwanderung aus. 19.09.45 In der US-Zone entstehen Bundesländer Vergeblich versuchen die Amerikaner im Herbst 1945 im Alliierten Kontrollrat, die Errichtung gesamtdeutscher Staatssekretariate zur Sicherung der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands durchzusetzen. Sie scheitern am Widerstand Frankreichs. Auf die Errichtung zentraler Verwaltungen in der sowjetischen Zone reagieren die Amerikaner mit der Bildung von Ländern. Die repressive Politik der Sowjets veranlaßte den amerikanischen Militärgouverneur Clay (li.) zur raschen Bildung deutscher Verwaltungen wenigstens in seiner Zone. Mit der Bildung der Länder Bayern, (Nord-)Württemberg-Baden, (Groß-)Hessen und später noch Bremen wurde im Oktober ein Länderrat gegründet. Durch dieses Gremium wurden die Ministerpräsidenten an der politischen Willensbildung der Militärregierung beteiligt. Im März 1946 wurde ihm ein "Parlamentarischer Rat" an die Seite gestellt, in den die Landtage paritätisch Abgeordnete aller vertretenen Parteien entsandten. Der Demokratisierungsprozeß in der amerikanischen Zone machte auch während der nächsten Zeit rasche Fortschritte: Schon 1946 fanden erstmals Zonen–, Gemeinde-, Kreistags- und Landtagswahlen statt. Landesverfassungen traten nach Volksabstimmungen in Kraft. Die beiden anderen Westzonen folgten dem amerikanischen Beispiel bald nach. 17.10.45 Der Stuttgarter Länderrat tritt zusammen In Stuttgart wird für die gesamte US-Zone eine koordinierende deutsche Verwaltungsinstitution ins Leben gerufen, um zumindest in diesem Rahmen ein Stück der gewünschten wirtschaftlichen Einheit im besetzten Deutschland sicherzustellen: Die Geburtsstunde des Länderrates der amerikanischen Zone. Am 17. Oktober 1945 traf der amerikanische Militärgouverneur General Lucius Clay (li.) mit den Ministerpräsidenten der amerikanischen Zone, Wilhelm Hoegner, Karl Geiler, Reinhold Maier und Wilhelm Kaisen, in Stuttgart zusammen. In seiner Eröffnungsansprache erläuterte der stellvertretende Militärgouverneur den Ministerpräsidenten die Ziele der amerikanischen Deutschlandpolitik. Die Bildung des Länderrates in der amerikanischen Zone war auf die Überzeugung der Amerikaner zurückzuführen, daß eine Koordinierung der einzelnen Zonenländer auf wirtschaftlicher und politischer Ebene zum Erreichten einer späteren gesamtdeutschen Wirtschaftseinheit unabdingbar sei. 14.11.45 Nürnberger Prozeß beginnt Von November 1945 bis Oktober 1946 findet vor einem Internationalen Militärtribunal der vier Siegermächte in Nürnberg der Prozeß gegen 24 hohe Repräsentanten der NSDAP statt. Die Anklage wirft ihnen u.a. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Fast alle Angeklagten beantworteten die obligatorische Frage der Ankläger nach Schuld oder Unschuld mit "nicht schuldig". Dennoch wurden insgesamt 12 Todesurteile verhängt, so gegen Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop und – in Abwesenheit – auch gegen den seit Mai verschollenen Martin Bormann. Darüber hinaus wurden hohe Freiheitsstrafen verhängt: "Führerstellvertreter" Rudolf Heß wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und setzte erst im Alter von 93 Jahren am 17. August 1987 im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis seinem Leben durch Selbstmord ein Ende. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. 44 VON 300 Die Todesurteile wurden am 16. Oktober 1946 in Nürnberg vollstreckt. Göring entzog sich der Exekution durch Selbstmord. Die NSDAP und die SS einschließlich ihrer Untergliederungen wie Waffen-SS und SD wurden wie die Gestapo zu verbrecherischen Organisationen erklärt. Der Nürnberger Prozeß führte nur bedingt zu der von vielen erwarteten Abrechnung mit dem nationalsozialistischen Terrorregime. Zahlreiche Parteigänger der NSDAP behielten hohe Positionen in Unternehmen, Forschung und Verwaltung. Die "Entnazifizierung" von Politik und Gesellschaft gelang nur in Ansätzen. 10.01.46 Waffenstillstand in China Dem Sonderbeauftragten des US-Präsidenten, General George C. Marshall, gelingt es am 10. Januar 1945 einen Waffenstillstand zwischen Mao Tse-tung und Chiang Kai-shek zu vermitteln. Kommunisten und Nationalisten hatten während der japanischen Besetzung weiter Teile Chinas einen Burgfrieden gewahrt. Als Japan am 2. September 1945 kapitulierte, versuchten beide Seiten erneut, ihren Machtbereich zu erweitern. Die Nationalisten waren militärisch deutlich überlegen: Sie hatten drei Millionen Mann unter Waffen und verfügten über modernstes amerikanisches Kriegsgerät, so daß sie den größten Teil des ehemals japanisch besetzten Gebietes unter ihre Kontrolle brachten. Der Entscheidungskampf zwischen den Truppen Chiang Kai-sheks und Mao Tse-tungs wurde jedoch noch einmal hinausgezögert. Sowohl die USA als auch die UdSSR drängten die Kontrahenten, sich friedlich zu einigen. Am Tag der Unterzeichnung des Abkommens in Chungking, dem 10. Januar 1946, nahm die "Politische Konsultativkonferenz" ihre Arbeit auf. Dieses Gremium tagte den ganzen Januar hindurch und erzielte Vereinbarungen über die Bildung einer Koalitionsregierung und die Vereinigung der Armeen von Nationalisten und Kommunisten. Die Vereinbarungen wurden jedoch nie in die Tat umgesetzt. Die Kämpfe zwischen beiden Seiten brachen bald wieder aus. 22.02.46 Warnungen aus der Moskauer US-Botschaft Alle Nachkriegskonzepte der Vereinigten Staaten gehen von einer fortbestehenden Partnerschaft mit der Sowjetunion aus. Erst allmählich findet 1946 ein Stimmungswandel statt. Entscheidenden Anteil daran hat das "Lange Telegramm" - ein Drahtbericht des amerikanischen Botschaftsrats George F. Kennan aus Moskau. Kennan war seit 1944 Botschaftsrat in Moskau. Er kannte die Führer des Kreml persönlich und hatte reichlich Gelegenheit die zugrundeliegenden Absichten sowjetischer Propaganda zu studieren. Im Februar 1946 faßte er seine Eindrücke zusammen und leitete sie Außenminister Byrnes (u.l.) zu. Kennan identifizierte den Weltkommunismus als einen "bösartigen Parasit, der sich nur von erkranktem Gewebe nährt." Stalin profitiere erheblich von der desolaten Wirtschaftslage in Europa. Washington müsse daher schnell handeln und dürfe sich keinen Illusionen mehr hingeben: Die UdSSR bekenne sich "fanatisch zu dem Glauben, daß es mit Amerika keinen dauernden Modus vivendi geben kann". Das "Lange Telegramm" gewann sofort immense politische Bedeutung. Die Befürworter eines radikalen Kurswechsels in Washington benannten nun Kennan zu ihrem Kronzeugen und forcierten eine Strategie der "Eindämmung", die sich schließlich 1947 in der "TrumanDoktrin" manifestierte. 26.03.46 Einigung über Industrieniveau In Ausführung der Potsdamer Beschlüsse, die vom Morgenthau-Plan von 1944 – einer Entindustrialisierung Deutschlands – abgekommen waren, machen sich die Alliierten daran, festzulegen, welche Friedenskapazität der deutschen Industrie belassen werden soll. 45 VON 300 Frankreich, Großbritannien, Amerika und Sowjetrußland - alle hatten unterschiedliche Vorstellungen vom künftigen Industrieniveau in Deutschland. Die Sowjetunion wollte so viele deutsche Betriebe wie möglich demontieren und im eigenen Land wieder aufbauen, ihr Verhandlungsziel war deshalb, den Anteil der sogenannten überflüssigen Betriebe möglichst groß zu bemessen. Die schon sehr einschneidenden Vorstellungen der Franzosen wurden damit weit übertroffen, noch mehr die der Amerikaner und Engländer, die bei aller Neigung, Deutschland zu bestrafen, doch keine Massenarmut heraufbeschwören wollten. In überaus zähen Verhandlungen, die sich besonders beim Streit um die Höhe der Stahlproduktion in die Länge zogen, einigte man sich am 26. März 1946 auf den ersten Plan für das deutsche Industrieniveau. 21.04.46 In der SBZ vereinen sich KPD und SPD zur SED In Ost-Berlin schließen sich KPD und SPD in der sowjetisch besetzten Zone zur Sozialistischen Einheitspartei (SED) zusammen. Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl werden zu gleichberechtigten Vorsitzenden gewählt, auch die Besetzung der anderen Spitzenpositionen erfolgt paritätisch. Die KPD hatte die Vereinigung forciert, nachdem ihre Schwesterparteien bei den Wahlen in Österreich und Ungarn sehr schlecht abgeschnitten hatten und zu befürchten stand, daß auch die deutschen Kommunisten bei den Wahlen in der SBZ eine ähnliche Niederlage hinnehmen müßte. Durch die organisatorische Trennung war die SPD - im besonderem Maße in ihren Landesverbänden - in der SBZ bei den Auseinandersetzungen mit der KPD und mit der sowjetischen Militärverwaltung deutlich geschwächt. Der SPD-Zentralausschuß konnte sich dem Druck der Kommunisten offensichtlich nicht mehr widersetzen. Anfang 1946 erklärte Kurt Schumacher, daß die organisatorische Einheit der SPD solange nicht gegeben sei, wie Deutschland in verschiedene Zonen aufgeteilt sei. Damit war die von Otto Grotewohl geforderte "Reichskonferenz" der SPD in weite Ferne gerückt. Auf einer letzten Begegnung am 8. Februar in Braunschweig konnte Schumacher Grotewohl nur noch die Auflösung der SPD in der SBZ empfehlen. 16.06.46 Außenminister der Siegermächte tagen in Paris Auf der Konferenz der Außenminister der vier Besatzungsmächte prallen im Juni 1946 die Meinungen aufeinander: die Kriegskoalition zerfällt. Deutlicher als auf den letzten Zusammentreffen wurden die Differenzen sichtbar: Während die Außenminister der USA und Großbritanniens, Byrnes und Bevin, die Entmilitarisierung und eine 25jährige Besetzung Deutschlands forderten, bestanden die Sowjets auf einer Vertragsdauer von 40 Jahren. Einigkeit herrschte lediglich in der Schaffung eines einzigen deutschen Staates, die Vorstellungen zur Ausgestaltung desselben klafften allerdings weit auseinander. Den Vorstellungen des sowjetischen Außenministers Molotow (u.l.) hinsichtlich des Demokratisierungsprozesses standen Briten und Amerikaner nach den jüngsten Entwicklungen in Osteuropa mit größter Skepsis gegenüber. Ebenso lehnten sie die von den Sowjets angestrebten Vorstellungen über Reparationen einhellig ab und plädierten für eine möglichst rasche wirtschaftliche Gesundung Gesamtdeutschlands. Die Forderungen nach Reparationen wurde nach dem dritten deutschen Überfall innerhalb von 70 Jahren auch von den Franzosen geteilt, die mit der Annexion des Saarlandes zudem auch noch mit territorialen Forderungen vorstellig wurden. 06.09.46 Wende in der amerikanischen Besatzungspolitik 46 VON 300 Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts gibt es einen Kurswechsel in der amerikanischen Besatzungspolitik. Deutschland soll nicht mehr "versklavt" werden, sondern es soll wirtschaftlich unabhängig werden. Der wirtschaftliche Zusammenschluß der britischen und amerikanischen Besatzungszone rückte in greifbare Nähe: Ein deutliches Signal für den neuen deutschlandpolitischen Kurs der amerikanischen Regierung setzte Außenminister James Byrnes mit seiner Rede vom 6. September 1946 in Stuttgart, die zu großen Teilen aus der Feder von General Lucius Clay stammte. Neben dem Vorschlag, in Deutschland eine provisorische Regierung zu bilden, präzisierte der US-Außenminister die Haltung seiner Regierung in der Frage der Westgrenze Polens, sprach das Saargebiet Frankreich zu, lehnte eine Abtrennung des Rhein-Ruhr-Gebietes von Deutschland definitiv ab und stellte weitere Reparationen nur für den Fall einer deutlichen Erhöhung der zugestandenen industriellen Produktion in Aussicht. Neu war, daß Byrnes die amerikanische Bereitschaft erklärte, in Deutschland und Westeuropa auf Dauer militärisch präsent zu bleiben und damit ein Gegengewicht zur sowjetischen Präsenz im Osten zu bilden. 01.10.46 Nazis auf der Anklagebank Ein Novum in der Geschichte des Völkerrechts: Auf Drängen der USA haben sich die Führer Nazi-Deutschlands wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu verantworten. Ein internationales Tribunal, besetzt mit Vertretern der vier Siegermächte, sollte in Nürnberg die Schuld von NS-Größen wie Göring, Heß, Speer oder Ribbentrop feststellen. Dem besiegten Deutschland sollten die Untaten seiner ehemaligen Führer deutlich vor Augen geführt werden. Deutsche Nazigrößen werden verurteilt Zwölfmal Todesstrafe: Der britische Vorsitzende des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg, Lord-Richter Sir Geoffrey Lawrence, verliest die Urteile gegen die angeklagten Nazi-Verbrecher. Um die Verbrechen gegen den Frieden, das Kriegsrecht und die Menschlichkeit zu ahnden, ergingen folgende Urteile: Zwölf Todesurteile, zu vollstrecken durch Erhängen, siebenmal bis zu lebenslänglich Gefängnis, drei Freisprüche. Die NSDAP, Gestapo, SS und SD wurden als verbrecherische Organisationen gebrandmarkt. Die bloße Zugehörigkeit zu einer dieser Organisationen hielt das Gericht aber nicht allein für strafwürdig, sondern bestand auf der individuellen Verantwortung, damit kollektive Massenbestrafungen vermieden würden. Unter den Angeklagten befanden sich Göring, Heß, Ribbentrop, Kaltenbrunner, Schacht, Jodl, Raeder, Dönitz und einige andere Vertreter des nationalsozialistischen Regimes. Am 31. August war die Bestandsaufnahme der nationalsozialistischen Willkürherrschaft über Deutschland und Europa abgeschlossen worden. Zweimal täglich hatten die deutschen Rundfunksender Berichte und Kommentare aus Nürnberg gebracht, damit, wie der amerikanische Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius Clay, später meinte, es deutsche Ohren schwer gehabt hätten, "das vorgebrachte überzeugende Beweismaterial nicht zu hören". Die Nachfolgeprozesse An den Prozeß vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg schließen sich zahlreiche Verfahren vor Militärgerichten der einzelnen Siegermächte an. Zwischen 1946 und 1949 führten die Amerikaner in Nürnberg zwölf Prozesse gegen Ärzte, Diplomaten wie den Staatssekretär von Weizsäcker (li.), Industrielle, Militärs und SS-Funktionäre. In Dachau klagten amerikanische Militärgerichte Mitglieder der Lagerverwaltung und der SS-Wachmannschaften der KZs von Dachau, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen, Nordhausen und Mühldorf an. 47 VON 300 Ähnliche Verfahren gegen Kriegsverbrecher fanden in der französischen, der britischen und der sowjetischen Besatzungszone sowie in den ehemals von der Wehrmacht besetzten Ländern statt. 1961 verurteilte ein israelisches Gericht den für die Massendeportationen verantwortlichen Adolf Eichmann in einem aufsehenerregenden Prozeß zum Tode. Deutsche Gerichte, die erst 1946 ihre Tätigkeit wieder aufnehmen durften, hatten sich zunächst auf die Verfolgung der auf deutschem Gebiet begangenen Straftaten zu beschränken. Vor einem deutschen Gericht fand Anfang der 60er Jahre der Prozeß um das größte Vernichtungslager Auschwitz statt, und bis in die 90er Jahre wurde die deutsche Öffentlichkeit ein ums andere Mal von der Nazivergangenheit eingeholt, so etwa durch den Majdanek-Prozeß oder den Fall des "Schlächters von Lyon", Klaus Barbie, 1987. 10.02.47 Friedensschlüsse mit ehemaligen Gegnern Während Deutschland auf die Teilung zusteuert, erhalten die ehemaligen WeltkriegsVerbündeten des Reiches – Italien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Finnland Friedensverträge. Neben den alliierten Großmächten USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion beteiligten sich weitere sechzehn Staaten an dem umfangreichen Pariser Vertragswerk, dessen wichtigste Punkte Regelungen zur Neuordnung der Staatsterritorien, Reparationszahlungen und Armeestärken der Unterzeichnerstaaten waren. Italien mußte einige Gebiete abtreten: Istrien an Jugoslawien, mit Ausnahme der Stadt Triest, die als Freistaat eingerichtet wurde, die Dodekanes-Inselgruppe in der Ägäis an Griechenland. Ferner verzichtete es auf seine afrikanischen Kolonien. Finnland trat die Provinz Petsamo, die es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion erhalten hatte, wieder an diese ab. Die fünf Staaten verpflichteten sich, faschistische Organisation zu verbieten und die demokratischen Grundsätze zu verteidigen. Italien mußte die höchsten Reparationsleistungen zahlen, 360 Millionen US-Dollar binnen sieben Jahren. Bis auf Bulgarien, das 70 Millionen US-Dollar zu zahlen hatte, wurden die anderen drei Staaten zur Zahlung von 300 Millionen US-Dollar verpflichtet. Bei der Vertragsunterzeichnung kam es jedoch auch auf mehreren Seiten zu Mißstimmigkeiten: Bulgarien und Rumänien protestierten gegen die Höhe der Reparationszahlungen. Tito forderte für Jugoslawien weitere italienische Gebiete, der italienische Regierungschef De Gasperi (li.) wiederum sprach sich für eine baldige Revision des Vertrages aus. 10.03.47 Unüberbrückbare Spannungen Die ideologischen Differenzen zwischen Ost und West werden unüberbrückbar. Nach den gescheiterten Verhandlung in Paris versuchen die Außenminister der vier Mächte in Moskau erneut in einer Konferenz die Fronten zu klären. Moskau sprach von Plänen imperialistischer Kreise, die Weltherrschaft zu gewinnen, die USA von finanzieller Hilfe für demokratische Regierungen. Dazu gehörte, daß US-Präsident Harry Truman kurz nach Beginn der Tagung ein Hilfsprogramm für Griechenland und die Türkei verkündete: wirtschaftliche und finanzielle Hilfe gegen "totalitäre Regierungen". In Deutschland erforderte die drastisch verschlechterte Versorgungslage nach dem harten Winter 1946/47 schnelles Handeln. So wurde erstmals die Deutsche Frage zentrales Thema der Verhandlungen. Die konträren Standpunkte traten vor allem in der Frage nach der Behandlung der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands zutage. Molotow (li.) forderte für die Sowjetunion Reparationen aus der laufenden Produktion sowie eine Beteiligung seines Landes an der Kontrolle des Ruhrgebiets. US-Außenminister George Marshall drängte dagegen auf eine wirtschaftliche Selbstverwaltung Deutschlands und lehnte die Entnahme von Reparationen aus der Produktion ab. Die Konferenz vertagte sich ohne Ergebnis auf den November des gleichen Jahres. 48 VON 300 Das Ruhrstatut Auch 1949 blieb die Forderung nach der Internationalisierung des Ruhrgebietes, d.h. die Abtrennung des deutschen Industriegebietes an Rhein und Ruhr vom übrigen deutschen Staatsgebiet, fester Bestandteil der offiziellen französischen Politik. Auch die Forderungen nach einer Sonderregelung für das Rhein-Ruhr-Gebiet und der Unterstellung unter alliierte Kontrolle wurden zu einem Ärgernis auf den Außenministerkonferenzen der Siegermächte. Auch die Sowjetunion trat für eine Internationalisierung der Ruhrindustrie ein und forderte in diesem Zusammenhang deren Kontrolle durch die vier Siegermächte. Auf diese Weise hoffte die UdSSR, nicht nur an der Ausbeutung der Ruhrindustrie beteiligt zu sein, sondern auch die Entwicklung Gesamtdeutschlands beeinflussen zu können. Sie verlangten zusätzliche Reparationen durch Demontage und Kohlelieferungen aus der laufenden Produktion des Ruhrgebietes. Die britische Besatzungsmacht im neugebildeten Land Nordrhein-Westfalen, das das Ruhrgebiet einschloß, wies mit Unterstützung der vierten Siegermacht USA alle diese Ansprüche zurück. Angesichts der sich abzeichnenden Favorisierung einer Westunion-Lösung für die drei westlichen deutschen Besatzungszonen verhandelten die Teilnehmer der Londoner Sechsmächtekonferenz 1948 auch über das zukünftige Schicksal des Ruhrgebietes. Mit Rücksicht auf das Sicherheitsbedürfnis Frankreichs wurde von den sechs Staaten ein Abkommen über eine internationale Kontrollbehörde für das Gebiet vereinbart, das am 28. April 1949 als "Ruhrstatut" unterzeichnet wurde. Die gemeinsame Kontrollbehörde sollte die Produktion an Kohle, Koks und Stahl kontrollieren und auf dem deutschen bzw. internationalen Markt verteilen. Zugleich sollte sie eine wirtschaftliche Konzentration verhindern. Das Ruhrgebiet blieb allerdings Bestandteil des deutschen Staatsgebietes. Als die Bundesrepublik Deutschland selbst nach ihrer Konstituierung im November 1949 der Ruhrbehörde beitrat, führte dies im neuen Deutschen Bundestag zu einer heftigen Kontroverse. Moskau offenbart unüberbrückbare Spannungen Die ideologischen Differenzen zwischen Ost und West werden unüberbrückbar. Nach den gescheiterten Verhandlungen in Paris versuchen die Außenminister der vier Mächte in Moskau erneut in einer Konferenz, die Fronten zu klären. Die Moskauer Außenministerkonferenz war von vornherein schwer belastet: Unter dem Eindruck der Truman-Doktrin sprachen die sowjetischen Gastgeber von Plänen imperialistischer Kreise, die Weltherrschaft zu gewinnen. Die USA bestritt solche Interessen und sprach von dringend nötiger finanzieller Hilfe für demokratische Regierungen. In Deutschland erforderte die drastisch verschlechterte Versorgungslage nach dem harten Winter 1946/47 schnelles Handeln. So wurde erstmals die Deutsche Frage zentrales Thema der Verhandlungen. Vor allem an den wirtschaftlichen Aspekten der Einheit schieden sich die Geister. Molotow (li.) forderte Reparationen aus der laufenden Produktion sowie eine Beteiligung seines Landes an der Kontrolle des Ruhrgebiets. US-Außenminister George Marshall drängte dagegen auf wirtschaftliche Selbstverwaltung Deutschlands und lehnte die Entnahme von Reparationen aus der Produktion ab. Die Sowjetunion sah ihre Ziele in weite Ferne rücken. Die Konferenz vertagte sich ohne Ergebnis auf den November des gleichen Jahres. 12.03.47 Die Truman-Doktrin Die Stimmung ist umgeschlagen: Verbitterung breitet sich aus angesichts der Politik Stalins in Deutschland und Osteuropa. Präsident Truman kündigt im Kongreß einen radikalen Kurswechsel an. 49 VON 300 Der Ausbreitung des kommunistischen Machtbereichs weltweit einen Riegel vorzuschieben lautete die neue Losung. Wirtschaftliche und militärische Unterstützung gefährdeter Länder - insbesondere Griechenlands und der Türkei - waren die Mittel dazu. 22.04.47 US-Hilfsprogramm für Griechenland und Türkei Präsident Truman fordert in einer leidenschaftlichen Rede vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses dringend ein Hilfsprogramm für Griechenland und die Türkei. Er begründete die Hilfen mit seinem Entschluß, allen von totalitären Bewegungen gefährdeten Ländern beistehen zu wollen. Der Plan war eine deutliche Warnung an die Adresse Stalins und wurde am 22. April vom Senat angenommen. Der sowjetische UNOBotschafter Andrej Gromyko (li.) kritisierte das Programm scharf. Auch innerhalb der USA gab es Bedenken: Der demokratische Senator Johnson bezeichnete es aufgrund seines militärischen Charakters als eine Art Kriegserklärung an die Sowjetunion. In dem Programm war die Entsendung amerikanischer Militärberater vorgesehen. Etwa die Hälfte der Summe von 300 Millionen Dollar für Griechenland und fast der gesamte Betrag für die Türkei -annähernd 100 Millionen Dollar – waren für Rüstungsgüter bestimmt. Die restliche Hilfe sollte den wirtschaftlichen Aufbau beider Länder unterstützen. Ausdrücklich behielt sich der Präsident vor, die Hilfsgelder jederzeit stoppen zu können. Anlaß für diese Maßnahme war der Bürgerkrieg in Griechenland, der die Gefahr barg, daß das Land in die sowjetische Einflußsphäre geraten könne. Andererseits besaß die Türkei enorme strategische Bedeutung für die USA. 05.06.47 Aufbauhilfe für Europa Wirtschaftshilfe aus den USA: Die westlichen Besatzungszonen bekommen massive Unterstützung, die Ostzone muß es alleine schaffen. Die Lage in Deutschland war schlecht, der Hungerwinter 46/47 verschärfte die Situation dramatisch. George Marshall erkannte die Lage und entwickelte für Europa ein wirtschaftliches Aufbauprogramm. Stalin durchschaute die amerikanische Taktik angesichts der verhärteten Fronten und verbot "seinen" Ländern die Teilnahme. Wiederaufbauprogramm für Europa Der neue Außenminister George Marshall (l.) spricht vor Studenten der HarvardUniversität zum Problem des Wiederaufbaus Europas. Er leitet damit die Kampagne für ein European Recovery Program (ERP) ein, schon bald Marshall-Plan genannt. Marshall stützte sich auf die Argumente einer Expertenkommission unter Leitung von Herbert Hoover, die im Frühjahr 1947 die wirtschaftliche Situation in Europa analysiert hatte. Adressat waren der amerikanische Kongreß, der die nötigen Gelder bewilligen mußte, obwohl er sich gerade zur Kürzung der Staatsausgaben verpflichtet hatte, und nicht zuletzt Europa selbst, das die Initiative ergreifen und gemeinsame Pläne aufstellen sollte. US-Präsident Harry S. Truman hatte Marshall Anfang des Jahres zum Nachfolger von Außenminister James Byrnes ernannt. Dies konnte nach amerikanischer Tradition niemanden überraschen. Marshall war zutiefst überzeugt, daß Washington nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Isolationismus praktizieren dürfe. Ohne substantielle Hilfe der USA sah er ganz Westeuropa in Chaos und Kommunismus versinken. Das Scheitern der Moskauer Außenministerkonferenz im März 1947 veranlaßte ihn zu der Annahme, daß die Sowjetunion genau darauf hoffte. 25.06.47 Erste überzonale Zusammenarbeit Angesichts der katastrophalen Lage im Nachkriegsdeutschland suchen amerikanische und britische Alliierte nach effektiveren Verwaltungslösungen und finden ein gemeinsames Gremium für die beiden Zonen: den Frankfurter Wirtschaftsrat. 50 VON 300 Unter der Leitung der Generäle Lucius Clay und Brian Robertson hatten die amerikanische und die britische Militärregierung in der ersten Hälfte des Jahres 1947 ein Konzept für eine neue Wirtschaftsverwaltung in ihren zusammengelegten Zonen ausgearbeitet. Als ein erstes parlamentarisches Gremium gründeten sie den Wirtschaftsrat in Frankfurt. Der spätere Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard wurde Präsident des Wirtschaftsrates. Der Alterspräsident des neuen Rates und CDU-Abgeordnete Schlack eröffnete die erste Sitzung des Wirtschaftsrates in Frankfurt mit den Worten: "Der Wirtschaftsrat ist ein Kind furchtbarer Not. Er ist nicht geboren aus der Erkenntnis heraus, daß dieser Weg beschritten werden mußte, um dem geschlagenen deutschen Volk wieder eine Zukunft zu geben, sondern er wurde geboren unter dem Druck furchtbarer Wehen, die zu einer Lösung drängten, wenn nicht ein Zusammensturz eintreten soll, aus dem es keinen Ausweg mehr geben würde..." 15.08.47 Unabhängigkeit für Indien Großbritannien entläßt seine alte Kolonie Indien in die Unabhängigkeit - ein Sieg der Volkskongreßbewegung unter der Führung von Mahatma Gandhi. "Ausverkauf des britischen Weltreichs!", wetterte Winston Churchill, doch auch er mußte sich dem Geist der Zeit beugen. Die langersehnte Unabhängigkeit barg jedoch Konflikte, so durch die Spaltung des Subkontinents in zwei Staaten: Indien und Pakistan. Beide erhielten den Status von Dominions im Rahmen des Commonwealth, doch der Grundstein für den Kaschmir-Konflikt war gelegt. 30-09-47 Eine Welt - zwei Lager Die Welt spaltet sich in West und Ost. Für die Sowjetunion gibt es nur noch zwei Lager: das gute sozialistische und das böse imperialistische. Um gegen die "Bösen" bestehen zu könne, schließen sich die "Guten" zusammen - im Kominform. Über die polnische Nachrichtenagentur PAP veröffentlichte das Kommunistische Informationsbüro (Kominform) überraschend ein Gründungskommuniqué. Die osteuropäischen sowie die italienische und französische KP hatten sich vom 17. bis zum 22. September in Szklarska Poreba im polnischen Riesengebirge zur Gründungskonferenz versammelt. Das Hauptreferat hielt Andrej A. Schdanow, Mitglied des ZK der KPdSU und Theoretiker der Partei. Der Grundgedanke seiner Ausführungen war, daß die Phase der internationalen Zusammenarbeit nunmehr zu einem Ende gekommen sei und die Welt sich künftig in zwei Lager teilen werde, in ein imperialistisches und in ein sozialistisches. Mit diesen Tönen kündigte sich die militante Phase der sowjetischen Außenpolitik im Zeitalter des Kalten Krieges an, die bis 1949 dauern sollte. Seiner äußeren Erscheinungsform nach war das Kominform lediglich eine zwischenparteiliche Organisation, der jede Weisungsbefugnis für die Regelung der inneren Angelegenheiten der Mitgliedsparteien fehlte. In Wahrheit war diese Gründung jedoch der Versuch, eine Befehlszentrale für die Koordination der kommunistischen Parteien des Ostblocks zu schaffen. Erste Phase des Kalten Krieges Die Kriegskoalition gegen das nationalsozialistische Deutschland war ein reines Zweckbündnis gewesen. Tiefgreifende Meinungsunterschiede zwischen den Westmächten und der UdSSR über die Neugestaltung Europas traten spätestens bei den Konferenzen von Jalta und Potsdam zutage. Die westlichen Alliierten hatten die Ausdehnung des sowjetischen Macht- und Einflußbereichs vorläufig akzeptiert. Sie waren im Kampf gegen Hitler-Deutschland auf die Hilfe der UdSSR angewiesen und tendierten dazu zu glauben, daß Stalin lediglich sowjetische Sicherheitsinteressen und keinerlei expansive Tendenzen verfolge. 51 VON 300 Das Verhältnis zwischen beiden Seiten war von Anfang an gespannt. In den Jahren 1945 bis 1947 gelang es noch, diese Differenzen zu kaschieren. Die ungelösten Fragen aber eskallierten, so daß die Ost-West-Beziehungen zunehmend von Konfrontation geprägt waren. Der Beginn des ersten "Kalten Krieges", der von Ende 1947 bis 1956 andauerte, stand vor der Tür. Die USA beantwortete 1947 die sowjetische Expansion mit einer "Politik der Eindämmung (containment): Mit einem komplizierten Bündnissystem sollte die weitere Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs verhindert und das bestehende Gleichgewicht bewahrt werden. Seit Mitte der 50er Jahre schwand die Gefahr eines offenen Krieges zwischen den beiden Supermächten, die atomare Abschreckung schien ihren Zweck zu erfüllen. In der Frage der Abrüstung zeigte die UdSSR allmählich Kompromißbereitschaft, die Beziehungen zu den USA verbesserten sich wieder. Stellvertreterkriege im außereuropäischen Bereich waren aber immer noch an der Tagesordnung. Dieser Phase der Entspannung folgte mit dem Berliner Mauerbau, der Kuba-Krise und spätestens mit der Zwei-Staaten Theorie Chruschtschows eine erneute Phase der Konfrontation, die Anfang der 70er Jahre ihren Höhepunkt erreichte. Abrüstungs- und Freundschaftsverträge führten zu einer zweiten Phase der Entspannung, die schließlich mit den 2+4-Veträgen ein endgültiges Ende des Kalten Krieges brachten. 30.10.47 Unterzeichnung des GATT-Abkommens Bescheidener in der Zielsetzung als die ITO (International Trade Organisation) unter dem Dach der UNO sind die 1946 in Genf begonnenen Besprechungen zur Senkung der Zolltarife, an denen 23 Länder teilnehmen. Aus ihnen resultieren 123 zweiseitige Handelsabkommen mit zum Teil erheblichen Zollsenkungen. Diese Verträge waren allesamt nach dem Prinzip der Meistbegünstigung geschlossen, d.h. der einem bestimmten Land eingeräumte günstige Einfuhrtarif stand automatisch auch allen anderen beteiligten Ländern zu. Der Wirtschafts- und Sozialrat der UNO faßte diese Verträge zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen zusammen (General Agreement On Tariffs and Trade, GATT), das am 30. Oktober 1947 von 23 Staaten unterzeichnet wurde. Das in Genf eingerichtete GATT-Büro organisierte in der Folgezeit regelmäßige internationale Konferenzen und wurde somit zu einer Art Ersatz für die nicht zustandegekommene ITO. Zwei Jahre nach Kriegsende war somit erkennbar, daß die Welthandelsländer nicht mehr beim Hyperprotektionismus der Devisenzwangswirtschaft und Importkontingentierung bleiben, sondern zum gemilderten Protektionismus der Zollsätze zurückkehren wollten. 06.12.47 Erster Deutscher Volkskongreß tagt in Berlin SED-Vorstoß für eine Staatsgründung. Ihr Aufruf zum ersten deutschen Volkskongreß soll eine legitime deutsche Regierung schaffen. Der Westen verweigert sich, die Ost-CDU auch. Die Volkskongreßbewegung wird zum Zugpferd sozialistischer Staatsgründung. Auf Einladung der SED tagte am 6. und 7. Dezember in Ost-Berlin der erste "Deutsche Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden". Neben Delegationen der SED und der LDPD nahmen auch Vertreter der Massenorganisationen und der Industriebetriebe der SBZ teil, außerdem Mitglieder der KPD, der SPD, der CDU der Westzonen sowie Einzelpersönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft. Insgesamt beteiligten sich 2.215 Personen an dem Kongreß in der Deutschen Staatsoper, darunter 664 aus den Westzonen. Der Kongreß wählte eine Delegation, die gegenüber den in London tagenden Außenministern der vier Großmächte ihre Forderung nach baldigem Abschluß eines 52 VON 300 Friedensvertrages vortragen sollte; diese erhielt jedoch von den Briten keine Einreiseerlaubnis. Da sich Jakob Kaiser (li.) wegen der Absage der westdeutschen SPD gegen eine offizielle Teilnahme der CDU der SBZ aussprach, wurde er im Dezember 1947 von der SMAD als Parteivorsitzender abgesetzt. Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) Die SED, die im April 1946 auf Betreiben der Kommunisten aus der Vereinigung von KPD und SPD hervorgegangen war, stellte sich als die Verwirklichung des im Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime und im Exil geborenen Zieles einer einheitlichen Arbeiterpartei dar. Sie trat anfangs mit dem Anspruch auf, einen eigenständigen, auf die deutschen Verhältnisse zugeschnittenen Weg zum Sozialismus zu verfolgen. Vor allem aber durch die einsetzende Verschärfung des Ost-West-Konflikts sowie durch die Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien bzw. den jeweiligen kommunistischen Parteien – verkörpert durch Stalin und Tito – sah sich die SED veranlaßt, sich eindeutig und vorbehaltlos zur Sowjetunion und zur KPdSU zu bekennen. Die These vom besonderen deutschen Weg zum Sozialismus wurde als falsch aufgegeben, die KPdSU und ihre Erfolge beim Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion als vorbildlich herausgestellt. Die SED wandelte sich so ab Sommer 1948 zu einer "Partei neuen Typs", d.h. aus einer Massenpartei sozialistischer Prägung wurde eine Kaderpartei mit straffem Führungsapparat, insbesondere durch die Errichtung eines Politbüros nach sowjetischem Vorbild. Die Schulung der Mitglieder wurde verstärkt, ihre Zuverlässigkeit durch den Aufbau von Parteikontrollkommissionen überwacht, neu eintretende Mitglieder wurden durch die Einführung einer Kandidatenzeit überprüft. Parteimitglieder – es waren vor allem solche, die vor 1946 der SPD angehörten –, die diese Entwicklung zu einer "Kampfpartei des Marxismus-Leninismus'' nicht bereitwillig mitmachen wollten, wurden ausgeschlossen, teilweise auch verhaftet, oder sie flohen nach Westdeutschland. Die verschärfte ideologische Ausrichtung traf auch oppositionelle Altkommunisten, die aus der Partei ausgeschlossen wurden. Obwohl die SED bei ihrer Gründung nur eine von drei zugelassenen Parteien war, spielte sie von Anfang an die dominierende Rolle im politischen Kräfteverhältnis der Sowjetzone. Bis zur Gründung der DDR wurde sie wesentlich von der SMAD unterstützt, wohingegen die anderen Parteien in ihrer Arbeit behindert wurden. Bis zu ihrer Umwandlung in die PDS nach dem Fall der Mauer durchlief die SED verschiedene Entwicklungsprozesse, die wesentlich von den jeweiligen Generalsekretären abhängig waren. Nach der Bildung des Staatsrates im Jahr 1960 und der Übernahme des Amts des Vorsitzenden durch Walter Ulbricht, der somit mächtigster Mann in der DDR und der SED wurde, erlebte die SED den Ausbau ihrer "führenden Rolle". Im Jahre 1968 ersetzte die SED die alte Verfassung der DDR durch eine neue "sozialistische" Verfassung und sicherte im Artikel 1 den Führungsund Monopolanspruch der SED. Mit der relativen Festigung der SED und den wirtschaftlichen Erfolgen in den 60er Jahren wuchs das Selbstbewußtsein der Parteiführung, vor allem Walter Ulbrichts, so daß sich die SED zunehmend von der Vorherrschaft der KPdSU und der Sowjetunion trennte und sogar in der Parteiideologie Revisionen vornahm. Dieser Versuch Ulbrichts, Eigenständigkeit zu entwickeln, führte im Mai 1971 zu seiner Absetzung. Völlig unerwartet trat Ulbricht zurück und übergab sein Amt als Generalsekretär Erich Honecker. Mit Erich Honecker setzte der gegenläufige Prozeß ein, so daß sich die SED wieder stark an der KPdSU orientierte und Ulbricht nach seinem Tode zur "Unperson" erklärte. 1974 kam es zur zweiten Verfassungsänderung in der DDR, in der die SED alle Hinweise auf eine deutsche Wiedervereinigung aus der Verfassung strich. In Folge der Umorientierung beschloß die SED im Mai 1976 eine Veränderung ihres Parteiprogramms und betonte nun vor allem den Ausbau der "führende Rolle" der SED. Mit Beginn der Krise um die SED und die DDR im Jahre 1981, vor allem wegen 53 VON 300 zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten und der absoluten Stagnation des Lebensstandards, versuchte die SED, ihre Bürger verstärkt in den Parteiapparat zu involvieren. Die ursprüngliche Orientierung an der Sowjetunion wurde seit der neuen Linie Gorbatschows aufgegeben. Honecker setzte weiterhin auf "seinen Sozialismus". Er ging auch dann nicht auf Reformen ein, als die Stimmung in der DDR schon am überkochen war, so daß die SED zusammen mit dem Fall der Mauer einen raschen Verfall ihrer "führenden Rolle" erlebte. Der letzte Parteitag der SED am 16. Dezember 1989 brachte zwar keine Auflösung der Partei, doch versuchte sie sich grundlegend umzugestalten. Im Februar 1990 nannte sie sich unter Gregor Gysi in PDS um und verstieß einige Parteifunktionäre der alten Garde. Ihr Vermögen mußte die PDS 1991 als Nachfolgepartei der SED der Treuhand übergeben. 30.01.48 Mord an Mahatma Gandhi Die Welt trauert um Mahatma Gandhi: Die Symbolfigur des indischen Unabhängigkeitskampfes wird von einem nationalistischen Hindu ermordet. Es war das zweite Attentat auf Gandhi in nur zehn Tagen. Wegen seiner Bereitschaft, auch mit Moslems zu leben und zu verhandeln, war Gandhi in den letzten Jahren mehr und mehr auch aus den eigenen, hinduistischen Reihen angefeindet und bedroht worden. Am 20. Januar war die Bombe eines jungen HinduExtremisten in Gandhis Haus explodiert. Zehn Tage später wenige Minuten vor 17 Uhr wurde Gandhi in seinem Garten von dem nationalistischen Hindu Nathuram Godse mit drei Revolverschüssen getötet. Mahatma Gandhi wurde 78 Jahre alt. Am darauffolgenden Tag wurde sein Leichnam vor einer Hunderttausende zählenden Menschenmenge in Rajghat verbrannt. Die Asche wurde am 12. Februar in den Ganges ausgestreut. 25.02.48 Moskau regiert Osteuropa Mit einem Staatsstreich setzt Moskau in der Tschechoslowakei seinen Machtanspruch durch. Die tschechische KP wird "gesäubert", der ganze Staat unter straffe stalinistische Kontrolle gestellt - der Eiserne Vorhang schließt sich. Unter dem Vorwand einer "Demokratisierung" wurden von Juli 1947 an in ganz Osteuropa die nationalen Mehrheitsregierungen gewaltsam durch stalinistische Regime ersetzt. Wo immer sich Widerstand regte, ob in Ost-Berlin, Ungarn oder in der Tschechoslowakei, in allen Ländern bekamen demokratische Strömungen die eiserne Hand Moskaus zu spüren. "Prager Coup" bringt Kommunisten an die Macht Tiefe Risse durchziehen die Koalitionsregierung in Prag vor den Parlamentswahlen. Mit einem regelrechten Staatsstreich reißen daraufhin die Kommunisten die Macht an sich. Die Vertreter der bürgerlichen Parteien hatten den kommunistischen Innenminister Vaclav Nosek aufgefordert, die Unterwanderung des Polizeiapparats einzustellen. Am 20. Februar hatten die Minister ihre Demission angeboten, mit Ausnahme der beiden sozialdemokratischen Minister und des parteilosen Außenministers Jan Masaryk. Das Kabinett blieb damit entgegen der Erwartungen der Zurückgetretenen beschlußfähig. Die Neuwahlen mußten nicht vorgezogen, sondern lediglich die Regierung umgebildet werden. Die KP reagierte mit Streiks und "Aktionskomitees". Ministerpräsident Klement Gottwald (l.) wies Präsident Eduard Beneš auf die Möglichkeiten eines Bürgerkriegs oder einer sowjetischen Intervention hin. Beneš stimmte daraufhin nach fünftägigen Verhandlungen der Ernennung einer neuen Regierung unter Gottwald zu, die fast ausschließlich aus Kommunisten bestand. 54 VON 300 Damit war die Machtübernahme durch die tschechoslowakische KP faktisch formell legal und ohne ernsthafte Gegenwehr gelunge. Bereits am nächsten Tag setzten Säuberungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ein. 20.03.48 Endgültiges Aus für gemeinsame Verwaltung Verärgert verläßt der Chef der Sowjetischen Militärverwaltung, Marschall Sokolowski, mit seiner Delegation den Alliierten Kontrollrat. Das Ausscheiden der Sowjets besiegelt das Ende der alliierten Zusammenarbeit in Deutschland. Die Vertreter der Westmächte hatten sich geweigert, über alle Fragen der Londoner Konferenz, die Deutschland betrafen, Auskunft zu geben. Auf dieser Sechsmächtekonferenz war eine Beteiligung der drei Westzonen am wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas und am Marshall-Plan beschlossen worden. Die gemeinsame Vier-Mächte-Politik war mit diesem Schritt endgültig gescheitert, die ehemaligen Verbündeten waren zu Gegnern geworden. Seit dem Scheitern der Londoner Viermächte-Außenminister-Konferenz hatte sich der Gegensatz zwischen Stalin und den drei Westalliierten verschärft. Insbesondere die Vereinigten Staaten intensivierten ihre Vorbereitungen für die Gründung eines deutschen Weststaates. Der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay faßte seine Eindrücke dieser letzten Sitzung wie folgt zusammen: "Als wir an jenem Tag den Konferenzsaal verließen, wußten wir, daß die Viermächte-Regierung zusammengebrochen war, und daß die Spaltung Deutschlands nun Wirklichkeit geworden war." 21.04.48 Erhard stellt Weichen für die Wirtschaft neu Der neugewählte Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, Ludwig Erhard, hält in der 14. Vollversammlung des Wirtschaftsrates eine große programmatische Rede: Er verkündet einen radikalen Kurswechsel in der bislang praktizierten Wirtschaftspolitik. Der Aufblähung der Wirtschaftsverwaltung sollte Einhalt geboten und das System der totalen Bewirtschaftung aufgelockert werden. Als sein Ziel bezeichnete Erhard die Befreiung der Menschen von der staatlichen Befehlswirtschaft und die allmähliche Wiederbelebung der Marktkräfte. Vom Geist des zwei Jahre zuvor verabschiedeten Ahlener Wirtschaftsprogramms der CDU Nordrhein-Westfalens war kaum noch etwas geblieben. Er verurteilte die "persönlichkeitstötende Gleichmacherei" und pries den Wettbewerbsgedanken, die freie Berufs- und Konsumwahl, die allein in der Lage seien, eine gerechte Verteilung der Wirtschaftsgüter zum Nutzen der Gesellschaft sicherzustellen. Erhards engagiertes Plädoyer für die freie Entfaltung der Befähigungen und Interessen von Konsumenten und Produzenten rief heftigsten Widerstand in den Reihen der Sozialdemokraten hervor, die dem liberalen Credo des Wirtschaftsdirektors ihre Forderung nach Kapital- und Investitionslenkung entgegensetzten und nur in der Planung und Lenkung der Wirtschaft einen Weg sahen, um das chaotische Trümmerfeld des sozialen und wirtschaftlichen Lebens wieder zu ordnen. Die Mehrheit im Wirtschaftsrat billigte jedoch die Konzeption Erhards, obgleich mancher konservative Abgeordnete der reinen Lehre, wie sie der Wirtschaftsdirektor vertrat, mit gemischten Gefühlen gegenüberstand. 14.05.48 Jüdischer Staat gegründet Als sich das britische Mandat für Palästina dem Ende zuneigt, gewinnt der langersehnte Traum vieler Juden endlich Gestalt: Der unabhängige jüdische Staat Israel kann gegründet werden. Doch die Staatsgründung Israels markierte auch den Beginn des jahrzehntelangen blutigen Nahostkonflikts zwischen Israelis und ihren arabischen Nachbarn. Die Aufteilung des britischen Mandatsgebiets zwischen Juden und Arabern führte zu andauernden Auseinandersetzungen um Grenzziehungen und Gebietsansprüche. 55 VON 300 Gründung des Staates Israel Nach fast zwei Jahrtausenden ersteht wieder ein jüdischer Staat. Am 14. Mai 1948 um Mitternacht endet das britische Mandat für Palästina aus dem Jahre 1923. David Ben Gurion proklamiert am selben Tag die Unabhängigkeit Israels. Der Staat Israel wurde offiziell am Nachmittag des 14. Mai im Museum von Tel Aviv ausgerufen. Dort tagte der Jüdische Nationalrat. Die Hatikwa, die neue Nationalhymne, wurde gesungen. Die Nationalversammlung verfügte in ihrem ersten legislativen Akt die Annullierung des britischen "Weißbuchs für Palästina". Alle Einwanderungsbeschränkungen wurden damit aufgehoben. Zwei Tage später, am 16. Mai 1948 wählte die Nationalversammlung Chaim Weizmann zum ersten Präsidenten des Staates Israel. Die Staatsoberhäupter der USA und der Sowjetunion, Harry S. Truman und Josef Stalin erkannten Israel sofort an. Die arabischen Nachbarstaaten hingegen beantworteten die einseitige Ausrufung Israels bereits am darauffolgenden Tag mit einem militärischen Angriff auf den neuen Staat. Die Kampfhandlungen dauerten bis Oktober und bescherten den Arabern herbe Verluste. Hunderttausende von moslemischen Palästinensern flohen aus dem Machtbereich der israelischen Armee und lebten fortan in Lagern. 20.06.48 D-Mark ersetzt Reichsmark Das "neue Deutschland" bekommt eine neue Währung. Die Währungsreform schafft die alte Reichsmark ab und bringt für die drei Westzonen die D-Mark. Die Ostzone erhält wenige Tage später die Mark. Ein Sprecher der Militärregierung gab über Rundfunk das erste Gesetz zur Währungsreform bekannt, um die Verantwortung der Alliierten für das Gesetz zu unterstreichen: Zum 21. Juni wurde die Reichsmark ungültig und durch die Deutsche Mark ersetzt. Jeder Bewohner der Westzonen konnte 60 Reichsmark im Verhältnis 1:1 in D-Mark umtauschen; von dieser Kopfquote sollten 40 Mark am Sonntag, den 20. Juni ausgezahlt werden, 20 Mark einen Monat später. Schuldenzahlungen ruhten für eine Woche (Moratorium). Löhne und Gehälter waren in der neuen Währung in gleicher Höhe wie bisher weiterzuzahlen, die Preise veränderten sich nicht. Da die Währungsreform unter massivem Druck der USA auf Frankreich auch in der französischen Zone durchgeführt wurde, war sie mithin ein erster Schritt von der "Bizone" zur "Trizone". 24.06.48 Luftbrücke nach Berlin 56 VON 300 Vom Westen abgetrennt: Als die Sowjetunion alle Landverbindungen zur ehemaligen Reichshauptstadt sperrt, ist West-Berlin blockiert. Erst die "Rosinenbomber" sichern wieder die Versorgung der Zwei-Millionen-Stadt. Die Blockade war eine Reaktion der sowjetischen Militärverwaltung auf die Einführung der Westmark. Der amerikanische Militärgouverneur, General Lucius Clay, rettete die Situation mit einer Luftbrücke für die wichtigsten Versorgungsgüter. Der Weg für die endgültige Teilung Deutschlands in zwei Staaten war nun jedoch endgültig vorgezeichnet. Alliierte Luftbrücke nach West-Berlin Einen Tag nach Beginn der Blockade West-Berlins errichten die Amerikaner eine Luftbrücke. Der sowjetischen Besatzungsmacht soll es nicht gelingen, die isolierte Stadt "auszuhungern". Alle verfügbaren amerikanischen Flugzeuge wurden für den Lufttransport der dringend benötigten Versorgungsgüter bereitgestellt. Noch am selben Tag landeten die ersten Maschinen mit Lebensmitteln, einen Tag später begann die organisierte Luftbrücke durch amerikanische Transportflugzeuge, der sich am 28. Juni auch die britische Luftwaffe anschloß. Zunächst standen nur kleinere Flugzeuge vom Typ "Dakota" zur Verfügung, aber sehr bald konnten "Skymaster" mit etwa 10 Tonnen Fracht eingesetzt werden. Gestartet wurde von Flughäfen nahe der Zonengrenze, wie von Frankfurt, Wunstorf bei Hannover, Faßberg in der Lüneburger Heide oder Lübeck-Blankensee. In West-Berlin konnten anfangs nur die Flughäfen Tempelhof und Gatow angeflogen werden, daneben benutzten die Engländer die Havel zeitweise als Landeplatz für ihre "Sunderland"-Flugboote. 25.06.48 Verbindungswege nach Berlin abgeriegelt Die Einführung der D-Mark in den drei Westsektoren Berlins bleibt nicht ohne Reaktion. Die sowjetische Militärverwaltung sperrt die Verkehrsverbindungen zwischen West-Berlin und Westdeutschland. Waren bewirtschaftete Lebensmittel wie Brot, Kartoffeln, Fleisch und Zucker, Grundstücksmieten, Strom- und Gasgebühren zwar auch noch in Ostmark zu bezahlen, so galt dennoch der Tatbestand, daß in West-Berlin nun zwei Währungen gültig waren. Eine Katastrophe für die Sowjetunion, auf die sie mit der totalen Blockade der westlichen Sektoren reagierte. Der Schienenweg war "infolge einer technischen Störung" in der Nacht zum 24. Juni für den Passagier- und Güterverkehr gesperrt worden. Der Verkehr auf den Straßen und Autobahnen war von den Sowjets als Folge der angekündigten Währungsreform zum Schutz der Wirtschaft der sowjetischen Zone schon am 18. Juni eingestellt worden. Die in Ost-Berlin und Umgebung gelegenen Elektrizitätswerke stellten ihre Stromlieferungen für die Westsektoren ein. Der Verkauf von frischen Lebensmitteln wie Gemüse oder Milch aus der Sowjetzone wurde untersagt. Allein Luftverkehr war fortan die einzige Möglichkeit, die Zwei-Millionen-Stadt zu versorgen. 26.08.48 Kommunisten stürmen Berliner Stadthaus Kommunistische Pressionen führen zur Spaltung der Stadtverordnetenversammlung: das Ende eines Gesamtberliner Stadtparlaments. Die für den 26. August 1948 anberaumte 80. Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung konnte wegen anhaltender Demonstrationen nicht stattfinden. Sie wurde auf den nächsten Tag verlegt, mußte aber vom Stadtverordnetenvorsteher Otto Suhr (li.) erneut vertagt werden, da "die Polizei im sowjetischen Sektor nicht in der Lage oder gewillt war, die Stadtverordneten zu schützen". Als am 6. September die anberaumte 81. Sitzung durch eine Besetzung des Neuen Stadthauses verhindert wurde, verlegte Suhr die Versammlung in den britischen Sektor, in 57 VON 300 das Studentenhaus der Technischen Universität. Die Fraktion der SED weigerte sich, an Sitzungen außerhalb des Neuen Stadthauses teilzunehmen und erkannte die Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung, die nun ständig im Studentenhaus am Steinplatz tagte, nicht mehr als verbindlich an. Drei Tage nach der Spaltung der Stadtverordnetenversammlung fand am 9. September 1948 die bisher größte Kundgebung West-Berlins statt. Etwa 300.000 Menschen waren dem Aufruf von SPD, CDU, LDP und der "Unabhängigen Gewerkschaftsorganisation" (UGO) gefolgt und demonstrierten gegen die Politik der SED und der Sowjetunion. Ernst Reuter erklärte, daß Berlin, ein "Vorposten der Freiheit", nicht ungestraft preisgegeben werden könne und bei kommenden Viermächteverhandlungen kein Tauschobjekt sei. 19.03.49 Der Deutsche Volksrat billigt DDR-Verfassung In der SBZ stehen die Zeichen auf Staatsgründung. Während immer noch die Option auf einen gesamtdeutschen Staat offengehalten wird, laufen die Planungen in Richtung separater Staatsgründung. Die Verabschiedung einer eigenen Verfassung ist eine wichtige Voraussetzung. Die Verfassung der DDR wurde auf der sechsten Sitzung des Volksrates einstimmig gebilligt. Im Vorfeld war der Verfassungstext für eine "Deutsche Demokratische Republik" im Oktober 1948 veröffentlicht und zur Diskussion gestellt worden. Zahlreiche Änderungsvorschläge wurden eingereicht und streckenweise eingearbeitet. Die verabschiedete Fassung fixierte u.a. die Umgestaltung des Eigentumsrechts durch die Bodenreform und die Verstaatlichung eines großen Teils der Industriebetriebe in der SBZ, den Aufbau einer staatlich gelenkten Wirtschaft, die Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr und das Recht auf Arbeit. Auf dieser Sitzung beschloß der Volksrat zudem die Wahl zu einem Dritten Deutschen Volkskongreß - "zur Behebung des nationalen Notstandes", wie die Begründung lautete. Diese Wahl fand am 15. und 16. Mai erstmals auf Grundlage einer Einheitsliste statt. Der Staat DDR begann zu leben. 04.04.49 Bündnis für den Westen Washington bricht mit einem fest verankerten Prinzip: Erstmals treten die USA einem formellen Verteidigungsbündnis außerhalb des amerikanischen Kontinents bei. Der Nordatlantikpakt (NATO) verpflichtete die USA, auf 20 Jahre befristet, Kanada und zehn europäische Staaten, einen Angriff auf einen der Bündnispartner als Angriff auf alle Bündnisstaaten zu werten. Die Sowjetunion sollte damit von weiteren Übergriffen abgehalten, die Stellung der USA in der Welt und in Europa dagegen weiter ausgebaut werden. Gründung der NATO in Washington Die Außenminister der USA, Kanadas, Belgiens, Dänemarks, Frankreichs, Islands, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Norwegens, Portugals und Großbritanniens unterzeichnen am 4. April 1949 in Washington die Gründungsakte der "North Atlantic Treaty Organization" (Nordatlantikpakt, NATO). Die Signatarstaaten beschlossen mit diesem Verteidigungspakt, einen Angriff auf einen der Bündnispartner als Angriff auf alle Bündnisstaaten zu werten. Allerdings waren nur die Mutterländer und die Kolonien mit Küsten am nördlichen Atlantik oder dem Mittelmeer unter den Bündnisschutz gestellt. Eine Aggression gegen das französische Indochina beispielsweise verpflichtete die Signatarstaaten nicht zur Bündnispflicht. Die Länder gelobten, den Frieden nicht zu gefährden und die Grundsätze der Demokratie zu fördern. Es war das erste Militärbündnis der USA außerhalb des amerikanischen Kontinents. Bislang verbot die "Monroe-Doktrin" im Frieden eine Einmischung der USA außerhalb ihres Kontinents. Im Juni 1948 war mit der Verabschiedung der "Vandenberg- 58 VON 300 Resolution" im US-Senat der Weg frei, Bündnisse auch in Friedenszeiten zu schließen. Der britische Außenminister Ernest Bevin beurteilte die Einrichtung der NATO als "einen der wichtigsten Schritte zur Förderung des Weltfriedens und der Sicherheit". Im Vordergrund stand für ihn der Schutz vor einer sowjetischen Aggression in Europa. Auch Frankreichs Außenminister Robert Schuman betonte die Gefahr für die westlichen Länder, der sich durch den Zusammenschluß Osteuropas ergeben würde. 18.04.49 Die Republik Irland erklärt ihre Unabhängigkeit Irland tritt aus dem britischen Commonwealth und erklärt am 18. April 1949 in einem feierlichen Akt in der Hauptstadt Dublin seine "völlige" Unabhängigkeit von der britischen Krone. Damit sind alle Bindungen gelöst, die bis dahin 750 Jahre lang bestanden hatten. Die traditionelle Feindschaft zwischen Iren und Briten sollte nach den Worten von Ministerpräsident John A. Costello endgültig beigelegt werden. Die Region Ulster um die nordirische Stadt Belfast blieb allerdings unter britischer Verwaltung, da dort mehrheitlich Protestanten von der britischen Insel angesiedelt worden waren. Dies wurde von der britischen Regierung Attlee auch nochmals im Irlandgesetz vom 3. Mai 1949 bekräftigt. Irland reagierte daraufhin mit einem entschiedenen Protest. Letztlich hatte der entscheidende Kampf um die irische Unabhängigkeit bereits 33 Jahre früher begonnen. Die Führer der irisch-nationalistischen Sinn Fein-Bewegung hatten am 18. April 1916 beim Osteraufstand in Dublin eine irische Republik ausgerufen, waren nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands jedoch von den Briten hingerichtet worden. Am 6. Dezember 1921 war die Insel – mit Ausnahme von Ulster – durch einen Vertrag mit Großbritannien zum Freistaat mit einer unabhängigen Regierung und einem eigenen Parlament erklärt worden. 1937 hatte sich der irische Freistaat dann einseitig eine neue Verfassung gegeben, die allerdings erst 1945 Anerkennung durch Großbritannien gefunden hatte. 25.04.49 Grundgesetz kann verabschiedet werden Nach fünfmonatigen Verhandlungen erzielen der Parlamentarische Rat und die drei Westmächte eine Einigung über die Interpretation des Grundgesetzes. Sechs Stunden hatten die Vertreter aller Seiten in der abschließenden Sitzung zusammengesessen, bis sie sich auf eine gemeinsame Interpretation der vorliegenden Bestimmungen einigen konnten. Vorausgegangen waren Wochen des hartnäkkigen Tauziehens um das Bonner Verfassungswerk. Französischen Sicherheitsbedürfnissen war durch das Besatzungsstatut - das am 10. April 1949 dem Parlamentarischen Rat übermittelt worden war – Rechnung getragen, so daß von dieser Seite kein Widerstand mehr zu befürchten war. Die Konzessionen der drei Westmächte hatten die Hinhaltetaktik Kurt Schumachers im Nachhinein gerechtfertigt. Die ökonomische und sicherheitspolitische Stärkung des Westens unter Einschluß der Bundesrepublik trat als wichtigstes außenpolitisches Ziel an die Spitze der amerikanischen Prioritätenskala. 05.05.49 Europarat in London gegründet Nach dem Zweiten Weltkrieg wollen viele europäische Politiker, wie Winston Churchill, Léon Blum, Paul Henri Spaak (u.l.), Alcide De Gasperi, durch praktische Zusammenarbeit und die Schaffung gemeinsamer politischer Organe die nationalstaatlichen Interessengegensätze überwinden und damit den Frieden sichern. Ein Höhepunkt dieser europapolitischen Aktivitäten ist der Haager Kongreß vom 7. bis 11. Mai 1948. Ein Jahr später, am 5. Mai 1949, unterzeichneten die Außenminister von zehn europäischen Staaten im Londoner St. James Palace das Statut des Europarats. Sitz des neuen Europarats wurde Straßburg. 59 VON 300 Die beschränkten Kompetenzen des Europarats – er hatte keine Entscheidungsrechte, sondern nur beratende Funktionen – brachte deutlich zum Ausdruck, daß die hochfliegenden europäischen Ideale in der Praxis am nationalstaatlichen Kalkül der Regierungen scheiterten. Immerhin sahen die beteiligten Regierungen (Großbritannien, Luxemburg, Frankreich, Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Italien, Schweden und Irland) im Europarat eine geeignete Institution, um Westdeutschland in kontrollierter Weise in die westliche Völkergemeinschaft aufnehmen zu können. Im August 1949 schlossen sich Island, Griechenland und die Türkei an, die Bundesrepublik Deutschland wurde 1951 offizielles Mitglied. 12.05.49 Das Ende der Berlinblockade Elf Monate nach Beginn der Berlinblockade führen Gespräche zwischen dem amerikanischen Delegierten Philipp Jessup und dem sowjetischen Unterhändler Jakob Malik in New York endlich zum Erfolg: Die Blockade wird aufgehoben. Der Appell der Berliner Stadtverordnetenversammlung an die UNO hatte im Juni 1948 kein Gehör gefunden, im Oktober waren die Verhandlungen im Sicherheitsrat an der Weigerung der sowjetischen Delegation gescheitert, dieses Organ für zuständig zu erklären. Erst Ende Januar deutete Stalin an, daß die Berlin-Verhandlungen nicht an Währungsfragen scheitern würden. Der KPdSU-Chef hatte erkannt, daß es den Westmächten wider Erwarten gelungen war, eine Zwei-Millionen-Stadt durch die Luft zu versorgen. Das am 4. Mai von den vier Mächten unterzeichnete Abkommen sah die Aufhebung der Blockade sowie der von den Westmächten verhängten "Gegenblockade" des Wirtschaftsverkehrs zwischen der Sowjetzone und Westdeutschland vor. Am selben Tag wurden auch die ersten Züge am Bahnhof Zoo in Richtung Westen abgefertigt. Der Verkehr rollte wieder in beide Richtungen. Die Luftbrücke wurde noch einige Monate aufrecht erhalten, um für den Fall ähnlicher Entwicklungen in der Zukunft Lebensmittel- und Kohlelager in der Stadt anlegen zu können. 12.05.49 Alliierte Hohe Kommission wird eingerichtet In der Zeit zwischen der Verabschiedung des Grundgesetzes und der Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages stellen die drei Westalliierten durch vertragliche Abmachungen ihre gemeinsame Besatzungstätigkeit auf eine neue Rechtsgrundlage. Auf der Washingtoner Außenministerkonferenz im April 1949 hatten sich die Westmächte auf die Verschmelzung ihrer Zonen zur Trizone sowie auf ein gemeinsames Besatzungsstatut geeinigt. Mit der Verkündung des Statuts am 12. Mai 1949 durch die drei Militärgouverneure endete deren Funktion. An ihre Stelle traten nunmehr drei Hohe Kommissare als Vertreter ihrer Regierungen. Als Nachfolger General Lucius Clays, der Deutschland am 15. Mai verließ, wurde John McCloy (l.) am 18. Mai ernannt. 1953 wurde dieser von James B. Conant abgelöst. An die Stelle von General Koenig trat André François-Poncet, während Sir Brian Robertson als Zivilist das Amt des britischen Hohen Kommissars übernahm. Im Sommer berieten die Vertreter der drei westlichen Regierungen die Einzelheiten der Rechte und Aufgaben der Alliierten Hohen Kommission für Deutschland, die "gemäß den Bestimmungen des Besatzungsstatuts die Kontrolle über die Bundesregierung und die Regierungen der sie bildenden Länder" auszuüben hatte. 23.05.49 Geburtsstunde der BRD Vier Jahre nach Kriegsende bilden die drei Westzonen in Deutschland einen neuen deutschen Staat: die Bundesrepublik wird gegründet. Doch mit dem neuen Staat wird auch die Trennung zwischen Ost und West zementiert. Die Sowjetunion hatte zunächst versucht, das Vier-Mächte-System wiederherzustellen, doch die USA, Großbritannien und Frankreich lehnten ab. Gleichzeitig verhinderte Moskau 60 VON 300 auch die Ausdehnung des Grundgesetzes auf die SBZ und vereitelte so eine mögliche Vereinigung Deutschlands. Das Grundgesetz schafft die Bundesrepublik In einem feierlichen Akt unterzeichnen die Ministerpräsidenten der Länder und die Landtagspräsidenten vor dem Plenum des Parlamentarischen Rates das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Mit Ablauf des Tages tritt es in Kraft. Nach der Unterzeichnung, die von den beiden kommunistischen Abgeordneten Heinz Renner und Max Reimann verweigert wurde, fand die offizielle Verkündung durch den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, statt. In seiner Festansprache betonte er den Beginn eines neuen Abschnittes in der Geschichte des Deutschen Volkes. Zehn der elf deutschen Landtage hatten mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit dem Entwurf zugestimmt. Allein der bayerische Landtag hatte ablehnend entschieden. 01.08.49 Atom-Monopol fällt Das amerikanische Atombombenmonopol hält ganze vier Jahre. Viel früher als erwartet zieht die Sowjetunion gleich, das atomare Wettrüsten beginnt. Die Welt erfuhr von dieser Tatsache ausgerechnet aus dem Mund von US-Präsident Truman. Allgemeine Verunsicherung machte sich breit: Würden New York oder Washington bald das Schicksal Hiroshimas teilen? Oder gab es Wege aus dem Dilemma des atomaren Patts? Sowjets zünden ihre erste Atombombe Im August 1949 zündet die Sowjetunion ihre erste Atombombe. Die internationale Öffentlichkeit erfährt erst Wochen später durch den amerikanischen Präsidenten Harry Truman davon. Den USA lägen Beweise vor, so erklärt er, daß in der Sowjetunion vor kurzer Zeit eine Atombombe explodiert sei. Stalin hatte also gleichgezogen. In der amerikanischen Öffentlichkeit löste diese Nachricht große Verunsicherung aus. Der von Experten wiederholt bestätigte wissenschaftliche Vorsprung schien plötzlich verloren. Der sowjetische Außenminister Molotow hatte zwar schon am 6. November 1949 erklärt, daß es kein Geheimnis um die Atombombe mehr gäbe, im Westen hatte man aber dahinter allgemein eine Propagandamaßnahme vermutet. Stalin gestand als Reaktion auf die Erklärung Trumans am 25. September 1949 ein, daß es eine Atomexplosion gegeben hätte, versicherte jedoch, die Sowjetunion träte weiterhin für ein absolutes Verbot der Anwendung von Atomwaffen ein und beabsichtige allein die friedliche Nutzung. Das "Neue Deutschland" führte dieses Thema am 6. November 1949 weiter aus. Das Blatt berichtete, bei der Atomexplosion in der Sowjetunion hätte es sich um eine Sprengung am Turgai-Tor zwischen Ural und Kaukasus gehandelt, die der Durchführung eines Bewässerungsprojektes diente. Die Flüsse Ob und Jenissei sollten aufgestaut und ihr Lauf vom Eismeer nach Süden umgelenkt werden. 07.09.49 Konstituierung von Bundesrat und Bundestag Der erste Deutsche Bundestag tritt zusammen: 402 Abgeordneten und acht Berliner Abgeordneten ohne Stimmrecht nehmen an der konstituierenden Sitzung teil. Der frühere Präsident des Frankfurter Wirtschaftsrates, Erich Köhler (l.) von der CDU wird zum ersten Bundestagspräsidenten gewählt. Am gleichen Tag, an dem die konstituierende Sitzung des Bundestages stattfand, trat auch der Bundesrat zum ersten Mal in Bonn zusammen. Alle Beobachter und Adenauer selbst 61 VON 300 gingen davon aus, daß der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard zum Präsidenten des Bundesrates gewählt werden würde. Bereits im Vorfeld hatte sich Adenauer mit Ehard über dessen Berufung verständigt, um den föderalistischen Bedenken der CSU Rechnung zu tragen. Doch zehn Ministerpräsidenten stimmten im Bundesrat für den Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens Karl Arnold. Dies führte führte zu einer Koalitionskrise, noch bevor die Koalition gebildet war. Verärgert verlangten die Vertreter der CSU von Adenauer dafür einen Ausgleich bei der Verteilung der Regierungsämter. Neue Verhandlungen mit den beiden kleineren Koalitionspartnern und einflußreichen Gruppen innerhalb der CDU wurden nötig. 12.09.49 Theodor Heuss wird Bundespräsident Die 804 Mitglieder der Bundesversammlung, die sich je zur Hälfte aus den Abgeordneten des Bundestages und Vertretern der Landtage zusammensetzt, wählt den Kandidaten der FDP, Professor Theodor Heuss, im zweiten Wahlgang zum Bundespräsidenten. Vergeblich hatte Adenauer versucht, Kurt Schumacher für die Kandidatur von Heuss zu gewinnen. Es war keineswegs gesichert, daß der Kandidat Adenauers die notwendigen 403 Stimmen auf sich vereinigen konnte. Im Kreise der sozialdemokratischen Vertreter in der Bundesversammlung gab es daher starke Kräfte, die Louise Schroeder (l.), Wilhelm Kaisen oder Ernst Reuter als Gegenkandidaten aufzustellen wünschten, da man sich mit diesen Personen echte Chancen ausrechnete, "bürgerliche" Stimmen zu gewinnen und Heuss zu schlagen. Gegen erheblichen Widerstand in den eigenen Reihen setzte Schumacher seine eigene vermeintlich aussichtslose Kandidatur durch, um zu gewährleisten, daß kein sozialdemokratischer Bundespräsident Gesetze unterschreiben müsse, die gegen den Widerstand der SPD im Bundestag beschlossen wurden. Während im ersten Wahlgang Heuss nur 377 Stimmen auf sich vereinigen konnte (311 wurden für Schumacher abgegeben sowie eine unerhebliche Zahl von Stimmen für weitere Kandidaten), erhielt er im zweiten Wahlgang mit 416 Stimmen die absolute Mehrheit. 15.09.49 Adenauer zum ersten Bundeskanzler gewählt Konrad Adenauer wird zum ersten Kanzler der Bundesrepublik vereidigt. In der dritten Sitzung des Bundestages hatte Bundespräsident Theodor Heuss den CDU-Politiker formell als Kandidaten vorgeschlagen. Den Wunsch des Bundespräsidenten, Einsicht in seine Kabinettsliste nehmen zu dürfen, hatte Adenauer zwei Tage zuvor abgelehnt und damit deutlich zum Ausdruck gebracht, daß dem Staatsoberhaupt keinerlei Einfluß auf die Kabinettsbildung zustand. Bis zuletzt fand ein hartnäckiges Tauziehen aller Beteiligten um die Vergabe der Ministerposten statt – aus den ursprünglich vorgesehenen acht Ressorts wurden schließlich aus koalitionspolitischen und Proporzerwägungen dreizehn. Gespannt warteten die Bundestagsabgeordneten auf das Wahlergebnis. Mit der denkbar knappsten Mehrheit von 202 Stimmen – es war gerade die erforderliche absolute Mehrheit der 402 Mitglieder des Bundestages – wurde Adenauer zum Bundeskanzler gewählt. 142 hatten gegen ihn gestimmt, 44 hatten sich der Stimme enthalten, eine Stimme war ungültig. Am Vormittag des 20. September legte Adenauer dem Bundespräsidenten seine Kabinettsliste vor, am Nachmittag wurden der Bundeskanzler und seine Minister vereidigt. Der erste Deutsche Bundestag Der erste Deutsche Bundestag erinnert noch stark an die Verhältnisse im Reichstag zur Zeit der Weimarer Republik: Immerhin elf Parteien können am 14. August ins Bonner Parlament einziehen. Die beiden Unionsparteien CDU und CSU konnten zusammen zwar 31 Prozent der Stimmen bzw. 139 von insgesamt 402 Mandaten gewinnen und damit die SPD, die mit 29,2 Prozent bzw. 131 Mandaten wider Erwarten schlecht abschnitt, auf den 62 VON 300 zweiten Platz verweisen; sie waren jedoch zur Regierungsbildung auf eine Koalition mit anderen Parteien angewiesen. Die auf Betreiben Adenauers schließlich aus der Taufe gehobene kleine Koalition mit der FDP (11,9 Prozent; 52 Mandate) und der DP (vier Prozent; 17 Mandate) hatte zwar mit 208 Abgeordneten die erforderliche Mehrheit im Bundestag für die Kanzlerwahl, doch ob sie von Dauer sein würde, war anfänglich alles andere als gewiß. Die KPD erreichte 5,7 Prozent der Wählerstimmen und war mit 15 Abgeordneten im Bundestag vertreten. Der Wiederaufstieg regionaler Kleinparteien – Bayernpartei, Zentrum, Deutsche Partei, Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung –, die bei der ersten Bundestagswahl die Fünfprozentsperrklausel nur in jeweils einem Land überspringen mußten, war ein Unsicherheitsfaktor für das parlamentarische Überleben der Regierung. 01.10.49 China wird kommunistisch Nach über zwei Jahrzehnten Bürgerkrieg ruft Mao tse-Tung auf dem Tor des Himmlischen Friedens in Peking die Volksrepublik China aus. "Nie wieder soll das chinesische Volk versklavt werden", rief Mao der Menge zu. Für die Vereinigten Staaten hingegen brach ein Eckpfeiler ihrer Sicherheitspolitik weg. Washington hatte massiv auf die Nationalisten unter Chiang Kai-shek gesetzt, die sich nach Maos Sieg nur mehr auf der Insel Taiwan halten konnten. Gründung der Volksrepublik China Auf dem Tor des Himmlischen Friedens in Peking stehend proklamiert Mao Tse-tung die Volksrepublik China. "Nie wieder soll das chinesische Volk versklavt werden", ruft er der auf dem Platz versammelten unübersehbaren Menschenmenge zu. Die letzten Voraussetzungen für diesen Schritt waren im Monat zuvor geschaffen worden, als am 21. September die "Politische Konsultativ-Konferenz des chinesischen Volkes" zusammentrat. Dieses Gremium versammelte 584 Delegierte aller Einheitsfrontparteien. Ende September verabschiedete sie zwei Organisationsgesetze, welche die gesetzliche Grundlage für den neuen Staatsapparat legten. Mao Tse-tung wurde zum Ersten Vorsitzenden der zentralen Volksregierung und damit zum chinesischen Staatsoberhaupt gewählt. Den Posten des Ministerpräsidenten und Außenministers übernahm Chou En-lai. Noch befand sich das chinesische Festland nicht vollständig unter der Kontrolle der neu angetretenen kommunistischen Regierung. Die Niederlage der Nationalisten unter Chiang Kai-shek war jedoch in greifbare Nähe gerückt. Ihr Rückzug nach Chungking, in das unzugängliche Becken von Sichuan, konnte diese nur wenige Monate hinauszögern. 07.10.49 Die Ostzone wird ein Staat Fünf Monate nach der Gründung der Bundesrepublik wird in der sowjetischen Besatzungszone ein eigenständiger Staat proklamiert - die Geburtsstunde der Deutschen Demokratischen Republik. Mit der Gründung der DDR sollten die "Grundlagen eines neuen, unabhängigen und freien gesamtdeutschen Staates" geschaffen werden, so zumindest die Theorie. Die Praxis sollte ganz anders aussehen: Über 40 Jahre existierten zwei deutsche Staaten nebeneinander. Auch die Ostzone wird ein Staat Was sich seit 1947 angebahnt hatte, wird mit der Gründung der Bundesrepublik und der darauf folgenden Gründung der Deutschen Demokratischen Republik Realität: Die Geburt zweier deutscher Staaten. 63 VON 300 Nach dem die Pariser Außenministerkonferenz im Juni 1949 gescheitert war, und sich nach den Wahlen zum Deutschen Bundestag im September die erste bundesdeutsche Regierung gebildet hatte, ergriff die SED – in Übereinstimmung mit der Sowjetunion – die Initiative. Unter der Leitung von Wilhelm Pieck traten im Haus der Deutschen Wirtschaftskommission in Berlin die 330 Mitglieder des Deutschen Volksrates zu ihrer neunten und letzten Tagung zusammen. In einem feierlichen Akt proklamierte Pieck die Deutsche Demokratische Republik. Der Volksrat erklärte sich zur Provisorischen Volkskammer, die Otto Grotewohl mit der Bildung einer Regierung beauftragte. Wenige Tage später wurde Wilhelm Pieck zum ersten Präsidenten der DDR gewählt. Die Bundesregierung sprach der DDR-Regierung die Legitimation ab. Sie verstand sich "allein befugt, für das Deutsche Volk zu sprechen." 12.10.49 Die Erste Regierung der DDR wird gebildet Die provisorische Länderkammer sowie die Volkskammer sind gewählt, Wilhelm Pieck ist neuer Präsident der DDR - tags darauf stellt Otto Grotewohl, der mit der Kabinettsbildung beauftragt ist, die neue Regierung des neuen Staates, der DDR vor. Auf einer gemeinsamen Sitzung von Volks-und Länderkammer der DDR wurde Wilhelm Pieck zum Präsidenten der DDR gewählt, einen Tag später, am 12. Oktober 1949, stellte Otto Grotewohl die erste Provisorische Regierung der DDR vor. Von 17 Ministern stellte die SED allein 8, sie besetzte so wichtige Ministerien wie Inneres, Volksbildung, Justiz und Planung. Der Verwaltungsapparat der Deutschen Wirtschaftskommission und auch nahezu alle Leiter der bisherigen zentralen Verwaltungen wurden in die Regierung übernommen. Da Ulbricht einer der drei Stellvertreter des Ministerpräsidenten wurde, bekleideten alle drei führenden SED-Politiker – Pieck, Grotewohl und Ulbricht – wichtige staatliche Positionen. In seiner Regierungserklärung beschuldigte Grotewohl die Westmächte, mit dem von ihnen "ins Leben gerufenen Bonner Separatstaat" die Spaltung Deutschlands vollendet zu haben und "Westdeutschland in ein Aufmarschgebiet für eine neue Aggression zu verwandeln". Grotewohl betonte besonders die Rolle der Sowjetunion bei der DDR-Gründung. Im Anschluß billigte die Volkskammer die Regierungserklärung einstimmig. 13.10.49 Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes In München wird vor 487 Delegierten die Gründungsurkunde des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) unterzeichnet. Über fünf Millionen Mitglieder erhalten somit eine offiziell anerkannte Vertretung. Die Gewerkschaftsdachverbände aus den drei westlichen Besatzungszonen hatten sich zur Einheitsgewerkschaft des DGB zusammengeschlossen. Der DGB sollte 16 selbständige Einzelgewerkschaften nach dem Industrieverbandsprinzip vereinigen. Er sollte die Richtungsgewerkschaften der Weimarer Republik ablösen und folglich als Einheitsgewerkschaft für alle Arbeitnehmer auftreten. Die Zersplitterung in verschiedene parteipolitische und weltanschauliche Richtungen sollte überwunden werden. Am nächsten Tag wählten die Delegierten mit 397 Stimmen Hans Böckler (l.) zum ersten Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes und stimmten einem wirtschaftspolitischen Grundsatzpapier zu. Böckler war bereits seit 1947 Vorsitzender des DGB in der britischen Besatzungszone. 03.11.49 Bonn wird Bundeshauptstadt Die Entscheidung ist gefallen: Nicht Frankfurt sondern die kleine rheinische Stadt Bonn wird neue deutsche Bundeshauptstadt. Die Argumente, die die Verfechter der Frankfurter Lösung am 30. September 1949 vor dem Bundestag ausbreiteten, waren vor allem finanzieller Natur. Auf Antrag des Hamburger CDU-Abgeordneten Gerd Bucerius wurde ein Ausschuß eingesetzt, der die Eignung 64 VON 300 Frankfurts und Bonns prüfen und dem Plenum darüber berichten sollte. Der Bericht des Hauptstadtausschusses fiel für Bonn katastrophal aus. Eingehende Prüfungen hatten ergeben, daß bei einer Verlegung der Bundeshauptstadt nach Frankfurt 25 Millionen Mark hätten aufgebracht werden müssen, im Falle Bonns jedoch 120 Millionen Mark, um die notwendigen Gebäude, Wohnungen usw. zu errichten. Bundeskanzler Konrad Adenauer, als Rheinländer der Initiator und glühender Verfechter einer Bundeshauptstadt Bonn, gab jedoch nicht auf. Obgleich die Amerikaner bereit waren, Frankfurt auch völlig zu entmilitarisieren, behauptete er, nur in Bonn seien die Bundesorgane dem alliierten Zugriff wirklich entzogen. Am 3. November 1949 stimmten in 200 Abgeordnete für den Verbleib in Bonn, 176 sprachen sich für Frankfurt aus, drei enthielten sich und elf gaben ungültige Stimmzettel ab. Adenauer hatte sich durchgesetzt. 28.12.49 Kolonialzeit in Asien endet Die niederländische Herrschaft auf Indonesien geht zu Ende: Das Königreich muß auf Druck der UNO die Souveränität seiner ehemaligen Kolonie anerkennen – bereits 1945 hatte General Sukarno die Republik ausgerufen. Japans Kapitulation hatte ein Machtvakuum in Südostasien hinterlassen. Die Versuche der Europäer, ihre alten Positionen wieder aufzubauen, scheiterten jedoch allesamt. Statt dessen hatte nun der "Kalte Krieg" in dieser Region seine heißen Fronten. 08.02.50 Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit Auf Beschluß der Volkskammer wird das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ins Leben gerufen. Hauptaufgaben: Sicherung des Machtanspruches der SED und Kontrollorgan für die in Artikel 6 der DDR-Verfassung verbotenen "Boykotthetze". Als selbständiger Apparat, der außerhalb rechtsstaatlicher Normen operierte und keiner parlamentarischer Kontrolle unterlag, unterstand das MfS allein dem Politbüro der SED. Gleichzeitig war das neue Ministerium, als dessen Chef der sächsische Innenminister Wilhelm Zaisser eingesetzt wurde, sehr eng mit der SED verzahnt: der Minister und sein Stellvertreter waren stets Mitglied des Zentralkomittees der SED. Ganz im Sinne des demokratischen Zentralismus wurden im MfS unterschiedlichste Aufgabenbereiche zentral zusammengefaßt. So fungierte der Staatssicherheitsdienst zugleich als politische Geheimpolizei, als Untersuchungsorgan bei Straftaten und als geheimer Nachrichtendienst. Mit einem weitverzweigten Netz an Agenten überwachte der im Volksmund "Stasi" genannte SSD das öffentliche Leben und half mit, jede Opposition bereits im Kern zu ersticken oder auszuschalten. 25.06.50 Nordkoreanische Truppen fallen in Südkorea ein Gegen vier Uhr morgens überschreiten nordkoreanische Truppen den 38. Breitengrad, der seit 1945 die Grenze zwischen den beiden koreanischen Staaten bildet. 200.000 Mann strömen auf breiter Front nach Süden. Bei ihrem Vormarsch stoßen sie auf nur geringen Widerstand. Die durch Kim Il Sung (l.) gesteuerten Medien Nordkoreas hatten schon am 8. Juni die Wiedervereinigung Koreas für den 15. August, den fünften Jahrestag der Kapitulation Japans, angekündigt. Im Westen hatte man dieses Warnzeichen nicht beachtet. Nun zeigte sich aber, wie ernst diese Drohung gemeint gewesen war. Radio Pjöngjang verkündete schon am Tag des Angriffs weitreichende militärische Erfolge. Die Aggression der "Faschisten" in Südkorea sei bestraft und der Plan der Regierung unter Syngman Rhee, Korea zu einer amerikanischen Kolonie zu machen, durchkreuzt worden. Die Wiedervereinigung stehe unmittelbar bevor. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschloß noch am Nachmittag des 25. Juni 1950 eine Resolution, die Nordkorea zum raschen und bedingungslosen Rückzug aufforderte. 65 VON 300 Diese konnte nur verabschiedet werden, weil der Vertreter der Sowjetunion die Sitzungen zu dieser Zeit wegen der Anwesenheit des UN-Vertreters Taiwans boykottierte. Nordkorea respektierte den Beschluß der Vereinten Nationen nicht. Bereits drei Tage später war mit Seoul auch die Hauptstadt des Südens in kommunistischer Hand. Die Nachricht vom siegreichen Vormarsch Nordkoreas führte zu Unruhe und Panikkäufen in vielen westlichen Hauptstädten. Ein Großangriff des kommunistischen Lagers auf den Westen schien bevorzustehen. 27.06.50 Koreakrieg Das kommunistische Nordkorea überfällt den Süden und erobert die Hauptstadt Seoul. Unter UN-Flagge greift Amerika ein und schlägt den Aggressor zurück. Das Blatt wendete sich erneut, als China in den Konflikt eingriff. Nachdem Seoul zum zweiten Mal in die Hände des Gegners gefallen war, erwog Washington ernsthaft den Einsatz der Atombombe. Erst 1953 konnte der Konflikt auf dem Verhandlungsweg beigelegt werden. Trotz Millionen von Toten blieb Korea geteilt. Die Spannungen in Ostasien hielten weiter an. US-Offensive gegen Kommunisten in Südkorea Zwei Tage nach dem Angriff kommunistischer Truppen auf Südkorea, befiehlt Präsident Truman (u.l.) den Einsatz amerikanischer Luft- und Seestreitkräfte – eine Entscheidung, die zehn Stunden später vom UNO-Sicherheitsrat gebilligt wird. Zwar boykottierte die Sowjetunion seit Monaten den Sicherheitsrat, nachdem dieses Gremium sich geweigert hatte, Rotchina als Mitglied aufzunehmen. Deshalb wurden die militärischen Aktionen der Vereinigten Staaten formal als Maßnahmen der UNO (und ihrer Mitgliedsstaaten) zur Abwehr einer kommunistischen Aggression durchgeführt. Am 30. Juni befahl Truman den Einsatz amerikanischer Bodentruppen, die Errichtung einer Seeblockade und die Bombardierung Nordkoreas. Ausgenommen wurden lediglich die Grenzgebiete zwischen China und der Sowjetunion. Truman entsprach damit den drängenden Forderungen des amerikanischen Befehlshabers in Korea, General MacArthur. Doch es sollte bis zum September 1950 dauern, bis die Amerikaner Herr der militärischen Lage im Süden wurden. Während Truman ursprünglich nur den Status quo am 38. Breitengrad wiederherstellen wollte, ergriff MacArthur die Initiative zu einem "Roll Back" auch über die ursprüngliche Grenzlinie hinaus. Eine gefährliche Eskalation des Koreakrieges war die Folge, und Anfang November 1950 begannen chinesische Truppen eine Gegenoffensive. 10.04.51 Kampf um Mitbestimmung Der Konflikt zwischen Arbeitern und Arbeitgebern überdauert die gesellschaftlichen Umbrüche in der zweiten Jahrhunderthälfte. Dem raschen Wandel der Industrie- zur Konsum- und Mediengesellschaft können die Interessensvertretungen nur mit Mühe folgen. Feierten die Gewerkschaften in der BRD 1951 noch die Mitbestimmung im Montanbereich, erwies sich in den nächsten Jahrzehnten gerade dieser Bereich als Sorgenkind der Bewegung. Den endgültigen Sieg über die Gewerkschaften feierten Arbeitgeber und Konservative 1979 mit dem Wahlsieg Magaret Thatchers in England. 08.09.50 Amerikanische Militärhilfe für Westeuropa Sechs amerikanische Divisionen sollen nach Deutschland verlegt, sofortige Militärhilfe zur Modernisierung der europäischen Streitkräfte angeboten und ein integriertes militärisches Oberkommando der NATO unter Führung eines amerikanischen Oberbefehlshabers gebildet werden. 66 VON 300 Präsident Harry S. Truman billigte den gemeinsamen Vorschlag der Chefs des State Department (US-Außenministerium) Acheson und des Pentagon (USVerteidigungsministerium). Bedingung war, daß die Bündnispartner ihrerseits energische Rüstungsanstrengungen unternähmen und deutsche Divisionen akzeptieren würden. Um aber nicht den Einspruch Frankreichs zu riskieren, verschwieg Truman in der öffentlichen Ankündigung seiner Entscheidung den letzten Punkt: Nach einem vertraulichen Gespräch des amerikanischen Hohen Kommissars John McCloy mit Journalisten meldeten schon tags darauf die Sonntagszeitungen die US-Forderung nach Bereitstellung deutscher Divisionen. Der britische Außenminister Ernest Bevin und sein französischer Kollege Robert Schuman wurden auf dem Weg zur Außenministerkonferenz nach New York von dieser Meldung überrascht. Vor allem auf französischer Seite fühlte man sich vom Plan zur Wiederbewaffnung Deutschlands übergangen. 05.10.50 Adenauer bereitet Wiederbewaffnung vor Die Hohen Kommissare informieren Adenauer über ihre New Yorker Beratungen. Aus den Gesprächen geht hervor, daß vor allem die USA kaum Bedenken gegen den von Adenauer postulierten Zusammenhang zwischen deutschem Verteidigungsbeitrag und politischer Gleichberechtigung der Bundesrepublik haben. Der Amerikaner John McCloy ließ Adenauer gegenüber durchblicken, daß die Entscheidung für eine integrierte westliche Streitmacht unter Einschluß deutscher Kontingente kurz bevorstand, und daß die politische Gleichberechtigung der Bundesrepublik und - langfristig - auch das Ende der Besatzungsherrschaft in Sichtweite gerückt war. Weniger positiv hatte erwartungsgemäß die französische Seite reagiert. Dennoch ließ Adenauer in der Abgeschiedenheit des Klosters Himmerod in der Eifel von deutschen Militärexperten eine Denkschrift erarbeiten. In der Presse wurde viel spekuliert. Einige unbedachte Äußerungen des Sicherheitsberaters Graf Schwerin veranlaßten Adenauer, ihn zu entlassen und den CDU-Abgeordneten Theodor Blank zum "Beauftragten des Bundeskanzlers für mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängende Fragen" zu ernennen. Schwerins Dienststelle, die Zentrale für Heimatdienst, wurde aufgelöst. Mit dem neuen Amt Blank war der Kern des späteren Verteidigungsministeriums ins Leben gerufen worden. 15.12.50 Abschluß der Entnazifizierung Mit dem Ende der Entnazifizierung schließt der Bundestag ein Kapitel versuchter Vergangenheitsbewältigung. Die Schatten der NS-Vergangenheit wirken jedoch noch lange nach. Leichter Belastete sollten nun gar nicht mehr verfolgt werden, schwerer Belasteten sollte der Wechsel in andere Kategorien erleichtert werden. In den Westzonen waren insgesamt 3,7 Millionen Verfahren abgewickelt worden, bei denen 1.667 Personen zu Hauptschuldigen erklärt wurden, etwa 20.000 Menschen wurden als schwer belastet und 150.000 als minderbelastet angesehen. Ungefähr eine Million Menschen war als "Mitläufer" deklariert worden. Die Kritik an der schematischen Vorgehensweise der Spruchkammern, durch die Sühne und Umerziehung der Deutschen miteinander verbunden werden sollte, führte zu Beginn der 50er Jahre zu einer Amnestiebewegung. Gefordert wurden sowohl ein Ende dieser Verfahren als auch eine generelle Amnestie für Kriegsverbrecher. Der Bundestag entschied sich nun für den Abschluß der Entnazifizierung. Die Schatten der Vergangenheit blieben jedoch noch lange weiter bestehen. Spruchkammern und Persilscheine bewirkten nicht die erhoffte Umerziehung. Das Wiedererstarken des Rechtsradikalismus, die Verklärung historischer Tatsachen und die Heroisierung vergangener NS-Größen, wie beispielsweise im Falle des ehemaligen "Führerstellvertreter" Rudolf Heß, sprechen für sich. 67 VON 300 14.03.51 Etatdebatte im Zeichen der Wirtschaftskrise Die Wirtschaft der jungen Republik befindet sich in ihrer ersten Krise. 1950 überschreitet die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik die Zwei-Millionen-Grenze, über 13 Prozent der Bundesbürger sind ohne Anstellung. Das Millionenheer an Flüchtlingen ist weit davon entfernt, integriert zu sein. Die Haushaltsdebatte des Bundestags am 14. März 1951 stand im Zeichen von Inflation, Arbeitslosigkeit und Außenhandelsdefiziten. Es wurde deutlich, daß der erste Aufschwung nach der Währungsreform hauptsächlich auf bis dahin zurückgehaltenen Konsum zurückzuführen gewesen war. Die Handelsbilanz war negativ, gewaltigen Rohstoffimporten der produzierenden Industrie standen keine entsprechenden Exporte gegenüber, zuwenig Investitionskapital und Devisen waren vorhanden. Forderungen der Opposition nach zwangswirtschaftlichen Eingriffen lehnte Wirtschaftsminister Erhard so vehement ab, daß der SPD-Abgeordnete Nölting sogar dessen Rücktritt forderte. Im weiteren Verlauf des Jahres 1951 entspannte sich die Lage allerdings. Als Folge des Koreakrieges erlebte die Bundesrepublik einen regelrechten "Korea-Boom". Neben den konsumankurbelnden Effekten stiegen die Ausfuhren kräftig, und das Preisniveau stabilisierte sich wieder. Bündnispolitisch hatte der verschärfte Ost-West-Konflikt für Deutschlands Wirtschaft somit ähnliche Auswirkungen wie für die Frage der Wiederbewaffnung: Der Westen konnte und wollte nicht auf die Einbindung der BRD verzichten – das deutsche Wirtschaftswunder begann. 10.04.51 Mitbestimmungsgesetz in Bonn verabschiedet Am 10. April 1951 verabschiedet der Deutsche Bundestag das Montanmitbestimmungsgesetz. Dadurch werden in allen Großbetrieben der Montanindustrie die Arbeitnehmer gleichberechtigt an den Entscheidungen des Aufsichtsrats beteiligt. Es gab etwa 50 Gegenstimmen, vornehmlich von der FDP und der DP, bei einigen Stimmenthaltungen durch Mitglieder der KPD. Getragen wurde das Abstimmungsergebnis hauptsächlich von den Stimmen der CDU/CSU und der oppositionellen SPD. Die Gewerkschaften, deren Protagonist Hans Böckler im Februar 1951 gestorben war, konnten damit im April 1951 die bundesgesetzliche Fundierung der paritätischen Mitbestimmung im Montanbereich als einen der größten Erfolge in ihrer Geschichte feiern. Die Gegner der paritätischen Mitbestimmung hatten in den Abschlußberatungen wichtige Änderungen durchgesetzt, so daß das Delegationsrecht der Gewerkschaftsführung bei der Besetzung der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten faktisch ausgehebelt worden war. Während es Bundeskanzler Konrad Adenauer unter großen Schwierigkeiten gerade noch gelungen war, die Unionsfraktion auf den Regierungskurs einzuschwören, konnte er den Widerstand der Koalitionspartner FDP und DP nicht brechen. Der FDP-Abgeordnete Euler war auf Seiten seiner Fraktion der schärfste Gegner des Gesetzentwurfs gewesen. 18.04.51 Gründung der Montanunion Die Montanunion ist einer der Grundpfeiler der später gegründeten Europäischen Gemeinschaften. Sie leitet zudem die deutsch-französische Aussöhnung ein, die schließlich mit dem 1963 unterzeichneten deutsch-französischen Freundschaftsvertrag abgeschlossen sein wird. Im März 1950 hatte Konrad Adenauer eine deutsch-französische Wirtschaftsunion vorgeschlagen, um die französischen Bedenken gegen ein wirtschaftliches Wiedererstarken des deutschen Nachbarn zu entschärfen. Diese Idee einer Verschmelzung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrie hatte bald darauf der französische Außenminister Robert Schuman aufgegriffen, als er am 9. Mai 1950 bei der offiziellen Verkündung des nach ihm benannten Planes für eine deutsch-französische Produktionsgemeinschaft eingetreten war und die übrigen westeuropäischen Länder 68 VON 300 aufgefordert hatte, sich der Gemeinschaft anzuschließen. Einige Monate später, am 18. April 1951, fand in Paris die Unterzeichnung des Vertrages statt, der die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) begründete. Der Vertrag wurde auf eine Dauer von 50 Jahren abgeschlossen. Am 25. Juli 1952 trat die unter dem Namen "Montanunion" bekannt gewordene Gemeinschaft in Kraft. Gleichzeitig wurde das Ruhrstatut aufgehoben. 15.09.51 "Deutsche an einen Tisch!" "Deutsche an einen Tisch!": Mit ihrem neuen Parteislogan suggeriert die SED Willen zur deutsch-deutschen Annäherung und setzt die Bundesrepublik unter Zugzwang. Im Anschluß an eine Regierungserklärung stellte Ministerpräsident Otto Grotewohl erstmals das neue Motto der Öffentlichkeit vor. "Deutsche an einen Tisch!" wurde von der gesamten Volkskammer der DDR getragen. In ihrem neuen Programm erneuerte die SED die Aufforderung – diesmal an den Bundestag gerichtet –, in gesamtdeutsche Beratungen einzutreten, da die drohende Kriegsgefahr nur zu meistern sei, wenn sich die Deutschen untereinander verständigten. Nachdem Regierung und Opposition in Bonn bislang immer auf die Abhaltung freier Wahlen als Voraussetzung für solche Gespräche gepocht hatten, griff Grotewohl nun seinerseits diesen Punkt auf. Er schlug vor, daß Vertreter aus Ost- und Westdeutschland freie Wahlen für eine Nationalversammlung zur Schaffung eines einheitlichen Deutschlands festlegen sollten. Gleichzeitig wiederholte Grotewohl auch die Forderung nach einem beschleunigten Abschluß eines endgültigen Friedensvertrages und den Abzug aller Besatzungstruppen aus Deutschland. 10.03.52 Stalin-Note stiftet Verwirrung Stalin überrascht die Westmächte. Mit den sogenannten "Stalin-Noten" bietet er die Wiedervereinigung an. Der stellvertretende sowjetische Außenminister Andrej Gromyko (l.) überreichte die Note den Botschaftern der drei Westmächte in Moskau. Zudem unterbreitete Stalin den drei Westmächten den Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland, über den auf einer Viererkonferenz unter Beteiligung einer gesamtdeutschen Regierung verhandelt werden sollte. Die Sowjetunion schlug vor, Deutschland als einheitlichen Staat wiederherzustellen und ihm gleichzeitig einen neutralen Status zu verleihen. Die Streitkräfte der Besatzungsmächte sollten aus Deutschland abgezogen werden. Allen demokratischen Parteien und Organisationen sollte freie Betätigung gewährleistet werden. "Organisationen, die der Demokratie und der Sache der Erhaltung des Friedens feindlich sind", sollten allerdings verboten werden. Eine Antwortnote der drei westlichen Alliierten erhielt die Sowjetunion am 25. März 1952; die zweite Note Stalins wurde den westlichen Botschaftern am 9. April 1952 übergeben. Damit war dieses diplomatische Zwischenspiel beendet. 28.04.52 Japan erhält Friedensvertrag Japan gewinnt seine Unabhängigkeit wieder: Der Friedensvertrag tritt in Kraft, der fast genau sechs Jahre nach der Kapitulation, mit den westlichen Alliierten USA, Großbritannien, Frankreich und mit 45 weiteren Nationen in San Francisco geschlossen worden war. In ganz Japan wurde das Ereignis begeistert gefeiert. Die Regierung Yoshida erließ eine Amnestie für über 200.000 Häftlinge und rehabilitierte all diejenigen, die wegen Kriegsverbrechen von der Besatzungsmacht verurteilt worden waren. Chou En-lai (VR China), Nehru (Indien) und Stalin (Sowjetunion) weigerten sich, den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Japan verzichtete in dem Vertrag offiziell auf alle 69 VON 300 ehemaligen Kolonien und auf jeden Besitz außerhalb der Grenzen von 1868. Die Kurilen und Südsachalin fielen an die Sowjetunion, einige pazifische Inseln kamen unter amerikanische Verwaltung, der chinesische Festlandbesitz und Taiwan wurden als ausschließlich zu China gehörig angesprochen. Korea wurde endgültig unabhängig. Noch am Tag der Unterzeichnung des Friedensvertrages schloß Japan ein Sicherheitsabkommen mit den USA. Amerikanische Truppen blieben in Japan und die USA übernahmen die Verantwortung für die Verteidigung des Landes. 16.05.52 Lastenausgleichsgesetz verabschiedet Die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten: Neben der "Wiedergutmachung" an Juden und anderen Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes ist sie eine der größten sozialpolitischen Herausforderungen nach dem Krieg. Ein wichtiges Zeichen setzt die Regierung Adenauer mit der Verabschiedung des Lastenausgleichsgesetzes. Das Gesetz sagte den Betroffenen Eingliederungshilfen für Wohnraumbeschaffung und Existenzsicherung sowie eine Entschädigung für verlorene Vermögenswerte zu. Zur Durchführung wurde eine bis dahin einmalige Vermögensumverteilung in Gang gesetzt. Die vorgesehenen Mittel waren nach Massenprotesten der Vertriebenenverbände noch erhöht worden, obwohl bei weitem nicht alle Vermögensverluste ausgeglichen werden konnten. Alle Bundesbürger mit Vermögen über 5.000 Mark mußten eine Ausgleichsabgabe in einen Fond zahlen, der an die Berechtigten ausgeschüttet wurde. Bis 1970 waren auf diese Weise 60 Milliarden Mark umverteilt worden. Insgesamt sieben Millionen Anträge waren gestellt worden. Da die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik in den folgenden Jahren gewaltig expandierte, konnten diese Zahlungen ohne große Probleme erfolgen. Die Maßnahme erleichterte die Eingliederung der Vertriebenen und integrierte auch die Vertriebenenverbände, die in der Bearbeitung der Anträge eine neue Aufgabe fanden. 27.05.52 Vertrag über EVG unterzeichnet René Pleven hatte das Projekt einer europäischen Armee ins Leben gerufen. Nach langwierigen Verhandlungen einigt man sich auf die Schaffung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Der EVG-Vertrag wurde am 27. Mai 1952 in Paris von den Vertretern Belgiens (van Zeeland), Luxemburgs (Bech), der Niederlande (Stikker), Frankreichs (Schuman), Italiens (De Gasperi) und der Bundesrepublik (Adenauer) unterzeichnet. Einen Tag zuvor war in Bonn der Deutschlandvertrag zwischen der BRD und den drei Westmächten abgeschlossen worden, der das Besatzungsstatut von 1949 aufhob und der Bundesrepublik die Rechte eines souveränen Staates gab. Der Deutschlandvertrag war durch ein Junktim mit dem EVG-Vertrag verbunden. Als dieser scheiterte, weil die französische Nationalversammlung ihn am 30. August 1954 ablehnte, mußte auch das Inkrafttreten des Deutschlandvertrags vertagt werden. Erst am 5. Mai 1955 konnte er in revidierter Fassung in den Pariser Verträgen in Kraft treten. Nach der Ablehnung des Europarat-Planes für die Lösung der Saarfrage im Mai scheiterte eine europäische Lösung somit bereits zum zweiten Mal an Vorbehalten einer Pariser Regierung. Da der deutsche Verteidigungsbeitrag weiterhin für notwendig gehalten wurde, erfolgte gleichzeitig die Aufnahme der Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt. 09.07.52 "Aufbau des Sozialismus" als Parteistatut Nach dem Scheitern der Vereinigungsangebote Stalins entscheidet sich die SED endgültig für das System "Sowjetunion". Der II. Parteitag steht unter dem Motto "Aufbau des Sozialismus". 70 VON 300 Damit hatte die Partei ihren neuen Kurs abgesteckt. Die Konferenz sollte jetzt die definitiven Beschlüsse zur weiteren Integration der DDR in den Ostblock fassen und die weitgehende Angleichung des politischen Systems an das der Sowjetunion vorbereiten. Voraussetzung dafür war die "Schaffung der letzten Grundlagen für den Sozialismus". Bis zur der sogenannten "Noten-Offensive" Stalins war die Angleichung an das politische System der UdSSR nur in verdeckten Bahnen umgesetzt worden. Mit deren Scheitern konnte die SED-Führung - allen voran der stellvertretende Vorsitzende der SED und des Ministerrats, Walter Ulbricht - jetzt mit der Etablierung ihres Systems beginnen. 10.09.52 Wiedergutmachung Die Bundesrepublik will das unter der Nazi-Herrschaft verübte Unrecht an den Juden wieder "gut" machen und enteignetes jüdisches Vermögen zurückgeben. Nach langen Verhandlungen unterzeichneten Ben Gurion und Adenauer ein Wiedergutmachungsabkommen. Die Bundesregierung erklärte sich bereit, 3,5 Milliarden Mark an Israel zu zahlen. Die DDR hingegen verweigerte eine ähnliche Zahlung - sie erkannte eine Rechtsnachfolge für das nationalsozialistische Deutschland nicht an. Wiedergutmachungsvertrag mit Israel Im Luxemburger Stadthaus unterzeichnen der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der israelische Staatspräsident Mosche Scharett den seit März 1951 ausgehandelten Wiedergutmachungsvertrag. Ein Zusammenhang zwischen dem deutschen Wiedergutmachungsabkommen mit Israel und dem Londoner Schuldenabkommen war insofern gegeben, als beide Vertragsverhandlungen zeitlich parallel liefen und sich in ihrem Verlauf beeinflußten. Deutsche Nachgiebigkeit in der einen Frage konnte die Forderungen in der anderen in die Höhe treiben. Diese Sorge um sein Vertragsgebäude ließ den deutschen Verhandlungsführer Hermann J. Abs nicht immer mit Zufriedenheit auf die Gespräche in Wassenaar bei Den Haag blicken, wo unter der Leitung des Juristen und Ökonomen Professor Franz Böhm eine deutsche Delegation nebeneinander mit Vertretern des Staates Israel und Vertretern des Dachverbands der "Conference on Jewish Material Claims against Germany" verhandelte. Es zeigte sich aber, daß die wirtschaftliche Leistungskraft der Bundesrepublik mit den dort vereinbarten drei Milliarden DM an den Staat Israel und 450 Millionen DM an die "Claims Conference" nicht überfordert wurde, zumal die Wiedergutmachung für Israel fast zur Gänze aus Warenlieferungen aus deutscher Produktion bestand, die auf 14 Jahre verteilt wurden und 1966 endeten. Am 3. November 1952 sandte Ägypten wegen des Abkommens eine Protestnote an die Bundesregierung. 23.10.52 Rechtsextreme Reichspartei wird verboten Das erste Parteiverbot in der Geschichte der Bundesrepublik: Verhängt wird es gegen die "Sozialistische Reichspartei" (SRP) des ehemaligen Wehrmachtsoffiziers Otto-Ernst Remer. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe war zu der Auffassung gelangt, daß die 1949 gegründete SRP gegen Grundprinzipien der Demokratie verstoße. Sie mißachte die Menschenrechte, diene der Verbreitung des Antisemitismus und wolle die demokratische Grundordnung durch das Führerprinzip ersetzen. In Erwartung des Verbots hatte die Parteiführung unter dem Ex-Nazi Otto-Ernst Remer bereits am 12. September 1952 die Selbstauflösung der SRP beschlossen. Wenig später versuchte Remer, der als Kommandeur des Berliner Wachbataillons eine entscheidende Rolle bei der Niederschlagung des Aufstands vom 20. Juli 1944 gespielt hatte, eine Neugründung unter dem Namen "Deutsche Reichspartei", die aber keinen bedeutenden Zulauf verzeichnete. Der Rechtsextremismus konnte sich erst 1964 nach Gründung der NPD wieder mehr Gehör verschaffen und bis Anfang der 70er Jahre einige spektakuläre Erfolge auf Länderebene verzeichnen. Remer, der auch Gründungsmitglied der NPD war, 71 VON 300 gehörte bis in die 90er Jahre zu den Führungspersonen im rechtsextremistischen Lager. 1992 floh er, nachdem ihn ein Gericht erneut der Aufstachelung zum Rassenhaß für schuldig befunden und eine zweijährige Haftstrafe angeordnet hatte, nach Spanien. 04.11.52 Eisenhower wird US-Präsident Der "Weltkriegsheld" General Dwight David Eisenhower wird neuer amerikanischer Präsident - Eisenhower ist bereits der zehnte General in der Geschichte der USA, der das Präsidentenamt bekleiden sollte. Als gutes Omen werten die Amerikaner den Umstand, daß keiner dieser "Generalspräsidenten" ihr Land je in einen Krieg geführt hatte. Eisenhower siegte in 39 Bundesstaaten und errang 442 Wahlmännerstimmen, dagegen konnte sich sein Hauptkonkurrent, der demokratische Senator von Illinois, Adlai E. Stevenson, nur in neun Bundesstaaten durchsetzen und vereingte auf sich nur 89 Wahlmänner. An Wählerstimmen waren auf Eisenhower 33 Millionen, auf Stevenson nur 26,6 Millionen entfallen. Bei den gleichzeitig abgehaltenen Wahlen zum Senat und zum Repräsentantenhaus erzielten die Republikaner eine knappe Mehrheit. Im Wahlkampf hatte Eisenhower ein Ende des nunmehr fast drei Jahre andauernden Koreakriegs versprochen. Er galt als politischer Neuling, der seine Popularität aus dem Image als "Held des Zweiten Weltkriegs" zog. Erst am 28. April 1952, nachdem er als NATO-Oberbefehlshaber zurückgetreten war, hatte er sich ganz der Politik verschrieben. In der Innenpolitik wollte er sich für die "Säuberung" der USA von Kommunisten einsetzen. Senator Joseph McCarthy, als "Kommunistenjäger" berüchtigt, war einer seiner tatkräftigsten Wahlkampfhelfer gewesen. 25.12.52 Start des Fernsehprogramms in der BRD Auch in Deutschland wird das Fernsehen eingeführt. Zunächst kann sich kaum jemand die teuren Apparate leisten, doch im Zuge des Wirtschaftswunders wird auch hier bald das Versprechen wahr: "Wohlstand für alle!" Nach jahrelangem Tauziehen zwischen Bund und Ländern schufen die Rundfunkanstalten Fakten, um neuen Entwicklungen in diesem Medienbereich gerecht zu werden. Nachdem bereits an Weihnachten 1952 beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) in Hamburg das Fernsehen mit der regelmäßigen Ausstrahlung eines täglichen Programms zwischen 20.00 und 22.00 Uhr begonnen hatte, fiel im Jahr darauf eine Reihe grundsätzlicher Entscheidungen. Die Rundfunkanstalten, seit 1950 in der Arbeitsgemeinschaft (ARD) zusammengeschlossen, verabschiedeten den Fernsehvertrag, der für dieses Medium ein gemeinschaftliches, seit dem 1. November 1954 ausgestrahltes Programm begründete. Dazu sollten alle Vertragsunterzeichner kraft ihrer finanziellen Möglichkeiten prozentual gestaffelte Beiträge liefern. Ergänzt werden konnte dieses Gemeinschaftsprogramm "Deutsches Fernsehen" durch regional ausgestrahlte Sendungen. Seit Ende der 50er Jahre verdrängte das Fernsehen dann immer mehr die Kinos der Republik. 27.02.53 Londoner Schuldenabkommen unterzeichnet In London wird das Schuldenabkommen über die Regelung der deutschen Auslandsschulden der Vor- und Nachkriegszeit unterzeichnet. Ein wichtiger Grundstein zu Deutschlands erfolgreicher Rückkehr auf die Weltmärkte ist damit gelegt. Das Abkommen war bereits 1952 ausgehandelt worden und wurde im Juli 1953 ratifiziert. Chef der deutschen Delegation war Hermann Josef Abs, stellvertretender Aufsichtsrat des Direktoriums der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Er vertrat die Ansicht, in einer frühen Verhandlung würde sich mit dem Hinweis auf die begrenzte deutsche Wirtschaftskraft die Schuldenhöhe eher begrenzen lassen. Außerdem ging es ihm um die Demonstration der internationalen Zuverlässigkeit Deutschlands. 72 VON 300 Mit der Ernennung Abs’ zum deutschen Chefunterhändler tat Bundeskanzler Adenauer (l.) einen ausgesprochenen Glücksgriff. Abs erreichte eine Begrenzung der jährlichen Schuldenlast auf 567 Millionen Mark jährlich für die ersten fünf Jahre, danach 765 Millionen Mark zur Abzahlung der Gesamtsumme von 14,5 Milliarden Mark. Damals freilich, bei einem Bruttosozialprodukt von 134 Milliarden Mark, einem Bundeshaushalt von 23 Milliarden Mark (1952), galten die Belastungen als enorm, und Bundesbankpräsident Vocke stand mit seiner Opposition gegen eine frühe Schuldenbereinigung nicht allein. 05.03.53 Stalins Tod - Neue Hoffnung? "Das Herz des Kampfgefährten und genialen Fortsetzers der Sache Lenins, des weisen Führers und Lehrers der Kommunistischen Partei und des Sowjetvolkes, Josef Wissarionowitsch Stalin, hat aufgehört zu schlagen." Mit diesen Worten informierte Radio Moskau die Bevölkerung über den Tod Stalins. Der Staats- und Parteichef, der seit einem Schlaganfall drei Tage zuvor ohne Bewußtsein war, starb am Abend des 5. März 1953 in Moskau. Alle Versuche der Ärzte, sein Leben zu retten, hatten nichts genutzt. Stalin wurde im Kremlsaal aufgebahrt, sein Leichnam schließlich einbalsamiert und im Lenin-Mausoleum feierlich beigesetzt. Die Regierungsgeschäfte übernahm zunächst Georgi Malenkow (l.), er verlor aber gegenüber Chruschtschow bald an Einfluß. Das Land war verunsichert. Niemand wußte, was nach Stalin kommen würde. Trauer durfte offen gezeigt werden, Erleichterung über den Tod des Diktators freilich nicht. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, in der "für unser Land und unsere Partei schweren Zeit" Geschlossenheit zu zeigen und "jeglicher Verwirrung und Panik" vorzubeugen. Die Sowjetunion trauert um Stalin "Das Herz des Kampfgefährten und genialen Fortsetzers der Sache Lenins, des weisen Führers und Lehrers der Kommunistischen Partei und des Sowjetvolkes, Josef Wissarionowitsch Stalin, hat aufgehört zu schlagen." Mit diesen Worten informiert Radio Moskau die Bevölkerung des Landes über den Tod Stalins. Stalin hatte bereits am 2. März einen Schlaganfall erlitten und das Bewußtsein verloren. Die hinzugezogenen Spezialisten konnten nicht mehr helfen. Er starb am Abend des 5. März 1953 in Moskau. Stalin wurde im Kremlsaal aufgebahrt, sein Leichnam schließlich einbalsamiert und im Lenin-Mausoleum feierlich beigesetzt. Die Regierungsgeschäfte übernahm zunächst Georgi Malenkow, der jedoch bald gegenüber Chruschtschow an Einfluß verlor. Das Land war verunsichert. Niemand wußte, was nach Stalin kommen würde. Trauer durfte man offen zeigen, Erleichterung über den Tod des Diktators freilich nicht. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, in der "für unser Land und unsere Partei schweren Zeit" Geschlossenheit zu zeigen und "jeglicher Verwirrung und Panik" vorzubeugen. 02.06.53 Krönung der britischen Königin Elisabeth II. 52 Jahre nach dem Tod von Königin Victoria erhält Großbritannien wieder ein weibliches Staatsoberhaupt. Die Tochter des im Vorjahr verstorbenen Königs George VI. wird in der traditionellen Kirche, der Westminster Abbey, als Elisabeth II. zur Königin gekrönt. Über eine Stunde dauerte die Krönungszeremonie. Um 12.33 Uhr schließlich setzte der Erzbischof von Canterbury der neuen Königin die Krone aufs Haupt. Die 7.600 geladenen Gäste, darunter offizielle Vertreter aus 75 Staaten erwiesen der Königin mit dem Ruf "God save the Queen!" die Ehre. In London wurden alle Glocken geläutet und Salutschüsse abgefeuert. Anschließend begab sich der Convoi zum Buckingham-Palast: Rund 30.000 Soldaten aus allen Teilen des britischen Commonwealth bildeten die Vorhut. Ihnen folgten die Kutschen mit Regierungschefs des Commonwealth – allen voran der britische Premierminister 73 VON 300 Winston Churchill – und den Mitgliedern der königlichen Familie. Über zwei Millionen Schaulustige verfolgten das Spektakel auf der Straße. Am Abend hielt Elisabeth II. eine Rundfunkansprache, in der sie die Fortsetzung der britischen Tradition versprach. 09.06.53 "Neuer Kurs" soll Stimmung heben Das Politbüro der SED bricht mit dem im Vorjahr beschlossenen forcierten Aufbau des Sozialismus und beschließt mit dem "Neuen Kurs" eine weichere Linie. Die seit dem Parteitag im letzten Juli verschärften Repressalien gegenüber der Bevölkerung sollten eingestellt werden. Eine größere Rechtssicherheit wurde in Aussicht gestellt, und die Preiserhöhungen, die zu erheblichen Unmut geführt hatten, wurden zurückgenommen. Der Bevölkerung wurde eine Erhöhung des persönlichen Lebensstandards versprochen. Um dies zu erreichen wurde dem Ausbau der Konsumgüterindustrie höhere Priorität zugewiesen. Zwangsmaßnahmen gegen Bauern, Selbständige und die Intelligenz wurden weitgehend zurückgenommen. Ulbricht hoffte dadurch die Mißstimmung in der Bevölkerung, die sich deutlich in der hohen Zahl der Flüchtlinge niederschlug, auffangen zu können. Doch wie der Aufstand vom 17. Juni zeigte, war es dazu bereits zu spät. Allein gegenüber der Arbeiterschaft blieb die DDR-Führung hart: erhöhte Arbeitsnormen blieben trotz Protesten der Arbeiter bestehen. 17.06.53 Volksaufstand in der DDR Mehr Arbeit für weniger Geld - Streiks, Demonstrationen und Unruhen in allen großen Städten der DDR. Ulbricht kann sich nur durch sowjetische Bruderhilfe halten: Moskau schickt Panzer. Von dem "Neuen Kurs", den die SED nach Stalins Tod eingeschlagen hatte, hatten sich viele DDR-Bürger eine Verbesserung des Lebensstandards und politisches Tauwetter versprochen. Doch statt dessen führte die Erhöhung der Arbeitsnormen zu Streiks in OstBerlin, die sich schnell zu einem Volksaufstand ausweiteten. Russische Panzer schlugen die Erhebung nieder. Volksaufstand in der DDR wird niedergeschlagen Volksaufstand in Ost-Berlin. Die Hoffnungen, die Stalins Tod und der "Neue Kurs" geweckt hatten, sind im Sande verlaufen. Die Bürger begehren auf. Moskau entsendet Panzer. Aus Protest gegen erhöhte Arbeitsnormen hatten am 16. Juni Arbeiter den Streik begonnen. Von der Stalinallee erfaßte der Aufstand bald den gesamten Ostteil. Vor dem Regierungsgebäude angelangt, skandierte die Menge ihre Forderungen nach Rücknahme der Normerhöhung, der Wiederherstellung der deutschen Einheit, nach freien Wahlen und schließlich auch den Rücktritt der Regierung von Ulbricht und Grotewohl. Es kam zu ersten Auseinandersetzungen. Am folgenden Tag griff der Aufstand auf weite Teile der DDR über, Zentren waren neben Berlin Großstädte wie Halle, Magdeburg und Erfurt. Etwa eine Million Menschen beteiligten sich an den Kundgebungen. SED-Symbole wurden zerstört, Parteimitglieder verbrannten ihre Parteibücher. Die SED-Führung hatte die Kontrolle verloren. Ab Mittag begannen sowjetische Truppen, den Aufstand niederzuschlagen. Mit Panzern und Gewehren gingen sie gegen die Demonstranten vor. Bis zum 20. Juni war die Ruhe im Lande wiederhergestellt. Die Bilanz: mehr als 60 Tote, zahllose Verletzte und mehrere tausend Festnahmen. 06.09.53 Wahlen zum Zweiten Deutschen Bundestag 74 VON 300 Mit Bundeskanzler Konrad Adenauer an der Spitze und im Zentrum des Wahlkampfes erringt die CDU/CSU mit 45,2 Prozent einen fulminanten Wahlsieg. Die Sozialdemokraten fallen dagegen mit kargen 28,8 Prozent noch hinter ihr Ergebnis von 1949 zurück. Den Bundesbürgern saß sichtlich noch der Schrecken über den von sowjetischen Panzern unterdrückten Arbeiteraufstand in der DDR in den Gliedern, daneben spiegelte das Wahlergebnis ihre allgemeine Zustimmung zur West- und Sicherheitspolitik Adenauers im Rahmen des Bündnisses mit Amerika. Die Wiederbewaffnung war in der Bevölkerung nicht populär, aber die Furcht vor der Sowjetunion überlagerte solche Bedenken. Vor allem aber zeigte sich eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger einverstanden mit der Wirtschaftspolitik Erhards. Zudem war die SPD nach dem frühen Tod Kurt Schumachers arg in die Defensive geraten, Erich Ollenhauer hatte es im Wahlkampf schwer, die Standpunkte der Partei zu vermitteln. Nach der zweiten Bundestagswahl am 6. September 1953 waren nur noch sechs Parteien im Bundestag vertreten - Folge des geänderten Wahlrecht mit der Fünfprozentklausel, vor allem aber der Erfolg der politisch dominierenden Figur des Bundeskanzlers, der die Wählerschaft in den heftigen Auseinandersetzungen um die sicherheits- und deutschlandpolitischen Grundentscheidungen polarisierte und zugleich das bürgerliche Lager integrierte. Mit 334 der insgesamt 487 Mandate verfügten Konrad Adenauer und seine Koalition über eine bequeme Mehrheit im zweiten Bundestag. 18.12.53 Verfassungsgericht bestätigt Gleichberechtigung "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" - dieser 1949 im Grundgesetz verankerte Grundsatz wird 1953 vom Verfassungsgericht bestätigt. Auf allen Lebensgebieten sollen Frauen und Männer nun gleiche Rechte und Pflichten haben. Daß die Gleichberechtigung ins Grundgesetz aufgenommen worden war, war zu großen Teilen das Verdienst der Politikerinnen Elisabeth Selbert, Friederike Nadig, Helene Weber und Helene Wessel. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe behandelte am 18. Dezember 1953 die Tragweite der grundgesetzlich verankerten Gleichberechtigung von Mann und Frau, bestätigte grundsätzlich den Gleichheitsgrundsatz und forderte den Gesetzgeber auf, bestehende Benachteiligungen vor allem beim Ehe- und Scheidungsrecht zu revidieren. Am 14. Januar 1954 wurde daraufhin ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Gleichstellung beraten, der in allen ehelichen und familiären Fragen, insbesondere was die Kindererziehung betrifft, beiden Eheleuten grundsätzlich gleiche Rechte und Pflichten einräumte. Einschränkend war aber vorgesehen, daß der erste Platz der Frau bei der Familie sei und eine Berufstätigkeit die Familie nicht berühren dürfe. Das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau wurde schließlich 1957 verabschiedet und trat 1958 in Kraft. Es beinhaltete auch erweiterte Befugnisse der Frauen in bezug auf das eheliche Vermögen, grundsätzlich wurde die Zugewinngemeinschaft, also die paritätische Aufteilung der in der Ehe angehäuften Vermögenswerte, festgelegt. 01.03.54 Wasserstoffbombentest der USA im Pazifik Den Auftakt einer längeren Versuchsreihe von H-Bomben-Explosionen bildet die Zündung der bislang stärksten amerikanischen Wasserstoffbombe im März 1954 auf dem Bikini-Atoll im Pazifik; sie steht unter der Federführung des Physikers Edward Teller. Die Sprengkraft entsprach 15 Megatonnen TNT und war damit 600mal so stark wie die Hiroshima-Bombe. Präsident Eisenhower gestand später ein, daß den Wissenschaftlern der Versuch zeitweise außer Kontrolle geriet, da die H-Bombe die doppelte Sprengkraft entwickelte als erwartet. Radioaktiver Niederschlag ging etwa 100 km über die 150 kmSperrzone hinaus nieder. Der 100 km von der Explosion entfernt fahrende japanische Fischkutter "Fukuryu Maru" mit 23 Mann wurde radioaktiv verseucht. Im September 1954 starb einer der Matrosen an den Folgen der Verstrahlung. Nach den ersten Auswertungen der Versuchs gab der Vorsitzende der US-AtomenergieKommission, Sterling W. Cole, öffentlich bekannt, daß die USA über eine einsatzfähige H- 75 VON 300 Bombe verfüge. Die H-Bomben-Versuche wurden nach dem Unfall am 1. März 1954 international verurteilt. Indiens Ministerpräsident Nehru sprach sich für eine sofortige Einstellung aller Versuche aus. Das japanische Parlament verabschiedete eine Resolution, die eine internationale Kontrolle der Atom- und H-Bomben-Tests forderte. 07.05.54 Wasserstoffbombentest der USA im Pazifik Den Auftakt einer längeren Versuchsreihe von H-Bomben-Explosionen bildet die Zündung der bislang stärksten amerikanischen Wasserstoffbombe im März 1954 auf dem Bikini-Atoll im Pazifik; sie steht unter der Federführung des Physikers Edward Teller. Die Sprengkraft entsprach 15 Megatonnen TNT und war damit 600mal so stark wie die Hiroshima-Bombe. Präsident Eisenhower gestand später ein, daß den Wissenschaftlern der Versuch zeitweise außer Kontrolle geriet, da die H-Bombe die doppelte Sprengkraft entwickelte als erwartet. Radioaktiver Niederschlag ging etwa 100 km über die 150 kmSperrzone hinaus nieder. Der 100 km von der Explosion entfernt fahrende japanische Fischkutter "Fukuryu Maru" mit 23 Mann wurde radioaktiv verseucht. Im September 1954 starb einer der Matrosen an den Folgen der Verstrahlung. Nach den ersten Auswertungen der Versuchs gab der Vorsitzende der US-AtomenergieKommission, Sterling W. Cole, öffentlich bekannt, daß die USA über eine einsatzfähige HBombe verfüge. Die H-Bomben-Versuche wurden nach dem Unfall am 1. März 1954 international verurteilt. Indiens Ministerpräsident Nehru sprach sich für eine sofortige Einstellung aller Versuche aus. Das japanische Parlament verabschiedete eine Resolution, die eine internationale Kontrolle der Atom- und H-Bomben-Tests forderte. 08.05.54 Krieg in Indochina Frankreich steht in Indochina vor einem Debakel. Paris erbittet dringend militärische Hilfe aus Washington, aber Eisenhower lehnt ab. Die Genfer Indochina-Konferenz sollte eine dauerhafte Lösung für die Region schmieden. Zwar wurde der Krieg beendet, doch mit der Teilung Vietnams wurde zugleich der Grundstein für den nächsten Konflikt gelegt. Der Norden wurde kommunistisch, der Süden wurde unter Diem mehr und mehr zu Amerikas Protegé. Indochina-Konferenz in Genf eröffnet Nach langer Vorbereitung beginnt in Genf die Konferenz über Indochina. Zur Beendigung des Indochinakrieges verhandeln Delegierte aus Frankreich, den USA, Großbritannien, der Sowjetunion, der VR China und beider vietnamesischer Staaten sowie aus Laos und Kambodscha. Die Vorzeichen waren verheerend für Frankreich: Die Festung Dien Bien Phu, schien nicht mehr lange zu halten zu sein. Der britische und der amerikanische Verhandlungsführer, Anthony Eden bzw. John Foster Dulles, hatten die dringende Bitte des französischen Außenministers Georges Bidault zur massiven Luftunterstützung mit dem Hinweis abgelehnt, ihre Regierungen hätten erklärt, keine militärischen Maßnahmen vor der Konferenz zu unternehmen. Die Positionen der einzelnen Verhandlungspartner deuteten kaum auf eine dauerhafte Friedenslösung für die Region hin. Der US-Kongreß hatte Dulles angewiesen, keine Lösung ohne bedingungslose Kapitulation der Vietminh zu akzeptieren - man forderte faktisch die Auflösung des von Ho Chi Minh geführten Nordvietnam. Der sowjetische Außenminister Molotow, Chinas Premier Chou En-lai und natürlich Ho Chi Minh selbst wollten auf dieser Basis keinesfalls diskutieren. Bao Dai, Staatsoberhaupt Südvietnams, stimmte überhaupt erst auf Vermittlung Molotows der Teilnahme nordvietnamesischer Delegierter zu. 04.07.54 "Tor! Tor! Tor!" 76 VON 300 "Tor! Tor! Tor! Tor für Deutschland!", brüllt Reporter Herbert Zimmermann ins Mikro. Und mit ihm fiebert eine ganze Nation zu Hause an den Radios und den wenigen Fernsehapparaten. Sechs Minuten später war die Sensation perfekt, die deutsche Mannschaft mit einem 3:2 über die favorisierten Ungarn zum ersten Mal Weltmeister. Die Deutschen waren wieder wer, und für viele war und blieb der 4. Juli 1954 der größte Tag im deutschen Fußball, auch wenn noch zwei weitere Weltmeistertitel folgen sollten. Bundesrepublik erstmals Fußballweltmeister Die Sensation ist perfekt: Die Bundesrepublik ist Fußballweltmeister. In einem packenden Finale, das "live" im jungen Deutschen Fernsehen übertragen wurde, schlug die Mannschaft von Trainer Sepp Herberger (l.) in Bern das favorisierte Team aus Ungarn mit 3:2. Helmut Rahn erzielte in der 84. Minute den Siegtreffer. Der Sieg wurde bei der Rückkehr der Nationalmannschaft nicht nur von Sportbegeisterten gefeiert, sondern ergriff die ganze Nation. Bundeskanzler Konrad Adenauer gratulierte den "Helden von Bern" um Kapitän Fritz Walter mit den Worten: "An Ihrem großartigen Erfolg nimmt das ganze deutsche Volk mit größter Freude Anteil." Wie kaum ein anderes Ereignis wurde der Gewinn der Weltmeisterschaft zum Ausdruck eines neuen bundesdeutschen Selbstbewußtseins. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs konnten sich die Deutschen wieder unbefangen einer nationalen Identifikation hingeben. Zwar hatten bereits Wiederaufbau und Wirtschaftswunder das durch die alliierte Besatzung und die damit verbundenen "Bevormundungen" angeschlagene deutsche Selbstbewußtsein auf anderer Ebene wiedererstarken lassen, doch erst jetzt "war man wieder wer". 20.07.54 Otto John geht nach Ost-Berlin Der Präsident des bundesdeutschen Verfassungsschutzes, Otto John, verschwindet nach den Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag des Attentats vom 20. Juli 1944 überraschend nach Ost-Berlin. Zunächst glaubt man im Westen fälschlicherweise an eine Entführung durch östliche Geheimdienste. John selbst lieferte eine erste Erklärung in einer Rundfunkrede aus Ost-Berlin am 23. Juli, in der er die Entführungsthese klar dementierte und von einem Wiedererstarken der Kräfte in der Bundesrepublik sprach, die die Nationalsozialisten an die Macht gebracht hätten. Bundesinnenminister Gerhard Schröder setzte eine halbe Million DM Belohnung für die Aufklärung des Falles aus. Ab Herbst 1954 – nach einigen weiteren Verlautbarungen ähnlichen Inhalts – trat John in der DDR nicht mehr öffentlich in Erscheinung. Allerdings tauchte er anderthalb Jahre nach seiner Flucht wieder in West-Berlin auf und wurde dort sofort verhaftet. Seinen Beteuerungen, er sei unter Anwendung von Drogen entführt worden, schenkte man vor Gericht keinen Glauben, so daß er 1956 zu vier Jahren Haft verurteilt und schließlich nach 18monatiger Haft vorzeitig entlassen wurde. 17.10.54 Noch mehr Macht für die SED Der Strukturwandel vom Mehrparteienstaat zum totalitären Einparteiensystem geht trotz "Neuem Kurs" und Arbeiteraufstand weiter auf. Lediglich 180 der 400 Abgeordneten der vergangenen Legislaturperiode sind wieder als Kandidaten nominiert worden. Von den Volkskammerabgeordneten des Jahres 1950 hat das MfS inzwischen acht verhaftet, 17 sind in die BRD geflüchtet und 44 haben ihr Mandat auf Druck der SED und der Besatzungsbehörde niedergelegt. Die Volkskammerwahlen vom 17. Oktober 1954 endeten in den bereits gewohnten Proportionen: 98,4 Prozent Wahlbeteiligung und 99,4 Prozent "Ja"-Stimmen für die Einheitslisten. Die Wahl war fast nirgends mehr geheim erfolgt, sie war mittlerweile nur noch Akklamation. Die Zusammensetzung der neuen Regierung zeigte, daß auf der einen 77 VON 300 Seite die Ohnmacht der Volkskammer und auf der anderen die Macht der SED immer größer geworden war: von 28 Ministern kamen 20 aus den Reihen der SED, von 13 Präsidiumsmitgliedern des Ministerrats waren neun SED-Mitglieder. Insgesamt 16 Regierungsmitglieder hatten in Personalunion zugleich hohe Parteiämter inne. Die SED hatte sich damit ihrem Ziel genähert, den Staats- und Verwaltungsapparat nach sowjetischem Muster möglichst allumfassend zu beherrschen und zu kontrollieren. 23.10.54 Zwei Staaten - zwei Blöcke Deutschland ist geteilt - nun beginnt der Integrationsprozeß in die Blöcke: Die BRD bindet sich an den Westen, die DDR an den Ostblock. Die Grenze im Kalten Krieg verläuft mitten durch Deutschland. NATO, EVG, EWG und EURATOM gegenüber Warschauer Pakt, COMECON und RGW. Die Welt spaltete sich in zwei Lager und das neue Deutschland mit ihr. Ein gemeinsamer deutscher Weg rückte spätestens nach dem Scheitern der Stalin-Noten in weite Ferne. Über Paris in die NATO Die Pariser Verträge: Mit einem Schlag wird die Integration der BRD in den Westen verbindlich. In insgesamt 11 Vertragstexten werden Deutschlands Souveränität, Deutschlands Wiederbewaffnung sowie die Eingliederung in die WEU und in die NATO festgeschrieben. Deutschland wird vertreten durch die BRD, die DDR geht ihren eigenen Weg. Die Welt war dabei, sich in Ost und West zu spalten. Der Gegensatz wurde zunehmend brisanter. Die DDR bekannte sich zur Sowjetunion, und die BRD suchte den Anschluß an den Westen. Mit den Pariser Verträgen kam nach der Londoner Neunmächtekonferenz ein langer, schwieriger Weg zum erfolgreichen Abschluß: Vom 9. bis 23. Oktober wurden in Paris entsprechend den Empfehlungen der Londoner Schlußakte mehrere Abkommen – insgesamt elf Vertragstexte – unterzeichnet, die die internationale Stellung der Bundesrepublik Deutschland neu definierten. Vor der Unterzeichnung räumten Adenauer und der französische Ministerpräsident Pierre Mendès-France mit ihrer Einigung auf eine Europäisierung der Saar das letzte große Hindernis aus dem Weg. 14.05.55 Militärbündnis für den Ostblock Als mit dem Beitritt der BRD in die NATO die Grenze zwischen den zwei großen Blöcken quer durch Deutschland lief, ruft auch der Osten ein eigenes Verteidigungsbündnis ins Leben: den Warschauer Pakt. Auf Einladung Bieruts und Chruschtschows fand in Warschau vom 11. bis zum 14. Mai die zweite Konferenz der Ostblock-Staaten statt. Auf der ersten Konferenz in Moskau hatten die Teilnehmer noch die Rücknahme der Pariser Verträge gefordert, jetzt aber schritten sie selbst zur Tat. Am letzten Tag der Zusammenkunft unterzeichneten die Vertreter der sieben anwesenden Staaten (Sowjetunion, Polen, CSSR, DDR, Rumänien, Ungarn und Albanien) einen Vertrag über "Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand". Der sogenannte "Warschauer Pakt" war auf 20 Jahre befristet. Seine Mitglieder verpflichteten sich im Falle eines militärischen Angriffs in Europa zur gegenseitigen Hilfe sowie zur Mitwirkung an der friedlichen Beilegung aller internationalen Streitfragen. Gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten sollte das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten gelten, strittige Fragen sollten durch gegenseitige Konsultationen gelöst werden. Die Möglichkeit eines Austritts war nicht vorgesehen, die Beteiligung an einem anderen Bündnissystem verboten. 15.05.55 Österreich erhält einen Staatsvertrag 78 VON 300 Österreich feiert seine wiedererlangte Freiheit: Mit dem Staatsvertrag endet die Besatzung durch die vier Siegermächte, Wien verpflichtet sich im Gegenzug zu immerwährender Neutralität. Nachdem die Sowjets Anfang März 1955 Verhandlungsbereitschaft in der österreichischen Frage signalisiert hatten, reiste Bundeskanzler Julius Raab noch im April zu Gesprächen über die Aufhebung des Besatzungsstatuts nach Moskau. Schon am 15. Mai 1955 konnte dann der Staatsvertrag von den Außenministern der vier bisherigen Besatzungsmächte, Molotow, Macmillan, Dulles und Pinay und Österreichs Außenminister Leopold Figl (l.) in Wien unterzeichnet werden. Österreich war damit souverän und übernahm die ehemaligen deutschen Vermögenswerte. Mit dem Staatsvertrag und der Zusicherung der österreichischen Neutralität war aus sowjetischer Sicht eine Eingliederung der österreichischen Westzonen in die westeuropäische Allianz verhindert worden. Wenige Tage vorher war die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland in den Pariser Verträgen vollzogen worden, worauf die Sowjetunion mit der Gründung des Warschauer Paktes am 14. Mai geantwortet hatte. Elf Tage später zogen die letzten Besatzungstruppen aus Österreich ab, im Dezember wurde die Alpenrepublik in die UNO aufgenommen, der Beitritt zum Europarat erfolgte wenig später. 11.06.55 Rennfahrer rast in Zuschauermenge Das berühmte 24-Stunden-Rennen von Le Mans wird Schauplatz der folgenschwersten Katastrophe des Motorsports: Ein Fahrzeug wird ins Publikum geschleudert und tötet 82 Menschen. Der französische Rennfahrer Pierre Levegh verlor nach einem Bremsfehler seines Kollegen Mike Hawthorne und einer Kollision mit einem Jaguar bei Tempo 200 die Kontrolle über seinen Mercedes 300 SLR. Das Fahrzeug raste in eine Böschung und explodierte in einer dicht an der Rennbahn stehenden Zuschauermasse. Levegh gelang es noch, andere Rennfahrer durch Handzeichen zum Bremsen zu bringen. Neben Levegh starben 82 Zuschauer, noch weitaus mehr wurden verletzt. Nach einer nur kurzen Unterbrechung wurden die "24 Stunden von Le Mans" fortgesetzt. Sieger wurde der Unfallverursacher Hawthorne. Nach der Katastrophe - bis heute das schwerste Unglück in der Geschichte des Automobilrennsports - zog Mercedes seine bis dahin überaus erfolgreichen "Silberpfeile" (li.) aus dem Rennsport zurück. 18.07.55 Genfer Gipfel schürt Hoffnungen Die Harmonie täuscht. Das erste Staatstreffen der vier ehemaligen Siegermächte in Genf kann den Ost-West-Konflikt nicht lösen. Hoffnungen auf ein mögliches Ende des Kalten Krieges werden enttäuscht. Die vier Regierungschefs - Dwight Eisenhower, Edgar Faure, Anthony Eden und Nikolaj Bulganin mit Parteichef Nikita Chruschtschow - versuchten auf der Genfer Gipfelkonferenz zehn Jahre nach dem Scheitern von Potsdam eine erneute Annäherung. Die Verhandlungspartner suchten einen Weg, die Wiedervereinigung Deutschlands mit Fragen der europäischen Sicherheitsinteressen verbinden zu können. Während die Sowjetunion aber ihre Sicherheit mit dem Status quo in Europa verband, liefen die amerikanischen Ziele auf dessen Überwindung hinaus. Den Hoffnungen auf eine baldige Wiedervereinigung Deutschlands erteilte Chruschtschow aber eine drastische Absage, als er und Bulganin auf dem Rückweg nach Moskau in OstBerlin haltmachten und dort die "Zwei-Staaten-Theorie" verkündeten. 26.07.55 Chruschtschows "Zwei-Staaten-Theorie" 79 VON 300 Chruschtschow setzt allen Hoffnungen auf eine mögliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ein jähes Ende. In Berlin verkündet er seine künftige Deutschlandpolitik. Chruschtschow und Bulganin hatten nach der Genfer Gipfelkonferenz einen Zwischenstopp in Ost-Berlin eingelegt. Auf einer Massenkundgebung am Marx-Engels-Platz verkündete der sowjetische Staatschef nun seine "Zwei-Staaten-Theorie" und stellte klar: Einer Wiedervereinigung würde die UdSSR nur mehr unter Wahrung der "sozialistischen Errungenschaften" der DDR zustimmen - eine für den Westen völlig unannehmbare Forderung. Als Wendepunkt in der Deutschland-Frage beendete diese Rede für lange Zeit die Hoffnung auf gesamtdeutsche freie Wahlen. Für die DDR bedeutete dieser Wendepunkt eine verstärkte wirtschaftliche wie politische Integration in den Ostblock und eine Aufwertung als eigener, selbständiger Staat. Unübersehbarer Ausdruck des neuen Selbstbewußtseins waren die Proklamation der Souveränität von der UdSSR, die Schaffung einer eigenen Armee und deren Aufnahme in die Warschauer-Pakt-Truppen. 05.08.55 Wirtschaftswunder Als der millionste Käfer vom Band rollt, sind sich die Westdeutschen sicher: "Wir sind wieder wer!" Erhard hat es geschafft, dem schwer angeschlagenen Selbstwertgefühl wieder auf die Beine zu helfen - durch ein "Wirtschaftswunder". Der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft im Vorjahr hatte ein Übriges getan. Nun sorgte der "Korea-Boom" für sensationelle Zuwachsraten. Die Fabriken arbeiteten auf Hochtouren, Löhne und Konsum stiegen dramatisch. Der neuerworbene Wohlstand sollte einen erheblich Teil zur Festigung der jungen Demokratie in der Bundesrepublik beitragen. 20.08.55 Internationale Atomenergiekonferenz Nach zwölf Tagen intensiver Beratungen geht in Genf eine internationale Atomenergiekonferenz zu Ende. Plan ist, den weltweiten Energiebedarf zunehmend mit Atomkraft zu decken. An den Diskussionen und Arbeitsgruppen über die friedliche Nutzung der Kernenergie nahmen rund 1.200 Delegierte aus 72 Ländern teil. Der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (li.) hatte zu der Konferenz angeregt und hielt die Eröffnungsrede. Er dankte vor allem den USA und der Sowjetunion, daß sie sich zu einer Zusammenarbeit bereit erklärt hatten. Diese und andere Zusammenarbeit sei ein Garant für den Weltfrieden. Die Konferenz war von großem Optimismus geprägt. Als Ergebnis der verschiedenen Arbeitsgruppen wurde unter anderem die Möglichkeit aufgezeigt, mittels Atomkraft den 80 VON 300 steigenden Energiebedarf der Welt zu sichern. Hochrechnungen ergaben, daß bis 1975 der Bedarf um 300 Prozent, auf zwölf Billionen kWh steigen werde. Fossile Brennstoffe könnten diesen Bedarf nicht mehr decken. Die bereits in Betrieb befindlichen Reaktoren in den USA und in der Sowjetunion hätten einen Sicherheitsstand erreicht, der die Errichtung neuer Kernkraftwerke in Serie absehbar mache. Einziges ungelöstes Problem sei noch immer die Beseitigung des atomaren Abfalls. Ausgebrannte Brennstäbe im Meer zu versenken, hatte sich als gefährlicher Irrweg erwiesen. Statt dessen wurden Endlagerstätten in der Antarktis und in erdbebensicheren stillgelegten Bergwerken vorgeschlagen. Großbritannien, Frankreich und Australien kündigten den Bau von Versuchsreaktoren an. 09.09.55 Adenauer verhandelt in Moskau Adenauer in Moskau: Chruschtschow knüpft Kontakte zur Bundesrepublik. Über zwei souveräne deutsche Staaten will er den Ost-West-Konflikt entschärfen. Der sowjetische KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow wollte die Anerkennung der DDR als souveräner Staat. Zu diesen politischen Bemühungen gehörte auch die Einladung Adenauers nach Moskau als Regierungschef eines ebenfalls souveränen deutschen Staates. Die Sowjetunion wollte so auf der Basis des Status quo in Europa ein Arrangement in ihrem Sinne mit den USA ermöglichen. Mit zwei Flugzeugen und einem Sonderzug reiste eine deutsche Delegation von über 100 Personen nach Moskau. Die sowjetischen Gastgeber, an ihrer Spitze Ministerpräsident Bulganin und Chruschtschow, ließen es an freundlichen Gesten nicht fehlen. Bei den Verhandlungen allerdings prallten die gegensätzlichen Positionen hart aufeinander. Allein in der Frage der Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen konnte man sich verständigen, für Adenauer war dieses Resultat ein großer Erfolg. 22.09.55 "Hallstein-Doktrin" soll abschrecken Moskau will die Anerkennung der DDR. Die Bundesregierung, gestützt von den Westmächten, nicht. Mit der "Hallstein-Doktrin" setzt die BRD nun eindeutige Signale. Die Sowjetunion unterhielt nach dem Besuch Adenauers in Moskau zu beiden deutschen Staaten diplomatische Beziehungen. Es stellte sich damit die Frage, wie verhindert werden konnte, daß auch andere Länder diesem Beispiel folgten und damit die DDR international aufwerteten. Im Auftrag von Staatssekretär Walter Hallstein entwickelte Wilhelm Grewe eine Strategie, die die Anerkennung der DDR durch Drittländer verhindern sollte. Dieses Konzept wurde im Kern von Adenauer in seiner Erklärung vor dem Deutschen Bundestag formuliert: "Auch dritten Staaten gegenüber halten wir unseren bisherigen Standpunkt bezüglich der sogenannten DDR aufrecht. Ich muß unzweideutig feststellen, daß die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen Akt ansehen würde, da er geeignet wäre, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen.'' 12.11.55 Gründung der Bundeswehr Die BRD wird wieder wer. Seit den Pariser Verträgen wird ihr auch ein rein defensives Heer zugestanden: die Bundeswehr. West-Deutschland kann sich nun bald selbst verteidigen. Bereit für die Verteidigung: Die neugegründete Bundeswehr erhält ihre ersten Soldaten. Den ersten 100 Freiwilligen überreichte Bundesverteidigungsminister Theodor Blank (l.) ihre Ernennungsurkunden, unterschrieben von Bundespräsident Theodor Heuss. Das Konzept der Bundeswehr sollte rein defensiv sein, wie Blank in seiner Ansprache im Anschluß an die Zeremonie im Bonner Verteidigungsministerium betonte. Die Generäle Heusinger und Speidel waren die ranghöchsten Offiziere der neuen deutschen Armee. Sie waren bereits an der Seite Blanks an den internationalen Verhandlungen um eine deutsche 81 VON 300 Wiederbewaffnung beteiligt gewesen. Der Festakt, bei dem auf das Abspielen der bundesdeutschen Hymne verzichtet wurde, erregte großes Aufsehen in der deutschen und auch in der internationalen Presse. Im Gegensatz zur "Nationalen Volksarmee" der DDR war die Bundeswehr nach ihrer Gründung nur bedingt einsatzbereit. 20.12.55 Abkommen über Gastarbeiter unterzeichnet Am 20. Dezember 1955 unterzeichnet Bundesarbeitsminister Anton Storch in Rom ein Abkommen mit Italien über die Aufnahme von sogenannten "Gastarbeitern" in der Bundesrepublik Deutschland. Im folgenden Jahr sollten gemäß den Vereinbarungen, die Storch mit dem italienischen Außenminister Martino traf, etwa 100.000 italienische Arbeitskräfte in Übereinstimmung mit der Bundesanstalt für Arbeit von deutschen Firmen angeworben werden. Anfang 1956 war es dann soweit: Die ersten Arbeiter aus Italien nahmen ihre Arbeit in der Bundesrepublik auf. Den Hintergrund für diesen Arbeitskräftetransfer zwischen der Bundesrepublik und Italien bildeten ein Fachkräftemangel und sinkende Arbeitslosenzahlen auf der deutschen Seite und andererseits eine bedrückende Arbeitslosigkeit südlich der Alpen. 18.01.56 Gründung der Nationalen Volksarmee Deutschland rüstet auf. Nachdem die BRD mit der Bundeswehr wieder über eigene Streitkräfte verfügt, schafft sich auch die DDR ein eigenes Heer: die Nationale Volksarmee. Es war eine erste Folge der Zuerkennung der Souveränität der DDR, daß die bisher versteckte Aufrüstung in der DDR nun öffentlich betrieben werden konnte. So verabschiedete die Volkskammer am 18. Januar 1956 ein Gesetz zur Schaffung einer Nationalen Volksarmee, der sogenannten NVA. Minister für Nationale Verteidigung wurde zunächst Willi Stoph, dem 1960 Heinz Hoffmann folgte. Bereits zehn Tage nach ihrer Gründung wurde die NVA in die Streitkräfte des Warschauer Paktes aufgenommen, womit die DDR nun auch militärisch voll in den Ostblock integriert war. Mit der Aufstellung der beiden deutschen Streitkräfte, die als Mitglieder des östlichen bzw. westlichen Militärbündnisses in sinnfälliger Weise die Machtkonstellation des Kalten Krieges auf deutschem Boden repräsentierten, wurde auch die Trennung der beiden Staaten um ein weiteres Stück endgültiger. 23.01.56 UdSSR schlägt Nichtangriffspakt vor Der sowjetische Ministerpräsident Nikolaj Bulganin übermittelt US-Präsident Dwight D. Eisenhower einen persönlich gehaltenen Brief. Darin schlägt Bulganin den Abschluß eines Freundschaftspaktes vor. Dieser sollte von der Gleichberechtigung beider Staaten ausgehen und auch das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen Staates berücksichtigten. Der Freundschaftsvertrag könne dazu dienen, so schrieb Bulganin, internationale Streitfälle nur mit friedlichen Mitteln zu lösen und dem Wettrüsten ein Ende zu bereiten. Eisenhower lehnte den Vorschlag unter Verweis auf die Charta der Vereinten Nationen ab. Dort seien bereits alle Bestimmungen enthalten, die Bulganin vorschlage. Eine erneute Festlegung sei überflüssig. Bulganin richtete am 1. Februar 1956 eine zweite Botschaft an Eisenhower und bekräftigte seine Ansicht, daß der Abschluß des von ihm vorgeschlagenen Vertrages helfen würde, den Frieden zu sichern. Der rein propagandistisch ausgerichteten Initiative Bulganins war auch diesmal kein Erfolg beschert. 24.02.56 Chruschtschow rechnet mit der Ära Stalin ab 82 VON 300 Der XX. Parteitag der KPdSU ist die erste Veranstaltung dieser Art nach Stalins Tod. Für viele unerwartet werden der Personenkult und die Verbrechen des Diktators zum Gegenstand der Diskussion. 1.434 sowjetische Delegierte und Kommunisten aus 55 Staaten der Erde trafen sich im Großen Kremlpalast in Moskau. Der Parteitag begann wenig spektakulär. Die eigentliche Sensation kam erst am 24. Februar 1956, dem vorletzten Tag. In einer geschlossenen Sitzung, zu der ausländischen Kommunisten der Zutritt nicht gestattet war, hielt Chruschtschow ein Referat über Stalins Verbrechen und seinen Personenkult. Chruschtschow sprach sieben Stunden lang. Voller Bitterkeit zählte er das lange Sündenregister seines Vorgängers auf und ging dabei weit in die Vergangenheit zurück. Er enthüllte das bisher geheime Testament Lenins, das Andeutungen auf die diktatorischen Neigungen und die Grausamkeit Stalins enthielt und wandte sich entschieden gegen die Legende von Stalin als dem Retter des Vaterlandes während des Zweiten Weltkrieges. Er schloß mit den Worten: "Laßt uns schwören, den Personenkult für immer abzuschaffen!" Die Geheimrede Chruschtschows vom 24. Februar 1956 wurde in den sowjetischen Medien nicht erwähnt, dafür war sie zu hart und direkt. Verschiedene Leitartikel nahmen das Thema in abgemilderter Form auf. Der Wortlaut der Rede wurde dagegen am 4. Juli 1956 vom Außenministerium der USA veröffentlicht. Diesem war auf vertraulichem Wege eine Kopie zugespielt worden. 18.04.56 Fürst Rainier III. heiratet Grace Kelly In der St.-Charles-Kathedrale des Fürstentums Monaco geben sich Rainier III. und die USFilmschauspielerin Grace Kelly das Ja-Wort. Schon seit Wochen füllt die "Hochzeit des Jahres" die internationalen Boulevardblätter. Fürst Rainier hatte die Schauspielerin bei den Dreharbeiten zu dem Film "Über den Dächern von Nizza" im Jahr zuvor kennengelernt. Als Fürstin nahm sie den Namen Gracia Patricia an. Nach der Trauung waren rund 1.200 Gäste, darunter offizielle Gesandte aus 25 Staaten, in den Thronsaal des Fürstenschlosses zur Hochzeitsfeier geladen. Die Einladung des Pariser "Verbrecherkönigs" René Girier erregte großes Aufsehen. Dem erst kurz vorher aus französischer Haft entlassenen Girier, der als lebende Vorlage zu dem Film "Über den Dächern von Nizza" gesehen wurde, waren auch zwei Fälle von Juwelendiebstahl nachgewiesen worden. Fürst Rainier betonte im nachhinein, daß die Einladung im Zuge seines Einsatzes zur Resozialisierung von Verbrechern zu sehen sei. Fürstin Gracia erklärte nach der Eheschließung, daß sie ihre Karriere als Schauspielerin auf Wunsch ihres Gatten und des Volkes von Monaco beendet habe. Nur wenige Wochen vor der Heirat hatte sie die Dreharbeiten zu dem Film "Die oberen Zehntausend" beendet. 28.06.56 Aufstand in Polen niedergeschlagen Das Scheitern von Lohnverhandlungen ist Auslöser für einen Aufruf von Arbeitern aus Posen zum Generalstreik. Armee-Einheiten schlagen den Aufstand mit brutaler Härte nieder. 15.000 Arbeitern einiger Fabriken formierten sich zu einem Demonstrationszug durch die Innenstadt: Sie gerieten in immer erregtere Stimmung, begannen die entlang des Weges postierten Sicherheitskräfte zu entwaffnen und offizielle Gebäude zu besetzen. Verschiedene Gefängnisse wurden gestürmt und die Häftlinge befreit. Die polnischen Sicherheitskräfte gingen erst zum Gegenangriff über, als die Aufständischen sich dem Gebäude der Sicherheitspolizei näherten. Sie setzten dabei Tränengas, aber auch Panzer und Flugzeuge ein. Die Arbeiter wehrten sich mit den erbeuteten Waffen, die Kämpfe weiteten sich aus. Erst in der Nacht konnten die Polizeikräfte wieder Herr der Lage werden. Die Staats- und Parteiführung war nach der Niederschlagung des Aufstands ratlos und über den künftig zu verfolgenden Kurs uneinig. Sie setzte zunächst eine Kommission unter E. 83 VON 300 Gierek (l.) ein, um die Ursachen des Aufstands zu untersuchen. Die Festgenommenen bekamen aber nur äußerst milde Strafen. 01.07.56 Krieg am Suezkanal Großbritannien und Frankreich halten die Aktienmehrheit der Internationalen Suezkanalgesellschaft. Als Nasser den Kanal verstaatlicht, überziehen ihn die beiden Länder gemeinsam mit Israel mit Krieg. Die USA verurteilten die Aggression, während die UdSSR gar mit militärischer Intervention drohte. Frankreich und Großbritannien wurden zum Abzug gezwungen, ihre Truppen durch UN-Einheiten ersetzt. Der wenige Monate später wieder geöffnete Kanal blieb jedoch in ägyptischem Besitz. 26.07.56 Nasser verstaatlicht den Suezkanal Ägyptens Staatspräsident Gamal Abd an-Nasser gibt vor rund 150.000 Zuhörern bekannt, daß die Internationale Suezkanalgesellschaft nicht mehr existiere. Der Kanal - die wichtigste Wasserstraße zwischen Europa, Afrika und Asien - sei zugunsten des ägyptischen Volkes nationalisiert worden. Großbritannien zog erst nach langen Verhandlungen seine in der Suez-Zone stationierten Truppen ab. Nasser hatte die Rechte der internationalen Gesellschaft anerkennen müssen und sich verpflichtet, sie von seiner Seite aus nicht zu ändern. Der letzte britische Soldat hatte am 18. Juni 1956 Ägypten verlassen. Nasser griff zu dieser drastischen Maßnahme, um den Assuan-Staudamm, ein kostspieliges Großprojekt zur Ackerlandkultivierung, finanzieren zu können. Er hatte sich zuvor an die USA, Großbritannien, die Sowjetunion und die Weltbank mit der Bitte um finanzielle Unterstützung gewandt. Alle Seiten hatten ihm abschlägige Antworten erteilt. Die Verstaatlichung begründete Nasser damit, daß beim Bau des Kanals 120.000 ägyptische Arbeiter an Erschöpfung gestorben seien: Das Blut der Vorfahren sei nicht dazu bestimmt gewesen, Ausländer zu bereichern. Die Einnahmen der Gesellschaft hatten 1950 rund 100 Millionen US-Dollar betragen, Ägypten erhielt davon nur drei Millionen als Lizenzgebühren. Der Westen, allen voran die USA, Großbritannien und Frankreich, reagierte auf die Verstaatlichung mit Protest; Großbritannien drohte mit Krieg. 26.07.56 "Andrea Doria" sinkt nach Kollision Schock für die zivile Schiffahrt: Etwa 200 Seemeilen vor New York kollidiert der italienische Luxusliner "Andrea Doria" mit dem schwedischen Passagierdampfer "Stockholm". 50 Menschen verlieren ihr Leben. Am Nachmittag des 26. Juli war das 29.000 BRT schwere Schiff in dichtem Nebel mit dem schwedischen Dampfer zusammengestoßen. Die meisten der rund 1.800 Passagiere der "Andrea Doria" konnten von anderen, rasch herbeigeeilten Schiffen geborgen werden, für 50 Menschen kam die Hilfe jedoch zu spät. Während die "Andrea Doria" kenterte und am nächsten Morgen sank, konnte die "Stockholm" trotz eines großen Lecks in den Hafen von New York zurückkehren. Die genaue Unglücksursache blieb ungeklärt. Wahrscheinlich wurden die Radaranlagen der beiden Schiffe durch reflektierende Nebelschichten irritiert. Prominent wurde diese Schiffskollision nicht zuletzt deswegen, weil die gesamte Bergung von aus New York angeflogenen Kamerateams in Hubschraubern gefilmt wurde. Das Interesse der amerikanischen Bevölkerung übertraf – vor allem aufgrund der nun in fast jedem Haushalt befindlichen Fernsehgeräte – sogar das, mit dem vier Jahre zuvor dem Untergang der "Flying Enterprise" verfolgt worden war. Der Untergang der Andrea Doria gilt somit als erste mediale Katastrophe der Geschichte und als schwerstes Unglück der zivilen Schiffahrt seit dem Untergang der "Titanic". 84 VON 300 23.10.56 Tauwetter im Ostblock? Rigoros rechnet Chruschtschow mit den Verbrechen der Ära Stalin ab. Vor allem in Ungarn und Polen gärt es daraufhin: Man hofft auf politische Öffnung. 1953 die DDR und jetzt Ungarn: Jeglicher Versuch, die Führungsrolle Moskaus innerhalb der Ostblockstaaten in Frage zu stellen, erstickt im Mündungsfeuer sowjetischer Panzer. Trotz verzweifelter Hilfsappelle an den Westen hielt sich Washington zurück. Die Grenzlinie zwischen den Blöcken wurde akzeptiert, von "Zurückdrängung" des Kommunismus konnte keine Rede sein. Beginn des ungarischen Volksaufstands Anfang Oktober 1956 gärte es an den Universitäten Ungarns. Allerorten stellten die Studenten politische Forderungen an die Regierung Hegedüs. Sie verlangten freie Wahlen, den Abzug der sowjetischen Truppen, die Bestrafung der stalinistischen Machthaber aus der Epoche Rákosi und Reformen im Wirtschaftsleben. Für den Nachmittag des 23. Oktober 1956 riefen die Studenten Budapests die Bevölkerung zu einer Demonstration der Solidarität mit Polen auf. Zehntausende versammelten sich friedlich auf dem Bem-Platz. Anschließend zog die riesige immer erregter werdende Menschenmenge durch die Straßen. Das sieben Meter hohe Standbild Stalins im Stadtpark wurde vom Sockel gestürzt. Ein Teil der Demonstranten zog zum Rundfunk, um die Forderungen der Studenten dort verlesen zu lassen. Die entsprechende Zusage wurde aber nicht eingehalten. Statt dessen sprach der Generalsekretär der KP Ernö Gerö und drohte den Demonstranten Vergeltung an. Die aufgebrachte Menge setzte zum Sturm auf das Rundfunkgebäude an. Als Sicherheitskräfte daraufhin das Feuer eröffneten und eine Frau töteten, war dies das Fanal für den allgemeinen Aufstand. Soldaten solidarisierten sich mit den Demonstranten und stellten ihnen ihre Waffen zur Verfügung. Der kommunistische Staats- und Unterdrückungsapparat brach innerhalb weniger Stunden in sich zusammen. 29.10.56 Israelischer Vorstoß auf Gaza und Suez Blitzartig greifen israelische Truppen Ägypten auf der ganzen Länge der Sinai-Halbinsel und des Gaza-Streifens an. Die ägyptischen Soldaten leisten kaum Widerstand, ihre Stellungen werden überrannt. Der Angriff kam überraschend, denn in den Wochen zuvor hatte sich die Aufmerksamkeit aller auf den schwelenden Konflikt zwischen Israel und Jordanien gerichtet. Auch technisch war die israelische Armee überlegen, hatte sie doch kurz zuvor ihr Waffenarsenal durch die Lieferung von 60 französischen Düsenjägern auffüllen können. Die Regierung Ben Gurion in Tel Aviv erklärte noch am selben Tag, dem 29. Oktober 1956, der Angriff sei eine Antwort auf ähnliche ägyptische Aktionen. Den Charakter des Vorstoßes ließ man bewußt im Unklaren. Ein Regierungssprecher äußerte salomonisch, es handele sich um keine Vergeltungsaktion, dafür sei die Operation zu groß. Es sei jedoch auch kein Krieg, denn dazu sei die Operation nicht groß genug angelegt. Ägyptens Rundfunk warf Israel eine flagrante Verletzung des Waffenstillstandsvertrags vor und betonte das Recht der Regierung auf Selbstverteidigung. 31.10.56 Britisch-französische Luftangriffe in Ägypten Der britische Premier Anthony Eden richtet ein französisch-britisches Ultimatum an Israel und Ägypten. Darin fordert er die beiden Kontrahenten der tags zuvor ausgebrochenen Suezkrise auf, alle Kämpfe innerhalb von 12 Stunden einzustellen. Zudem sollten sich die beiden Armeen auf eine Linie von 10 Meilen jeweils östlich bzw. westlich des Suezkanals zurückzuziehen. Dieses Ultimatum war letztlich eine Farce: Israel 85 VON 300 hatte die Linie, auf die es sich hätte zurückziehen sollen, noch gar nicht erreicht. In Wahrheit handelte es sich um ein zwischen Großbritannien, Frankreich und Israel zuvor abgesprochenes Vorgehen, mit dem jeder der drei Beteiligten die eigenen Ziele zu erreichen hoffte. Als der ägyptische Staatschef Abd an-Nasser das Ultimatum erwartungsgemäß ablehnte, begannen französische und britische Flugzeuge am 31. Oktober 1956 damit, ägyptische Flughäfen zu bombardieren. Am Morgen des 5. November 1956 landeten britische und französische Truppen bei Port Said und Port Fuad, um Brückenköpfe für die Eroberung der gesamten Kanalzone zu bilden. 15.11.56 UN-Truppen landen in Ägypten Die Vereinten Nationen verurteilen das Vorgehen Großbritanniens, Frankreichs und Israels gegenüber Ägypten: Sie fordern die unverzügliche Einstellung der Kampfhandlungen, und zwar mit den Stimmen der USA und der UdSSR. Tags darauf befaßte sich die UNO-Vollversammlung mit Generalsekretär Hammarskjöld (u.l.) erneut mit der Suezkrise. Die Resolution des Vortags wurde bekräftigt und darüber hinaus beschlossen, eine internationale Truppe aufzustellen, die die Einstellung der Feindseligkeiten gewährleisten und überwachen sollte. Nachdem die britischen und französischen Truppen am 5. November bei Port Said gelandet waren, übermittelte der Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR, Nikolai Bulganin Präsident Eisenhower noch am Abend eine Botschaft. Bulganin drohte mit einem direkten militärischen Eingreifen der UdSSR zugunsten Ägyptens. Dies veranlaßte die USA, ihre westlichen Verbündeten – Premierminister Eden und Ministerpräsident Mollet – unter Druck zu setzen. Am 7. November 1956 stellten Großbritannien und Frankreich die Kampfhandlungen ein. Anschließend begannen langwierige Verhandlungen über den Abzug aller fremden Truppen aus Ägypten. Am 15. November traf das erste Kontingent der UNO zur Überwachung des Abzugs auf dem Flughafen Abu Suweir bei Ismailia ein. 01.01.57 Das Saarland wird Teil der Bundesrepublik Am 1. Januar 1957 wird das Saarland in einem Festakt in Saarbrücken dem Bundesgebiet eingegliedert. Zu den Anwesenden gehört selbstverständlich Bundeskanzler Konrad Adenauer, der die Saarländer im politischen Verbund der Bundesrepublik Deutschland willkommen heißt. Der saarländische Ministerpräsident Hubert Ney und der Bundeskanzler betonten beide in ihren Reden, daß die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik der erste Schritt auf dem Wege zur deutschen Wiedervereinigung sei. Damit war ein Schlußstrich unter die seit Jahren schwelenden Konflikte mit Frankreich gezogen worden. In einem in Luxemburg 1956 unterzeichneten Vertrag, der eine Folge der Volksabstimmung an der Saar vom Oktober 1955 war, hatten sich Frankreich und die Bundesrepublik auf die volle politische Eingliederung des Saarlandes in das Staatsgebiet der Bundesrepublik geeinigt. Die wirtschaftliche Eingliederung sollte bis 1959 abgeschlossen sein. 16.01.57 "Rentenschlacht" im Bundestag Der Bundestag erlebt eine seiner Sternstunden: Mehrere Tage debattieren die Abgeordneten über die Rentenreform. Die bisher längste Debatte im deutschen Parlament geht als "Rentenschlacht" in die Geschichte ein. Zu den Verfechtern des Entwurfes gehörte neben Arbeitsminister Anton Storch (u.l.) auch Bundeskanzler Konrad Adenauer, innerhalb des Kabinetts gab es jedoch auch kritische Stimmen. Insbesondere Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und Finanzminister Fritz Schäffer meldeten finanzpolitische Bedenken an. Der schließlich gefundene Kompromiß sollte abschließend noch im Parlament diskutiert werden. 86 VON 300 Die Auseinandersetzung wurde trotz aller Härte sachlich und kompetent geführt. Zu der mühsam erstellten Fassung des Regierungsentwurfes hatten die Parteien insgesamt 493 Änderungsvorschläge eingebracht. Aber die Union ließ sich von ihrer so spät gefundenen Linie nur noch in einzelnen, weniger wichtigen Punkten abbringen. Für die SPD und ihren Vorsitzenden Erich Ollenhauer war das Ja der Union zum Grundgedanken der Dynamisierung eindeutig genug, sie stimmte bei der Schlußabstimmung dem Gesetz zu. Die Bedenken der FDP gegen die Dynamisierung konnten dagegen bis zuletzt nicht vollständig ausgeräumt werden. Das Gesetz wurde schließlich mit den Stimmen von Union, SPD und FVP (Freie Volkspartei, eine Abspaltung der FDP) gegen die FDP bei mehrheitlicher Stimmenthaltung der DP verabschiedet und trat am 23. Februar in Kraft. 25.3.57 Europa wächst zusammen Der Grundstein für ein gemeinsames Europa wird gelegt: In den Römischen Verträgen wird der Zusammenschluß von zunächst sechs Staaten zur europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) besiegelt. Der Weg, im Nachkriegseuropa eine Gemeinschaft der Staaten herzustellen, war lang und steinig. Doch das Ziel eines geeinten Europa ließ schrittweise alle Hindernisse überwinden. 1993 schließlich wurde mit den Verträgen von Maastricht aus der wirtschaftlichen Gemeinschaft auch eine politische: die Europäische Union (EU). Gründung von EWG und EURATOM Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge wird auf dem Hügel des Kapitols in Rom die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atombehörde (EURATOM) besiegelt. Nach zwei Jahren schwierigster Verhandlungen hatten sich die sechs Mitgliedstaaten auf die Modalitäten geeinigt. Die Regierungschefs und Außenminister Adenauer (Bundesrepublik), Bech (Luxemburg), Spaak (Belgien), Segni und Martino (Italien), Mollet und Pineau (Frankreich) und Luns (Niederlande) setzten ihre Unterschriften unter die gesiegelten Dokumente. Alle Regierungschefs waren sich der Tatsache bewußt, daß die Unterzeichnung in Rom ein "geschichtlicher Vorgang" war, und sie sollten mit dieser Einschätzung Recht behalten. Paul Henri Spaak, der belgische Außenminister, war wohl die eigentlich treibende Kraft bei den mühsamen Verhandlungen gewesen. In einer kurzen Ansprache im Anschluß an die Unterzeichnung betonte Adenauer den friedfertigen und integrierenden Charakter der beiden neuen europäischen Institutionen. 87 VON 300 15.09.57 Union erringt die absolute Mehrheit Die Wahlen zum dritten Deutschen Bundestag am 15. September 1957 entwickeln sich erneut zu einem Kanzlerplebiszit und sehen Konrad Adenauer auf dem Höhepunkt seiner Macht. Der allen Bedenken gegen die bisherige Regierungspolitik entgegengesetzte Slogan der Unionsparteien "Keine Experimente" traf, wie das Wahlergebnis zeigte, genau den Wählerwillen: Die Bundesbürger votierten für Sicherheit und Stabilität und bescherten den Unionsparteien eine absolute Mehrheit von 55 Prozent der Sitze im Deutschen Bundestag. Der SPD war es dagegen nicht gelungen, aus der politischen Defensive herauszufinden. Ihr außenpolitisches Konzept – europäisches Sicherheitssystem, aktive Wiedervereinigungspolitik – und ihre kritische Kommentierung der wirtschaftlichen Erfolge Ludwig Erhards blieben ohne große Resonanz in der Bevölkerung. Daß sie Adenauers Rentenreform mit zum Erfolg geführt hatten, wurde den Sozialdemokraten am Wahltag nicht zugute gehalten. Ihr Wahlziel, eine christdemokratische Mehrheit zu verhindern, war nicht geeignet, Wähler zu mobilisieren, und nicht zuletzt fehlte dem SPD-Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer die in einer Massendemokratie notwendige Popularität, um als Herausforderer des amtierenden Regierungschefs eine echte Chance auf den Sieg zu haben. Die Liberalen unter dem Vorsitz Reinhold Maiers, die sich mit Adenauer überworfen hatten, versuchten sich im Wahlkampf als dritte Kraft zu profilieren – in wirtschaftspolitischen Fragen neigten sie zur Union, in der Deutschlandpolitik eher zur Sozialdemokratie. 21.09.57 Katastrophe auf hoher See Entsetzen und erneutes Aufleben der Diskussion um Sinn und Unsinn der Berufsarmee löst der Untergang des Segelschulschiffs "Pamir" aus. 81 Menschen kommen ums Leben, als das Schiff etwa 1.100 Seemeilen südwestlich der Azoren in den Hurrikan "Carrie" gerät und kentert. Die "Pamir" war einer der letzten beiden frachtfahrenden Großsegler der Bundesmarine und befand sich mit 86 Besatzungsmitgliedern, darunter 51 junge Offiziersanwärter, auf der Fahrt von Buenos Aires nach Deutschland. In den Frachträumen befanden sich 3.780 Tonnen zumeist lose geschüttete Gerste. Trotz warnender Funksprüche wegen des Sturms hatte der Kapitän den Kurs nicht geändert. Der Hurrikan traf die Pamir mit voller Wucht. Windgeschwindigkeiten von über 240 km/h und über 12 Meter hohe Wellen zerfetzten die Segel, die Ladung kam ins Rutschen. Unaufhörlich verrutschte das Getreide, das Schiff bekam Schlagseite und wurde manövrierunfähig. Ein Wellenbrecher drückte es schließlich unter Wasser. Innerhalb weniger Minuten sank der Rahsegeler, nur fünf Besatzungsmitglieder überlebten. Massive Kritik wurde am Bundesverteidigungsministerium geübt, zumal dies nicht der erste Untergang eines Segelschulschiffs war. 1932 war die "Niobe" mit 69 Nachwuchsoffizieren an Bord in einem schweren Sturm gesunken. Auch aus den Reihen der Gegner der Wiederbewaffnung wurde Kritik laut. Nachdem bereits wenige Monate zuvor 15 Rekruten ertrunken waren, prangerten sie nun den neuerlichen Verlust junger Menschenleben für die militärische Aufrüstung an. 04.10.57 Der Sputnik-Schock Amerika unter Schock: Zwar bleibt die Nation weiterhin Atommacht Nummer Eins, aber der erfolgreiche Weltraumflug des sowjetischen Satelliten "Sputnik" weckt diffuse Ängste in den USA. Während die Sowjetunion den ersten Flug eines künstlichen Satelliten als Indiz für die Überlegenheit des sozialistischen Systems feierte, begannen die USA eine fanatische Aufholjagd. Der Kalte Krieg wurde nun auch im Weltall ausgetragen: Erst mit der Mondlandung 1969 übernahm Amerika endgültig die Führung im "Wettlauf im All" . 88 VON 300 Sowjets schicken den ersten Satellit ins All Der Sowjetunion gelingt es als erstem Staat der Welt einen Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schießen. Der kugelförmige "Sputnik I" hatte einen Durchmesser von 58 Zentimetern und ein Gewicht von 84 Kilogramm. Er umkreiste die Erde in einem Abstand von 900 Kilometern und benötigte eine Stunde und 35 Minuten für eine Umrundung. Als die Meldung am 5. Oktober 1957 um die Welt ging, kam sie einer Sensation gleich. Man sprach vom "Sputnik-Schock". Er erschütterte das Selbstvertrauen des Westens in seine eigene Stärke weitaus tiefer, als es die schnelle Herstellung der Atom-und Wasserstoffbomben durch die Sowjetunion getan hatte. Hier befand sich der Westen erstmals im technologischen Rückstand. Am 11. Juni 1957 war nämlich der Versuchsflug einer amerikanischen Rakete, zu der das Pentagon (US-Verteidigungsministerium) die in- und ausländische Presse geladen hatte, kläglich gescheitert. Die Sowjetunion nutzte diese Schlappe aus: "Wir gackern nicht, bevor wir unser Ei gelegt haben", kommentierte Chruschtschow den eigenen Überraschungserfolg. Die sowjetischen Medien frohlockten und präsentierten "Sputnik I" als den schlagenden Beweis für die Überlegenheit des sozialistischen Systems. 10.10.57 Versuchsreaktor gerät außer Kontrolle Der erste schwere Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung der Kernkraft ereignet sich in der nuklearen Versuchsanlage Calder Hall in der Nähe des Ortes Sellafield im Nordwesten Englands. Nachdem in der Plutoniumfabrik Windscale, die 1983 in Sellafield umbenannt wurde, Uranbrennstäbe in Brand geraten waren, wurde radioaktives Material freigesetzt und das Umland verseucht. Während der nächsten Jahre mehrten sich in der Bevölkerung der 89 VON 300 Umgebung Beschwerden über Hauterkrankungen, bis 1982 starben etwa 40 Menschen an den Folgen des Unglücks. In späteren Jahren wurde das Kernforschungszentrum mehrfach zur Zielscheibe von Umweltschützern, da von dort plutoniumhaltiges Abwasser in die irische See gepumpt wurde. Es kam zu weiteren Störfällen. 01.11.57 Skandal nach Mord an Prostituierter Ein mysteriöser Mord erschüttert die heile Welt des Wirtschaftswunderlandes: Die Prostituierte Rosemarie Nitribitt wird in ihrer Frankfurter Wohnung erdrosselt aufgefunden. Rasch gibt es Gerüchte, daß zahlreiche Prominente aus Politik und Wirtschaft zu ihren Freiern gehört hatten und daß die Motive für das Verbrechen in diesem Zusammenhang zu sehen sind. Das Verbrechen konnte nicht aufgeklärt werden. In der Öffentlichkeit hielten sich lange Zeit Gerüchte, daß die Ermittlungen durch Politiker und Wirtschaftskapitäne massiv behindert worden waren, um ihre Verstrickung in die Affäre zu vertuschen. Die Fassade des spießbürgerlichen Nachkriegsdeutschland bekam erste Risse: Gesellschaftliche Skandale dieser Art waren im Wirtschaftswunderland Deutschland bislang nicht bekannt geworden. Während der nächsten Jahrzehnte füllten jedoch Schlagzeilen über ähnliche Affären prominenter Politiker die Zeitungen in zahlreichen Ländern. Nachdem US-Präsident John F. Kennedy bereits 1961 Beziehungen zum Filmstar Marilyn Monroe nachgesagt worden waren, erschütterte der "Profumo-Skandal" 1963 das biedere Großbritannien in seinen Grundfesten. 07.11.57 Eisenhower forciert Raumfahrtforschung Eisenhowers Antwort auf den Sputnik: eine Rundfunkansprache, in der er die Notwendigkeit für die USA betonte, die Führung in der Raumfahrtforschung zurückzugewinnen. Der Start des ersten sowjetischen Satelliten "Sputnik I" am 4. Oktober 1957 hatte in den USA einen regelrechten Schock ausgelöst, galt doch die Raumfahrttechnologie als ausgesprochenes Prestigeprogramm. Eisenhower legte ein Sechs-Punkte-Programm vor, mit dem der sowjetische Vorsprung kompensiert werden sollte: Er richtete das Amt eines ständigen Beraters des Präsidenten für Wissenschaft und Technologie ein und besetzte es mit Dr. James R. Killian, dem Präsidenten des "Massachusetts Institute of Technology" (MIT). Im Verteidigungsministerium wurde eine eigene Abteilung für Raketentechnik eingerichtet. Zusätzlich sollten internationale Gremien im Rahmen der NATO und SEATO zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit eingerichtet werden. Viele US-Amerikaner empfanden den wissenschaftlichen Vorsprung der Sowjetunion als Blamage. Im Dezember erklärte Killian, daß die USA lediglich in der Lage seien, einen etwa 10 kg schweren Satelliten ins All zu bringen, während die Sowjetunion am 3. November 1957 mit "Sputnik II" bereits einen über 500 kg schweren Satelliten mit einem Hund als Versuchstier in die Erdumlaufbahn gebracht hatte. Am 31. Januar 1958 antworteten die USA allerdings bereits mit dem Satelliten "Explorer 1" – der von einer durch Wernher von Braun maßgeblich mitentwickelten "Jupiter C"-Rakete in die Erdumlaufbahn tranportiert wurde – auf den sowjetischen Vorsprung. Die Supermächte befanden sich damit wieder auf dem gleichen technologischen Niveau. 08.05.58 Im Libanon bricht Bürgerkrieg aus Ein prokommunistischer oppositioneller Zeitungsverlegerr wird in der libanesischen Hauptstadt Beirut ermordet. Dies ist der Funken, der einen Bürgerkrieg zwischen den verfeindeten Religionsgemeinschaften im Lande auslöst. Der christlichen Regierung Camille Chamoun wurde von nichtchristlichen, vor allem muslimischen Bewegungen der Mord angelastet. In den folgenden Tagen kam es in der Hafenstadt Tripolis und in Beirut zu schweren Unruhen. Muslimische Milizen brannten die 90 VON 300 Amerikahäuser in beiden Städten nieder. Am 12. Mai 1958 wurde die Pipeline der "Iraq Petroleum Company" in der Nähe der syrischen Grenze gesprengt. Chamoun bat den französischen Staatspräsidenten René Coty, den britischen Premierminister Harold Macmillan und US-Präsident Dwight D. Eisenhower um Unterstützung gegen die Aufständischen. Währenddessen setzte Chamoun die Armee gegen die putschenden Milizen ein. Flugzeuge und Panzer griffen muslimische Stellungen und Dörfer an. Hintergrund des Konflikts waren Spannungen zwischen dem christlichen (etwa 52 Prozent) und dem muslimischen (etwa 48 Prozent) Bevölkerungsteil des Landes. Gemäß der Verfassung mußte grundsätzliche Gleichheit zwischen Christen und Muslimen in Verwaltung und Regierungsorganen bestehen. Diesen Konfessionsproporz veränderte jedoch Chamoun zugunsten der Christen und betrieb eine prowestliche Politik. Die muslimische Bevölkerung dagegen hegte Sympathien für die Vereinigte Arabische Republik Gamal Abd an-Nassers. 28.06.58 Weltmeister wird entthront Der Fußballweltmeister des Jahres 1954, die Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland, erreicht bei der Fußballweltmeisterschaft 1958 in Schweden nur den vierten Platz. Im Spiel um Platz drei in Göteborg unterliegen sie mit 3:6 gegen Frankreich. Das Endspiel hatte die deutsche Mannschaft zuvor durch eine 3:1-Niederlage gegen Gastgeber Schweden verfehlt. Sie scheiterte weniger an der schwedischen Mannschaft als an den schwedischen Zuschauern, die die Deutschen durch fortwährende Schlachtgesänge provozierten. Es kam zu unschönen Fouls und Revanchefouls; der Platzverweis des Verteidigers Erich Juskowiak wegen Nachtretens war der traurige Höhepunkt des Spiels. Im Endspiel waren die Schweden allerdings gegen die brasilianische Mannschaft mit ihrem nur siebzehnjährigen Wunderstürmer Pelé mit 5:2 chancenlos. Auch nach dem schlechten Abschneiden der Nationalmannschaft hielt der Aufstieg des Fußballsports in der Bundesrepublik als "schönste Nebensache der Welt" weiter an. Nach der Einführung der Bundesliga 1963 stellte die westdeutsche Mannschaft 1966 in England ihre Qualitäten erneut unter Beweis. 30.08.58 Mao propagiert "Großen Sprung nach vorn" Im Jahr der Gründung der Volksrepublik China steht das Land ökonomisch vor dem Zusammenbruch. Das erklärte Ziel der KPCh ist der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung im ganzen Land. Ein "Großer Sprung nach vorne" ist das propagierte Ziel". Zunächst war China dem sowjetischem Vorbild gefolgt. So bekräftigte der erste Fünfjahresplan (1953–1957) den Vorrang der städtischen Entwicklung. Von Mitte der 50er Jahre an erzwang Mao Tse-tung einen Kurswechsel. Er propagierte sein Konzept der "Drei Roten Banner": eine "permanente Revolution" und die gleichgewichtige Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft. Die Landwirtschaft sollte nunmehr sogar zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung werden. Mao sah in der Schaffung riesiger Produktionseinheiten ein Allheilmittel: Die Arbeitskraft der Bevölkerung sei damit zu mobilisieren und überdies ihr politisches Bewußtsein schärfbar. Diese Politik des "Großen Sprungs nach vorne" wurde aber zu einem katastrophalen Fehlschlag. Wirtschaftlicher Niedergang und Hungersnot waren die Folgen. Der Euphorie folgte die Krise der "Drei bitteren Jahre" 1960–1962. Innerhalb der Partei konnten sich die Befürworter einer liberaleren Linie um den Staatspräsidenten Liu Shao-chi und den Parteisekretär Teng Hsiao-ping durchsetzen. Mao Tse-tungs Einfluß verringerte sich. Erst mit der Kulturrevolution kehrte er wieder in das Zentrum der Macht zurück. 02.10.58 Afrika den Afrikanern 91 VON 300 Die Proklamation der staatlichen Unabhängigkeit der "Republik Guinea" bildet den Startschuß zur Auflösung Französisch-Westafrikas und leitet das Ende der Kolonialzeit in Afrika ein. Bis 1960 waren 19 ehemalige Kolonien unabhängig geworden. Doch die Träume von einer sorgenfreien Zukunft erfüllten sich nur selten: Die meisten Staaten verblieben in wirtschaftlicher Abhängigkeit von den ehemaligen Kolonialherren, machthungrige Herrscher errichteten furchtbare Terrorregime. Für Jahrzehnte zerrissen blutige Bürgerkriege den Kontinent. Guinea löst sich von Frankreich Ministerpräsident Sékou Touré proklamiert in der Hauptstadt Conakry die Unabhängigkeit der "Republik Guinea". Er erklärt in seiner Antrittsrede: "Die Unabhängigkeit Guineas stellt lediglich eine Etappe auf dem Wege zur Schaffung eines mächtigen afrikanischen Staates dar." Das Land gehörte zuvor der Kolonie "Französisch-Westafrika" an. Am 28. September 1957 hatten sich nur 56.981 gegenüber 1.136.324 Wählern in einer Volksabstimmung für die neue französische Verfassung ausgesprochen. Die alte Regierung, die aus einem Rahmengesetz von 1957 hervorgegangen war und ebenfalls von Sékou Touré als Ministerpräsident geleitet worden war, erklärte daraufhin sofort ihren Rücktritt und kündigte eine Regierungsneubildung an. Anschließend trat in Guinea eine Nationalversammlung zusammen und bestätigte Touré als Ministerpräsident. Der französische Gouverneur und Generalinspekteur für Verwaltungsangelegenheiten von Französisch-Westafrika hatte gleich nach dem Bekanntwerden des ReferendumErgebnisses Touré mitgeteilt, daß Guinea von der restlichen Kolonie getrennt sei, da sie die Verfassung in freier Wahl nicht angenommen habe. Die französischen Organe seien aus diesem Grund nicht mehr zuständig. Nach der Proklamation erkannte die Regierung Ghanas unter Kwame Nkrumah die junge Republik als erster Staat diplomatisch an. Die französische Regierung unter de Gaulle gewährte zwar die Unabhängigkeit, entzog dem Land aber die Wirtschaftshilfe und berief alle französischen Experten ab. 27.11.58 Chruschtschow fordert "ein Berlin" Chruschtschow will das ganze Berlin. Ultimativ fordert er, die Stadt zu entmilitarisieren. Verhandlungen über Zugangswege seien in Zukunft mit der DDR als souveränem Staat zu führen. In gleichlautenden Noten forderte Nikita Chruschtschow von den Westmächten in ultimativer Form die "Umwandlung West-Berlins in eine selbständige politische Einheit – in eine Freie Stadt", die entmilitarisiert sein müsse und "in deren Leben sich kein Staat, auch keiner der beiden bestehenden deutschen Staaten, einmischen dürfe" – und zwar "im Laufe eines halben Jahres". Chruschtschow räumte zwar ein, daß die "richtigste und natürlichste Lösung" die "Wiedervereinigung" beider Teile Berlins zu einer Stadt "im Bestande des Staates" sei, "auf dessen Gebiet sie sich befindet", die Sowjetunion sei bereit, der Bevölkerung West-Berlins das Recht zuzugestehen, "bei sich die Ordnung einzuführen, die sie selbst wünscht". Gleichzeitig sprach er jedoch die Drohung aus: "Sollte die genannte Frist nicht zur Erreichung einer entsprechenden Übereinkunft ausgenutzt werden, so wird die Sowjetunion durch ein Abkommen mit der DDR die geplanten Maßnahmen verwirklichen." 21.12.58 De Gaulle wird Staatspräsident der V. Republik Nach der innenpolitischen Schwäche der IV. Republik wünschen sich viele Franzosen einen "starken Mann", der für stabile Verhältnisse sorgt. Der Sieg der Gaullisten (UNR) am 30. 92 VON 300 November ist ein erster Schritt auf diesem Weg. Der Mann an ihrer Spitze wird nun der mächtigste Mann Frankreichs: Charles de Gaulle. Charles de Gaulle wurde mit 78,5 Prozent der Stimmen zum ersten Präsidenten der V. Französischen Republik gewählt. Seine Gegenkandidaten, der Kommunist Georges Marrane und der Liberaldemokrat Albert Châtelet, kamen auf 13,1 bzw. auf 8,4 Prozent. In den Kolonien und den Überseedepartements und -gebieten errang de Gaulle einen noch größeren Stimmenanteil als im Mutterland: In Algerien wählten ihn hundert Prozent der Wahlmänner. Er wurde noch immer als Hoffnungsträger der nationalistischen Algerienfranzosen, die seine Regierungsübernahme nach dem Militärputsch im Mai 1958 gefordert hatten, gesehen, um so siegreich aus dem Algerienkrieg hervorgehen zu können. De Gaulle wurde zum mächtigsten Mann Frankreichs. In einem Referendum hatte das Volk die Verfassung der V. Republik angenommen, die de Gaulle weitgehend selbst geschrieben und auf seine eigenen Interessen abgestimmt hatte: Der Präsident war Oberbefehlshaber der Armee, die Außenpolitik war präsidiales Ressort, die Nationalversammlung konnte jederzeit von ihm aufgelöst werden, bei nationalem Notstand hatte er fast unumschränkte Rechte. 01.01.59 Fidel Castro siegt auf Kuba Die rund 10.000 Kämpfer der Rebellenarmee Fidel Castros setzen zum Einmarsch auf die Hauptstadt Havanna an, nachdem die im Mai 1958 unternommene Offensive der Regierungstruppen gegen Castro vollständig gescheitert war. Am 1. Januar 1959 gab der kubanische Staatspräsident Fulgencio Batista bekannt, daß er die Regierungsgewalt an eine Junta unter der Führung des Generals Eulogio Cantillo übergeben habe und selbst emigrieren werde, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Er floh mit vierzig Personen seines Stabes mit einem Flugzeug in die Dominikanische Republik. Regierungstruppen und Polizeikräfte schlossen sich nach der Flucht Batistas in Scharen den Rebellen Castros an. Zuletzt hatte auch US-Präsident Dwight D. Eisenhower dem Batista-Regime seine Unterstützung entzogen, da der Diktator die wirtschaftliche Stabilität des Landes nicht mehr sichern konnte. Am 2. Januar 1959 proklamierte Castro eine neue Regierung unter Staatspräsident Manuel Urrutía, zuvor Richter am Obersten Gerichtshof. Im neuen Kabinett unter Ministerpräsident José Miro Cordona wünschte Castro keinen Ministerposten, sondern wurde zum Oberkommandierenden der Streitkräfte ernannt. Die von Batista eingesetzte Junta löste sich – aufgrund der Hoffnungslosigkeit der Lage – auf. Bereits am 8. Januar 1959 wurde die Regierung Cordona von den USA anerkannt. 08.01.59 De Gaulles V. Republik Nach zwölf Jahren schwerer innen- und außenpolitischer Turbulenzen betritt mit Charles de Gaulle der Retter der Nation von 1944 erneut die politische Bühne: die Fünfte Republik beginnt. Das System war eine Maßanfertigung auf die Person den neuen Präsidenten. Die einst in Frankreich so starken Kommunisten verdammte er zur Bedeutungslosigkeit. Zu den außenpolitischen Leistungen des Generals zählten der Freundschaftsvertrag mit Deutschland und die Entlassung Algeriens in die Unabhängigkeit. Auch wirtschaftlich stabilisierte sich das Land unter de Gaulle. 10.03.59 Dalai Lama muß aus Tibet flüchten Bei den Feierlichkeiten zum Neujahrsfest brechen in Tibet Unruhen aus. Garnisonen der dort stationierten chinesischen Truppen werden angegriffen und viele Soldaten getötet. Am 19. März erklärte das Kabinett in Lhasa die Unabhängigkeit des Landes von China. Doch China gelang es, den Aufstand blutig niederzuschlagen. 93 VON 300 In den Jahren zuvor hatten die Konflikte zugenommen. Die 1951 zugesicherte Autonomie war von der chinesischen Regierung zunehmend mißachtet worden, die versprochene Religionsfreiheit war bedroht. Der organisierte Zuzug chinesischer Neusiedler bot zusätzlichen Zündstoff. Während der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstands in Tibet durch die chinesischen Truppen wurde auch der Palast des Dalai Lama, des religiösen Oberhauptes Tibets, teilweise zerstört. Der Dalai Lama mußte im März 1959 seine Hauptstadt Lhasa verlassen. Er floh nach Indien, wo er von Ministerpräsident Nehru Asyl erhielt. Chinas Regierung kündigte in Folge des Aufstandes "Reformen" für Tibet an, was faktisch nichts anderes bedeutete, als die Aufhebung der bislang geltenden eingeschränkten Autonomie. 04.06.59 Adenauer will Kanzler bleiben Irritation um die Absichten des 83jährigen Kanzlers: Hatte er noch im April erklärt, er wolle sich um die Nachfolge von Theodor Heuss als Bundespräsident bewerben, zieht Adenauer nun seine Kandidatur zurück und erklärt, er wolle zunächst weiter Kanzler bleiben. Adenauer begründete seinen Rücktritt von der Kandidatur insbesondere damit, daß er seinen designierten Nachfolger, Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, in Außen- und insbesondere Ostpolitik für ungeeignet halte. Erneut kam es zu einem schweren Zerwürfnis zwischen Adenauer und Erhard, der bereits im Mai 1956 vom Kanzler heftig getadelt worden war. Als Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl nominierte die CDU/CSU Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke (li.), der am 1. Juli 1959 zum zweiten Bundespräsidenten der Bundesrepublik gewählt wurde. 23.10.59 Chinas Militär überschreitet Grenze zu Indien Kriegerischer Konflikt zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt: Chinesische Truppen überschreiten die gemeinsame Grenze im Nordosten Indiens und besetzen bis Anfang November ein Gebiet von 2.000 Quadratkilometern. Die Feindseligkeiten waren nur von kurzer Dauer, da Indien den überlegenen chinesischen Kräften kaum etwas entgegensetzen konnte. Die Regierung Chou En-lais in Peking hatte die Grenzziehung in dieser Region, die sogenannte MacMahon-Linie, nie akzeptiert. Diese Linie war 1914 zwischen Tibet und Indien, das damals noch unter britischer Verwaltung stand, festgelegt worden. Die chinesische Annexionspolitik beendete 1959 das bis dahin gute Einvernehmen zwischen beiden Staaten. Der indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru hatte nach der Besetzung Tibets erfolgreich die Wogen der Erregung in der indischen Öffentlichkeit geglättet und 1954 mit Mao Tse-tung einen Vertrag über die friedliche Koexistenz beider Länder geschlossen. Nun sah er sich getäuscht und wandte sich wieder mehr dem Westen zu. 15.11.59 SPD verabschiedet Godesberger Programm Nicht mehr Klassen- oder Weltanschauungspartei, sondern Volkspartei: Mit dem Godesberger Programm beginnt ein Kurswechsel innerhalb der SPD - ein Grundstein der Entwicklung, der sie für die CDU später als Koalitionspartner möglich machte. Auf ihrem vom 13. bis zum 15. November 1959 in Bad Godesberg abgehaltenen außerordentliche Parteitag schaffte die SPD die Abkehr von der Klassen- und Weltanschauungspartei hin zu einer pluralistischen Volkspartei, was auch durch ein neues Programm dokumentiert wurde. Das sogenannte Godesberger Programm wurde mit der überwältigenden Mehrheit von 324 gegen 16 Stimmen angenommen. Vier Jahre lang hatte sich eine aus 34 Personen bestehende Programmkommission um einen entsprechenden Entwurf bemüht. Politiker wie Willi Eichler, Adolf Arndt, Karl Schiller, Carlo Schmid, Fritz Sänger und Herbert Wehner gaben den Ton an. Man einigte sich auf ein Programm, das sich als Plattform für eine sozialliberale, pluralistische Demokratie in einer gemischten Wirtschaftsordnung verstand mit dem Ziel, aufbauend auf den politischen 94 VON 300 und gesellschaftlichen Gegebenheiten der Bundesrepublik, sozial gerechte Lebensverhältnisse zu schaffen. 01.12.59 400 Tote nach Staudammbruch Nach tagelang anhaltenden Regenfällen kann die Staumauer des Sees von Malpasset nördlich von Fréjus in Südfrankreich die Wassermassen nicht mehr halten und bricht. Die 15 Meter hohe Flutwelle erreicht die Stadt Fréjus und reißt 400 Menschen in den Tod. Die Stadt wurde vollständig zerstört. Bei der anschließenden Untersuchung des Unglücks wurde deutlich, daß die Katastrophe vermeidbar gewesen wäre: Zum einen wurde festgestellt, daß die Staumauer fehlerhaft konstruiert war und bereits beim Bau Fehler begangen worden waren. Zum anderen hatte sich der Bruch der Staumauer bereits in den Tagen zuvor durch Risse im Mauerwerk angekündigt. Eine Evakuierung von Fréjus wäre also durchaus möglich gewesen. Staatspräsident Charles de Gaulle kondolierte der Stadt und den Angehörigen der Opfer in einem Schreiben. 04.01.60 Unterzeichnung der EFTA-Verträge Die Antwort auf die Formierung der EWG: Österreich, Dänemark, Norwegen, Portugal, Schweden, Großbritannien und die Schweiz schließen sich zur "Europäischen Freihandelszone" (European Free Trade Association, EFTA) zusammen. Großbritannien war bei der Gründung der EFTA federführend. Großbritanniens Verhandlungen mit den sechs EWG-Staaten waren erfolglos geblieben, da die britischen Wirtschaftsinteressen stärker mit dem Commonwealth als mit den Ländern des europäischen Kontinents verbunden waren. Der von den Unterzeichnern der Römischen Verträge angestrebten europäischen Integration stand die britische Regierung Macmillan ablehnend gegenüber. Die in Stockholm ins Leben gerufene Europäische Freihandelszone war im Gegensatz zur 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht als Zollunion gedacht. Großbritannien strebte eine Liberalisierung des zwischenstaatlichen Handels an, eine große europäische Freihandelszone ohne die Errichtung übergeordneter Institutionen. Jedes Mitgliedsland sollte die volle wirtschaftliche Handlungsfreiheit behalten. Man beabsichtigte die Förderung des gemeinsamen Handels durch allmähliche Beseitigung von Schutzzöllen und die Abschaffung der mengenmäßigen Beschränkungen für Industriewaren. Gegenüber Drittländern behielten die Vertragspartner ihre Zolltarife bei. Finnland schloß sich 1961 der EFTA an, gab aber seine bereits bestehenden Verbindungen zum osteuropäischen RGW nicht auf. Später trat auch Island bei. 29.02.60 Erdbeben vernichtet Agadir Ein verheerendes Erdbebens und eine nachfolgende Springflut zerstören die marokkanische Hafenstadt Agadir. Etwa ein Drittel der Bevölkerung kommen bei der Katastrophe ums Leben. Die Bewohner der Stadt wurden in der Nacht vom 29. Februar auf den 1. März völlig überrascht. Einzig Teile der 1540 gegründeten und 1752 erweiterten Kasbah, die auf einem Hügel liegt, und ein Teil des Hafens blieben von dem Beben verschont. Von den etwa 30.000 Einwohner starben 10.000 infolge des Erdbebens. Bereits am Nachmittag hatte es fast unbemerkt Vorbeben gegeben. Lediglich einige verrutschte Bilder in einem Hotel und merkwürdiges Verhalten von Haustieren wurden registriert. Nach dem Beben wurde Agadir leicht nach Südosten verschoben wieder neu aufgebaut. 15.03.60 Abrüstungskonferenz in Genf 95 VON 300 In Genf beginnt am 15. März 1960 die Zehn-Mächte-Abrüstungskonferenz. Teilnehmer sind die USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Kanada, UdSSR, Polen, Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien. Fünf Tage vor Konferenzbeginn hatten sich die westlichen Partner bei einer Vorkonferenz in Paris auf einen gemeinsamen Vorschlag geeinigt. Dieser sah eine Abrüstung in drei Etappen vor und stellte einen Kompromiß zwischen den Auffassungen Frankreichs und denen der anderen Westmächte dar. Frankreich hatte am 13. Februar 1960 seine erste Atombombe zur Explosion gebracht und wünschte, daß ein Kernwaffenversuchsverbot erst gleichzeitig mit einem Produktionsverbot erfolgen solle. Die sowjetische Seite schlug auf der Konferenz vor, innerhalb von vier Jahren total abzurüsten. Diese Variante hatte Chruschtschow bereits im Vorjahr auf der UNOVollversammlung in die Diskussion eingebracht. Am 19. März 1960 forderte die sowjetische Delegation, zumindest ein Abkommen über die Einstellung der Atombombenversuche zu schließen. Die Verhandlungen verliefen jedoch letztlich ergebnislos. Es kam zu keinerlei Einigung und zu keinem Abkommen. 05.05.60 Die U2-Affäre Die Spionage der Amerikaner im sowjetischen Luftraum wird aufgedeckt, als die Sowjets ein Aufklärungsflugzeug, eine "U 2", abschießen und den Piloten gefangensetzen. Eine schwere Krise im ohnehin schwierigen Ost-West-Verhältnis bahnt sich an, die schließlich das Gipfeltreffen der vier Weltkriegssiegermächte in Paris zum Scheitern bringt. US-Präsident Eisenhower stritt zunächst alle sowjetischen Vorwürfe ab. Er sprach von einem Wetterflugzeug, das sich verirrt habe. Als die Sowjets bekannt gaben, der amerikanische Pilot namens Powers befinde sich in sowjetischer Gefangenschaft, wurde klar, daß diese Version nicht länger haltbar war. Am 12. Mai räumte Präsident Eisenhower die Tatsache der Spionageflüge ein und befahl ihre Einstellung. Für den 16. Mai war eine Gipfelkonferenz der Staatschefs der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs geplant. Der Friedensvertrag mit Deutschland und die Berlin-Frage standen auf der Tagesordnung. Der sowjetische Staatschef Chruschtschow reiste zwar bereits am 14. Mai in Paris an, übergab aber dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle eine Note, in der er seine Teilnahme von verschiedenen Bedingungen abhängig machte. Eisenhower solle sich entschuldigen, die Verantwortlichen bestrafen und eine Versicherung abgeben, daß alle Spionageflüge eingestellt worden seien. Eisenhower wies das Ultimatum zurück, Chruschtschow reiste ab, der Gipfel war damit geplatzt. 11.07.60 Bürgerkrieg im Kongo Die staatliche Unabhängigkeit von Belgien kommt völlig überstürzt über den Kongo. Das Riesenreich im grünen Herzen Afrikas taumelt noch am selben Tag in einen fünfjährigen Bürgerkrieg. Eine belgische Intervention nach Ausschreitungen gegen Europäer und die Sezession der Kupferprovinz Katanga waren unmittelbare Auslöser des Konflikts. Doch bald waren die Fronten so verworren, daß auch die herbeigerufene UNO die Übersicht verlor - bis Mobuto Sésé Séko alle Fäden in der Hand hielt. Beginn des Bürgerkriegs im Kongo Die ehemalige belgische Kolonie Kongo taumelt ins Chaos: Ausschreitungen der schwarzen Bevölkerung gegen die weiße Minderheit, Kriegserklärung an Belgien, Hilferuf an die Vereinten Nationen. Da erklärt der Ministerpräsident von Katanga, Moise Tschombé, die Sezession dieser reichen Kupferprovinz aus dem Staatsverband. Tschombé versuchte, die Angst der weißen Geschäftsleute und Minenbesitzer in seinem Herrschaftsbereich für seine Zwecke zu nutzen, da die Zentralregierung in Léopoldville unter Ministerpräsident Lumumba wirtschaftlich völlig von den 96 VON 300 Exporterlösen aus den Minen Katangas abhängig war. Andererseits bedurfte Tschombé der militärischen Unterstützung der Belgier, um sich gegen Léopoldville zu behaupten. Lumumba bat kurz darauf, am 13. Juli 1960, die Vereinten Nationen um die Entsendung einer Friedenstruppe. Tschombé hoffte unter anderem auf die Hilfe der weißen Regierung unter Ian Smith in Rhodesien. Außerdem übergab er dem Belgier Jean Schramme den Oberbefehl über seine sogenannte "Katanga-Armee" und erhielt prompt Unterstützung durch die belgische Regierung, die sofort Truppenkontingente zum Schutz der belgischen Interessen in den Kongo entsandte. Daraufhin brach die Republik Kongo noch Mitte Juli 1960 die diplomatischen Beziehungen zu Belgien ab und bat gleichzeitig die Sowjetunion um Unterstützung. Der Konflikt drohte sich auszuweiten, denn ebenfalls Mitte Juli trafen die ersten UN-Soldaten (u.l.) im Kongo ein. Chronik der Entkolonialisierung Afrikas Jahr der Unabhängigkeit - Kolonie/Land: 1922: Ägypten 1951: Libyen 1956: Marokko, Tunesien, Sudan 1957: Ghana 1958: Guinea 1960: Kamerun, Kongo, Gabun, Tschad, Zentralafrik. Rep., Togo, Elfenbeinküste, Dahome (Benin), Obervolta, (Burkina Faso), Niger, Nigeria, Senegal, Mali, Madagaskar, Mauretanien, Zaïre, Somalia, 1961: Sierra Leone, Tanganjika 1962: Algerien, Uganda, Ruanda, Burundi 1963: Kenia 1964: Sambia, Malawi 1965: Gambia 1966: Botswana, Lesotho 1968: Äquat.-Guinea, Mauritius, Swasiland 1974: Guinea-Bissau 1975: Angola, Mosambik, Kap Verde, Komoren, São Tomé 1976: Seychellen 1977: Dschibuti 1980: Zimbabwe 1990: Namibia 18.08.60 Pille bringt größere Selbstbestimmung der Frauen Die "Pille" - eine Revolution für die Selbstbestimmung der Frauen. Erstmals können Frauen nun selbst über den Zeitpunkt einer Schwangerschaft bestimmen. Ein erster Schritt in der dunklen Geschichte der illegalen Abtreibung, die in der Vergangenheit unzähligen Frauen das Leben kostete... Die sogenannte Antibabypille, ein empfängnisverhütendes Hormonpräparat, wurde von vielen Frauen in den westlichen Industrienationen mit Begeisterung aufgenommen. 1962 kam auch in der Bundesrepublik das erste Präparat auf dem Markt. Im Zuge der "sexuellen Revolution" der späten sechziger und siebziger Jahre erlangte die Pille eine entscheidende Bedeutung, da Sexualität nun erstmals ohne Angst vor einen ungewollten Schwangerschaft erlebt werden konnte. Gleichzeitig führte ihre Verbreitung zu einem drastischen Rückgang der Geburtenraten, zum sogenannten Pillenknick. Die Einführung der Pille löste einen Proteststurm der katholischen Kirche sowie von christlichen Bevölkerungskreisen aus, die in der Pille einen Eingriff in den Schöpfungsakt 97 VON 300 Gottes sahen. Zudem verdammten sie die Abkoppelung der Sexualität, insbesondere der weiblichen, vom eigentlichen Zeugungsakt. Bis heute verhindert die katholische Kirche durch ihre restriktive Haltung besonders in Ländern der Dritten Welt eine vernünftige Bevölkerungspolitik, wodurch sich das weltweite Problem der Bevölkerungsexplosion ständig weiter verschärft. 16.12.60 Flugzeugkollision und Absturz in Brooklyn Flugkatastrophe in Amerika: Nachdem sie beim Landeanflug mit einer "Super Constellation" aneinandergeraten war, stürzt eine Maschine des neuen Typs DC-8 (u. li.) brennend in den New Yorker Stadtteil Brooklyn. Die Maschine der US-amerikanischen Luftgesellschaft United Airlines wollte auf dem Flughafen La Guardia landen und hatte dabei aus ungeklärter Ursache den Kurs der Super Constellation gekreuzt. Die DC-8 riß mit einem ihrer Triebwerke die Kabine der Maschine auf, diese zerbrach und stürzte brennend auf den Flughafen. Die Düsenmaschine flog noch etwa 10 Kilometer weiter und stürzte dann in ein Wohnviertel im New Yorker Stadtteil Brooklyn, wo sie explodierte. Alle Insassen, sowie sechs Anwohner des Stadtteils starben bei der Explosion. Darüber hinaus wurden zehn Wohnhäuser und eine Kirche durch den Aufprall und die Explosion zerstört. Die Insassen der abgestürzten Super Constellation konnten sich ebenfalls nicht retten, die wenigen, die die Kollision und den Aufprall überstanden, verstarben in den Tagen nach dem Unglück. Insgesamt forderte die Kollision 134 Todesopfer. Die "Super Constellations" waren jene großen Propellermaschinen, mit denen in den 50er Jahren der Flugboom einsetzte und der seither zu einer allmählichen Häufung von Flugzeugunglücken geführt hatte, ein Trend, der sich während der nächsten Jahrzehnte weiter fortsetzten sollte. 17.12.60 US-Militärmaschine stürzt über München ab Wenige Minuten nach dem Start vom Münchner Flughafen Riem stürzt am 17. Dezember 1960 eine US-amerikanische Militärmaschine über der Innenstadt der bayerischen Landeshauptstadt München ab. 53 Menschen, darunter alle 20 Insassen der Maschine, Angehörige der US-Armee, sterben bei dem Unglück. Hunderte Personen erlitten schwere Verbrennungen durch den nach dem Absturz explodierenden Treibstoff. Der Pilot hatte bei schlechter Sicht offensichtlich die Orientierung verloren und die Maschine gegen einen Kirchturm gelenkt. Mehrere Autos und ein Straßenbahnzug wurden von herabstürzenden Trümmern getroffen und gingen in Flammen auf. Das Unglück, das bislang die schwerste Flugzeugkatastrophe in der deutschen Nachkriegsgeschichte war, löste eine öffentliche Diskussion über die internationale Flugsicherheit aus, zumal sich einen Tag zuvor bereits über New York ein ähnliches Unglück ereignet hatte. Dort waren beim Zusammenstoß zweier Passagiermaschinen über der Stadt alle 128 Insassen ums Leben gekommen. 09.02.61 Patrice Lumumba wird ermordet Der charismatische Premier Patrice Lumumba ist tot. Er ist in Elisabethville gefangengenommen und bald darauf ermordet worden. Die genauen Umstände bleiben ungeklärt, es wird gemunkelt, der CIA habe seine Finger im Spiel gehabt. Kongos Staatspräsident Kasawubu ernennt daraufhin Joseph Iléo zum neuen Ministerpräsidenten. Bereits Ende 1960 hatte Lumumbas Stellvertreter, Antoine Gizenga, in Stanleyville eine Gegenregierung etabliert, die von mehreren Staaten – darunter die CSSR, Rumänien und Jugoslawien – als rechtmäßige Regierung anerkannt worden war. Moise Tschombé, der Gegenspieler Lumumbas und Präsident der abtrünnigen Provinz Katanga, hatte diesen wohl festgenommen. Der offiziellen Version gemäß war Lumumba aus dem 98 VON 300 Gefängnis geflohen und auf der Flucht umgekommen. Tatsächlich war er aber bereits kurz nach seiner Verhaftung ermordet worden – dies ermittelte später eine UN-Kommission. Tschombé wurde daraufhin vorübergehend in Untersuchungshaft genommen. Der Innenminister von Katanga erklärte nach der Verhaftung Tschombés am 13. Februar, Lumumba und zwei seiner Begleiter seien von Unbekannten erschlagen und im Busch verscharrt worden. Die Nachricht von Lumumbas Ermordung brachte die ehemalige Kolonialmacht Belgien – Tschombés Verbündeten – ins Zwielicht und löste internationale Proteste aus. In Kairo wurde die belgische Botschaft in Brand gesetzt, worauf die belgische Regierung mit dem Abbruch der Beziehungen zur VAR reagierte. 11.04.61 Eichmann-Prozeß in Jerusalem In Jerusalem beginnt am 11. April 1961 vor einer Sonderkammer des Bezirksgerichts der Prozeß gegen Eichmann: angeklagt wegen seiner Verbrechen am jüdischen Volk als Organisator des millionenfachen Mordes an Juden im Dritten Reich. Das Verfahren wurde zum größten seiner Art seit den Nürnberger Prozessen. Die Staatsanwaltschaft hatte umfangreiches Beweismaterial zusammengetragen, eine Vielzahl von Augenzeugen war vorgeladen worden. Vertreter der Anklage war Gideon Hausner. Der Prozeß dauerte Monate. Gleich zu Beginn beantragte Eichmanns Verteidiger Robert Servatius, den Prozeß wegen Nichtzuständigkeit und Befangenheit der israelischen Gerichte einzustellen. Rein formaljuristisch betrachtet, beruhte die Anklage tatsächlich auf einigen gewagten Konstruktionen. Aber angesichts der Schwere der Verbrechen traten solche Bedenken in Israel wie auch in der Weltöffentlichkeit. Eichmann versuchte sich im Laufe des Prozesses damit zu verteidigen, daß er nur Befehle ausgeführt habe. Die ihm zur Last gelegten Tatbestände konnte er nicht bestreiten. Am 11. Dezember 1961 wurde Adolf Eichmann zum Tode verurteilt. Ein Appellationsgericht verwarf die Berufung, der israelische Staatspräsident Isaak Ben Zwi lehnte das Gnadengesuch der Familie ab. Am 1. Juni 1962 wurde der Judenvernichter in Tel Aviv gehängt, seine Asche im Meer verstreut. 14.04.61 Sowjets schießen ersten Menschen ins All 14. April 1961, Punkt 9 Uhr Ortszeit: Von Baikonur aus startet die erste bemannte Raumkapsel ins All. Nach knapp zwei Stunden und einer Erdumkreisung landet sie nahe dem Dorf Smelowka im Kreis Saratow wieder auf der Erde. An Bord befand sich der 27jährige Eisengießer und Ingenieur Jurij Gagarin. Die sowjetischen Behörden gaben das Unternehmen erst nach seinem erfolgreichen Abschluß bekannt. Das ZK der KPdSU feierte das Unternehmen als Triumph und richtete einen Friedensappell an den Westen: Ein neues Zeitalter sei eingeläutet worden, und das Wettrüsten müsse endlich ein Ende haben. Gagarin traf am 14. April in Moskau ein und wurde begeistert empfangen. Chruschtschow umarmte und küßte ihn auf dem Flughafen, Tausende von Menschen säumten den Weg durch Moskau, und Gagarin erhielt den Titel eines "Helden der Sowjetunion". Einen Monat später wollten die USA gleichziehen und starteten ebenfalls einen bemannten Raumflug. Im Vergleich zum Erfolg des russischen Raumschiffs Wostok (li.) nahm sich das Mercury-Projekt freilich bescheiden aus. Die Kapsel führte keine Erdumrundung durch, sondern beschrieb eine ballistische Flugbewegung über dem Atlantik und landete nach 15 Minuten wieder im Meer. 03.06.61 Kennedy trifft Chruschtschow in Wien Der Regierungswechsel in Washington nährt Hoffnungen auf Fortschritte in der Deutschlandfrage. Doch auch mit dem Kennedy kommt Chruschtschow zu keiner Einigung. 99 VON 300 Das einzige Treffen zwischen den beiden Staatschefs fand in Wien statt. Hier trat Kennedy ein säbelrasselnder Staats- und Parteichef gegenüber, der alles daransetzte, den neuen Präsidenten davon zu überzeugen, daß er gar keine andere Wahl habe, als die sowjetischen Forderungen in der Berlin-Frage zu akzeptieren. Chruschtschow erneuerte sein Ultimatum, mit der DDR einen Friedensvertrag abzuschließen und Westberlin in eine "entmilitarisierte Freie Stadt" umzuwandeln. Voraussetzung dafür sei aber ein Übereinkommen der beiden Supermächte in der Frage eines Friedensvertrages mit den beiden deutschen Staaten binnen sechs Monaten. Schockiert von dieser unverblümten Gewaltandrohung, versuchte Kennedy in einem abschließenden Gespräch, Chruschtschow die Position der USA vor Augen zu führen. Er erklärte, daß sich die USA in Entscheidungen nicht einmischen wollten, "die die Sowjetunion in ihrer Interessensphäre" fällen werde. 25.06.61 Der Irak drängt auf die Annexion Kuwaits Kaum ist Kuwait aus britischer Oberhoheit entlassen, meldet der Irak Ansprüche auf das kleine Scheichtum an. General Abd al-Karim Kasim, Ministerpräsident des Irak, erklärt öffentlich, daß Kuwait von nun an ein Bestandteil des Irak sei. Kasim begründete diesen Schritt damit, daß der am 19. Juni 1961 aufgelöste Schutzvertrag zwischen Großbritannien und Kuwait von 1899 dem damaligen Scheich aufgezwungen worden, eine Fälschung und ungesetzlich gewesen sei, da Kuwait zu dieser Zeit lediglich ein unselbständiger Teil der türkischen Provinz Basra gewesen sei. Kasim ernannte das kuwaitische Staatsoberhaupt, Scheich Abdallah as-Salim as-Sabah, zum irakischen Gouverneur der Provinz Kuwait. Scheich as-Sabah erkannte diese Vorgehensweise des Irak nicht an und erklärte, daß Kuwait ein international anerkannter souveräner Staat sei. Gleichzeitig richtete er dringende Appelle zur Unterstützung an westliche und arabische Staatsoberhäupter. König Hussein II. von Jordanien teilte mit, daß Jordanien die Unabhängigkeit Kuwaits unterstützen werde. König Saud von Saudi-Arabien erklärte, daß eine Aggression gegen Kuwait auch als Aggression gegen Saudi-Arabien gewertet werde, die entsprechend beantwortet werden würde. Die Regierung der Vereinigten Arabischen Republik (VAR) unter Gamal Abd an-Nasser ließ verlautbaren, daß die VAR arabische Zusammenschlüsse nur dann unterstützen werde, wenn sie auf Basis freier Wahlen zustande gekommen seien. Der britische Lordsiegelbewahrer Edward Heath erklärte, daß Großbritannien im Falle einer kuwaitischen Bitte dazu verpflichtet sei, Hilfe zu gewähren. 25.05.61 Kennedy droht mit Waffengewalt In einer Fernsehansprache antwortet John F. Kennedy auf die Drohungen des sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow vom Juni. Jetzt geht er selbst in die Offensive. Zeigte der Westen in seiner Reaktion auf das Berlin-Ultimatum noch Kompromißbereitschaft, so formulierte Kennedy nun die Grenzen der amerikanischen Kompromißbereitschaft. Der Präsident betonte, daß der Westen die von SED-Chef Ulbricht mehrfach ins Spiel gebrachte Einbeziehung ganz Berlins in die DDR mit Waffengewalt zurückweisen werden. Er unterstrich seine "essentials" mit der Ankündigung einer Aufstockung des Heeres von 850.000 auf eine Million Mann, einer Erhöhung des Verteidigungshaushalts und der Verlegung von sechs weiteren Divisionen nach Europa. Einen Krieg wollte Chruschtschow nicht provozieren. Doch die starre Haltung Kennedys lenkte seine Gedanken nun auf eine definitive Teilung der Stadt. Was Kennedy nicht aussprechen konnte, formulierte später der Vorsitzende des Senatsausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, J. William Fulbright, in einem im ganzen Land gesendeten Fernsehinterview: "Ich verstehe nicht, weshalb die DDR-Behörden ihre Grenze nicht schließen, denn ich meine, sie haben alles Recht, sie zu schließen." 13.08.61 100 VON 300 Mauer betoniert Teilung Das Ende der Berlin-Krise: Mit dem Bau einer Mauer entlang der Sektorengrenze versucht die DDR-Regierung, den Exodus ihrer Bevölkerung zu verhindern. In einer Nacht- und Nebelaktion sperrte die DDR alle Zugänge zu den Westsektoren Berlins. Die Massenflucht war mit einem Schlag unterbunden. Die westlichen Schutzmächte warteten ab. Das änderte sich auch nicht, als an der Mauer die ersten Schüsse fielen und immer mehr Flüchtlinge am "antifaschistischen Schutzwall" den Tod fanden. 15.08.61 Proteste in Ost und West gegen den Mauerbau Der Mauerbau ist erhöht die Hochspannung auf beiden Seiten. Panzer von Roter Armee und Nationaler Volksarmee prägen das Leben in Berlin. Trotz heftiger Proteste weiter Teile der Bevölkerung reagierten die verantwortlichen Stellen in Bonn und im westlichen Ausland abwartend. Die Ost-Berliner Regierung hingegen demonstrierte durch massive Präsenz aller Einsatzkräfte ihre Entschlossenheit. Dem "Klassengegner" sollte es unmöglich gemacht werden, "während der Nachtzeit" die Sperren zu beseitigen, hieß es in einem der Einsatzbefehle vom 14. August. Im Westen wollte man alles vermeiden, was zu einem Aufruhr in der DDR und zu einem kriegerischen Konflikt mit der Sowjetunion hätte führen können. Die Grenzlinien wurden nicht verletzt. Erst deren Überschreiten hätte die Westmächte zum Handeln gezwungen und so blieb es bei Protestnoten. Das Stillhalten des Westens bedeutete die offizielle Anerkennung der bestehenden sowjetischen Einflußsphäre in Deutschland. Selbst Adenauer beendete erst alle seine Wahlkampftermine, bevor er sich vor Ort ein Bild von der Lage in Berlin machte. 03.03.62 USA verhängen Handelsembargo gegen Kuba John F. Kennedy verschärft die Auseinandersetzung mit Kuba. Fortan ist der Import kubanischer Waren vollständig untersagt. Das Handelsembargo tritt am 7. Februar 1962 in Kraft. Die USA erklärten sich jedoch aus "humanitären Gründen" bereit, den Export von Lebensmitteln und Medikamenten nach Kuba aus dem Embargo auszunehmen. Bereits im Frühjahr 1960 war der Zuckerimport in die USA limitiert worden. Castro hatte damals mit der Verstaatlichung von US-Eigentum reagiert. Bislang hatte das Handelsvolumen Kubas mit den USA auf einer Höhe von 35 Millionen US-Dollar gelegen, was etwa ein Drittel des gesamten kubanischen Handelsvolumens darstellte. Als einzige Einnahmen Kubas aus Geschäftsbeziehungen mit den USA blieben noch die Pachteinnahmen für den US-Flottenstützpunkt Guantanamo in Höhe von jährlich 10 Millionen US-Dollar. In der Begründung für das Embargo hieß es, daß Kuba die Fähigkeit genommen werden solle, kommunistische Aggressions- und Subversionsakte in der westlichen Hemisphäre zu unternehmen oder zu unterstützen. Ministerpräsident Fidel Castro hatte die kommunistischen Aufstandsversuche in Guatemala, Nicaragua und Costa Rica im November 1960 ins Werk gesetzt. Auch auf politischdiplomatischer Ebene waren die USA inzwischen gegen Kuba vorgegangen. Fünfzehn Staaten Lateinamerikas hatten auf Druck der USA die diplomatischen Beziehungen zu Kuba abgebrochen. 17.02.62 Schwere Sturmflut in Norddeutschland Katastrophenalarm in Norddeutschland: Ein schwerer Orkan richtet im Februar 1962 verheerende Schäden an der Nordseeküste an. Neben gewaltigem Sachschaden sind 330 Todesopfer und zahlreiche Verletze zu beklagen. Mehr als 100.000 Menschen sind tagelang von der Außenwelt abgeschnitten. 101 VON 300 Die Sturmflut war die schlimmste ihrer Art seit 1855. Der Sturm trieb das Wasser der Nordsee in die Flußmündungen und verursachte massive Überschwemmungen. Am stärksten betroffen war die Hansestadt Hamburg, wo allein im Stadtteil Wilhelmsburg über 70.000 Menschen obdachlos wurden. Doch auch in den Bundesländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen entstand erheblicher Schaden. Daß die Katastrophe nicht noch größere Ausmaße annahm, war u.a. dem damaligen Innensenator Hamburgs, dem späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) zu verdanken. Obwohl hierfür keine Gesetzesgrundlage gegeben war, beschloß Schmidt, Soldaten der Bundeswehr einzusetzen, um die Katastrophe einzudämmen. Die Gesamtschäden beliefen sich auf fast 2,9 Milliarden Mark. 20.02.62 Ein US-Astronaut umkreist die Erde John H. Glenn umkreist als erster US-Astronaut die Erde. Die US-Weltraumforschung zeigt energischen Willen, den Vorsprung der Sowjetunion auf diesem Gebiet einzuholen. Bereits im April 1961 war der sowjetische Kosmonaut Jurij Gagarin als erster Mensch ins All geflogen. Der Raumflug John Glenns hätte beinahe mit einer Katastrophe geendet: Bei der zweiten Erdumrundung versagte die Steuerungsautomatik und die Raumkapsel geriet ins Schlingern. Glenn mußte mit der Handsteuerung die Führung der Kapsel übernehmen; dennoch entschied er sich, eine dritte Umrundung zu wagen, obwohl die Rückkehr zur Erde möglich gewesen wäre. Vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre drohten sich die Hitzeschilde durch die hohe thermische Belastung abzulösen, so daß die Kapsel verglüht wäre. Die Bodenkontrolle wies Glenn an, die Bremsraketen nicht wie geplant nach dem Ausbrennen abzustoßen, in der Hoffnung, daß die Raketenkörper das Ablösen der Hitzeschilde verhindern würden. Millionen US-Bürger, die das Geschehen am Fernseher live verfolgten, wurden aufgefordert, für Glenn zu beten. Die Operation gelang: Während die Bremsraketen verglühten, blieben die Schilde haften. Nach genau vier Stunden 56 Minuten und 26 Sekunden – um 20 Uhr 43 Ortszeit – tauchte die Kapsel "Friendship 7" mit dem unversehrten Astronauten im geplanten Landegebiet im Atlantik ein. Nach zwanzig Minuten wurde Glenn vom US-Zerstörer "Noa" geborgen. 18.03.62 Algerien wird unabhängig Nach acht Jahren Terror und Krieg muß Frankreich seine letzte Kolonie in Nordafrika in die Unabhängigkeit entlassen. Algeriens erster Staatspräsident Ben Bella errichtet einen Staat nach marxistisch-leninistischen Prinzipien. Bis zum Ende der fünfziger Jahre hatten die meisten Kolonien Frankreichs die Fremdherrschaft abgestreift und oftmals blutig ihre Unabhängigkeit erkämpft. So auch Tunesien und Marokko, wo sich starke Freiheitsbewegungen gebildet hatten. Französisch-algerischer Waffenstillstand In der französischen Stadt Evian am Genfer See gehen im März 1962 die Waffenstillstandsverhandlungen zwischen der französischen Regierung und der algerischen provisorischen Regierung zu Ende. Wenige Monate später wird das Land in die Unabhängigkeit entlassen. Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle hatte seine im September 1959 aufgestellten Unabhängigkeitsbedingungen fallengelassen, da sie angesichts der Terroraktionen der militanten Siedlerorganisation "Organisation de l'Armée Secrète" (Geheime Armeeorganisation, OAS) nicht realisierbar waren. In Evian kamen der französische Chefdelegierte Pierre Joxe, Minister für algerische Angelegenheiten, und der algerische Delegierte Belkassim Krim in vielen weiteren Punkten zur Einigung. In freien Wahlen sollten die Algerier über die politische Zukunft des Landes abstimmen. 102 VON 300 Im Falle einer vollständigen Unabhängigkeit sollte Algerien auch weiterhin enge Beziehungen mit Frankreich pflegen. Der französische Franc blieb Landeswährung, dafür erklärte sich Frankreich bereit, großzügige Aufbaukredite zu vergeben. Dazu kamen noch weitere Stützpunkte und Einrichtungen. Die rund 1,2 Millionen in Algerien angesiedelten Franzosen durften bis zu drei Jahren nach der Souveränität die französische Staatsbürgerschaft neben der algerischen behalten. Am 19. März 1962, als der Waffenstillstand in Kraft trat, kam es seitens der OAS in der algerischen Hauptstadt Algier und in Oran zu einer Reihe von Gewaltakten. Mit Attentaten und Überfällen versuchten die OAS-Terroristen die Wiederaufnahme des Krieges zu bewirken. 01.05.62 Französischer Kernwaffenversuch in der Sahara In aller Heimlichkeit versucht die französische Regierung im Hoggar-Gebirge in der Südsahara auf algerischem Gebiet einen unterirdischen Kernwaffenversuch durchzuführen. Doch die Geheimhaltung mißlingt. Denn die US-amerikanische Atomenergiekommission gibt den Versuch am 8. Mai 1962 bekannt. Hierauf ist die französische Atomenergiebehörde gezwungen, den Versuch offiziell zu bestätigen. Es handelte sich um den fünften oder sechsten französischen Kernwaffenversuch. Am 13. Februar 1960 hatte Frankreich den ersten Versuch durchgeführt. Gerüchte, daß bereits Ende 1961 im Hoggar-Gebirge der fünfte Atomwaffenversuch erfolgt sei, wurden von französischer Seite dementiert. Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle beabsichtigte, Frankreich als neue Atommacht aufzubauen. Damit sollte Frankreich zur Supermacht ausgebaut werden, was zu Mißstimmigkeiten mit den USA führte. USPräsident John F. Kennedy sah die Entspannungs- und Abrüstungspolitik mit der Sowjetunion durch den französischen Nationalismus gefährdet. Er war bestrebt, den Kreis der Atommächte auf die USA, die Sowjetunion und Großbritannien zu beschränken. Am 18. April 1962 hatte Kennedy erklärt, daß die USA Frankreich nicht beim Aufbau eines Atomwaffenarsenals unterstützen würden. Der französische Etat für Atomwaffen hatte bis Ende 1964 eine Höhe von 4,8 Milliarden Neue Franc erreicht. Bis dahin sollten, gemäß Planung, französische Bomber mit Atomwaffen ausgerüstet sein. 13.05.62 Die USA entsenden Truppen nach Thailand US-Präsident John F. Kennedy ordnet im Mai 1962 an, Einheiten der 7. US-Fotte im Pazifik nach Thailand zu verlegen. Eine 10.000 Mann starke Truppe soll eine, bereits im Zuge eines SEATO-Manövers nach Thailand verlegte 1.000 Mann starke US-Truppe verstärken. Kennedy reagierte damit auf einen Bruch des Waffenstillstands in Laos, der im Mai 1961 geschlossen worden war. Die kommunistisch orientierte Pathet Lao hatte am 4. Mai 1962 die Stadt Nam Tha im Norden des Landes eingenommen und die Regierungstruppen des prowestlichen Ministerpräsidenten Boun Oum zum Rückzug gezwungen. Am 11. Mai evakuierten die Truppen der Regierung in Vientiane die Ortschaft Ban Houei Sai an der thailändischen Grenze aus Furcht vor einem Angriff der kommunistischen Bewegung. Von der 5.000 Mann starken Nordarmee der Regierung Boun Oum flohen 3.000 Mann nach Thailand. Sie hatten den Befehl erhalten, beim ersten Feuerwechsel in den Nachbarstaat zu fliehen. Thailands Ministerpräsident, Feldmarschall Sarit Thanarat, wandte sich daraufhin an die USA mit einem Unterstützungsgesuch, da Thailand einen Angriff der Pathet Lao befürchtete. Die USA und Thailand hatten bereits am 6. März 1962 Zusammenarbeit gegen "kommunistische Aggression und Subversion" vereinbart. Die Sowjetunion verteidigte dagegen auf der Genfer Laos-Konferenz die Offensive der Pathet Lao: Die prowestliche laotische Regierung habe Nam Tha als Basis für einen Angriff ihrerseits ausgebaut. Die Einnahme der Stadt sei daher ein Akt der Selbstverteidigung gewesen. 03.07.72 Unabhängigkeit für Algerien 103 VON 300 Freudenkundgebungen in allen Städten Algeriens: Nach 132 Jahren französischer Herrschaft wird das Land endlich ein eigenständiger Staat. Am 3. Juli 1962 rief der Präsident der provisorischen Exekutive, Abderrahman Farès, in der Hauptstadt Algier die Unabhängigkeit und Souveränität der Republik Algerien aus. Zugleich erkannte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle in Paris die algerische Unabhängigkeit in einer feierlichen Rede an. Zwei Tage zuvor hatten sich 99,97 Prozent der algerischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit ausgesprochen. Das Referendum fand auf der Basis des Abkommens von Evian vom März 1962 statt. Mit der Eigenstaatlichkeit wurden die Sitze Algeriens in der französischen Nationalversammlung (71) und im Senat (34) für aufgehoben erklärt. Die provisorische Regierung Algeriens (GPRA) unter Ministerpräsident Ben Jussuf Ben Khedda gab in der tunesischen Hauptstadt bekannt, daß sie nach Algier übersiedeln wolle. Nach dem Abkommen von Evian war die provisorische Exekutive unter Faurès bis zur Abhaltung von Parlamentswahlen die legitime algerische Regierung. Die provisorische Regierung Ben Kheddas hatten aber inzwischen vierzig Staaten anerkannt. Stellvertretender Ministerpräsident der GPRA wurde der aus französischer Haft entlassene FLN-Führer Ben Bella. 07.08.62 Die Mauer fordert erstes Todesopfer Mit Mauer und Todesstreifen versucht die DDR, die Flucht ihrer Bürger in den Westen zu verhindern. Gegen Fluchtversuche geht die Regierung rigoros vor. Ein Jahr nach dem Bau kommt es zum ersten Todesfall. Bei einem Fluchtversuch wurde der 18jährige Ost-Berliner Bauarbeiter Peter Fechter von Volkspolizisten angeschossen. Schwerverletzt brach er im "Niemandsland" nahe dem Grenzübergang "Checkpoint Charlie" zusammen. Westalliierte Soldaten, die den Vorgang beobachten, hatten Weisung erhalten, sich bei Vorfällen im "Niemandsland" an der Sektorengrenze zurückzuhalten. Auch die DDR-Grenzsoldaten zögerten, dem Verletzten zu Hilfe zu kommen, so daß Fechter nach kurzer Zeit verblutete. In West-Berlin kam es zu spontanen Demonstrationen der Bevölkerung gegen die NVA-Soldaten und auch gegen die westlichen Besatzer. Der ehemalige Außenminister Heinrich von Brentano legte zum Zeichen der Anteilnahme der Bundesregierung einen Kranz an der Mauer nieder. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt warnte die Alliierten vor möglichen Kurzschlußhandlungen der Bevölkerung. 09.09.62 De Gaulle in Deutschland De Gaulle auf triumphaler Reise durch Deutschland: Er versteht es die Sympathien der Deutschen zu gewinnen, wird, wo er auch auftritt, begeistert gefeiert. Fünf Tage lang stattete der französische Präsident Charles de Gaulle der Bundesrepublik Deutschland einen offiziellen Besuch ab, der als Gegenbesuch zur Staatsvisite Konrad Adenauers im Juli des gleichen Jahres in Frankreich gedacht war. Seine triumphale Reise führte de Gaulle durch mehrere westdeutsche Länder; er sprach in Bonn, Düsseldorf, Duisburg, Hamburg, München, Stuttgart und Ludwigsburg. Seine in großem Ernst und mit dem ihm eigenen Pathos vorgetragenen Bekundungen zur deutsch-französischen Freundschaft wurden von der bundesdeutschen Bevölkerung begeistert aufgenommen. Die Reden des 71jährigen Staatschefs, der ganz im Gegensatz zu den Bonner Politikern den glanzvollen Auftritt liebte, waren Balsam für seine Zuhörer, zumal er – psychologisch sehr geschickt – immer wieder vom "großen deutschen Volk" sprach. Adenauer, dem derart emphatische Worte fremd waren, fand dies offensichtlich übertrieben, fragte er doch bei einem der Auftritte de Gaulles ein wenig spöttisch Außenminister Gerhard Schröder, ob dieser de Gaulle nicht auch etwas "führerhaft" gefunden hätte. 10.10.62 Konzil reformiert Kirche 104 VON 300 Die Kirche sucht neue Wege zu ihren Gläubigen. Papst Johannes XXIII. ist entschlossen, mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die katholische Kirche zu reformieren. Auf dem größten Konzil der 2.000jährigen Kirchengeschichte sollten die Weichen ins 21. Jahrhundert gestellt werden. Doch als 1978 mit Johannes Paul II. ein Papst mit ausgesprochen konservativen Positionen an die Spitze der Kirche trat, wurden die Reformbestrebungen deutlich vermindert. Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils Die Kirche versucht den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, die das 20. Jahrhundert mit sich gebracht hat, Rechnung zu tragen. Das Zweite Vatikanische Konzil ist seit langem der erste Reformversuch innerhalb der katholischen Kirche. Papst Johannes XXIII. eröffnete am 11. Oktober 1962 im Petersdom in Rom das Zweite Vatikanische Konzil. Es war das 21. Allgemeine Konzil der Katholischen Kirche seit dem Apostelkonvent in Jerusalem um ca. 52 n.Chr. und das meistbesuchte in der Geschichte der Kirche: Über 3.000 Konzilsväter aus 133 Nationen waren zusammengekommen. 75 Länder und acht Internationale Organisationen hatten Delegierte entsandt. Dem Konzil wohnten zudem 28 Beobachter nichtkatholischer Kirchen bei. Damit waren alle christlichen Kirchen in Rom vertreten, bis auf die griechisch-orthodoxe, die die Einladung abgelehnt hatte. In der Eröffnungsansprache "Glaube-Friede-Einheit" erklärte Papst Johannes XXIII., daß das Konzil das Ziel verfolge, die Einheit aller Christen im Glauben vorzubereiten, so daß eine Ordnung geschaffen werden könne, die den Frieden und die wahre Religion sichere. In der Ansprache an die Vertreter der nichtkatholischen Kirchen zeigte der Papst große Kompromißbereitschaft und versicherte den Anwesenden, daß er in Freundschaft an die nichtkatholischen Christen denke. In seiner Ansprache an die Nichtkatholiken vermied er alle sonst üblichen Redewendungen, die ihn als Oberhaupt aller Christen gekennzeichnet hätten. 24.10.62 Die Kubakrise Luftaufklärungsphotos beweisen: Die Russen haben Raketenabschußrampen auf Kuba errichtet - wenige hundert Meilen vor der Südküste der USA. Kennedy reagiert entschlossen. Ultimativ fordert er Chruschtschow auf, die Basen zu demontieren. Nie zuvor und nie danach standen die beiden Supermächte so nahe an der Schwelle zum Dritten Weltkrieg. Chruschtschow, der schon in Berlin so leidenschaftlich zündelte, lenkte schließlich ein. Er hatte die Festigkeit Kennedys unterschätzt. USA verhängen Blockade über Kuba Die Entdeckung sowjetischer Raketen auf Kuba überrascht Präsident John F. Kennedy völlig. Zum einen hatte die Sowjetunion bis dahin noch nie Raketen außerhalb ihres Staatsgebietes stationiert, zum anderen glaubte er Ministerpräsident Nikita Chruschtschow durch seine Fernsehansprache vom September 1962 klar zu verstehen gegeben zu haben, daß die USA einen solchen Schritt nicht hinnehmen würden. 105 VON 300 Die Lage verschlimmerte sich noch dadurch, daß weder Anatolij Dobrynin, sowjetischer Botschafter in Washington, noch Andrej Gromyko bei einem Treffen am 18. Oktober 1962 mit Kennedy den Wünschen nach Aufklärung des Falles nachkamen. Kennedy befand sich in dem Dilemma, daß er einerseits mit einem militärischen Schlag gegen die sowjetischen Stellungen auf Kuba einen nuklearen Krieg hätte auslösen können, er es aber andererseits angesichts des sowjetischen Vorgehens nicht bei Protesten belassen konnte, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. So ließ Kennedy am 24. Oktober 1962 eine Blockade über Kuba verhängen, forderte die Sowjetunion ultimativ auf, die Raketen abzuziehen, und versetzte die US-Streitkräfte weltweit in Alarmbereitschaft. Fidel Castro bezeichnete dies als "Akt der Piraterie" und ließ die kubanischen Streitkräfte mobilmachen. Radio Moskau bezeichnete das US-Verhalten als "hysterisch", allerdings ordnete Chruschtschow an, daß alle sowjetischen Schiffe dem Blockadering fernbleiben sollten, um die weltpolitische Krise nicht weiter zu verschärfen. 15.10.63 Ende der Ära Adenauer Eine Ära geht zu Ende: Konrad Adenauer erklärt - wie im Koalitionsvertrag 1961 verabredet - seinen Rücktritt und übergibt die Amtsgeschäfte seinem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Der mittlerweile 87jährige hatte als erster Kanzler der Bundesrepublik fast fünfzehn Jahre lang regiert. Zu den unbestreitbaren Leistungen Adenauers zählen vor allem die wirtschaftliche und politische Konsolidierung des Landes und - außenpolitisch - die Aussöhnung mit Israel und Frankreich. 26.10.62 "Bedingt abwehrbereit"- die SPIEGEL-Affäre Die Durchsuchung der Redaktionsräume des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL in Hamburg und die Verhaftung mehrerer Redakteure führen zu einer schweren Krise. Während die verantwortlichen Regierungsstellen von Landesverrat sprechen, protestieren bundesweit Leser der Zeitschrift gegen den "Maulkorb" für die Presse. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte die Polizei auf Weisung des Verteidigunsministeriums die Redaktionsräume des SPIEGEL durchsucht, nachdem das Magazin unter dem Titel "Bedingt abwehrbereit" einen Bericht über ein NATO-Manöver veröffentlicht hatte. Darin hatte der verantwortliche Redakteur Conrad Ahlers die These aufgestellt, die NATO und die Bundesrepublik könnten einem sowjetischen Kernwaffenangriff unter keinen Umständen standhalten. Unklar blieb zunächst der Verbleib von Chefredakteur Augstein. Offenbar war er informiert worden und abgetaucht. Nach zwei Tagen stellte er sich der Polizei und wurde ebenfalls festgenommen (l.). Als bekannt wurde, daß der zuständige Justizminister Stammberger (FDP) nicht informiert gewesen war und die Aktion, wie auch die ominöse Verhaftung von Ahlers und dessen Frau in Spanien, auf die Initiative von Verteidigungsminister Strauß zurückging, wuchs sich die Affäre zu einer Koalitionskrise aus, die erst mit Strauß’ Rücktritt beigelegt werden konnte. 15.01.63 SED wird marxistisch-leninistische Kampfpartei Die SED muß nicht mehr hinter dem Berg halten. Klar und deutlich formuliert sie ihre Parteistatuten: eine Partei des Sozialismus, ohne Pluralismus, mit dem einzigen Ziel, den Sozialismus zu schaffen. Nachdem die "Grundzüge und Ziele" von 1946 mittlerweile als "überholt" galten, gab sich die SED auf ihrem VI. Parteitag vom 15. bis 21. Januar 1963 in Ost-Berlin ein erstes Parteiprogramm. In diesem Programm definierte sich die SED als "die Partei des Sozialismus". Weiter hieß es: "Sie ist die Partei der Arbeiterklasse und des ganzen werktätigen Volkes... Sie ist eine leninistisch – sozialistische Kampfpartei." Dabei reduzierte sie die Lehren von Marx und Engels auf ideologische Grundaussagen und erklärte, den 106 VON 300 Kapitalismus nun beseitigt zu haben und den Sozialismus errichten zu wollen. Aufgabe der Partei war, mit einem "umfassenden Aufbau des Sozialismus" eine klassenlose Gesellschaft zu erreichen und einen "neuen Menschen" zu erziehen. Dafür wurde die Geschichte im Sinne des weltweiten Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus interpretiert. 22.01.63 Freundschaftsvertrag in Paris unterzeichnet Ein kompliziertes Verhältnis wird nach jahrzehntelangem Streit geklärt: Deutschland und Frankreich einigen sich in Paris auf einen Freundschaftsvertrag. Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer umarmen sich nach der Unterzeichnung - ein pathetischer Akt der Annäherung. Die feierliche Unterzeichnung des deutsch-französischen Vertrages erfolgte am Nachmittag des 22. Januar im Pariser Elysée-Palast, dem Sitz des französischen Staatspräsidenten. Beide Delegationen – die deutsche und die französische – waren vollständig vertreten. Die Verträge wurden vom französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle und von Bundeskanzler Konrad Adenauer sowie den beiden Außenministern – Maurice Couve de Murville und Gerhard Schröder – unterzeichnet. Danach erhob sich de Gaulle und umarmte Adenauer, der bis zu seinem Tode diesen Vertrag als das Hauptwerk seiner Kanzlerschaft rühmen sollte. 01.06.63 Callgirl-Affäre erschüttert England Sexskandal im prüden Großbritannien der Sechziger Jahre - das Callgirl Christine Keeler soll hohe Staatsgeheimnisse vom Bett des britischen Heeresministers Profumo in das des sowjetischen Botschafters getragen haben. Die britische Öffentlichkeit wurde im Juni 1963 durch eine Affäre ihres Heeresministers John D. Profumo erschüttert, durch die er schließlich zum Rücktritt gezwungen wurde. Der Heeresminister, der per Funktion Träger wichtigster Staatsgeheimnisse war, unterhielt eine enge Beziehung zu dem Callgirl Christine Keeler. Diese wiederum führte zeitgleich eine enge Beziehung mit einem sowjetischen Attaché der Londoner Botschaft. Über diese Dreiecksbeziehung kam der sowjetische Geheimdienst an streng geheime Informationen aus erster Hand, da Keeler Profumos Bettgeflüster weitergegeben haben soll. Der Heeresminister stolperte vor allem über die Tatsache, daß er auf erste Anfragen dem Untersuchungsausschuß nicht die Wahrheit über seine Beziehung gesagt hatte. Wie schon die BRD 1957 nach der Ermordung der Prostituierten Rosemarie Nitribitt hatte nach den Enthüllungen um das Liebesleben eines ihrer Minister nun auch die saubere Fassade der britischen Gesellschaft Risse bekommen. 19.06.63 Kennedy verkündet sein Bürgerrechtsprogramm US-Präsident John F. Kennedy legte am 19. Juni 1963 dem Kongreß in Washington ein umfangreiches Bürgerrechtsprogramm vor. Er bat darum, das Fünf-Punkte-Programm als Gesetz zu verabschieden: 1. Gleiche Behandlung Schwarzer in öffentlichen Einrichtungen. Kennedy wies darauf hin, daß es "in den Schützengraben der letzten Kriege auch keine Schilder 'Nur für Weiße' gegeben habe", wie man sie in den USA in Restaurants und anderenorts fand. 2. Aufhebung der Rassentrennung in Schulen. Obwohl diese Form der Diskriminierung bereits am 17. Mai 1954 für verfassungswidrig erklärt worden war, hinderte man vor allem in den Südstaaten immer wieder Schwarze am Zutritt zu "weißen" Schulen. 3. Faire Behandlung Schwarzer auf dem Arbeitsmarkt. Dafür wollte Kennedy einen permanenten Ausschuß unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson bilden. Ausbildungsprogramme für Schwarze sollten die Chancenungleichheit mindern. 107 VON 300 4. Schlichtungsdienst für Gemeinden. Kennedy erklärte hierzu, es sei notwendig, daß Weiße und Schwarze in bestimmten Gremien ihrer jeweiligen Gemeinde zusammenkämen, um über Rassenfragen zu diskutieren. 5. Überprüfung von Bundesprogrammen. Es kam immer wieder vor, daß Bundesgelder dazu benutzt wurden, Schwarze zu diskriminieren. Dies sollte in Zukunft überprüft und gegebenenfalls eingestellt werden. Obwohl Kennedy mit dem Programm großen Zuspruch der schwarzen Bevölkerung erhielt, gab es auch Anlaß zur Kritik von liberaler Seite: Die Wochenzeitschrift "Time" wies Kennedy darauf hin, daß legislative Mittel allein die Gleichstellung nicht bewirken könnten. 26.06.63 Kennedy in Berlin Der Präsident als Star der Medien Die Visite John F. Kennedys in der seit fast zwei Jahren geteilten Stadt Berlin wird zum triumphalsten Empfang, den der US-Präsident in seiner Politkarriere erlebt hatte. Als Kennedy während seiner siebenstündigen Rundfahrt durch Berlin in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus die Auseinandersetzungen zwischen der "freien Welt und dem Kommunismus" beschwor und die Rolle West-Berlins als Vorpostens der Freiheit unterstrich, erntete er stürmischen Beifall. Vor allem aber tobte die Menge vor Begeisterung, als er seinen berühmt gewordenen Satz mit den vier deutschen Wörtern sprach: "Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf zu sagen: Ich bin ein Berliner!'' Für die US-Administration war es während der Berlin-Krise Anfang der 60er Jahre entscheidend gewesen, daß West-Berlin unangetastet und "frei" geblieben war. Die überwältigende Mehrheit der West-Berliner teilte diese Ansicht und bereitete – obgleich Kennedys Haltung in den Augusttagen 1961 zunächst für Verstimmungen gesorgt hatte – dem Präsidenten diesen unvergeßlichen Empfang. 05.08.63 Atomversuchsstopp-Abkommen unterzeichnet Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser werden mit einem allgemeinen Verbot belegt. Die Außenminister der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion, Dean Rusk, Alec Douglas-Home und Andrej Gromyko, unterzeichnen in Moskau ein diesbezügliches Abkommen. Der Tag der Unterzeichnung - am 5. August - war symbolisch auf den achtzehnten Jahrestag des Atombombenabwurfs über Hiroshima gelegt worden. Die drei Signatarstaaten beabsichtigten, die bedrohliche Spannung zwischen den Blöcken zu entschärfen. Vor allem die Kubakrise im Oktober 1962 hatte in besonderer Weise auf den Vertragsabschluß eingewirkt. Damals hatte die Welt kurz vor einem Atomkrieg gestanden. Ab dem 8. August 1963 sollte in den Hauptstädten der drei beteiligten Großmächte das Abkommen zur Unterzeichnung für alle anderen Staaten der Erde offenliegen. Mehrere Staaten hatten jedoch ihre eindeutige Ablehnung signalisiert. Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle hatte betont, daß Frankreich eine eigenständige Atommacht sei. Auch das Angebot von US-Präsident John F. Kennedy an Paris, als Ausgleich für die Einstellung aller französischer Nukleartests sämtliche wissenschaftlichen Ergebnisse der USA zur Verfügung zu stellen, hatte de Gaulle ausgeschlagen. Die Regierung der Volksrepublik China unter Liu Shao-chi bezeichnete das Abkommen als "schmutzigen Betrug". Aus Peking wurde erklärt, daß der Teststopp keinesfalls den Weltfrieden sichere, sondern dieser nur durch die Ächtung der Kernwaffen erreicht werden könne. 24.08.63 Gründung der Fußball-Bundesliga 24. August 1963: der erste Spieltag der neugegründeten Fußball-Bundesliga - 16 Profimannschaften treten an, um im Hin- und Rückrunde den Meister zu ermitteln. 282.000 108 VON 300 Zuschauer verfolgen das Spektakel des ersten Spieltags der Bundesliga. Erster Meister der Liga wird der 1. FC Köln. Gründungsmitglieder waren Hertha BSC Berlin, Eintracht Braunschweig, Werder Bremen, Borussia Dortmund, MSV Duisburg, Eintracht Frankfurt, Hamburger SV, Karlsruher SC, 1. FC Köln, 1860 München, Preußen Münster, 1. FC Nürnberg, 1. FC Kaiserslautern, 1. FC Saarbrücken, Schalke 04 und der VfB Stuttgart. Die Fußball-Bundesliga und die neugegründeten Regionalligen ersetzten die fünf Oberligen, deren Spitzenvereine bislang am Ende der Saison den Meister ermittelt hatten. Die Konzentration der besten Vereine in der Bundesliga erfolgte auch, um den deutschen Fußball im europäischen Konkurrenzkampf besser plazieren zu können. Negative Schlagzeilen machte die Bundesliga 1971, als ein Bestechungsskandal bekannt wurde, während bundesdeutsche Nationalmannschaften nach dem ersten Gewinn einer Weltmeisterschaft 1954 auch in den folgenden Jahrzehnten bei Welt- und Europameisterschaften sehr erfolgreich auftraten. 15.10.63 Ende der Ära Adenauer Eine Ära geht zu Ende: Konrad Adenauer erklärt - wie im Koalitionsvertrag 1961 verabredet - seinen Rücktritt und übergibt die Amtsgeschäfte seinem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Der mittlerweile 87jährige hatte als erster Kanzler der Bundesrepublik fast fünfzehn Jahre lang regiert. Zu den unbestreitbaren Leistungen Adenauers zählen vor allem die wirtschaftliche und politische Konsolidierung des Landes und - außenpolitisch - die Aussöhnung mit Israel und Frankreich. Adenauer tritt zurück Die Republik dankt dem scheidenden Kanzler. Ehrenkundgebungen und Militärparaden - der Abschied des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, sollte gebührend gefeiert werden. Die Verabschiedung des mittlerweile 87jährigen vollzog sich nicht still und leise: Adenauer wurde mit Feierlichkeiten und Ehrungen überhäuft. Abschiedsbesuche in Italien bei Staatspräsident Antonio Segni und Regierungschef Amintore Fanfani und in Frankreich bei Charles de Gaulle gingen den Festivitäten in der Bundesrepublik voraus. Einige Landeshauptstädte, darunter München, empfingen den scheidenden Kanzler, West-Berlin erklärte ihn zum Ehrenbürger. Eine Abschiedsparade der Bundeswehr gehörte genauso zum Programm wie eine große Kundgebung der CDU, eine Pontifikalmesse und ein großer Empfang des Bundespräsidenten Heinrich Lübke für dreitausend Gäste in der Bonner Beethovenhalle. Die Abschiedssitzung des Deutschen Bundestages fand schließlich am 15. Oktober statt. Stehend, fast bewegungslos, nahm Adenauer die fast einstündige Laudatio von Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier entgegen. Einen Tag später wurde Wirtschaftsminister Ludwig Erhard zum Chef der neuen Bundesregierung gewählt. 07.11.63 Das "Wunder von Lengede" Keine zwei Jahre nach der Katastrophe von Völklingen hält erneut eine Explosion in einem Bergwerk die deutsche Öffentlichkeit in Atem. In der Erzgrube "Mathilde" in Lengede werden 129 Bergmänner von Schlammassen eingeschlossen. Als nach mehr als drei Wochen plötzlich noch Überlebende gefunden werden, ist die Sensation perfekt: Die Presse schreibt vom "Wunder von Lengede". Wenige Stunden nach dem Unglück waren bereits 79 Kumpel lebend geborgen worden, während für 29 andere jede Hilfe zu spät kam. Eine Woche später wurden erneut drei Bergleute, die in einer Luftglocke saßen, gerettet. Die Rettungsmaßnahmen gerieten danach ins Stocken und sollten schon abgebrochen werden, als am 3. November erneut Klopfzeichen vernommen wurden. Selbst Bundeskanzler Ludwig Erhard eilte jetzt an den 109 VON 300 Unglücksort. Am 7. November gelang die Bergung der letzten elf Bergleute (u.l.: fünf der Geretteten), die nunmehr seit zwei Wochen ohne Nahrung ausharrten. Das "Wunder von Lengede" wurde von der Bevölkerung frenetisch gefeiert und war eines der wenigen Grubenunglücke, das ein vergleichsweise glückliches Ende fand. 22.11.63 Die Schüsse von Dallas Das Ende eines amerikanischen Traums: Auf der Fahrt durch Dallas wird der junge Präsident John F. Kennedy Opfer eines Attentats. Kennedy war 1960 zum Präsidenten gewählt worden. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges hatten vor allem viele Jugendliche und die immer noch diskriminierten Schwarzen für Kennedy gestimmt. Außenpolitisch setzte Kennedy die Politik seiner Vorgänger fort und hielt an Amerikas Rolle als Bollwerk gegen den Kommunismus fest. Ermordung Kennedys schockiert die Welt Die Welt ist schockiert: In Dallas wird am 22. November 1963 die Ikone des jungen Amerika, US-Präsident John F. Kennedy, erschossen. Spekulationen um die Umstände des Mordes wie um mögliche Auftraggeber sind nie abgerissen. Es war in der Geschichte der USA der vierte Mord an einem Präsidenten. Direkt nach Kennedys Ankunft auf dem Flughafen der texanischen Hauptstadt hatte sich der Fahrzeugkonvoi auf den Weg zu einem Galadiner in der städtischen Messehalle gemacht. Mit in der gepanzerten Limousine des Präsidenten befanden sich seine Frau Jacqueline und der Gouverneur von Texas, John B. Conally. Das kugelsichere Verdeck des Wagens war aufgrund des schönen Wetters abgenommen worden. Unmittelbar nachdem der Wagen das Stadtzentrum verlassen hatte, wurde in der Elm Street ein Schuß auf den Präsidenten abgegeben, der ihn in den Kopf traf. Der Präsident sackte nach vorne. Zwei weitere Schüsse verletzten Conally schwer. Der Chauffeur des Wagens erhielt sofort über Funk die Anweisung, ins Krankenhaus zu fahren. Die Rettungsversuche eines Ärzteteams, die bereits neun Minuten nach dem Attentat begannen, blieben erfolglos. Kennedy war tot. Conally konnte gerettet werden. Als Tatverdächtiger wurde der unehrenhaft aus der amerikanischen Armee entlassene Lee Harvey Oswald (l.) verhaftet. 17.12.63 Das erste Passierscheinabkommen Erstmals dürfen West-Berliner Verwandte im Ostteil der Stadt besuchen. Das Passierscheinabkommen ist ein erster kleiner Schritt in Richtung Lockerung des "Eisernen Vorhangs". Das Passierscheinabkommen war auf Initiative des Regierenden Bürgermeisters von WestBerlin, Willy Brandt, zustande gekommen. Zum erstenmal nach der Abriegelung des Ostsektors und dem Mauerbau konnten Westberliner Bürger wieder ihre Verwandten im Ostteil der Stadt besuchen. An den Verhandlungen mit der DDR hatten Westberliner Senat und Bundesregierung (li. Kanzler Adenauer mit Bürgermeister Brandt) gemeinsam teilgenommen. Dies bedeutete aber nicht – wie die neue Bundesregierung von Kanzler Ludwig Erhard später betonte – eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Das Abkommen stieß gerade so kurz vor Weihnachten auf große Resonanz in der Bevölkerung. Bis zum Mittag des 20. Dezember waren bereits 170.000 Passierscheine ausgestellt. 01.01.64 Einführung der Polio-Schluckimpfung Gegen Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre rollten mehreren PoliomyelitisEpidemien über Europa hinweg. In der Bundesrepublik wird daraufhin 1964 die freiwillige Schluckimpfung gegen die sogenannte Kinderlähmung eingeführt. 110 VON 300 Das Gesundheitsministerium startete zu diesem Zweck eine groß angelegte Werbeaktion. Einer der prägnantesten Plakate der Kampagne hing in fast allen Kinderarztpraxen und mahnte mit dem Slogan: "Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam!" Die gehäuft im Herbst auftretende Krankheit führte in schlimmen Fällen zu Lähmungen der Atmungsorgane, auch bei Heilung blieben Bewegungs- und Wachstumsschäden zurück. Die Sterblichkeit bei "Polio" lag zwischen 10 und 20% der Infizierten. Vor der Einführung der Schluckimpfung, bei der mittels eines getränkten Zuckerstückchens abgeschwächte lebende Viren eingenommen werden, waren zur Vorbeugung getötete Viren mittels Spritze verabreicht worden. Diese Methode erlaubte allerdings nur eine Immunisierung für einen Zeitraum von ungefähr fünf Jahren, während durch die nach einem Impfplan durchgeführte Schluckimpfung ein lebenslanger Schutz aufgebaut wurde. 02.07.64 Johnson unterzeichnet Bürgerrechtsgesetz Der bedeutendste Schritt seit Ende des Bürgerkrieges vor fast hundert Jahren zur Gleichstellung von Schwarzen und Weißen in den USA: Präsident Lyndon B. Johnson unterzeichnet das Bürgerrechtsgesetz. Unter dem Druck einer drohenden Revolution der zunehmend gegen ihre Diskriminierung aufbegehrenden schwarzen Bevölkerung hatte bereits John F. Kennedy diese Gesetze eingebracht und leidenschaftlich verfochten. Johnson betrachtete das Gesetz als Erfüllung des Vermächtnisses seines ermordeten Amtsvorgängers John F. Kennedy. Die Gesetzesvorlage konnte im Senat erst nach dreimonatiger Debatte, in der laut US-Presse "acht Millionen Worte gewechselt worden waren", mit 73 gegen 27 Stimmen durchgebracht werden. Die Reaktionen auf das Gesetz waren unterschiedlich: Die Bürgerrechtsorganisationen – allen voran ihre Leitfigur Martin Luther King – begrüßten es als Grundlage für eine legale Fortsetzung des Kampfes um Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung. Die weißen Extremisten des Ku-Klux-Klan versicherten dagegen, daß sie bereit seien, bis zum letzten gegen das Bürgerrechtsgesetz zu kämpfen. Gouverneur Wallace in Alabama, der Führer des südstaatlichen Widerstands gegen die Gleichberechtigung, bezeichnete das Gesetz als verfassungswidrig. 02.08.64 Krieg in Vietnam eskaliert Das amerikanisch-nordvietnamesische Scharmützel im Golf von Tonking tritt eine Eskalationslawine los. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt scheint sich in Vietnam zu verselbständigen. Amerikas Engagement in Indochina steigerte sich zu einem Kreuzzug gegen den Kommunismus. Überall lauerte "Charlie" den über eine halbe Million G.I.s auf, während Präsident Johnson der undurchsichtige Dschungelkrieg über den Kopf wuchs. Gefechte im Golf von Tonking Der Angriff auf den US-Zerstörer "Maddox" durch nordvietnamesische Patrouillenboote im Golf von Tonking leitet endgültig die "heiße Phase" des Vietnamkrieges ein. Der Zerstörer befand sich nach offizieller US-amerikanischer Darstellung auf Erkundungsfahrt in internationalen Gewässern in 11 Meilen Entfernung zur Küste. Die nordvietnamesische Regierung Ho Chi Minhs gab den nach längerem Gefecht zurückgeschlagen Angriff sofort zu, verwies jedoch auf die beanspruchte 12-MeilenZone. Die "Maddox" habe sich daher auf nordvietnamesischem Hoheitsgebiet befunden. Zudem habe der Zerstörer in den vorangegangenen Tagen nordvietnamesische Fischerboote beschossen. Am 4. August 1964 griffen angeblich erneut nordvietnamesische Schnellboote die "Maddox" und den Zerstörer "C. Turner Joy" an, diesmal 65 Meilen vor der Küste 111 VON 300 entfernt. Die US-Admiralität meldete jedoch weder Menschenverluste noch Sachschaden auf den beiden Schiffen. Die Zwischenfälle im Golf von Tonking waren die ersten Kampfhandlungen zwischen den USA und Nordvietnam im Vietnamkrieg. Bis dahin hatten die USA ihre Rolle in Südvietnam als "Beratertätigkeit" deklariert. Die US-Soldaten hatten bis zu diesem Zeitpunkt nur den Auftrag, gegen Kommunisten in Südvietnam vorzugehen. 01.09.64 Streit um die Verjährung von Nazi-Verbrechen Verjährung droht! Eilends erläßt die Volkskammer der DDR - noch unter Ministerpräsident Otto Grotewohl (u.l.), der wenige Wochen später von Willi Stoph abgelöst wird – ein "Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen". Kein Schuldiger sollte in der östlichen Hälfte Deutschlands seiner Strafe entgehen. Am 5. November 1964 beschloß das Kabinett Ludwig Erhard in Bonn, die bislang 20jährige Verjährungsfrist für Nazi-Verbrechen nicht zu verlängern. Der 8. Mai 1965, dem Tag an dem sich der Zusammenbruch des Nazi-Regimes zum 20. Mal jährte, drohte also in der Bundesrepublik "zum Tag der Generalamnestie für Tausende von Nazi- und Kriegsverbrechern" zu werden, die dort bisher überhaupt nicht oder nur unzureichend zur Rechenschaft gezogen worden waren. Die Volkskammer in Ost-Berlin richtete deshalb am 3. Februar 1965 eine Botschaft an die Parlamente der Welt. Sie rief die Adressaten auf, gegen die drohende Verjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland zu kämpfen. Nicht nur die DDR griff die Frage der Verjährung auf, auch das Verhältnis der Bundesrepublik zu Israel litt unter dieser Frage. Der israelische Staatspräsident Schasar protestierte in heftigster Form. Erst 1961 war dort der Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann in einem aufseherregenden Prozeß zum Tode verurteilt worden. Schließlich beschloß der Bundestag am 24. März 1965, die Verjährungsfrist für schwere Verbrechen um fünf Jahre zu verlängern. 16.10.64 China wird Atommacht Die Volksrepublik China hatte sich beharrlich geweigert den im August 1963 unterzeichneten Atomteststopp-Abkommen beizutreten. Schon im Jahr darauf zündet China seine erste Atombombe. Das strategische "Gleichgewicht des Schreckens" gilt nun auch in Ostasien. Die regierungsamtliche Verlautbarung pries Chinas Atombombe als "großes Werk des chinesischen Volkes in seinem Kampf um die Verstärkung seiner Fähigkeit zur nationalen Verteidigung und des Widerstands gegen die amerikanisch-imperialistische Politik der nuklearen Erpressung und Bedrohung." Tatsächlich dürfte sich die nukleare Abschreckung in gleichem Maße gegen die Sowjetunion gerichtet haben, mit der China mehr und mehr in Konflikt geriet. Mao Tse-tung betonte aber öffentlich, daß er Atomwaffen ablehne und den "Volkskrieg" vorziehe. Spätestens seit 1980 verfügt China über Interkontinentalraketen und ist damit technisch in der Lage Atomraketen auch auf das Gebiet der Vereinigten Staaten zu lenken. Der eigenständige Aufstieg Chinas und Frankreichs zu neuen Atomwaffenstaaten veranlaßte die Supermächte, die weitere Ausbreitung dieser Waffe so weit wie möglich einzudämmen: Der 1968 unterzeichnete Atomwaffensperrvertrag war ein erster entschlossener Schritt in diese Richtung. 21.02.65 Malcolm X wird ermordet Bei einer Rede vor Anhängern im New Yorker Stadtteil Harlem wird der prominente amerikanische Schwarzenführer Malcolm X durch Pistolenschüsse auf offener Straße ermordet. Die militante Bewegung der "Black Muslims" verliert damit eine ihrer wichtigsten Leitfiguren. 112 VON 300 Als Tatverdächtige wurden drei Anhänger der islamischen Sekte "Black Muslims" festgenommen, der Malcolm X bis Ende 1963 angehört hatte. Ihr Führer Elijah Muhammad bestritt jede Verbindung seiner Organisation mit dem Anschlag. Malcolm X war während eines Gefängnisaufenthalts zu den "Black Muslims" bekehrt, einer um 1930 in den USA gegründeten islamischen Sekte, die sich für die Rassentrennung unter umgekehrten Vorzeichen einsetzten, 1952 war er den Muslims beigetreten und ihr brillantester Agitator geworden. Durch ihn erhielten sie in den 50er Jahren einen immensen Zulauf von Schwarzen aus den Ghettos, die einen Ausweg aus ihrer unterpriviligierten wie hoffnungslosen Lage suchten. Malcom X vertrat einen weitaus radikaleren Kurs als die pazifistische Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King, wurde jedoch, als er 1963 eine eigene Organisation gründete, von den Black Muslims ausgeschlossen. Bis heute ist Malcom X eine Ikone des schwarzen Amerika geblieben. 02.03.65 Luftkrieg der USA gegen Nordvietnam US-amerikanische und südvietnamesische Flugzeuge bombardieren Vietkong-Stützpunkte in Nordvietnam. Über dem Marinestützpunkt Quang Khe werden 60 bis 70 Tonnen Bomben abgeworfen, über dem Nachschublager Xom Bang insgesamt 120 Tonnen Bomben. Nach US-Berichten wurden 60 bis 70 Prozent der Anlagen zerstört. Die Nordvietnamesen hatten die Angriffe nur mit schwachem Abwehrfeuer erwidert. Drei Maschinen - Hanoi sprach von neun - waren angeblich verlorengegangen, die Piloten konnten aber gerettet werden. Nach diesen Einsätzen riß die Attackenserie der US-Luftwaffe nicht mehr ab. Im Abstand von wenigen Tagen wurden Vietkong-Stellungen in Süd- oder Nordvietnam bombardiert. Mitte März 1965 drang die US-Luftwaffe 290 Kilometer in den nordvietnamesischen Luftraum ein und bombardierte ein Waffenlager bei Phu Qui, das etwa 160 Kilometer vor Nordvietnams Hauptstadt Hanoi lag. Ziel der Angriffe war es, den Vietkong seiner Nachschublinien zu berauben und so zur Aufgabe zu zwingen. Die US-Botschaft in Saigon erklärte am 15. März 1965, daß die Bombardierungen eine direkte Antwort auf die durch Nordvietnam unterstützten Aggressionsakte des Vietkong darstellten. Im Februar 1965 waren 82 Brücken in Südvietnam zerstört, 41 Orts- und Provinzbeamte waren getötet oder entführt worden. 14.03.65 Bonn entsendet Botschafter nach Israel 1965 reist eine Delegation von CDU-Abgeordneten in einer Sondermission nach Jerusalem. Im Auftrag von Bundeskanzler Ludwig Erhard (u.l.) verhandelt diese mit Mitgliedern der israelischen Regierung über die Bedingungen für eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten. Am 14. März stimmte das israelische Kabinett dem Vorhaben zu, am 5. Mai die Bundesregierung. Diese Entwicklung rief sofort die Arabische Liga auf den Plan. Eine außerordentliche Konferenz der arabischen Außenminister drohte der Bundesrepublik bereits am 15. März mit Vergeltungsmaßnahmen, falls sie tatsächlich diplomatische Beziehungen mit Israel aufnehmen sollte. Einige arabische Staaten beorderten ihre Botschafter aus Bonn zurück. Anläßlich der Eröffnung der Sommersitzung der Knesset erklärte der israelische Ministerpräsident Levi Eshkol, für Israel sei vor allem wichtig, daß der Vorschlag zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen von der deutschen Seite gekommen sei. Bundeskanzler Erhard habe den Arabern gezeigt, daß sich Erpressung nicht lohne. Am 7. Juli 1965 gab die Bundesregierung bekannt, daß die israelische Regierung dem ersten deutschen Botschafter in Israel das Agrément erteilt habe. 19.03.65 Abwurf von Napalmbomben in Vietnam 113 VON 300 Die US-Luftwaffe beginnt mit dem Abwurf von Napalmbomben über Nordvietnam und Vietkong-Stellungen in Südvietnam. Die Bombardements lösen Feuerherde aus, die eine Hitze von rund 2.000 Grad Celsius erreichen. Dem sich schnell ausbreitenden, nicht löschbaren Feuer erliegen auch viele unbeteiligte Zivilisten. Unzählige Personen erlitten schwere Brandverletzungen. Die Maßnahmen führten zu einer zunehmenden Verbitterung der einfachen Bevölkerung gegen die USA. Am 14. April 1965 warfen US-Flugzeuge über drei Millionen Flugblätter über der nordvietnamesischen Hauptstadt Hanoi und anderen großen Städten des Landes ab. Die Flugblätter erklärten die Ziele und Gründe der US-amerikanischen Angriffe auf Nordvietnam. Auf die Verhärtung der Fronten und den Zulauf zu den Vietkong hatte diese Aktion keine Auswirkung. Unterdessen protestierten die Volksrepublik China und die Sowjetunion immer heftiger gegen die US-Angriffe in Nordvietnam. Immer mehr Staaten schlossen sich der Verurteilung an, z.B. Indien und Polen. UN-Generalsekretär Sithu U Thant forderte die USA auf, sich zu Verhandlungen mit Nordvietnam bereit zu erklären. US-Präsident Lyndon B. Johnson erteilte der Aufforderung eine abschlägige Antwort. Für Verhandlungen forderte seine Regierung die sofortige Einstellung der Unterstützung des Vietkong durch das Regime von Ho Chi Minh. 19.09.65 Union gewinnt die Bundestagswahl 1965 Klarer Wahlsieg auch ohne Adenauer: Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag können sich die Unionsparteien unter ihrem Kanzler Ludwig Erhard erneut verbessern, doch auch die Sozialdemokraten legen zu. Die Wahlbeteiligung lag mit 86,8 Prozent außerordentlich hoch. Die SPD steigerte sich gegenüber 1961 auf 39,1 Prozent der Stimmen, die Union auf 47,6 Prozent. Der Stimmenanteil der FDP sank um 3,3 Prozentpunkte auf 9,5 Prozent. Alle anderen Parteien, auch die neu angetretene NPD, scheiterten an der Fünfprozentklausel. Erhard sprach sich noch in der Wahlnacht für die Fortführung der Koalition mit der FDP aus, was die Liberalen allerdings nur unter der Bedingung annahmen, daß der CSUPolitiker und ehemalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß nicht ins Kabinett berufen werde. Am 22. September wurde Erhard erwartungsgemäß vom Bundestag zum Kanzler gewählt – sein SPD-Gegenkandidat war Willy Brandt. Erhards zweite Amtszeit sollte allerdings nur etwas länger als ein Jahr dauern: Die Widersprüche zwischen den Koalitionspartnern wurden bereits während der ersten Monate deutlich und auch in der eigenen Partei wurde die Kritik an der Person des Kanzlers immer lauter; die FDP-Minister legten im Oktober 1966 ihre Ämter nieder, im Dezember wurde ein neues Parlament gewählt. 18.01.66 Indira Gandhi wird indische Premierministerin Die Tochter des indischen Staatsgründers Nehru, Indira Gandhi, wird in Neu Delhi vom Parlament zur neuen Premierministerin Indiens gewählt. Sie ist damit weltweite eine der ersten Frauen, die an der Spitze eines Staates steht. Acht Tage zuvor war ihr Vorgänger Shastri überraschend einem Herzversagen erlegen, nachdem er noch beim Abkommen von Taschkent über einen Frieden zwischen Indien und Pakistan mitgewirkt hatte. Indira Gandhi war 48 Jahre alt und Mitglied der regierenden Kongreßpartei. Sie wurde nach Sirimavo Bandaranaike – die in Ceylon regierte – das zweite weibliche Staatsoberhaupt auf dem Kontinent. Zunächst sollte sie überhaupt nicht kandidieren, wurde aber schließlich von einer Dreiviertelmehrheit der Abgeordneten gewählt. Als Indira Gandhi ihr Amt antrat, steuerte Indien gerade auf eine seiner schwersten Hungerkatastrophen zu, die nur durch enorme Hilfslieferungen an Getreide durch die USA und einige andere Staaten gemildert werden konnte. 24.01.66 114 VON 300 Serie von Flugzeugabstürzen in Europa Am 24. Tag des Katastrophenmonats Januar des Jahres 1966 zerschellt eine Boeing 707 der Air India am Mont-Blanc-Felsmassiv "Rocher de la Tournette". Bei dem Unglück kommen alle 177 Insassen ums Leben. Die Maschine war bei dichtem Nebel vor einer Zwischenlandung in Genf in etwa 4.000 Meter Höhe gegen das Bergmassiv geprallt. Die Bergung der Insassen und der weit verstreuten Wrackteile gestaltete sich in dem unwegsamen Gletschergebiet des Mont Blanc äußerst schwierig. Als Unfallursache wurde auf Navigationsfehler der Piloten ermittelt, doch auch ein technischer Defekt konnte nicht ausgeschlossen werden. Nur sechs Tage später ereignete sich ein zweites Flugzeugunglück, als eine Maschine der Deutschen Lufthansa beim Anflug auf den Bremer Flughafen abstürzte. Alle 46 Insassen, darunter die italienische Schwimm-Nationalmannschaft auf dem Weg zum Wettkampf nach Bremen, kamen dabei ums Leben. Die Serie weltweiter Flugzeugunglücke setzte sich bereits im Februar und März weiter fort, als sich in Japan gleich zwei schwere Abstürze ereigneten. 04.03.66 Serie von Flugzeugabstürzen in Japan Die Serie von Unglücksfällen mit Maschinen vom Typ DC-8 hält an: In der Nacht des 4. März 1966 schießt im dichten Nebel auf dem Flughafen von Tokio eine Maschine über die Landebahnbegrenzung hinweg und gerät in Brand. Der Pilot der von Vancouver kommenden DC-8 hatte beim Landeanflug offensichtlich den Sinkflug falsch berechnet. Von den 64 Insassen konnten sich nur zehn durch ein Loch im Rumpf retten. Am nächsten Morgen konnten die 124 Insassen einer startenden Boeing 707 noch die rauchenden Trümmer der zerschellten Maschine sehen. 80 Kilometer weiter geriet ihre Maschine über dem Berg Fuji in etwa 5.000 Meter Höhe in eine starke Turbulenz und zerbrach in drei Teile. Es konnten keine Überlebenden geborgen werden; die Wrackteile waren auf 30 Quadratkilometern verstreut. Die Unglücksursache konnte nicht geklärt werden. Die Unglücke waren die Fortsetzung einer ganzen Reihe von ähnlichen Katastrophen. Allein Japan war innerhalb eines Monats Schauplatz dreier Flugkatastrophen gewesen: Bereits am 4. Februar 1966 war eine mit 126 Passagieren besetzte Boeing 727 in die Bucht von Tokio gestürzt. Alle 133 Insassen waren bei dem Absturz ums Leben gekommen. Auch bei diesem Unglück blieb die Ursache rätselhaft. 03.03.66 Frankreich tritt aus der NATO aus Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle teilt Präsident Lyndon B. Johnson mit, daß er sein Land aus den integrierten militärischen Kommandobehörden zurückziehen und der NATO nicht länger französische Truppen zur Verfügung stellen werde. Damit trat Frankreich aus dem militärischen Teil des westlichen Verteidigungsbündnisses aus. De Gaulle begründete seinen Schritt damit, daß Frankreich seine Souveränität wiederherstellen müsse. Diese sei durch die ständige Anwesenheit alliierter militärischer Einheiten und deren Benutzung französischer Luftwege beeinträchtigt. De Gaulle betonte, daß er bereit sei, mit den Verbündeten weiterhin in lockerer Form zusammenzuarbeiten. Die Regierung Pompidou übermittelte den NATO-Partnern am 29. März 1966 einen Zeitplan für den Ablauf des NATO-Austritts. Sie beabsichtigte, die Unterstellung der in Deutschland stationierten französischen Streitkräfte unter alliiertes Kommando am 1. Juli 1966 zu beenden und am 23. Juli 1966 das Personal aus den Kommandostäben abzuziehen. Die militärischen Hauptquartiere der NATO sollten innerhalb eines Jahres von Frankreich nach Belgien verlagert werden. 26.03.66 Kulturrevolution in China 115 VON 300 Mao Tse-tungs Macht schwindet. Mit einer "Kulturrevolution" versucht er, seine Position im Staat wieder zu festigen. Er ruft zum Kampf gegen die "alten Autoritäten" in China auf. Der Beseitigung der innerparteilichen Rivalen Maos folgte eine landesweite Terror- und Säuberungswelle. Doch schon bald wandte sich die Revolution gegen ihre eigentlichen Träger, die immer unkontrollierbarer werdenden Roten Garden. Innenpolitisch zu einer totalen Diktatur geworden, geriet das Riesenreich für lange Jahre in weitgehende außenpolitische Isolation. Auftakt zur Kulturrevolution Die "Große Proletarische Kulturrevolution" wird durch schwere innere Wirren und bürgerkriegsähnliche Konflikte eingeleitet. Ausgelöst werden sie durch publizistische Angriffe auf die innerparteiliche Opposition in der KPCh sowie durch erste Wandzeitungen an der Universität Peking. Liu Shao-chi, der Staatspräsident der VR China, brach am 26. März 1966 von Peking aus zu einem Staatsbesuch nach Pakistan und Afghanistan auf. Am selben Tag führte Mao Tse-tung den ersten Schlag gegen seinen innerparteilichen Rivalen. Es traf die Unterstützer von Lius pragmatischer Politik: Acht Mitglieder des Politbüros und der Bürgermeister von Peking verschwanden spurlos. Mao konnte in diesem Machtkampf auf die Unterstützung der Armee zählen. Der Verteidigungsminister Lin Piao entwickelte sich zu seinem engsten und verläßlichsten Verbündeten. Am 18. April prangte auf der ersten Seite der Armeezeitung die groß aufgemachte Parole: "Haltet das rote Banner der Ideen Mao Tse-tungs hoch und nehmt teil an der großen sozialistischen Kulturrevolution!" 30.07.66 Kein Weltmeistertitel für Deutschland Durch ein 2:4 nach Verlängerung verpaßt die deutsche Fußballnationalmannschaft unter Kapitän Uwe Seeler den erneuten Gewinn der Fußballweltmeisterschaft. Gastgeber England wird neuer Titelträger. Zum Ende der regulären Spielzeit hatte es 2:2 gestanden. Schließlich gelang dem englischen Stürmer Geoff Hurst in der 101. Minute das sogenannte Wembley-Tor: Der Ball prallte von der Querlatte des deutschen Tores nach unten ab und sprang in das Spielfeld zurück. Die deutsche Mannschaft reklamierte, der Ball habe die Torlinie nicht überschritten. Dieser Ansicht schloß sich der Schweizer Schiedsrichter Dienst zunächst an, nach Befragen des sowjetrussischen Linienrichters erkannte er das Tor zum 3:2 jedoch an. Die deutsche Mannschaft war demoralisiert und verlor das Spiel. In der deutschen Öffentlichkeit wurde das Wembley-Tor als Racheakt des Linienrichters interpretiert. Die deutsche Fußballnationalmannschaft revanchierte sich bei der nächsten Weltmeisterschaft in Mexico, indem sie den amtierenden Weltmeister England im Viertelfinale aus dem Turnier warf und nach einem 1:0- Sieg über Uruguay den dritten Platz belegte. 12.08.66 Starfighter-Krise erschüttert die Bundesrepublik Mit dem Rücktritt des Inspekteurs der Bundesluftwaffe, General Panitzki, erreicht die Starfighter-Affäre ihren Höhepunkt. In einem Zeitungsinterview hatte er zuvor Kritik an der bisherigen Haltung der Regierung Erhard in der Frage des umstrittenen Kampfflugzeuges geübt. Am 12. August bat Panitzki Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel um seine Entlassung. In seiner Begründung führte er aus, die Anschaffung der Flugzeuge unter von Hassels Amtsvorgänger Franz Josef Strauß sei eine politische Entscheidung gewesen. Nun, nach dem Absturz mehrerer Maschinen, lasse die Politik die Bundeswehr allein. Der Inspekteur beklagte die Schwerfälligkeit der Entscheidungswege und die Zersplitterung der Kompetenzen im Verteidigungsministerium. Wenig später reichte auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Heinz Trettner, seinen Rücktritt ein. Trettner warf dem Verteidigungsminister vor, nicht ausreichend über 116 VON 300 den sogenannten Gewerkschaftserlaß informiert worden zu sein, welcher der ÖTV erlaubte, Werbetätigkeiten auf dem Kasernengelände zu betreiben. Der Verteidigungsminister versetzte beide Offiziere am 25. August 1966 in den Ruhestand und ernannte Ulrich de Maizière zum neuen Generalinspekteur der Bundeswehr. Zum Inspekteur der Luftwaffe avancierte Generalleutnant Johannes Steinhoff. Ihm gelang es schließlich, das Problem der Starfighter-Abstürze in den Griff zu bekommen. 04.11.66 Arno und Po treten über die Ufer Nach dreiwöchigen heftigen Regenstürmen in Norditalien und weiten Teilen Österreichs treten am 4. November die Flüsse Po, Adige (Etsch) und Arno sowie deren Nebenflüsse über die Ufer und verwüsteten weite Flächen der Poebene, des Arnotals und Südtirols. Bei den Überschwemmungen im Notstandsgebiet kamen 140 Menschen ums Leben, obwohl allein in Italien 120.000 Soldaten zur Rettung der von den Fluten Bedrohten im Einsatz waren und 45.000 Menschen aus unmittelbarer Gefahr gerettet werden konnten. Auch die Sachschäden waren beträchtlich. So wurden in Florenz während der Flut wertvollste Kunstschätze vernichtet, die Landwirtschaft wurde durch die Vernichtung von Futter und Saatgut schwer getroffen. Der Schaden für ganz Italien lag bei etwa 10 Milliarden Mark. Bereits im Februar dieses Jahres waren weite Teile Spaniens, Portugals und der USA durch schwere Unwetter verwüstet worden, die nächste große Überschwemmung richtete 1970 in Rumänien Milliardenschäden an. 06.11.66 NPD bei Landtagswahlen erfolgreich Innerhalb von zwei Wochen kann die 1964 gegründete NPD bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern am 6. und 20. November 1966 ihre ersten großen Erfolge verbuchen. In Zeiten der Rezession und unter dem Einfluß der Regierungskrise, die zur Bildung der Großen Koalition führte, gelingt es ihr, bei beiden Wahlen die Fünfprozenthürde zu überschreiten. Bei der Landtagswahl in Hessen am 6. November 1966 erreichte die NPD 7,9 Prozent der Stimmen. Die regierende SPD kam auf 51,0 Prozent, die CDU auf 26,4 Prozent und die FDP auf 10,4 Prozent. Der seit 1951 regierende Ministerpräsident Georg Zinn blieb im Amt. Bei den Wahlen in Bayern erreichte die NPD (links: Fraktionsvorsitzender Pöhlmann) 7,4 Prozent, während die regierende CSU unter Ministerpräsident Alfons Goppel auf 48,2 Prozent und die SPD auf 35,8 Prozent kamen. Wegen einer Besonderheit im bayerischen Wahlrecht konnte die FDP trotz des knappen Überschreitens der Fünfprozenthürde bei diesen Wahlen nicht in das bayerische Parlament einziehen: Sie hatte in keinem Regierungsbezirk über 10 Prozent der Stimmen erreicht, während es die NPD im Regierungsbezirk Mittelfranken auf 12,2 Prozent der Stimmen gebracht hatte. 01.12.66 Große Koalition regiert die Bundesrepublik Am 1. Dezember wählen die Fraktionen von SPD und CDU den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger zum neuen Bundeskanzler. Sein seit 1963 amtierender Vorgänger Ludwig Erhard hat einen Tag zuvor sein Rücktrittsgesuch eingereicht. Schon seit dem 15. Oktober erörterten hochrangige Vertreter der beiden Parteien die Möglichkeit der Bildung einer "Großen Koalition". Mit Unterstützung der FDP forderte die SPD schließlich am 8. November den Kanzler auf, die Vertrauensfrage zu stellen. Erhard ignorierte dieses Ansinnen zwar, es war jedoch deutlich geworden, daß er keine parlamentarische Mehrheit mehr besaß. Selbst in der eigenen Partei hatte er längst den Rückhalt verloren. Die in der Nachfolgefrage zunächst noch zerstrittene CDU/CSU wählte am 10. November Kiesinger zum neuen Kanzlerkandidaten. Die Unterstützung der CSU war für dieses Votum ausschlaggebend gewesen. 117 VON 300 Gegen große Vorbehalte vor allem in Reihen der SPD hatten schließlich die Verhandlungsführer der beiden Volksparteien den Gremien empfohlen, die Regierungsverantwortung gemeinsam zu übernehmen. Als prominentester Sozialdemokrat gehörte Willy Brandt der neuen Bundesregierung als Vizekanzler und Außenminister an. 27.01.67 Der Weltraum soll friedlich genutzt werden Vertreter der USA, der UdSSR und Großbritanniens schließen ein Abkommen über die friedliche Nutzung des Weltraums und die gegenseitige Unterstützung bei Unfällen im Weltraum. Unterzeichnet wird der Vertrag in drei Städten, in Moskau, Washington und London. Zahlreiche weitere Staaten traten dem Abkommen sogleich bei. Die Bundesrepublik unterzeichnete das Abkommen in allen drei Städten, die DDR lediglich in Moskau. Am 28. Januar übermittelte die UdSSR der bundesdeutschen Botschaft in Moskau die Liste der Staaten, die bis zu diesem Zeitpunkt den Vertrag in Moskau unterzeichnet hatten. Die Tatsache, daß darin auch die DDR aufgeführt wurde, führte zu einer diplomatischen Auseinandersetzung. In einer Gegennote vom 4. Februar 1967 beharrte die neue Regierung in Bonn darauf, daß es sich bei der DDR lediglich um die "Sowjetische Besatzungszone" handle. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sei der einzige freigewählte Repräsentant des deutschen Volkes und als solcher allein berechtigt, internationale Verträge in deutschem Namen abzuschließen. 14.02.67 "Konzertierte Aktion" im Dienst der Wirtschaft Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller lädt alle am Wirtschaftsprozeß beteiligten Gruppen und Verbände zu einem Gespräch, der "Konzertierten Aktion", nach Bonn. Anhand der vom Bundeswirtschaftsminister ausgegebenen Orientierungsdaten über die voraussichtliche wirtschaftliche Entwicklung soll die Lage der Volkswirtschaft besprochen und das Verhalten der verschiedenen Gruppen aufeinander abgestimmt werden. Es nahmen teil: Arbeitgeber und Gewerkschaften, Bauernverbände, Vertreter der Regierung, der Bundesbank, der Länder und der Gemeinden. Die Einrichtung dieser sogenannten "Konzertierten Aktion" war Karl Schiller vom Sachverständigenrat empfohlen worden, da sie in einigen europäischen Staaten bereits mit Erfolg praktiziert wurde. Ziel war eine stabilitätsorientierte Lohn- und Einkommenspolitik. Dabei wurde nicht in die Tarifautonomie eingegriffen, die Gesprächsrunde lieferte lediglich Orientierungsdaten für die Tarifabschlüsse. Schiller verankerte die Konzertierte Aktion in dem am 8. Juni 1967 verabschiedeten Stabilitätsgesetz. In den folgenden Jahren entwickelte sie sich zu einer festen Instanz mit vierteljährlichen Treffen. Die Konzertierte Aktion war nur eines der zahlreichen Konzepte des Wirtschaftsministerium der neuen Bundesregierung unter Karl Schiller. Ein besonderes Augenmerk galt vor dem Hintergrund des Aufkommens moderner Energieträger vor allem der Entwicklung der Kohleund Stahlindustrie. Zur Entspannung der wirtschaftlichen Lage führte Schiller schließlich auch die Mehrwertsteuer ein. 02.06.67 Benno Ohnesorg wird erschossen Studentenunruhen in Deutschland. Während einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien kommt es zum Eklat: Die Polizei erschießt bei einer Auseinandersetzungen den Studenten Benno Ohnesorg. Der bevorstehende Staatsbesuch des Schahs Reza Pahlawi und Veröffentlichungen über Folter in Persien hatten die Stimmung im Vorfeld angeheizt. Bereits am Vormittag des 2. Juni begannen die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten, schahfreundlichen Iranern und der Polizei vor dem Schöneberger Rathaus. Abends fanden weitere Demonstrationen vor der Berliner Oper statt, in der sich der Schah als Ehrengast aufhielt. Im Lauf dieser Veranstaltung schlugen Polizisten mit Schlagstöcken auf Demonstranten ein. 118 VON 300 In einem Hinterhof wurde während eines Handgemenges dann der bereits verletzte Benno Ohnesorg durch einen Polizeiobermeister von hinten erschossen. Ohnesorg hatte zum ersten Mal an einer Demonstration teilgenommen und war nicht politisch organisiert gewesen. Sein Tod löste die bis dahin größten Protestaktionen der Studenten in der Bundesrepublik und in West-Berlin aus. 05.06.67 Sechs-Tage-Krieg Der Nahe Osten bleibt Krisenherd: Nasser sucht gemeinsam mit Jordanien die Entscheidungsschlacht gegen den Erzfeind Israel. Der Krieg dauerte lediglich sechs Tage. Israel verbuchte bedeutende Geländegewinne und sicherte sich eine überlegene strategische Position. Washington nützte mehrmals sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat, um die Rückgabe der besetzten Gebiete durch seinen Schützling Israel zu verhindern. Die Lage in der Region blieb noch für Jahrzehnte gespannt. Beginn des Sechs-Tage-Kriegs Die israelische Luftwaffe greift auf Befehl des neuen Verteidigungsministers Moshe Dayan ohne Vorwarnung die Stellungen und Flughäfen der arabischen Nachbarn an. In einem Schlag gelingt es ihr, die noch am Boden befindliche Luftwaffe Ägyptens, Jordaniens, Syriens und des Irak unschädlich zu machen. Fast ungehindert konnten die israelischen Truppen unmittelbar darauf in die Nachbarländer eindringen. Sie besetzten bis zum Abschluß des Waffenstillstands mit Nasser (Ägypten) und König Hussein II. (Jordanien, li.) am 8. Juni 1967 den gesamten Sinai und das Westjordanland. Am 7. Juni hatten die Soldaten den Militärstützpunkt Scharm el-Scheich an der Meerenge von Tiran erreicht und diesen Seeweg wieder für Israel gesichert. Am 9. und 10. Juni erstürmten sie die Golan-Höhen jenseits der Grenze zu Syrien. Damit waren alle Kriegsziele erreicht und Israel beendete die Feindseligkeiten. In diesem kurzen und strategisch brilliant geführten Krieg hatte der jüdische Staat 679 Tote zu beklagen, 2.563 Soldaten waren verwundet worden. Die Verluste der arabischen Staaten waren ungleich höher, aber kaum zu schätzen. Zehntausende Soldaten gerieten in Gefangenschaft und eine immense Menge Kriegsmaterial fiel den Israelis in die Hände. Chronik des Nahostkonflikts seit 1947 1947 29. November: Teilung Palästinas nach Billigung durch die Vollversammlung der UNO 1948 14. Mai: Gründung des Staates Israel 15. Mai: Invasion der jordanischen "Arabischen Legion" und Truppen anderer arabischer Staaten 1949 20. Juli: Ende des ersten israelisch-arabischen Krieges; Waffenstillstand; Teilung Jordaniens; Westjordanland fällt an Jordanien, der Gazastreifen an Ägypten 1956 29. Oktober: Suezkrise; Israel greift gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien Ägypten an; unmittelbarer Auslöser war die Verstaatlichung des Suezkanals. Erzwungener Waffenstillstand durch die USA und die UdSSR 1964 1. Juni: Gründung der PLO in Jerusalem 1967 5. Juni: Sechs-Tage-Krieg beginnt; Israel erobert Golan-Höhen, den Sinai, den GazaStreifen, die Westbank und Ost-Jerusalem 1969 119 VON 300 3. Februar: Arafat wird PLO-Chef 1973 6. Februar: Yom-Kippur-Krieg bricht aus 1974 18. Januar: Entflechtungsabkommen zwischen Israel und Ägypten 12. April: Zunahme der Gewalttätigkeiten zwischen Libanon und Israel 13. November: Arafat spricht vor UN-Vollversammlung. 1976 28. Oktober: Bürgerkrieg im Libanon beendet 1977 19. November: Beginn der ägyptisch-israelischen Gespräche beim Staatsbesuch des ägyptischen Präsidenten Sadat in Israel 1978 17. Oktober: Friedensverhandlungen in Camp David zwischen Begin und Sadat unter Vermittlung von US-Präsident Carter; massive Kritik der arabischen Staaten an Sadat 10. Dezember: Friedensnobelpreis an Sadat und Begin 1979 26. März: Washingtoner Friedensvertrag regelt Abzug der Israelis vom Sinai 1981 6. Oktober: Sadat von Mitglied der "Organisation zur Befreiung Ägyptens" erschossen 1982 25. April: Israel gibt den Sinai zurück 6. Juni: Israel greift den Libanon an und errichtet Sicherheitszone im Süden des Landes 18. September: Massaker in PLO-Lagern 1985 1. Oktober: Israelische Flugzeuge bombadieren PLO-Hauptquartier in Tunis (60 Todesopfer) 1987 9. Dezember: Beginn der "Intifada", bewaffneter Aufstand der Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen 1988 31. Juli: Jordanien verzichtet auf Westjordanland. 15. November: Proklamation eines eigenständigen Staates Palästina in den israelisch besetzten Gebieten 1990 8. Oktober: Tempelberg-Massaker 1991 30. November: Nahostgipfel in Madrid 1992 23. Juni: Regierungswechsel in Israel 1993 13. September: Autonomieabkommen von Washington regelt Palästinenserautonomie in Jericho und im Gazasteifen; Unterzeichnung im Mai 1994 in Kairo 1994 25. Februar: Massaker in Hebron 26. Oktober: Friedensschluß von Araba zwischen Israel und Jordanien 10. Dezember: Yassir Arafat, Shimon Perez und Yitzhak Rabin erhalten Friedensnobelpreis für Friedensbemühungen 1995 28. September: Unterzeichnung des Abkommens über erweiterte Autonomie 4. November: Rabin von Extremisten erschossen 1996 20. Januar: Palästinenserrat gewählt 4. März: Radikale Palästinenser nehmen Terror wieder auf 29. Mai: Benjamin Netanjahu wird Israelischer Ministerpräsident. 120 VON 300 25. September: Streit um Tunnel in Jerusalem provoziert erneuten Terror; Israel riegelt die Autonomiegebiete ab 1997 18. März: Israelischer Siedlungsbau zieht Demonstrationen, Straßenschlachten und einen Terroranschlag nach sich, nach dem Israel die Friedensgespräche abbricht 1998 23. Oktober: Beim Nahost-Gipfel in Wye (USA) vereinbaren Israelis und Palästinenser einen Neubeginn des Friedensprozesses und Details des Truppenabzuges 1999 24./25. Juni: Auf einen Raketenangriff der Hisbollah in Nordisrael reagiert Israel mit Luftangriffen auf den Libanon 6. Juli: Die Regierung Barak wird vereidigt 01.07.67 Fusion der drei Europäischen Gemeinschaften Die drei europäischen Gemeinschaften, EWG, Euratom und EGKS vereinigen sich: Auch der Organisationsaufbau wird nun erneuert. Von nun an bestehen die Organe der Europäischen Gemeinschaft (EG) aus dem Europäischen Parlament, der Kommission (l.), dem Ministerrat und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Nach den Bestimmungen der Europäischen Verträge sollen alle Entscheidungen im Zusammenwirken dieser höchsten Organe getroffen werden. Das Europäische Parlament befand sich dabei von Anfang an rechtlich in der schwächsten Position. Es war wohl die Vertretung der Völker der Mitgliedsstaaten, besaß aber keine gesetzgeberischen Befugnisse. Es mußte lediglich zu allen Vorschlägen der Kommission gehört werden. Die Kommission bestand aus 14 von den nationalen Regierungen ernannten, aber dann weisungsunabhängigen Politikern. Sie sollte die Motorfunktion bei der weiteren Einigung Europas übernehmen. Sie war mit der Durchführung der Verträge betraut und hatte das Recht, im Rahmen dieser Verträge verbindliche Verordnungen für die Mitglieder der Gemeinschaft zu erlassen. Die eigentliche Rechtssetzung der EG oblag dem Ministerrat. Im "Luxemburger Kompromiß" entschied der Ministerrat schon 1966, immer dann von Mehrheitsentscheidungen abzusehen, wenn "vitale Interessen" eines Mitgliedes auf dem Spiel stehen. 05.01.68 Prager Frühling: Dubcek wird KP-Chef in Prag Alexander Dubcek löst Antonín Novotný als Ersten Parteisekretär der tschechoslowakischen KP ab. Mit seinem Amtsantritt beginnt die atemberaubende Phase der Liberalisierung, bekanntgeworden als Prager Frühling. Dubcek, zuvor Leiter der slowakischen Sektion der Partei, war bis dato in der Öffentlichkeit kaum hervorgetreten. Der Führungswechsel in Prag hatte allerdings eine längere Vorgeschichte. Die KP der Tschechoslowakei war bei ihrem Parteitag im Dezember 1962 verspätet auf den Weg der Entstalinisierung eingeschwenkt. Im April 1963 rehabilitierte der Oberste Gerichtshof die meisten der in den Schauprozessen der 50er Jahre Verurteilten. Mehrere Minister, die durch ihre Aktivitäten in jener Zeit vorbelastet schienen, wurden abberufen. Die Auswirkungen einer strukturell bedingten Wirtschaftskrise und die wachsende Unruhe unter den Intellektuellen ließen sich aber mit diesen eher kosmetischen Maßnahmen nicht auffangen. Im Juni 1967 brach zwischen dem Schriftstellerverband und der KP-Führung ein offener Konflikt aus. Den Anlaß bildete die offizielle Verurteilung Israels im Sechstagekrieg, der sich die Schriftsteller auf ihrem Kongreß im Juni 1967 nicht anschließen mochten. Die KP-Führung reagierte auf diese "Abweichung" mit dem Verbandsausschluß einiger führender Autoren, etwa des bekannten Schriftstellers Ludvik Vaculíc. Als im Oktober 1967 die Schriftstellerzeitschrift eingestellt wurde, verschärfte sich 121 VON 300 auch im ZK der KP die Kritik am starren Dogmatismus Novotnýs. Am 8. Dezember 1967 traf Breschnew zu einem geheimen Besuch in Prag ein, um die Führungskrise zu entscheiden, und entzog Novotný seine Unterstützung. Diesem blieb nichts anderes übrig, als hierauf von seinen Parteiämtern zurückzutreten, er blieb jedoch Präsident des Landes 16.03.68 US-Truppen löschen vietnamesisches Dorf aus Ein Zug der US-Marineinfanterie besetzt das südvietnamesische Dorf My-Lai und massakriert die gesamte Dorfbevölkerung. Über 100 Menschen fallen dem blinden Wüten zum Opfer, das später damit begründet wird, das Dorf habe dem Vietkong massiv Unterstützung geleistet. Beweise für diese Annahme konnten allerdings nicht erbracht werden. Die Tat wurde zunächst vertuscht. Erst nach einem Jahr kam es zu einer offiziellen Untersuchung, in deren Folge der Befehlshaber des Zuges zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde, die anschließend mehrfach reduziert wurde. Schließlich mußte der Zugführer nur dreijährigen Hausarrest auf einem US-Stützpunkt absitzen. Obwohl Indizien dafür sprachen, daß zumindest die Vertuschung durch höhere Offiziere gedeckt worden war, kam es niemals zu einer Verurteilung. In der Öffentlichkeit wurde der Fall My-Lai jedoch heftig diskutiert. Er wurde zur Initialzündung für einen Stimmungsumschwung in den USA und die großen Anti-Vietnam-Demonstrationen des Jahres 1969. 02.04.68 Anschläge der APO auf Frankfurter Kaufhäuser Mitten in den Studentenunruhen des Frühlings 1968 schrecken zwei Sprengstoffanschläge auf Kaufhäuser in Frankfurt am Main die bundesdeutsche Öffentlichkeit auf. Zwar gibt es keine Toten oder Verletzten zu beklagen, doch bekommt der gesellschaftliche Protest der Außerparlamentarischen Opposition durch den Terrorakt eine neue Qualität. Als Tatverdächtige wurden Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Thorwald Proll und Horst Söhnlein verhaftet, die bei der folgenden Verhandlung von dem Berliner Rechtsanwalt Horst Mahler verteidigt wurden. Am 14. Mai 1968 wurden die beiden Hauptakteure Ensslin und Baader vor einem Frankfurter Schwurgericht zu jeweils drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Mahler konnte bis zur ausstehenden Berufungsverhandlung eine Haftverschonung erwirken. In dieser Zeit tauchten die beiden unter und organisierten in der Folgezeit im Untergrund zusammen mit der Hamburger Journalistin Ulrike Meinhof den bewaffneten Kampf der APO. Ulrike Meinhof rechtfertigte in der Zeitschrift "Konkret" die Brandanschläge von Frankfurt als Anschläge gegen die "Zentralen des Konsumterrors in der Bundesrepublik". 04.04.68 "I have a dream ..." Die Kugeln eines Rassenfanatikers töten den Mann, der für das schwarze Amerika die Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Leben verkörpert: Martin Luther King. Der Mord an dem Bürgerrechtler wühlte die amerikanische Öffentlichkeit auf wie kaum ein anderes Ereignis seit der Ermordung Kennedys. Vor dem Hintergrund der dramatischen weltweiten Entwicklungen in Politik und Gesellschaft während der sechziger Jahre symbolisierte King für viele Amerikaner die Hoffnung auf eine friedvolle und gerechte Zukunft. Martin Luther King stirbt nach Attentat Ein schwerer Schock für die Bürgerrechtsbewegung in Amerika: Ihr großer Vorkämpfer für die Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen, Martin Luther King, fällt dem Attentat eines Rassenfanatikers zum Opfer. Gerade 39jährig erliegt Martin Luther King in den Gewehrschüssen des Attentäters, der unerkannt entkommen kann. 122 VON 300 Wie vier Jahre zuvor bei der Ermordung von Präsident John F. Kennedy verwendete der Mörder ein halbautomatisches Gewehr mit Zielfernrohr. King stand gerade auf dem Balkon seines Zimmers im "Kings Hotel", als ihn der tödliche Schuß in den Hals traf. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde die Tatwaffe gefunden, die von einem dunkelhaarigen Weißen weggeworfen worden war. King wurde schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert, wo er trotz aller ärztlicher Mühe nach einer Stunde verstarb. Der Nobelpreisträger hatte seine Eltern schon Tage zuvor informiert, daß er von einem Mordkomplott gegen ihn wisse. Dennoch fürchte er den Tod nicht, für ihn zähle nur die Freiheit der schwarzen Bevölkerung in den USA. Nach dem Attentat explodierte der Rassenhaß. Radikale Anhänger der "Black Power"-Bewegung provozierten in vielen Städten – unter dem Vorwand der Rache für Martin Luther King – Plünderungen und Straßenkämpfe. Der Ausnahmezustand wurde in mehreren Städten verhängt, die Nationalgarde war tagelang im Einsatz. Die Bilanz der Unruhen: 32 Tote, mehrere tausend Verletzte und über 10.000 Verhaftete. 11.04.68 Attentat auf Rudi Dutschke Mit dem Attentat auf APO-Führer Rudi Dutschke eskaliert am Gründonnerstag 1968 die Situation in Deutschland. Der Wortführer der Studentenbewegung war auf dem Kurfürstendamm in Berlin niedergeschossen und dabei lebensgefährlich verletzt worden. Erst nach mehreren Operationen konnte Dutschke gerettet werden. Der Attentäter, der Hilfsarbeiter Josef Erwin Bachmann, war eine Stunde nach dem Attentat festgenommen worden. Er gab politische Motive für seine Tat an. Rudi Dutschke war seit 1967 im Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und nahm eine der führenden Rollen in der deutschen Studentenbewegung ein. Der SDS sah als geistigen Urheber des Mordanschlags den Verleger Axel Springer, dessen Zeitungen gegen die Studenten Stimmung gemacht hatten. Nach dem Attentat kam es in vielen deutschen Städten zur Blockade von "Bild"-Zeitungsredaktionen und zu Verzögerungen in der Auslieferung. Damit trat die nach dem Tod Benno Ohnesorgs im Juni 1967 entstandene Kampagne gegen die Springer-Presse in ihr spektakulärstes Stadium. Die Bilanz der Demonstrationen an den folgenden Ostertagen und weiterer Blockadeversuche waren zwei Tote und Hunderte von Verletzten. 03.05.68 Rebellion der Studenten Studentenrevolte in Paris: Die Studenten gehen für ein besseres Bildungssystem auf die Barrikaden. Als sich die Arbeiterschaft mit den Demonstranten solidarisiert, wird das halbe Land lahmgelegt. Die Pariser Krawalle schlugen rasch auf die Jugend in vielen westlichen Industrienationen über. Mehr und mehr richteten sich die Proteste gegen die restriktive Atmosphäre der sechziger Jahre und bald auch gegen den Krieg der USA in Asien. Auch nach Deutschland sprang der Funke über, die Studentenbewegung radikalisierte sich. Straßenschlachten im Quartier Latin in Paris Erziehungsminister Alain Peyrefitte läßt die Pariser Universität Sorbonne - wie schon tags zuvor die philosophische Fakultät in Paris-Nanterre - schließen. Die Kundgebungen der Studenten für radikale Hochschulreformen erreichen daraufhin ihren Siedepunkt. Eine führende Stellung unter den in Nanterre protestierenden Studenten nahm der Deutsch-Franzose Daniel Cohn-Bendit ein. In den Tagen nach der Aussperrung der Pariser Studenten kam es zu zahlreichen Demonstrationen. Höhepunkt des Protestes war die Straßenschlacht, die sich Studenten und Polizei am 6. Mai 1968 im Quartier Latin in Paris lieferten. Schwer bewaffnete Polizisten gingen mit Tränengas gegen die Demonstranten vor. Zahlreiche Verletzte waren zu beklagen. Im Gegensatz zur deutschen Studentenbewegung wurde die Protestbewegung in Frankreich von weiten 123 VON 300 Teilen der Bevölkerung unterstützt. Am 10. Mai riefen die Gewerkschaften zu einem Generalstreik auf, der am 13. Mai begann. Ende Mai 1968 löste Staatspräsident Charles de Gaulle die Nationalversammlung auf und kündigte Neuwahlen an. Die Studentenproteste lösten die bislang schwerste innenpolitische Krise der Fünften Republik aus. 13.05.68 Generalstreik legt französische Wirtschaft lahm Frankreich am Rande des Chaos: Die Arbeiter haben sich mit den protestierenden Studenten solidarisiert. Wegen der Brutalität, mit der die französische Polizei gegen die Studenten vorgeht haben sie für 24 Stunden einen Generalstreik ausgerufen. Der Generalstreik, zu dem die französischen Gewerkschaften aus Solidarität mit den protestierenden Studenten aufgerufen hatten, begann am 13. Mai. Die Streikenden forderten insbesondere höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Nach dem eintägigen Generalstreik begannen im ganzen Land verschiedene kleinere Streiks mit der Absicht, die französische Wirtschaft lahmzulegen. Der öffentliche Verkehr brach zusammen, Benzin wurde knapp und die Stromversorgung wurde zeitweise unterbrochen. Etwa sieben Millionen Franzosen waren an den Streiks beteiligt. Ende des Monats nahmen die Arbeitgeber die Gewerkschaftsforderungen weitgehend an. Am 30. Mai löste Präsident Charles de Gaulle als Reaktion auf das Verhalten der Arbeitnehmer die Nationalversammlung auf und kündigte Neuwahlen an. Allmählich ging die Streikbereitschaft zurück und die Protestbewegung verebbte. 30.05.68 Öffentliche Proteste gegen Notstandsgesetze Seit mehr als einem Jahrzehnt beschäftigt die Notstandsverfassung Politiker und die Öffentlichkeit. Unter dem Eindruck der Studentenunruhen beschließt die Große Koalition schließlich das Gesetzeswerk und gießt damit zusätzlich Öl ins Feuer. Die SPD, die zuvor aus der Opposition heraus Notstandsgesetze stets verhinderte, stimmt nun mehrheitlich zu und verprellt damit viele ihrer Wähler. Die Abstimmung erbrachte mit 384 Ja-Stimmen, 100 Nein-Stimmen und einer Enthaltung die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Die FDP-Fraktion hatte geschlossen gegen das Gesetz gestimmt. Unter den Gegnern des Gesetzes befanden sich jedoch auch 53 Abgeordnete der SPD und ein Vertreter der CDU. Der kurz zuvor zurückgetretene Innenminister Paul Lücke und Justizminister Gustav Heinemann hatten die Gesetze in ihrer jetzigen Form vorbereitet. Studenten und Gewerkschaften protestierten, sie befürchteten einen übergroßen Machtzuwachs des Staates und organisierten landesweite Protestaktionen. Allzu lebendig war bei vielen noch die Erinnerung an die Notstandsgesetze der Nationalsozialisten in den 30er Jahren. Bei Demonstrationen gegen die Regierung Kiesinger kam es wiederholt zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. 06.06.68 Robert Kennedy stirbt bei Attentat Wie zuvor schon auf seien Bruder John wird auf den US-Senator und Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy ein tödliches Attentat verübt. Der Attentäter, Sirhan Bishara Sirhan, ein in die USA immigrierter Jordanier, traf Kennedy aus einem kleinkalibrigen Revolver in Kopf und Schulter. Sirhan schoß wie manisch die Trommel leer, verletzte fünf weitere Personen und wurde dann von Sicherheitskräften überwältigt. Bevor Kennedy bewußtlos zusammenbrach, fragte er noch: "Sind alle okay?". Tags darauf erlag er seinen Verletzungen, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Sirhan sagte bei der späteren Gerichtsverhandlung, daß Kennedy durch seine proisraelische Haltung sein Leben verwirkt habe. Er hatte das Attentat symbolisch am ersten Jahrestag des Beginns des Sechs-Tage-Kriegs verübt. Sirhan wurde zum Tode verurteilt, später zu lebenslanger Haft begnadigt. 124 VON 300 Robert Kennedy galt als scharfer Kritiker der Haltung von US-Präsident Lyndon B. Johnson im Vietnamkrieg. Er hatte wiederholt die Aussetzung des Bombenkriegs und Verhandlungen mit dem Vietkong gefordert. Robert Kennedy konnte sich im Wahlkampf vor allem auf junge Wähler und Anhänger seines Bruders John F. Kennedy stützen. Er wurde neben seinem im November 1963 ermordeten Bruder beigesetzt. 27.06.68 Verkündung des "Manifests der 2000 Worte" In mehreren Prager Zeitungen und Zeitschriften wird das "Manifest der 2000 Worte" zeitgleich veröffentlicht. Es ruft zur Erneuerung des Landes auf und ist von den Intellektuellen des Landes unterzeichnet. Nachdem Alexander Dubcek am 5. Januar 1968 zum Führer der tschechoslowakischen KP aufgestiegen war, erlaubte eine weitgehende Pressefreiheit die offene Diskussion aller Fragen, die solange tabu gewesen waren. Den Höhepunkt der freien Aussprache bildete das am 27. Juni 1968 in Prag in mehreren Zeitschriften gleichzeitig veröffentlichte "Manifest der 2.000 Worte" des Schriftstellers Ludvik Vaculíc. 70 weitere Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler hatten seinen Appell mitunterzeichnet, der den Verfall des politischen Lebens anprangerte und zu einer Erneuerung aufrief. Dieser Prozeß sollte nach Ansicht der Initiatoren nicht ohne oder gar gegen die Kommunisten stattfinden; er sollte aber auch anderen Gruppen wie Gewerkschaften und Bürgerausschüssen freien Raum gewähre. Das Präsidium der tschechoslowakischen KP distanzierte sich von diesem Manifest, das die Führungsrolle der Partei in Frage stellte. Besonders scharfe Kritik übte jedoch die UdSSR an dem Appell der tschechoslowakischen Intellektuellen. Die Führung unter Breschnew (l.) in Moskau hatte die von Dubcek vorangetriebene Liberalisierung schon bald als zu weitgehend kritisiert. In verschiedenen Konferenzen mußte die tschechoslowakische Staats- und Parteispitze in diesen Monaten ihre Politik rechtfertigen. 01.07.68 EG-Zollunion tritt in Kraft Die Zollunion der sechs Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften tritt in Kraft. Die Binnenzölle zwischen den Mitgliedstaaten sind damit endgültig beseitigt. Dies geschah 18 Monate früher als im Vertrag von Rom vorgesehen. Die Grenzkontrollen wurden allerdings nicht an diesem Tag aufgehoben, der von der EG-Kommission in Brüssel als "historisches Datum in der Geschichte Europas" gefeiert wurde. Lediglich die Binnenzölle für gewerbliche und industrielle Güter wurden endgültig beseitigt, nachdem sie von 1956 bis 1967 bereits schrittweise um rund 85 Prozent abgebaut worden waren. Eine Harmonisierung der Steuersätze der einzelnen Mitgliedsstaaten konnte bis dahin allerdings nicht verwirklicht werden. Als flankierende Maßnahme führte die EWG mit dem 1. Juli 1968 einen gemeinsamen Zolltarif gegenüber Drittländern ein. Die nationalen Tarife waren seit 1961 sukzessive an den Gemeinschaftstarif angepaßt worden. Der gemeinsame Agrarmarkt war zu diesem Stichtag durch die Marktordnungen für verschiedene Produkte bereits zu über 50 Prozent verwirklicht. Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet Mit Abschluß des Atomwaffensperrvertrages verpflichten sich die Unterzeichner auf die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Das Übereinkommen tritt am 5. März 1970 in Kraft. Für die Atommächte bedeutete dies, daß sie auch niemanden die unmittelbare oder mittelbare Verfügungsgewalt über ihre Atomwaffen übertragen durften. Solche Unterzeichnerstaaten, die selber nicht im Besitz von Kernwaffen waren, verpflichteten sich, 125 VON 300 auch in Zukunft auf den Besitz und die Herstellung zu verzichten. Ausdrücklich ausgenommen war die friedliche Nutzung der Kernkraft. Zur Überwachung des Sperrvertrages einigten sich die Unterzeichnerländer auf die Einrichtung einer Internationalen Atomenergie-Behörde. Die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete den Vertrag im November 1969, die Atommächte USA, UdSSR und Großbritannien sowie 40 weitere Staaten signierten bis zum 5. März des folgenden Jahres. Nur die außenpolitisch nach wie vor weitgehend isolierte Atommacht China und Frankreich, das auch unter dem neuen Präsidenten Georges Pompidou den unter Charles de Gaulle eingeschlagenen bündnispolitischen Sonderweg weiterging, traten dem Vertrag nicht bei. 20.08.68 Prager Frühling Mit Panzern walzt die sowjetische Führung in der Tschechoslowakei alle Hoffnungen auf Reformen nieder. Dubcek hatte sich auf zu dünnes Eis gewagt. Das Prager Experiment eines "Sozialismus’ mit menschlichem Antlitz" durch die Demokratisierung von Partei, Staat und Wirtschaft war Breschnew ein Dorn im Auge. Verhandlungsversuche scheiterten. Ähnlich wie 1953 in Ost-Berlin und 1956 in Budapest beendete Moskau nun auch in Prag - und dieses Mal für lange Jahre - jede Hoffnung auf ein wenig mehr Freiheit und Demokratie. Einmarsch des Warschauer Paktes in die CSSR Ende des Tauwetters im Ostblock, Ende des "Prager Frühlings": Russische Panzer überrollen alle Hoffnungen auf Reformen, auf die Öffnung und Liberalisierung des Landes. Der Reformpolitik der Prager Führung unter Alexander Dubcek wird ein gewaltsames Ende gesetzt. Fünf Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts nahmen an der Invasion teil: die UdSSR, Bulgarien, Ungarn, Polen und die DDR. In zwei Konferenzen der Parteispitzen der Warschauer-Pakt-Staaten war bis Anfang August noch versucht worden, die Gegensätze zu überbrücken. Am 19. August fiel in Moskau der endgültige Beschluß zugunsten der seit längerem vorbereiteten Intervention. Die Invasionsarmee konnte das Land in kurzer Zeit besetzen, ohne auf nennenswerten aktiven Widerstand zu stoßen. Dubcek hatte dazu aufgerufen, diesen zu vermeiden. Nur bei dem Versuch, das Gebäude von Radio Prag zu besetzen, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen 30 Menschen ums Leben kamen. Viel verbreiteter war der passive Widerstand, den die Bevölkerung gegenüber der Besatzungsarmee an den Tag legte. Um auch diesen zu brechen, erzwang die sowjetische Führung von den inzwischen nach Moskau verbrachten Reformern in tagelangen Verhandlungen die Zustimmung zu einer schrittweisen Rücknahme der Reformen. Die KPdSU gab im Gegenzug den Vorwurf der Konterrevolution auf. 15.09.68 Gleichberechtigung In den siebziger Jahren bildet sich eine schlagkräftige neue Frauenbewegung heraus. Ihre Forderung: die tatsächliche gesellschaftliche Gleichstellung der Frau. Seit dem letzten Jahrhundert kämpften Frauen für ihre Gleichberechtigung. Nach 1945 wurde das Prinzip der Gleichstellung von Mann und Frau in viele Verfassungen aufgenommen. Nun begann der Kampf um die Emanzipation in der Gesellschaft: Auf allen Ebenen, so die Forderung, sollen die Frauen die gleichen Chancen und Möglichkeiten haben wie die Männer. 126 VON 300 Neue Frauenbewegung entsteht In der BRD formiert sich im Zuge der Studentenproteste von 1968 und des Aktionsforums des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) ein radikaler Flügel der international wachsenden Frauenbewegung. Während der Studentenproteste von 1968 machten viele politisch engagierte Frauen die Erfahrung, selbst von den sich progressiv gebenden männlichen Kommilitonen mit ihren frauenpolitischen Forderungen nicht ernst genommen zu werden. Als Reaktion formierten sich an den deutschen Hochschulen erste autonome Frauengruppen. Diese "Keimzelle" der bundesdeutschen Frauenbewegung meldete sich in den siebziger Jahren lautstark in der Öffentlichkeit zu Wort. Auslöser war die frauenpolitische Rede der späteren Filmemacherin Helke Sanders auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS, die von den männlichen SDSMitgliedern mit höhnischer Ignoranz bedacht wurde. Die Berlinerin Sigrid Rüger bewarf daraufhin die Vorstandsmitglieder mit Tomaten, wodurch ein offener Eklat ausbrach und in den folgenden Wochen zur Abspaltung der wütenden Frauen in eigenen Gruppierungen führte. Erstmals entstanden so zunächst an den Universitäten Frauengruppen, die die speziellen politischen wie gesellschaftlichen Belange von Frauen thematisierten und in der Folgezeit mit spektakulären Aktionen ins Bewußtsein der Öffentlichkeit rückten. 07.11.68 Eine Ohrfeige für den Bundeskanzler Eklat auf dem Bundesparteitag der CDU in West-Berlin: Bundeskanzler Kiesinger wird in aller Öffentlichkeit von der 29jährigen Berlinerin Beate Klarsfeld geohrfeigt. Die in Frankreich lebende und mit einem französischen Journalisten verheiratete Frau will mit ihrer Aktion die Öffentlichkeit auf die Nazi-Vergangenheit des Bundeskanzlers aufmerksam machen: Kiesinger war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP gewesen. Der Vater des Ehemanns von Beate Klarsfeld war in Auschwitz von den Nazis ermordet worden. Der Frau war es gelungen, mit dem Presseausweis ihres Mannes in die Berliner Kongreßhalle zu gelangen und nahe genug an Kiesinger heranzukommen, um die Ohrfeige zu plazieren. Sie wurde sofort von Sicherheitsbeamten überwältigt und kurz darauf in einem Schnellverfahren zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Ihr Ziel hatte sie jedoch erreicht, den Bundeskanzler öffentlich – vor allem in der Presse – mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Das eigentliche Thema des seit dem 4. November tagenden Parteikongresses trat nach dem Eklat in den Hintergrund. Es ging um die programmatische Neubesinnung der CDU, die den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht werden sollte. Am Schluß stand das sogenannte "Berliner Programm", das das "Hamburger Programm" der CDU von 1953 ablöste. 12.11.68 Breschnew begründet eine neue Doktrin Mit der nach ihm benannten Breschnew-Doktrin schreibt der Generalsekretär der KPdSU die Vormachtstellung der UdSSR im sozialistischen Lager fest. Außerdem soll sie den 127 VON 300 Einmarsch in die CSSR nachträglich rechtfertigen - als "Hilfe" bei innerer Bedrohung eines sogenannten Bruderstaates. Der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, erklärte am 12.11.1968 bei einem Besuch in der polnischen Hauptstadt Warschau den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei zum allgemeinen Prinzip der "militärischen Hilfe zwischen sozialistischen Bruderstaaten". Er führte weiter aus, daß die Souveränität der sozialistischen Staaten begrenzt sei und daß sie den "Interessen des internationalen Sozialismus" nicht zuwiderlaufen dürfe. Einerseits wollte Breschnew damit das Verhalten der Sowjetunion bei der Intervention in der CSSR legitimieren, andererseits wohl auch andere sozialistische Länder vor dem Versuch reformerischer Alleingänge warnen. Diese Politik der Unterdrückung von Reformbewegungen im sozialistischen Lager ging unter dem Namen "Breschnew-Doktrin" in die Geschichte ein. 27.12.68 Drei US-Astronauten umkreisen den Mond Kurz nach Weihnachten 1968 landen die drei amerikanischen Astronauten Borman, Lovell und Anders nach ihrer Mondumkreisung wieder auf der Erde. Es war die erste bemannte Mondumkreisung. Das Landegebiet befand sich im Pazifik südwestlich des US-Bundesstaats Hawaii, der nach Alaska der 50. Bundesstaat der USA geworden war. Der Flug dauerte insgesamt 147 Stunden. "Apollo VIII" – so der Name der Raumkapsel – war mit einer Saturnrakete am 21. Dezember 1968 um 13.50 MEZ von Florida aus gestartet worden. Nach anderthalb Erdumkreisungen machte sich die Kapsel mit den drei Astronauten auf den Weg zum etwa 400.000 km entfernten Mond und verließ am 22. Dezember das Gravitationsfeld der Erde. Die ganze Welt konnte einige Zeit später an den Fernsehschirmen die zur Erde gefunkten Bilder von der erdabgewandten Oberfläche des Erdtrabanten bestaunen. Insgesamt hatten eine halbe Million Techniker und Wissenschaftler acht Jahre lang am "Apollo-Projekt" unter der Leitung von General Samuel Phillips geforscht. Das Projekt verschlang insgesamt einschließlich der ersten Flüge 100 Milliarden DM. Diesmal konnten Phillips und US-Präsident Nixon jedoch triumphieren, lagen sie doch mit der gelungenen Mondumkreisung beim Wettlauf im Weltall wieder vor den Sowjets. Der Start der ersten Apollo-Kapsel am 27. Januar 1967 war ein schwerer Fehlschlag gewesen, die drei Astronauten von "Apollo I" starben bei einem Brand in der Kapsel noch vor dem Start. 03.02.69 Arafat an die Spitze der PLO gewählt Der Führer der palästinensischen Kampfgruppe al-FATAH, Yassir Arafat, wird zum Vorsitzenden des Exekutivkomitees der PLO gewählt. Damit ändert sich der Charakter der PLO: Der palästinensische Nationalismus wird politisches Programm und die PLO zur Dachorganisation der palästinensischen Gruppen. Bis 1969 war die PLO stark von den Staaten der Arabischen Liga, besonders von Nassers Ägypten, abhängig gewesen. Begünstigt durch interne Streitigkeiten und der arabischen Unsicherheit nach dem erfolgreichen israelischen Sechs-Tage-Krieg, wuchs seit 1968 der Einfluß von al-FATAH innerhalb der PLO. Al-FATAH konnte schließlich die Mehrheit der Ratssitze im Palästinensischen Nationalrat erobern. Arafat begann in den 70er Jahren neben dem bewaffneten Kampf auch politische und diplomatische Mittel einzusetzen. Mit seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung am 22. November 1974 erreichte er die internationale Anerkennung der PLO. Die Führung von alFATAH blieb innerhalb der PLO nicht unumstritten. Besonders nach der Vertreibung der PLO aus dem Libanon kam es in den 80er Jahren zur Opposition gegen Arafat. Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) Im Januar 1964 wurde die PLO von der Gipfelkonferenz der Arabischen Liga, vor allem auf Initiative des ägyptischen Präsidenten Gamal Abd el-Nasser, ins Leben 128 VON 300 gerufen. Der Rechtsanwalt Achmed Schukairi, der bisher schon die Palästinenser bei der Arabischen Liga vertreten hatte, wurde erster PLO-Chef. Der erste Kongreß des Palästinensischen Nationalrates, des höchsten Organs der PLO, tagte im Frühsommer 1964 und wählte ein fünfzehnköpfiges Exekutivkomitee, das für die Durchführung der Nationalratsbeschlüsse verantwortlich ist. Als Zwischengremium wurde 1973 ein Zentralrat zur Umsetzung der Beschlüsse geschaffen. Die Befreiung Palästinas wurde als Ziel der PLO definiert. Die PLO erhielt Sitz und Stimme in der Arabischen Liga. Finanziert wurde der ebenfalls 1964 gegründete Palästinensische Nationalfond durch Steuern von Palästinensern in den arabischen Staaten, Spenden sowie Zuwendungen arabischer und befreundeter Staaten. Die PLO war zunächst nur eine unter den zahlreichen Palästinenserorganisationen und wurde erst 1969 zu einem Dachverband der verschiedenen Gruppen. Vertreter eines palästinensischen Nationalismus (militärische Selbsthilfe, palästinensisches Selbstbewußtsein) bildeten die stärkste der palästinensischen Widerstandsgruppen, die Bewegung für die Befreiung Palästinas (FATAH), die Yassir Arafat mit einigen anderen Aktivisten 1959 gegründet hatte. Die FATAH wollte den Kampf um Palästina ohne den Einfluß von Parteien oder Regierungen führen. Seit Anfang der 60er Jahre erhielt die FATAH Zulauf aus den palästinensischen Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon und im Gaza-Streifen. Seit Ende der 60er Jahre errichtete die FATAH auch Ausbildungsstätten in den Flüchtlingslagern sowie Kranken- und Waisenhäuser. Unterstützung bekam Arafat von Algerien, Syrien, Kuwait und Saudi-Arabien, die den ägyptischen Einfluß dadurch schmälern wollten. In der marxistisch-leninistischen Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) hatten sich im Dezember 1967 verschiedene andere palästinensische Gruppen zusammengeschlossen. Sie versuchte unter anderem durch Flugzeugentführungen auf das Palästinaproblem aufmerksam zu machen. Ende 1967 wurde Yahya Hammuda neuer Vorsitzender des Exekutivkomitees. 1968 wurde ein neuer Nationalrat der PLO unter Mitwirkung der FATAH und der PFLP gebildet. 1969 spaltete sich die Demokratische Volksfront für die Befreiung Palästinas (DFLP) von der PFLP ab, die sich auch als marxistisch-leninistisch versteht, aber im Gegensatz zur PFLP auch eine politische Lösung der Palästinafrage für möglich hält. Im Februar 1969 wurde Arafat neuer PLO-Vorsitzender und die FATAH kontrollierte praktisch die PLO. Seit dem sogenannten Schwarzen September 1970 wurde die PLO aus Jordanien vertrieben, ging in den Libanon und wurde von dort nach der israelischen Invasion 1982 evakuiert. Ihr Hauptquartier verlegte die PLO nach Tunis. 1988 trat der jordanische König Hussein die Ansprüche im Westjordanland an die PLO ab. Seit der arabischen Gipfelkonferenz von 1974 galt die PLO weithin als Vertreterin palästinensischer Interessen, und die Rede Arafats vor der UNO-Vollversammlung im gleichen Jahr verschaffte der PLO internationale Anerkennung. Die offizielle Aufwertung ihres Status erfolgte jedoch über einen langen Zeitraum: 1974 wurde der PLO der Beobachterstatus in der UN-Vollversammlung zugesprochen, 1988 anerkannte man sie als Delegation Palästinas. Erst am 7. Juli 1998 wurde Palästina teilnehmendes, mit Rederecht versehenes Mitglied der UN-Vollversammlung. Im Laufe des Jahres 1993 kam es bei Geheimgesprächen zwischen der PLO und Israel in Oslo zu wichtigen Annäherungen. Die PLO anerkannte das von ihr bisher bestrittene Existenzrecht Israels und sagte sich von Gewaltakten los. Daraufhin anerkannte Israel die bisher als "terroristische Organisation" geltende PLO als Vertreterin des palästinensischen Volkes. Das Jahr 1994 war für die PLO und für Arafat im besonderen ein erfolgreiches Jahr. Nach dem Abschluß des Autonomieabkommens über Gaza und Jericho wurde der ehemalige Untergrundkämpfer für sein Engagement im Nahost-Friedensprozeß zusammen mit Israels Ministerpräsident Yitzak Rabin und Außenminister Shimon Perez am 10. Dezember 1994 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Nach der 129 VON 300 Unterzeichnung des erweiterten Autonomieabkommens wählten die Palästinenser im Westjordanland, im Gaza-Streifen und in Ost-Jerusalem im Januar 1996 einen 88 Mitglieder zählenden Autonomierat mit legislativen Befugnissen. Am 12. Februar wurde Arafat als dessen Präsident vereidigt. Dennoch gelang es der PLO bisher nicht, Fraktionen wie Hamas, DFLP oder PFLP an der Palästinenserregierung zu beteiligen bzw. hart gegen radikale islamische Gruppen vorzugehen. Diese Mängel lieferten insbesondere dem rechtsgerichteten israelischen Kabinett Netanjahu immer wieder Vorwände, Vereinbarungen des Hebron- oder WyeAbkommens wegen "mangelnder Sicherheitszusammenarbeit" nicht einzuhalten. Trotz fehlender Fortschritte im Friedensprozeß strich der palästinensische Nationalrat im Dezember 1998 aus der PLO-Charta das Ziel, Israel zu vernichten. Nach der Wahl Ehud Baraks zum neuen Ministerpräsidenten Israels im Juni 1999 scheint der Friedensprozeß wieder in Gang zu kommen. Bei einem Treffen mit Arafat sicherte er die Erfüllung des Wye-Abkommens und aller anderen Verträge zu, die sein Vorgänger Netanjahu auf Eis gelegt hatte. Außerdem versprach er, keine neuen jüdischen Siedlungen in besetzten Gebieten mehr zu bauen. Trotz dieser Zusicherungen drängte die PLO im Juli 1999 auf die im Anschluß an die OsloVerträge von 1994 geforderte Proklamation eines palästinensischen Staates. 17.04.69 Husák löst Dubcek als KP-Chef ab Endgültiges Ende des Reformansatzes in der Tschechoslowakei: Gustav Husák löst den bisherigen Chef der tschechoslowakischen KP, Alexander Dubcek, von seinem Amt ab. Staatspräsident Ludvík Svoboda behielt hingegen seinen Posten. Damit war die schrittweise Entmachtung Alexander Dubceks und der anderen Reformer des Prager Frühlings zu einem Abschluß gekommen. Die Versuche Dubceks, sich mit den Invasionstruppen zu arrangieren, um einige Reformen zu retten, waren damit gescheitert. Nach dem zweimaligen Sieg des tschechoslowakischen Teams bei der Eishockeyweltmeisterschaft in Stockholm über die sowjetische Mannschaft war es am 28. und 29. März 1969 in zahlreichen Orten zu antisowjetischen Demonstrationen gekommen. Die Regierung in Prag verurteilte die Vorfälle scharf und setzte die Armee zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein. Diese Bemühungen stellten aber weder die UdSSR noch bestimmte Kreise in der tschechoslowakischen KP zufrieden. Die Vorfälle im Frühjahr 1969 boten der UdSSR den Vorwand, weitere Umbesetzungen in der Prager Führungsspitze zu fordern. 28.04.69 Charles de Gaulle tritt zurück Rücktritt des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle: Der General hatte das Amt seit dem Beginn der Fünften französischen Republik 1958 ausgeübt. Während seiner Amtszeit war de Gaulle zunächst eine Beruhigung der politischen Verhältnisse in Frankreich gelungen. Vor allem der Verzicht auf die Kolonien in Indochina und Afrika hatte dann aber schnell zu heftiger Opposition seitens der von de Gaulle selbst gegründeten konservativen Partei, dem Rassemblement du Peuple Français (R.P.F.), geführt. Auch die Europa- und Verteidigungspolitik des Generals, vor allem der Sonderweg, den er mit dem kostenintensiven Ausbau der französischen Atomstreitmacht eingeschlagen hatte, und die Vernachlässigung der Sozialpolitik stärkte den Widerstand im Parlament weiter. Schon 1963 hatten sich die Mitte-Links-Parteien aus Protest gegen die autoritäre Regierungsweise des Generals zusammengeschlossen. Die in Abwesenheit des Präsidenten von Premierminister Georges Pompidou erfolgreich beendeten Studentenunruhen im Mai 1968 führten nur kurzfristig zu einer Stärkung der Position de Gaulles. Er verknüpfte sein Verbleiben im Amt mit einer Volksabstimmung über seine Pläne zur Dezentralisierung der Administration. Obwohl seine Vorschläge zur Ausdehnung der regionalen Befugnisse von weiten Teilen der Bevölkerung befürwortet wurden, fiel das Referendum am 27. April 1969 mit 52,41 Prozent gegen den Präsidenten 130 VON 300 aus, der daraufhin um 12.00 Uhr mittags des nächsten Tages seinen Rücktritt bekanntgab. Im Juni wurde der entlassene Premierminister Pompidou zu de Gaulles Nachfolger als Staatspräsident gewählt. 16.05.69 Sowjetische Venus-Mission erfolgreich beendet Erfolgreicher Abschluß der sowjetischen Venus-Mission: Die Sonde Venus 5 landet auf dem Nachbarplaneten der Erde. Ehe die Sonde in die Atmosphäre der Venus eintauchte, sprengte sie den Landeapparat samt den Meßgeräten ab. Mit einem Fallschirm landete dieser nach 53 Minuten weich auf dem Planeten. Einen Tag später setzte die Schwestersonde Venus 6 rund 300 Kilometer entfernt auf. Das sowjetische Programm zur Erforschung der Venus lief seit 1965. Die ersten beiden Sonden flogen jedoch an der Venus vorbei, die dritte zerschellte auf dem Planeten. Erst 1967 gelang den sowjetischen Experten mit Venus 4 eine erfolgreiche Landung. Daten über Temperatur, Druck und Zusammensetzung der Atmosphäre konnten erstmals zur Erde gesandt werden. Am 5. Januar 1969 startete dann Venus 5, am 10. Januar 1969 folgte Venus 6. Nunmehr sollten die Messungen an zwei Punkten gleichzeitig durchgeführt werden. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS meldete noch weitere Details über die erfolgreiche Mission aus Moskau: Beide Sonden hatten während ihres 18wöchigen Fluges 350 Millionen Kilometer zurückgelegt. An Bord befanden sich Wimpel mit einem Lenin-Bild und dem Wappen der UdSSR. 15.06.69 Gaullist Pompidou wird Staatspräsident Nach de Gaulles Rücktritt wird der ehemalige französische Premierminister Georges Pompidou zum neuen Präsidenten Frankreichs gewählt. Am Nachmittag des 19. Juni wurde Pompidou durch die Nationalversammlung offiziell zum Präsidenten ernannt und übernahm einen Tag später die Amtsgeschäfte. Die Regierungsmannschaft des amtierenden Premierministers Couve de Murville trat daraufhin geschlossen zurück. Die Politik Pompidous blieb zwar in ihren Grundzügen gaullistisch, brachte aber in einigen Teilbereichen auch unübersehbare Änderungen. Vor allem das Verhältnis zu den USA und Großbritannien wurde maßgeblich verbessert. Die Aufgabe des französischen Vetos gegen den EWG-Beitritt der Briten führte zur Erweiterung der Gemeinschaft auf neun Mitglieder. An dem von de Gaulle eingeschlagenen Sonderweg gegenüber der NATO hielt Pompidou ebenso fest wie an den 1960 begonnenen Atomtests im Südpazifik. Sozialpolitisch wurde das von de Gaulle als Reaktion auf die Studentenunruhen 1968 initiierte Modell der "participation" von Universität und Wirtschaft weiter vorangetrieben, während das Land wirtschaftspolitisch stark in den Sog der Energiekrise geriet. Deflationspolitik und FrancAbwertungen waren die Folge. In der parlamentarischen Opposition stand ab Sommer 1972 ein Mitte-Rechts-Bündnis aus Centre Démocratique und Radikalsozialisten der Union Populaire aus Sozialisten (François Mitterrand) und Kommunisten (Georges Marchais) gegenüber. Nach dem frühen Tod Pompidous im April 1974 wurde Valery Giscard d'Estaing zu seinem Nachfolger gewählt. Mit diesem Regierungswechsel endete definitiv die gaullistische Ära der Fünften Republik. 21.07.69 Griff nach den Sternen Der Amerikaner Neil Armstrong betritt als erster Mensch den Mond. Die halbe Welt fiebert an den Fernsehschirmen mit, als er zusammen mit Edwin Aldrin im "Meer der Ruhe" die USFlagge hißt. 131 VON 300 Amerikas Selbstbewußtsein, arg ramponiert nach dem Sputnik-Schock, war wiederhergestellt. In den Jahren des Kalten Krieges hatten alle Präsidenten die Raumfahrt kräftig unterstützt: Die Mission zum Mond wurde zur absoluten Chefsache erklärt. Der erste Mensch betritt den Mond Neil Armstrong betritt als erster Mensch den Mond. Als der Amerikaner die Mondlandefähre "Eagle" verläßt, spricht er den berühmt gewordenen Satz: "That's one small step for a man, one giant leap for mankind." (Es ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein Sprung für die Menschheit.) Armstrong und sein Begleiter Edward Aldrin hißten im "Meer der Ruhe" die US-Flagge. Bereits nach 21 Stunden und 37 Minuten Aufenthalt, nachdem beide etwa 20 kg Bodenproben genommen hatten, zündeten die Antriebsraketen der Fähre, die beide Astronauten zurück zur "Columbia" brachte. Dort wartete der dritte Astronaut, Michael Collins, der das Mutterschiff steuerte. 600 Millionen Menschen verfolgten weltweit das Spektakel live am Fernseher. Bereits der Start des Raumschiffs "Apollo XI" hatte ungeheure Anteilnahme gefunden. Über eine Million Menschen hatten sich im Raumfahrtzentrum Cape Kennedy eingefunden um den Start am 16. Juli um 14.32 (MEZ) zu beobachten. Die Medien feierten das Ereignis als Sieg des US-Raumfahrtprogrammes. Nachdem die USA lange der UdSSR in der Raumfahrt nachgehinkt waren, konnte US-Präsident Richard Nixon die Führerschaft im Wettlauf verkünden. Die ganze Mission verlief problemlos. Fast alle Regierungen richteten Glückwunschtelegramme an die Astronauten nach der erfolgreichen Landung am 24. Juli. Die gesamte Mission hatte ungefähr 350 Millionen US-Dollar gekostet. 03.08.69 Blutige Straßenschlachten in Nordirland Der seit längerem gärende Haß der katholischen Bevölkerungsminderheit gegen die Protestanten entlädt sich in der irischen Provinz Ulster: Auslöser ist eine Parade der Protestanten in einem katholischen Viertel von Londonderry. Die Unruhen greifen schnell auch auf die nordirische Hauptstadt Belfast und andere Städte über. Die traditionelle Parade durch das Katholikenviertel stellte eine Provokation dar, die schon während der letzten Jahre immer wieder für eine Verschärfung der Situation gesorgt hatte, dieses Mal jedoch eskalierte die Situation. Die britische Regierung Wilson reagierte am 14. August mit der Entsendung von Truppen zur Niederschlagung des Aufstandes. Bis zum 18. August zählte man in Nordirland neun Tote und etwa 750 Verletzte. In Belfast waren 400 Häuser durch Brandanschläge zerstört worden. Der Aufstand von Londonderry bildete jedoch nur den Auftakt für langjährige Unruhen mit Tausenden von Toten. Erst im August 1994 unterzeichneten alle beteiligten Parteien eine Gewaltverzichtserklärung, die aber nur bis zum Februar 1996 hielt. 19.09.69 Präsident Nixon kündigt Truppenabzug an US-Präsident Richard Nixon kündigte in Washington den Abzug von 60.000 US-Soldaten aus Vietnam an. Er schien damit die Friedensversprechungen, die er bei seinem Amtsantritt geleistet hatte, einzulösen. Die Friedensverhandlungen in Paris, die bereits sein Amtsvorgänger Lyndon B. Johnson 1968 eingeleitet hatte, waren jedoch bislang zu keinem Ergebnis gekommen. Die nordvietnamesische Regierung unter Ho Chi Minh und, nach dessen Tod am 3. September, unter Ton Duc Thang, hielt starr an ihrer Grundforderung fest, daß die Militärregierung 132 VON 300 Thiêu in Saigon zurücktreten müsse. Dies lehnten die USA und Südvietnam strikt ab. Ebensowenig gaben beide Verbündete ihre Forderung auf, daß Nordvietnam die Unterstützung für den Vietkong einstellen müsse. Die Ankündigung des Truppenabzugs wurde in den USA durchgängig begrüßt. Nach den schweren Verlusten 1968 bei der Tet-Offensive, während der rund 15.000 US-Soldaten ums Leben kamen, forderten immer mehr Amerikaner eine Beendigung des Krieges. 1969 fielen fast 10.000 US-Soldaten. Zudem lastete der Krieg schwer auf den Staatskassen. Verteidigungsminister Laird hatte bereits im August die Reduzierung der Gesamtsollstärke der US-Streitkräfte um 100.000 Mann für 1970 angekündigt. Im Dezember zog der philippinische Präsident Marcos das 2.200 Mann starke philippinische Bataillon aus Südvietnam ab. Seit dessen Stationierung 1965 hatte die USA dafür rund 30 Millionen Dollar an die Philippinen gezahlt. 21.10.69 Sozialliberale Koalition "Wir wollen mehr Demokratie wagen" - so Willy Brandt nach seiner Wahl zum Bundeskanzler einer SPD/FDP-Koalition. Die CDU/CSU muß nach 20 Jahren auf die Oppositionsbank. Der erste Regierungswechsel in der Geschichte der Bundesrepublik bedeutete keine Veränderung des Systems, doch insbesondere in der Deutschland- und Ostpolitik wurden neue Wege beschritten. Auch in der Bildungspolitik und im Straf- und Eherecht wurden maßgebliche Reformen auf den Weg gebracht. Willy Brandt wird Bundeskanzler Machtwechsel in Bonn: Als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler geht Willy Brandt in die Geschichte der Bundesrepublik ein. Nach kurzen Verhandlungen gaben SPD und FDP die Bildung einer gemeinsamen Bundesregierung unter der Führung Willy Brandts bekannt. FDP-Chef Walter Scheel übernahm das Außenministerium und das Amt des Vizekanzlers. Der "Machtwechsel", der sich schon nach der Bundespräsidentenwahl vom März 1969 angekündigt hatte, war vollzogen. Mit dem Anspruch, "mehr Demokratie (zu) wagen", wollte er ein "Bundeskanzler der inneren Reformen" sein. In Gesprächen mit Journalisten verdeutlichte Brandt, daß er in seinem Amtsantritt mehr sah als nur einen Regierungswechsel. "Ich verstehe mich als Kanzler nicht eines besiegten, sondern eines befreiten Deutschlands. Unsere Partner in der Welt werden es mit einer loyalen, aber nicht immer bequemen Regierung zu tun bekommen." In seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober verdeutlichte Willy Brandt seinen Anspruch vom Machtwechsel und begründete mit Schlagworten wie "wir stehen nicht am Ende der Demokratie, sondern wir fangen erst an" eine Stimmung des Neuanfangs. 13.11.70 Kampf gegen die Elemente Die Unbilden der Natur - Jahr für Jahr stehen weltweit Hunderttausende vor den Trümmern ihrer Existenz. Sie sind Opfer von Naturkatastrophen, die aus heiterem Himmel über sie hereinbrechen, doch oft genug auch vom Menschen selbst mitverursacht werden. Neben Erdbeben sind es vor allem verheerende Überschwemmungen und Brände, denen immer wieder ganze Landstriche zum Opfer fallen. In einigen Regionen haben sich die Menschen an die wiederkehrenden Naturphänomene gewöhnt, doch absolute Sicherheit gibt es an keinem Ort. 19.03.70 Erstes Treffen von Brandt und Stoph 133 VON 300 Der erste gesamtdeutsche Gipfel zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und dem Ministerpräsidenten der DDR, Willi Stoph, in Erfurt hatte vor allem vor dem Hintergrund der Moskauer Gespräche eine große symbolische Bedeutung. Eine riesige Menschenmenge umjubelte den Kanzler bei seiner Ankunft am Bahnhof und demonstrierte damit indirekt ihre Verbundenheit mit Westdeutschland. In einer spontanen Kundgebung vor dem Platz des "Erfurter Hofes", in dem Brandt abgestiegen war, wurde "Willy Brandt ans Fenster, Willy, Willy" gerufen. Der verhaltene Gruß Brandts aus dem Fenster des Hotels wurde für viele zum Symbol der Hoffnung. Nach der Wiedervereinigung 1990 wiederholte Brandt den Besuch in Erfurt - in genau dem gleichen Zugwaggon, mit genau dem gleichen Schaffner, in genau dem gleichen Hotelzimmer. 30.04.70 USA marschieren in Kambodscha ein Mit dem Einmarsch amerikanischer und südvietnamesischer Verbände wird Kambodscha im April 1970 in den Vietnamkrieg hineingezogen. US-Präsident Richard Nixon begründet die Maßnahme damit, daß dem Vietkong die Nachschubwege aus Kambodscha abgeschnitten werden sollen. Nixon geriet jedoch unter heftige Kritik. Entgegen den Versprechungen bei seinem Amtsantritt 1969, den Vietnamkrieg so schnell wie möglich zu beenden, weitete er ihn faktisch aus. Die US-Friedensbewegung, hatte er mit dem Schritt endgültig enttäuscht. Der US-Senat warf ihm vor, die Verfassung zu brechen, da nur per Kongreßbeschluß ein neuer Krieg begonnen werden dürfe. Nixon beschränkte den Einsatz auf 61 Tage und versprach, die US-Truppen nicht weiter als dreißig Kilometer auf kambodschanisches Territorium vorrücken zu lassen. Die Operation erwies sich jedoch als Fehlschlag. Weder gelang es, den Nachschub des Vietkong zu unterbinden, noch konnte dessen logistisches Hauptquartier gefunden werden. Nixon scheiterte auch mit dem Versuch, das rechtsgerichtete Regime des nach dem Sturz von Prinz Norodom Sihanouk an die Macht gekommenen Generals Lon Nol zu stabilisieren. Auch mit umfangreicher US-Hilfe gelang es Lon Nol nicht, sich gegen die kommunistischen Roten Khmer unter Pol Pot zu behaupten. 31.05.70 Schweres Erdbeben erschüttert Peru Ein Erdbeben der Stärke 7,8 auf der Richter-Skala erschüttert die Bergregion des nördlichen Peru. Insgesamt fallen der Katastrophe nahezu 70.000 Menschen zum Opfer, es ist das schwerste Beben dieses Jahrhunderts in Südamerika. Das Epizentrum des Erdbebens lag in der Nähe der Küste und zerstörte einige Dörfer, ohne größeren Schaden anzurichten. Anders jedoch in den dichtbesiedelten Regionen am Fuße der Kordilleren: Allein in der Stadt Huarás inmitten eines landwirtschaftlichen Anbaugebiets starben 10.000 Menschen. Am Berg Huascarán, dem größten Berg Perus, löste das Beben eine Lawine aus Eis und Geröll aus, die sich in das Bergtal ergoß und alles unter sich begrub. Dabei starben 20.000 Menschen. Das Beben zerstörte die Infrastruktur der Andenregion vollkommen, die Überlebenden hatten unter Trinkwassermangel und Seuchen zu leiden. 07.08.70 Waffenstillstand am Suezkanal Mit dem am 7. August 1970 in Kraft getretenen Waffenstillstand endet der sogenannte Abnutzungskrieg zwischen Ägypten und Israel. Kurz nach Beendigung des Sechs-Tage-Krieges im Juni 1967 hatte es an der israelischägyptischen Waffenstillstandslinie am Suezkanal wieder Kämpfe gegeben, die sich im Laufe des Jahres 1969 weiter verschärft hatten. US-Außenminister William Pierce Rogers schlug daraufhin einen dreimonatigen Waffenstillstand am Suezkanal vor, um 134 VON 300 Friedensverhandlungen aufnehmen zu können. Ägypten, Jordanien und – nach einigem Zögern – auch Israel akzeptierten den Plan. Die Annahme des Rogers-Plans brachte Israels Ministerpräsidentin Golda Meir in innenpolitische Schwierigkeiten. Ihre große Koalition zerbrach, sie konnte aber mit einer Rumpf-Regierung weiterarbeiten. Die Waffenruhe, die während der nächsten Monate mehrfach verlängert wurde, nutzten beide Seiten zum Ausbau ihrer Stellungen. Die von der UNO vermittelten Verhandlungen scheiterten, die Chance für einen Nahostfrieden verstrich ungenutzt. Mit dem Angriff Ägyptens auf israelische Stellungen begann im Oktober 1973 der Yom-Kippur-Krieg. 13.11.70 Kampf gegen die Elemente Die Unbilden der Natur - Jahr für Jahr stehen weltweit Hunderttausende vor den Trümmern ihrer Existenz. Sie sind Opfer von Naturkatastrophen, die aus heiterem Himmel über sie hereinbrechen, doch oft genug auch vom Menschen selbst mitverursacht werden. Neben Erdbeben sind es vor allem verheerende Überschwemmungen und Brände, denen immer wieder ganze Landstriche zum Opfer fallen. In einigen Regionen haben sich die Menschen an die wiederkehrenden Naturphänomene gewöhnt, doch absolute Sicherheit gibt es an keinem Ort. Sturmflut fordert wenigstens 300.000 Tote Verheerende Katastrophe in Ost-Pakistan: Die weitestgehend unter dem Meeresspiegel liegende Region (das spätere Bangladesh) wird im November 1970 von einem Zyklon heimgesucht. Durch die anschließend hereinbrechende Sturmflut werden mindestens 300.000 Menschen getötet. Manche Meldungen berichteten sogar von bis zu einer Million Menschen, die infolge der Überschwemmung und der ausbrechenden Seuchen und Hungersnöte ums Leben gekommen sein sollen. Das Mündungsdelta des Ganges in Ost-Pakistan ist eine der fruchtbarsten Gegenden auf dem indischen Subkontinent und daher reich besiedelt. Die Infrastruktur der Region ist hingegen nur sehr schwach ausgebaut. Die Hilfsmaßnahmen gestalteten sich sehr schwierig, da die ohnehin schlechten Straßen meist weggeschwemmt worden waren. Die Region wird seit Jahrzehnten von schweren Überschwemmungen heimgesucht, doch diese Katastrophe war eine der schlimmsten. Kaum hatte sich das Land erholt, begann zudem ein furchtbarer Bürgerkrieg. Unerwartete Hilfe wurde dem Land zuteil, als prominente Musiker ein Benefizkonzert für die Bürgerkriegsflüchtlinge organisierten. 17.11.70 Sowjetisches Mondfahrzeug landet Die unbemannte sowjetische Raumsonde "Luna 17" setzt im November 1970 ein Fahrzeug zur Erkundung der Mondoberfläche ab. "Lunochod 1" (Mondgänger) landet auf dem Erdtrabanten im Gebiet des Mare Imbrium. Über die Nachrichtenagentur TASS sprach die Moskauer Regierung voller Stolz von einen Durchbruch des sowjetischen Programms der unbemannten Raumfahrt. Im Wettlauf zwischen den beiden Supermächten hatte die UdSSR mit dem "Sputnik" zunächst die Nase vorn gehabt. Die USA hatten daraufhin zur Aufholjagd geblasen. Die Landung auf dem Mond am 20. Juli 1969 bildete den bis dahin spektakulärsten Erfolg der Raumfahrt weltweit. Das sowjetische Mondfahrzeug sollte in den kommenden elf Monaten verschiedene physikalische und chemische Untersuchungen des Mondbodens vornehmen. Elektromotoren trieben "Lunochod 1" an, mit Solarzellen wurde sie mit Energie versorgt. Das Gefährt war etwa 2,2 Meter lang, wog 750 Kilogramm und glich in seiner Form einer Suppenschüssel. Ein Expertenteam im sowjetischen Raumfahrtzentrum steuerte jede seiner Bewegungen. Die Zeitverzögerung wegen der großen Entfernung von etwa 1,3 135 VON 300 Sekunden bereitete dabei ebenso Probleme, wie das eingeschränkte Blickfeld der auf dem Fahrzeug installierten Kameras. 07.12.70 Dialog mit dem Osten Brandt in Warschau, Brandt in Erfurt, Brandt auf der Krim - mit dem neuen Bundeskanzler kommt frischer Wind in die Beziehungen der BRD zum Osten. Der Amtsantritt des ersten sozialdemokratischen Kanzlers bedeutete den Beginn einer Normalisierung der Beziehungen zum Ostblock und des allmählichen Abbaus des gegenseitigen Mißtrauens. Brandts symbolischer "Kniefall in Warschau" wurde als glaubwürdige Geste des Bedauerns über das Leid, das Polen im Zweiten Weltkrieg zugefügt wurde, verstanden und öffnete der deutschen Ostpolitik neue Wege. Der Kniefall von Warschau Ein wichtiger Baustein der Ostpolitik bildet die Normalisierung der Beziehungen zu Warschau. Willy Brandt und der polnische Ministerpräsident Josef Cyrankiewicz setzen ihre Unterschrift unter den Warschauer Vertrag. Zu einem Ereignis von historischem Rang wurde Brandts Aufenthalt in Warschau aber vor allem wegen einer anderen Geste des Kanzlers: Bei der Kranzniederlegung vor dem Mahnmal im ehemaligen Warschauer Ghetto kniete der Regierungschef nieder und gedachte der Millionen ermordeten Polen. Brandts Kniefall symbolisierte eindringlich den politisch-moralischen Willen seiner Regierung zu Vergangenheitsbewältigung und Neuanfang. Doch auch die Opposition sprach der Aussöhnung mit Polen einen enorm hohen Rang, nur vergleichbar mit der Frankreichpolitik Adenauers, zu. Die Versöhnung zwischen Polen, das am meisten unter der Vernichtungspolitik des NS-Regimes gelitten hatte, und Deutschland, dessen Ostbevölkerung die brutale Vertreibung aus der Heimat ertragen mußte, war grundlegend für jegliche funktionierende Ostpolitik. Der Vertrag über die Normalisierung der Beziehungen stellte gemeinsam mit dem symbolträchtigen Kniefall einen bedeutenden Anfang dar. 07.02.71 Frauenwahlrecht in der Schweiz eingeführt Beinahe 50 Jahre nach den meisten westlichen Staaten erhalten die Frauen in der Schweiz das Wahlrecht auf nationaler Ebene zugesprochen. In Liechtenstein wurde wenige Tage später das Frauenwahlrecht knapp abgelehnt. Die kleine Alpenrepublik war nunmehr das einzige demokratische Land Europas, in dem die Frauen nicht wählen durften. 1968 hatten die Befürworter des Frauenwahlrechts den Versuch der Berner Regierung, die Menschenrechtskonvention des Europarates (die Schweiz war seit fünf Jahren Mitglied) nur unter Ausklammern des Gleichstellungsartikels zu unterzeichnen, zum Anlaß genommen, das Thema erneut öffentlich zu diskutieren. Im Juli 1970 verabschiedete der Bundesrat schließlich die Gesetzesvorlage zur definitiven Gleichstellung der Frauen, im Februar 1971 trat das Gesetz in Kraft. Auf kantonaler und kommunaler Ebene hingegen war das Frauenwahlrecht in der Schweiz noch nicht landesweit durchgesetzt. Erst 1990 erhielten als letzte auch die Frauen des Halbkantons Appenzell-Hinterrhoden das Wahlrecht auf kommunaler Ebene zugesprochen. Noch im April hatte sich die männliche Bevölkerung gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen, so daß das Bundesgericht ein entsprechendes Urteil erlassen mußte. 03.05.71 Machtwechsel in der DDR In der DDR endet eine Ära: Auf einer Sitzung des Zentralkomitees bittet Walter Ulbricht aus "Altersgründen" um die Entbindung von seiner Funktion als Erster Sekretär der SED. Was nach außen wie der freiwillige Rücktritt eines alten Mannes aussehen sollte, war hinter den Kulissen ein Machtkampf gewesen. Vor allem der "große Bruder" aus Moskau wollte 136 VON 300 dem eigenständigen Kurs der SED nicht länger zusehen. Zum Nachfolger Ulbrichts wurde in gewohnter Einstimmigkeit Erich Honecker gewählt. Der neue Mann heißt Honecker Während der 16. Tagung des ZKs der SED erbittet Walter Ulbricht, aus "Altersgründen" von der Funktion des 1. Sekretärs der SED entbunden zu werden. Seine Rücktrittserklärung, in der er dem Parteigremium Erich Honecker als seinen Nachfolger vorschlug, kam für die Öffentlichkeit sehr überraschend. Trotzdem entsprach das ZK beiden Anträgen in gewohnter Einstimmigkeit. Der Wechsel der SED-Führung von Ulbricht zu Honecker markierte einen Einschnitt in der Geschichte der DDR. Nach der absolut unkritischen Abhängigkeit der SED von der KPdSU in den 40er und 50er Jahren hatte Ulbricht das Gewicht der DDR erkannt und energisch versucht, die eigenen Interessen dieses deutschen Staates wahrzunehmen und selbständig zu vertreten. Vor allem gegen eine Annäherung zwischen Ost und West sträubte sich Ulbricht immer wieder, während sich der Kreml bereits gesprächsbereit zeigte. Diese politischen Selbständigkeitsbestrebungen sowie die ideologischen Sonderansprüche und die neue wirtschaftliche Krise der DDR waren nun genügend Gründe für die Sowjetführung unter Breschnew, auf eine Ablösung Ulbrichts zu drängen. Honecker akzeptierte wieder die Führungsrolle der Sowjetunion und führte die SED in eine enge Anlehnung an den großen Bruder KPdSU. 15.08.71 Weltwährungssystem? Spekulationen setzen dem US-Dollar Anfang der 70er Jahre schwer zu. Da kündigt Präsident Nixon die Umtauschpflicht des Dollars in Gold auf. Die internationale Währungsordnung von Bretton Woods steht vor dem Aus. Das System fester Wechselkurse wurde nun peu à peu aufgegeben - just als die Ölkrise den Westen vor eine große Herausforderung stellte. Das freie "floaten" der Währungen forderte neue Formen der Kooperation und brachte die Europäer auf die Schiene eines gemeinsamen Währungssystems. Das Ende des Systems fester Wechselkurse Der US-Dollar ist Opfer eines bisher ungeahnten Spekulationsdrucks. Präsident Nixon muß handeln: in einer vielbeachteten Fernsehansprache kündigt er die Verpflichtung der USA auf, Dollars jederzeit in Gold einzutauschen. Er läutet damit das Ende der Währungsordnung von Bretton Woods ein. Das Regelwerk fester Wechselkurse zwischen den einzelnen nationalen Währungen mit dem Dollar als Leitwährung - festgelegt auf der Konferenz von Bretton Woods 1944 - hatte zweieinhalb Jahrzehnte lang reibungslos funktioniert. 1971 kollabierte es binnen weniger Monate. Wichtigste Auslöser waren der enorme Druck des Engagements in Vietnam auf die US-Zahlungsbilanz, die Abkehr Washingtons von einer restriktiven Finanzpolitik und der Aufstieg Deutschlands und Japans zu potenten Exportnationen. Im Frühjahr 1971 kippte die Situation, und die Märkte spekulierten in großem Stil auf eine Abwertung des Dollars vor allem gegenüber D-Mark und Yen. Die Aufhebung des Goldstandards durch die USA und die Festsetzung neuer Paritäten konnten die aus der unterschiedlichen Wirtschaftspolitik der großen Industriestaaten resultierenden Probleme jedoch nicht lösen. Alle Versuche der folgenden beiden Jahre, das Wechselkurssystem von Bretton Woods in veränderter Gestalt zu reanimieren, scheiterten. Schließlich waren nahezu alle Länder zu einem freien "Floaten" ihrer Währungen an der Börse übergegangen. Die europäischen Staaten bemühten sich nun allerdings um einen regionalen Währungsverbund, der 1979 in die Errichtung des EWS mündete. 26.08.71 137 VON 300 Studienreform: Bafög und Gesamthochschule Die Ergebnisse der unter der sozialliberalen Koalition ausgearbeiteten Studienreform zeigen sich im Herbst 1971: Im August 1971 wird das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz Bafög, verabschiedet. Ziel dieses Gesetzes war es, die Möglichkeit zum Hochschulstudium weniger vom Einkommen der Eltern abhängig zu machen. Im Rahmen des Bafög konnten Real-, Gymnasial- und Abendschüler sowie Studenten der Fachhochschulen und Hochschulen einen staatlichen Förderbetrag beantragen. Die Höhe des Förderbetrages wurde nach dem Einkommen der Unterhaltspflichtigen des Schülers oder Studenten bemessen. Die Unterstützung sollte dazu dienen, die Hochschulen auch den finanziell Schwachen zu öffnen. In den ersten Jahren wurden die Förderbeträge als nicht rückzahlbare Zuschüsse gewährt, nach Gesetzesänderungen in den Jahren 1983 und 1985 wurden die Zuschüsse in Darlehen umgewandelt. Darüber hinaus kamen auch immer weniger Gruppen in den Genuß der Förderung. Ein weiteres Ziel der Studienreform war eine Vereinigung der unterschiedlich ausgerichteten Universitäten, technischen und pädagogischen Hochschulen und Fachhochschulen zur sogenannten Gesamthochschule. Am 25. Oktober 1971 wurde in Kassel die erste Gesamthochschule eröffnet, viele weitere folgten in den 70er Jahren. 03.09.71 Viermächte-Abkommen unterzeichnet Ein wichtiger Schritt für Berlin. Mit der Unterzeichnung des Vier-Mächte-Abkommens wird der Status West-Berlins neu definiert. Nach langer Verhandlungsdauer setzten schließlich die Botschafter der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs ihre Unterschriften unter das Dokument. Das Abkommen bestätigte die Bindungen der Westsektoren Berlins an die Bundesrepublik. Die Rechte der vier Siegermächte wurden in der bisherigen Form bestätigt. Die Sowjetunion verpflichtete sich, den Transitverkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik durch die DDR ohne Behinderung zu garantieren und zu begünstigen. Mit dieser Bestimmung war nun der DDR das alleinige Verfügungsrecht über den Transitverkehr genommen. Im Gegenzug erlaubte man der Sowjetunion die Einrichtung eines Generalkonsulats in West-Berlin. Der Verlust des Rechts auf die unmittelbare Ausübung der Staatsgewalt über die Westsektoren Berlins bedeutete für die BRD stellte das Abkommen insofern eine Einschränkung dar, als ihr die untersagt wurde. Davon betroffen waren auch Zusammenkünfte der Bundesversammlung, Sitzungen des Bundeskabinetts, des Bundestags und des Bundesrats. 16.09.71 Brandt und Breschnew auf der Krim Brandt und Breschnew auf der Krim. In angenehmer Urlaubsatmosphäre - entspannt und ohne große Konventionen - erörtern die beiden Regierungschefs aktuelle Probleme. Bundeskanzler Willy Brandt hatte die kurzfristige Einladung des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew in einen Vorort von Jalta überraschend angenommen, so daß der Besuch weder diplomatisch vorbereitet worden war noch die Westalliierten zu dem Treffen konsultiert wurden. War der Besuch für die Ostpolitik Brandts sehr förderlich, so verursachte er innenpolitisch in Deutschland einige Verstimmungen. Die Oppositionsparteien CDU/CSU machten dem Bundeskanzler wiederholt den Vorwurf, daß seine ostpolitischen Interessen die westalliierten Belange nicht berücksichtigen würden und er das westliche Entgegenkommen riskieren würde. Der innenpolitische Kampf um die deutsche Ostpolitik gipfelte ein halbes Jahr später in dem von der CDU/CSU gestellten Mißtrauensantrag gegen den Bundeskanzler. 138 VON 300 28.01.72 Der "Radikalenerlaß" Wütende Proteste folgen im aufgeheizten Klima der BRD dem Extremistenerlaß, den die Ministerpräsidenten der Länder und Bundeskanzler Willy Brandt beschlossen haben. Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes sollen nur dann als Bewerber angenommen werden, wenn sie die Gewähr dafür bieten, jederzeit für die freiheitlichdemokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten. Der Extremistenbeschluß hatte – ähnlich wie die Notstandsgesetze in den 60er Jahren – schon im Vorfeld zu heftigen Debatten geführt. Kritiker sprachen vom "Radikalen-Erlaß" und von "Berufsverbot". Der Erlaß richtete sich vor allem gegen die nach dem KPD-Verbot neu gegründete DKP (Deutsche Kommunistische Partei), die die Bundesregierung nicht erneut verbieten wollte, sondern mit der sie eine offene Auseinandersetzung führen wollte. Vor allem wegen der aktiven Ostpolitik hatte die SPD aber das Problem, sich gegen den Vorwurf der Kommunistenfreundlichkeit abzugrenzen. Auch innerhalb der Partei war der Entschluß umstritten. Herbert Wehner sah darin einen ersten Schritt zur Beseitigung der demokratischen Grundordnung. Der Erlaß führe in seinen Augen zu einer "Gesinnungsschnüffelei", die in einem demokratischen Staat nichts zu suchen habe. Später interpretierte die SPD den Beschluß als Maßnahme, um weitergehende Vorhaben durch CDU/CSU und die Innenminister der Länder zu verhindern. 30.01.72 Bloody Sunday Blutsonntag in Londonderry: Die britische Armee beendet einen Protestzug der Katholiken Nordirlands mit Gewalt und übernimmt wenig später die direkte Exekutive über die Provinz. Seit der Teilung der Insel 1921 strebte die katholische Minderheit in Nordirland die Vereinigung mit der Republik Irland an. Die Weigerung Londons, weitere Kompromisse einzugehen, provozierte Ende der sechziger Jahre einen jahrzehntelangen Guerillakrieg der I.R.A. gegen die militärische Präsenz der Briten auf der irischen Insel. "Bloody Sunday" in Londonderry "Blutsonntag" in Londonderry - die Gewalt in Nordirland eskaliert. Nachdem die britische Armee 13 Menschen getötet hat radikalisiert sich der Terror der IRA. Bei den bisher schlimmsten Ausschreitungen in Nordirland wurden am 30. Januar 1972 dreizehn Menschen getötet, als britische Soldaten das Feuer auf Bürgerrechtsdemonstranten eröffneten. Der Protestzug richtete sich gegen die Präsenz der Briten und die nach wie vor anhaltende Diskriminierung der katholischen Minderheit in der autonomen irischen Provinz Ulster, um deren Eingliederung in die überwiegend katholische Republik Irland bereits seit 1921 debattiert und gekämpft wurde. Die Verschärfung des Konflikts, veranlaßte die Regierung in London zunächst zu einer erneuten Verstärkung der Truppen. Nach einer kurzen und heftigen Debatte sah sich Premierminister Heath im März 1972 veranlaßt, den Autonomiestatus für Ulster aufzuheben und Nordirland direkt unter britische Gewalt zu stellen. 21.02.72 Politik der Entspannung Richard Nixon sucht Mao in Peking auf. Der Präsident geht außenpolitisch völlig neue Wege, um Washington wieder Handlungsspielraum in der internationalen Politik zu verschaffen. Nixons Ziel: einen Ausweg aus der festgefahrenen Situation in Vietnam finden und gleichzeitig Kapital aus den belasteten sowjetisch-chinesischen Beziehungen schlagen. Parallel dazu wurden jedoch die Verhandlungen mit Moskau um eine Begrenzung der strategischen Rüstung konstruktiv fortgeführt. 139 VON 300 Nixon besucht die Volksrepublik China Mit Richard Nixons offiziellem Staatsbesuch in Peking kommt erstmals ein westlicher Staats- oder Regierungschef ins kommunistischen China. Es ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer Normalisierung der Beziehungen beider Länder. Mao Tse-tung empfing den Gast noch am gleichen Tag in seiner Privatresidenz in der "Verbotenen Stadt". Der Zwischenfall am Ussuri hatte der chinesischen Führung eindringlich ihre Verletzbarkeit vor Augen geführt. Mit dem IX. Parteitag der KP Chinas im April 1969 begann die Suche nach Verbündeten, um die außenpolitische Isolation zu durchbrechen. Bereits im Sommer 1969 gab es erste Anzeichen für eine Annäherung an die USA. Chou En-lai trat am 17. Juli 1970 erstmals mit der Einladung des amerikanischen Präsidenten an die Öffentlichkeit. Der Sonderbeauftragte Nixons, Henry Kissinger, verhandelte in geheimer Mission in Peking über die genauen Modalitäten und ebnete so den Weg für das Treffen des Jahres 1972. Diese Wendung war ein Schlag für die UdSSR, die nun befürchten mußte eingekesselt zu werden. Ergebnis der intensiven Verhandlungen Nixons mit der chinesischen KPFührung war das Kommuniqué von Shanghai. Beide Parteien bekannten sich darin zum Prinzip der friedlichen Koexistenz und versicherten, alle internationalen Streitfälle ohne Anwendung von Gewalt regeln zu wollen. 30.03.72 Nordirland unter direkter Gewalt der Briten Ab sofort untersteht Ulster direkt der Gewalt der Engländer: Die britische Regierung hat beschlossen, die Autonomie der Provinz aufzuheben. Um eine energischere Beendigung der seit drei Jahren andauernden bürgerkriegsähnlichen Zustände in Nordirland zu erreichen, beschloß das Parlament in London am 30. März 1972, den Autonomiestatus für das nordirische Ulster aufzuheben. Auslöser für diese drastische Maßnahme war die weitere Zuspitzung der Gewalt im Januar desselben Jahres gewesen. Bei den Unruhen am sogenannten "Bloody Sunday" waren im Januar in Londonderry dreizehn Menschen von britischen Soldaten erschossen worden. Die katholische Minderheit empfand die Maßnahme der Regierung Heath als weitere Provokation und Demütigung. Die Folge waren erneute Straßenkämpfe und Attentate, vor allem durch die Kämpfer der verbotenen Untergrundorganisation "Irish Republican Army" (I.R.A.). Offensive Nordvietnams gegen Südvietnam Im März 1972 drangen zum ersten Mal im Vietnamkrieg reguläre nordvietnamesische Streitkräfte auf südvietnamesisches Territorium vor. Trotz massiver US-Bombardements konnte der Vormarsch erst in An Loc, rund 90 Kilometer nördlich von Saigon, gestoppt werden. Am 30. März begann die sogenannte "Osteroffensive" General Giaps (l.): in drei Angriffskeilen rückten nordvietnamesische und Vietkong-Streitkräfte gegen die alte Kaiserstadt Hué und An Loc vor. Zum ersten Mal stellten sich die kommunistischen Streitkräfte einer offenen Feldschlacht. Diese hätte sich der US-Generalstab gewünscht, als noch über 500.000 US-Soldaten in Vietnam standen. Die noch verbliebenen 70.000 Mann Bodentruppen hielt US-Präsident Richard Nixon jetzt aber weitgehend aus den Kämpfen heraus und kündigte noch während der Offensive weitere Truppenabzüge an. Statt dessen attackierten rund 1.000 Bomber und Kampfflugzeuge, die größte US-Luftarmada in diesem Krieg, nordvietnamesische Städte, Häfen, Straßen- und Eisenbahnverbindungen, um den Nachschub zu unterbinden. Gleichzeitig wurden die Häfen vermint. Der Nachschub ins Kampfgebiet konnte jedoch ebensowenig wie die Lieferungen der UdSSR und Chinas nach Nordvietnam zum Erliegen gebracht werden. Bis zur Einnahme An Locs, verlor Nordvietnam rund 100.000 Mann. 27.04.72 Mißtrauensvotum gegen Brandt scheitert 140 VON 300 Am Abend des 24. April 1972 beschließt die CDU/CSU-Fraktion, den Antrag an den Bundestag zu stellen, daß dieser "dem Bundeskanzler Willy Brandt das Mißtrauen ausspricht und als seinen Nachfolger den Abgeordneten Rainer Barzel zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wählt. Der Bundespräsident wird ersucht, Bundeskanzler Willy Brandt zu entlassen." Dieser Mißtrauensantrag, der am 27. April 1972 zur Abstimmung in den Bundestag kam, scheiterte an nur zwei fehlenden Stimmen. Vor allem wegen der Übertritte von drei FDPAbgeordneten zur Opposition hatte sich die CDU/CSU große Chancen für einen Regierungswechsel ausgerechnet, da die Regierungskoalition nun nur noch die knappe Mehrheit von 254:242 Stimmen besaß. Für diesen Antrag stimmten allerdings bei 249 nötigen Ja-Stimmen nur 247 Abgeordnete, 10 stimmten mit Nein und drei Abgeordnete enthielten sich. Die SPD hatte im Vorfeld ihren Parlamentariern empfohlen, nicht an der Wahl teilzunehmen, und auch die FDP hatte beschlossen, nur einen kleinen Kreis aus den Reihen der Fraktion abstimmen zu lassen. So nahmen an der Wahl nur 260 Abgeordnete teil, also nur wenig mehr als die geschlossene CDU/CSU-Fraktion. 26.05.72 Erster Staatsvertrag regelt den Verkehr Der Verkehrsvertrag wird zum ersten Staatsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten. Die Staatssekretäre Egon Bahr und Michael Kohl hatten ihn ausgearbeitet und unterzeichnet. Der Vertrag regelte alle Fragen, die den Verkehr auf der Straße, der Schiene und auf dem Wasser betrafen. Nach wie vor verweigerte die BRD der DDR die staatsrechtliche Anerkennung, daher bedeutete der Vertrag für die DDR eine deutliche Aufwertung und der ostdeutschen Souveränität. Die Bundesregierung sah ihren Erfolg darin, daß nun ein Einvernehmen erzielt werden konnte, den Verkehrsvertrag auch auf West-Berlin anzuwenden. Gegen diese Bestimmung hatte sich die DDR bis zuletzt gewehrt. Konkrete Reiseerleichterungen gewährte die DDR nur in Form einer einseitigen "Information", die mit Inkrafttreten des Vertrages am 17. Oktober wirksam werden sollte: Bekannte und Verwandte durften nun mehrmals im Jahr besucht werden, Reisen in die DDR aus kommerziellen, sportlichen, kulturellen und religiösen Gründen waren möglich und jeder DDR-Bürger konnte bei dringenden Familienangelegenheiten in die BRD reisen. Unterzeichnung der SALT-Verträge Während des Staatsbesuches von US-Präsident Richard Nixon in der UdSSR im Mai 1972 kann die erste Etappe in der Entspannungspolitik zwischen den beiden Weltmächten zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht werden. Nixon und der sowjetische Staats- und Parteichef Breschnew unterzeichneten den SALT-IVertrag über die Begrenzung der strategischen Rüstung. Der Vertragsabschluß war durch die SALT-Runden in Wien und Helsinki, sowie durch die vorangegangenen Abrüstungsund Entspannungsvereinbarungen vorbereitet worden. Im SALT-I-Vertrag verpflichteten sich beide Seiten, die Zahl ihrer ballistischen Raketenabwehrsysteme (ABM) zu begrenzen. Der Vertrag enthielt eine Reihe detaillierter Bestimmungen zu Anzahl und Stationierung von Radaranlagen. ABM-Anlagen durften bis auf feste landgestützte Systeme weder entwickelt noch getestet werden. Außerdem enthielt das Vertragswerk einschneidende Vorgaben, die verhindern sollten, daß die Beschränkungen umgangen wurden. Gleichzeitig schlossen die beiden Supermächte ein zeitlich befristetes Abkommen, das die Zahl der land- und seegestützten Interkontinentalraketen streng begrenzte. Dieses war jedoch von Anfang an von untergeordneter Bedeutung, da es sich nur auf einen Teil der strategischen Offensivwaffen bezog. Weitere Gespräche wurden vereinbart. 18.06.72 BRD wird erstmals Fußball-Europameister 141 VON 300 Im Endspiel der Fußball-Europameisterschaft 1972 besiegt die bundesdeutsche Mannschaft am 18. Juni die Mannschaft der Sowjetunion mit 3:0 und erringt damit erstmals den Titel des Europameisters. Die deutsche Mannschaft mit Spielerpersönlichkeiten wie Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Wolfgang Overath, Paul Breitner, Uli Hoeneß und Gerd Müller hatte bereits im April des Jahres auf sich aufmerksam gemacht, als sie erstmals in der Geschichte des deutschen Fußballs eine englische Nationalmannschaft im Wembley-Stadion, dem Ort der historischen Niederlage von 1966, besiegt hatte. Spätestens seit dem Sieg in der Europameisterschaft zählte die deutsche Mannschaft zu den Favoriten des Weltturniers im Jahre 1974. Die Ausnahmestellung des deutschen Fußballs in diesem Jahr wurde auch bei der Wahl zu "Europas Fußballer des Jahres" deutlich: Auf die ersten beiden Plätze kamen mit Franz Beckenbauer, Kapitän der Nationalmannschaft, sowie Stürmer Gerd Müller gleich zwei Spieler des FC Bayern München, dritter wurde Mittelfeldstratege Günter Netzer von Borussia Mönchengladbach. 11.08.72 Die letzten US-Bodentruppen verlassen Vietnam Die letzte Infanteriekampfeinheit der USA verließ im August 1972 Südvietnam. Damit waren die USA endgültig aus dem Bodenkrieg ausgeschieden. Zwar waren noch rund 40.000 USSoldaten in Vietnam stationiert, doch hatten diese keinen Kampfbefehl, sondern bildeten nur den Schutz von US-Militärbasen. Bereits bei der "Osteroffensive" von März bis Mai 1972 hatten US-Bodentruppen nicht mehr in die Kämpfe eingegriffen. Allerdings unterhielten die USA weiterhin im indochinesischen Raum eine schlagkräftige Flotte und Luftwaffe. Die 7. US-Flotte bestand aus fünf Flugzeugträgern und weiteren 55 Kampfschiffen, auf denen 39.000 Soldaten dienten. Rund 1.000 Flugzeuge waren in Thailand und auf Guam stationiert. US-Präsident Richard Nixon beugte sich mit der Maßnahme dem inneren und äußeren Druck. In den USA hatte der Vietnamkrieg immer schärferen Protest hervorgerufen. Immer wieder demonstrierten Hunderttausende für den Frieden. Ebenso fand Nixon immer weniger Rückhalt bei seinen westlichen Verbündeten. Das wichtigste Kriterium war jedoch die für November anstehende Präsidentschaftswahl. Ein Wahlsieg für Nixon schien aussichtslos, wenn er nicht wenigstens einen Teil seines Versprechens, für einen baldigen Frieden zu sorgen, einlöste, das er bei der Vereidigung zum Präsidenten im Januar 1969 geleistet hatte. Im folgenden September ordnete Südkoreas Staatspräsident Park Chung Hee den Abzug eines Fünftels seiner 50.000 Mann starken Verbände aus Südvietnam an, die das Militärregime von Nguyên Van Thiêu in Saigon stützten. 05.09.72 Internationaler Terrorismus "Heitere Spiele" sollen die Olympischen Spiele von München werden, doch sie gehen als "Olympiade des Terrors" in die Geschichte ein. Arabische Freischärler nutzen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für ein entsetzliches Massaker an Israelis. Mit dem Jahr 1972 erreichte der seit einigen Jahren anhaltende Terror palästinensischer Organisationen seinen vorläufigen Höhepunkt. Doch auch die kommenden Jahrzehnte waren auf der ganzen Welt immer wieder von Anschlägen international agierender Terrorgruppen überschattet. Überfall auf Olympisches Dorf in München 1972 erreicht der seit einigen Jahren anhaltende Terror palästinensischer Organisationen seinen vorläufigen Höhepunkt. In den frühen Morgenstunden des 5. September überfallen arabische Freischärler der Gruppe "Schwarzer September" das Quartier der israelischen Olympiamannschaft in München. 142 VON 300 Um ihren Forderungen nach Freilassung arabischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen Nachdruck zu verleihen, wurden zwei Sportler sofort erschossen und die übrige Mannschaft als Geiseln genommen. In einer von Bundesminister HansDietrich Genscher geführten Delegation versuchte die Regierung mit den Freischärlern zu verhandeln, nachdem Israel die Forderung der Geiselnehmer abgelehnt hatte. Man stellte daraufhin den arabischen Terroristen einen Hubschrauber auf dem Militärflughafen in Fürstenfeldbruck zur Verfügung. Als diese am Abend des selben Tages den Hubschrauber betraten, eröffneten Scharfschützen der Polizei das Feuer auf die Freischärler und versuchten, den Hubschrauber zu stürmen. Bei dem Schußwechsel starben fünf der Terroristen, ein Polizist und alle neun israelischen Geiseln. Nach einer großen Trauerfeier wurden die Olympischen Spiele auf Beschluß des IOC fortgesetzt. 21.12.72 Unterzeichnung des Grundlagenvertrags Ein großer Erfolg für die Ostpolitik Brandts: Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander ist erstmals vertraglich geregelt. Der "Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" markiert einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung. Vor allem die DDR feierte die endlich erreichte internationale Gleichberechtigung als Erfolg. Die Vertragspartner verpflichteten sich zum Aufbau gutnachbarlicher Beziehungen. Unter Achtung der Prinzipien der UN-Charta sollte künftig auf Gewaltanwendung und Gewaltandrohung verzichtet werden. Die Achtung der territorialen Integrität des Anderen wurde durch den Grundlagenvertrag ausdrücklich bekräftigt. Die rechtliche Souveränitätsbeschränkung für Deutschland als Ganzes bestand allerdings fort. Sowohl in der Präambel des Vertrages wie auch im "Brief zur deutschen Einheit" wurde sichergestellt, daß die nationale Frage auch nach diesem Abkommen nicht geregelt war. In dieser Hinsicht befriedigte der Vertrag die außenpolitischen Interessen der DDR kaum. 01.01.73 Europa der Neun Die "EG der Sechs" bekommt Zuwachs: Großbritannien, Irland und Dänemark treten der Europäischen Gemeinschaft bei. Die Entwicklung hin zu einem Vereinten Europa ist nicht aufzuhalten. Die Verhandlungen mit Großbritannien waren jahrelang an der starren Haltung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten de Gaulle gescheitert. Erst nach dem Machtwechsel in Frankreich im Mai 1970 konnten ernsthafte Verhandlungen um eine EGErweiterung beginnen. Der anvisierte Beitritt Norwegens scheiterte dagegen an einem Volksentscheid. EG der Neun tritt in Kraft Großbritannien, Irland und Dänemark treten der Europäischen Gemeinschaft bei. Die aus den Benelux-Staaten, der BRD, Frankreich und Italien bestehende Gemeinschaft erweitert sich damit nach langwierigen Verhandlungen auf nunmehr neun Mitglieder. Vor allem Frankreich hatte lange Widerstand gegen die Aufnahme Großbritanniens geleistet. Erst am 21. Mai 1971 einigten sich Präsident Georges Pompidou und der britische Premierminister Edward Heath weitgehend auf die Modalitäten zum Beitritt der Insel, am 23. Juni wurden auf einer Konferenz in Luxemburg alle noch offenen Grundsatzfragen geklärt. Am 22. Januar 1972 unterschrieben Großbritannien, Dänemark, Irland und Norwegen den Beitrittsvertrag zur Gemeinschaft der Zehn. Der norwegische Beitritt war allerdings an einen Volksentscheid gebunden. Dieser fiel am 26. September 1972 jedoch negativ aus, so daß der norwegische Beitritt wieder rückgängig gemacht 143 VON 300 werden mußte. Die norwegische Regierung trat daraufhin zurück. Doch auch in den nächsten Jahren suchten norwegische Politiker immer wieder den Anschluß an die supranationalen europäischen Organisationen. 07.06.73 Brandt auf Staatsbesuch in Israel Seit Kriegsende hat noch kein deutscher Kanzler Israel offiziell besucht. So ist es eine kleine Sensation als Bundeskanzler Willy Brandt 1973 nach Israel zu Golda Meir reist. Brandt und die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir beschlossen während dieses Staatsbesuchs die Ausweitung deutscher Investitionen in Israel. Brandt betonte bei dieser Gelegenheit, daß er sich der Problematik der deutsch-israelischen Beziehungen bewußt sei und daß eine Zusammenarbeit durch den historischen und moralischen Hintergrund des Nationalsozialismus geprägt sein werde. Umgekehrt sicherte ihm Meir zu, daß Israel nicht die Greueltaten der Väter den Kindern anlasten wollte und nahm die Einladung zu einem Gegenbesuch an, um die Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu verbessern. Der Staatsbesuch Willy Brandts in Israel war im Prozeß der deutsch-jüdischen Aussöhnung ein bewegendes Ereignis. Vor dem Hintergrund der aktiven Ostpolitik der Bundesregierung mochte stellenweise der Anschein entstehen, daß sich die BRD aus der NahostProblematik heraushielt. Zwar hatte die Bundesregierung ihre diplomatischen Beziehungen zu den meisten arabischen Staaten wiederaufgenommen, doch erst eine ausgewogene Besuchsdiplomatie konnte das bundesdeutsche Interesse am Nahen Osten augenscheinlich bekräftigen. 17.07.73 UMWELT: Quecksilber in Nahrungsmitteln Fischer erzwingen mit einer Seeblockade in der Minimata-Bucht auf Kyushu die Schliessung eines Chemiewerks. Zuvor war es in Japan zu einem drastischen Anstieg der Erkrankungen des Zentralnervensystems gekommen, mehrere hundert Japaner waren bereits an den Folgen dieser Störungen gestorben. Das Unternehmen hatte jahrelang stark quecksilberhaltige Abwässer ins Meer geleitet. Über gefangene Schellfische war das Gift in den Blutkreislauf der Menschen gelangt und hatte die Vergiftungen ausgelöst, die Störungen des Nervensystems auslösten und schließlich zum Tod führten. Schon während der 60er Jahre waren mindestens 41 Menschen aus dem Raum Minimata an quecksilber-vergiftetem Fisch gestorben. Die sogenannte "Minimata-Krankheit", die bereits seit 1956 als einheitliches Symptom bekannt war, gilt als die erste Krankheit, deren Ursprung in der Verseuchung von Meerwasser liegt. Der Quecksilber-Skandal in Japan trug weltweit eminent zur Bewußtseinsbildung der Öffentlichkeit für Umweltgefahren bei. Einflüsse durch industrielle Schadstoffe und geänderte Lebensgewohnheiten der Menschen gelten inzwischen als die Hauptgründe für neuartige Krankheiten wie etwa die Legionärskrankheit, die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Menschen hochschreckte. 11.09.73 Militärputsch in Chile Mit heimlicher Unterstützung des amerikanischen Geheimdienstes CIA setzt ein blutiger Militärputsch in Chile der Regierung des Sozialisten Salvador Allende ein Ende. An die Stelle des chilenischen Modells des Sozialismus trat eine Militärjunta unter General Augusto Pinochet Ugarte. Jegliche Opposition wurde blutig unterdrückt. Das Beispiel machte Schule: Während in Europa die letzten Diktaturen verschwanden, fiel 1977 auch Argentinien unter die Herrschaft einer kleinen Clique erzreaktionärer Generäle. 144 VON 300 Putsch beendet chilenische Demokratie Ein blutiger Militärputsch beendet die Regierung des demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende in Chile. Der erste frei gewählte marxistische Staatschef der Welt wird von Soldaten der Junta erschossen, die in den Präsidentenpalast La Moneda eingedrungen sind. Mit seinem Tod war auch das chilenische Modell des Sozialismus am Ende, das von vielen als Modell des demokratischen Sozialismus schlechthin betrachtet wurde. Eine Militärjunta unter General Augusto Pinochet Ugarte übernahm die Macht. Nach dem Putsch löste die Militärjunta den Kongreß auf und verbot die marxistischen und alle bürgerlichen Parteien. Nachdem die Pressezensur verhängt worden war, begann eine beispiellose Verfolgung politischer Gegner. Mehr als 5.000 Tote waren nach dem Putsch zu beklagen, unzählige Oppositionelle blieben verschwunden. Die neuen Machthaber festigten ihr Regime durch Terror und Folter, ließen unliebsame Literatur auf den Straßen verbrennen und setzten Kopfgelder auf Allende-Anhänger aus. Das Nationalstadion in Santiago wurde für mehrere Wochen zum Gefangenen- und Folterlager, in dem auch Prominente, wie etwa der populäre Sänger Victor Jara, ermordet wurden. Der Ausnahmezustand blieb noch lange Zeit bestehen. 06.10.73 Yom-Kippur-Krieg Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens gegen Israel am jüdischen Versöhnungsfest Yom-Kippur: Ägyptische Truppen stoßen auf der Sinai-Halbinsel, syrische Truppen auf den Golanhöhen vor. Beide Gebiete hatte Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzt. Erst nach einigen Tagen gelang es israelischen Truppen, die Angriffe zu stoppen. Der spätere Verteidigungsminister, General Ariel Scharon, drang dann aber über den Suezkanal weit in ägyptisches Gebiet vor. Im Norden rückten israelische Truppen auf syrisches Gebiet ein. Da die USA Israel, die UdSSR Ägypten und Syrien unterstützten, drohte sich der Konflikt international auszuweiten. Die arabischen Ölförderstaaten verhängten gegen israelfreundliche Länder ein Ölembargo und beschlossen Preiserhöhungen. Ende Oktober 1973 ermöglichte die Vermittlung des amerikanischen Außenministers Henry Kissinger einen Waffenstillstand. Am 11. November 1973 begannen israelisch-ägyptische Gespräche. Dabei wurde vereinbart, daß Ägypten wieder beide Seiten des Suezkanals kontrollieren soll. 1975 wurde der Kanal wiedereröffnet. Für die arabischen Staaten war dies der erste erfolgreiche Angriff gegen Israel überhaupt. Die hohen Verluste in den eigenen Reihen und die unvorbereitete Verteidigung führten in Israel zu heftigen Diskussionen. In der Folge mußten Ministerpräsidentin Golda Meir (l.), Außenminister Abba Eban und Verteidigungsminister Moshe Dayan zurücktreten. 17.10.73 Ölkrise erfaßt die Welt Die arabische Welt entdeckt ihre stärkste Waffe im Kampf gegen Israel: Da der Terror der PLO bislang keine Erfolge zeitigte, stürzt sie den Westen durch drastisch erhöhte Rohölpreise in eine Wirtschaftskrise. 145 VON 300 Den Anlaß lieferten neue Kämpfe im Nahen Osten nach einem arabischen Überraschungsangriff auf Israel. Als Reaktion auf die Unterstützung westlicher Staaten für Israel drosselte die OPEC die Ölproduktion und verhängte einen Boykott. Ein Frieden für die Krisenregion rückte in weite Zukunft. OPEC zückt die "Ölwaffe" Ende Oktober 1973 erleben viele Staaten der Welt eine dramatische Energiekrise. Die wichtigsten arabischen erdölproduzierenden Staaten hatten ihre Fördermengen um 25 Prozent gedrosselt. Besonders betroffen sind die Industrienationen in Europa und Nordamerika. Die Lieferungen an die USA und den größten europäischen Hafen, Rotterdam, wurden völlig eingestellt. Die Öllieferungen sollten nun monatlich um weitere fünf Prozent gesenkt werden. Ziel war es, die USA und einige europäische Staaten zur Aufgabe der Unterstützung Israels im Yom-Kippur-Krieg zu zwingen. Der Exportstopp hatte drastische Sparmaßnahmen in den betroffenen Ländern zur Folge. US-Präsident Richard Nixon verfügte ein Tempolimit, limitierte Treibstoff für Fluggesellschaften und verbot die Umstellung von Kohle auf Ölfeuerungen in Betrieben. In Europa wurden Sonntagsfahrverbote verhängt, an manchen Tankstellen wurde Benzin knapp, es kam zu Hamsterkäufen und langen Warteschlangen. Erst als der Irak am 18. November das Lieferembargo durchbrach, entspannte sich die Lage wieder etwas. Die arabischen Staaten kündigten jedoch an, auch weiterhin von der Erdölwaffe Gebrauch zu machen, falls die westliche Unterstützung für Israel im bisherigen Umfang fortgesetzt würde. Insgesamt war der Ölpreis weltweit um etwa 400 Prozent gestiegen. 04.11.73 Fahrverbot für Autos verhängt Ein völlig ungewohntes Bild: Europas Autobahnen, Verbindungsadern der modernen Volkswirtschaften, sind völlig verwaist. Die "Ölwaffe" hatte Wirkung gezeigt. Als erstes Land verhängten die Niederlande am 4. November 1973 ein Fahrverbot für Autos. Die Regierung den Uyl (l.) in Den Haag reagierte mit dieser Maßnahme auf den Boykott der erdölexportierenden Länder im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Israel. Die arabischen Mitgliedsstaaten der OPEC (OAPEC-Staaten) hatten Mitte Oktober die Rohölproduktion um fünf Prozent gedrosselt und weitere Kürzungen für den Fall angekündigt, daß Israel die besetzten Gebiete in Jordanien und Ägypten nicht wieder räumt. Europas größte Ölraffinerie in Rotterdam wurde vollständig boykottiert. Innerhalb weniger Monate stieg somit der Preis für eine Tonne Erdöl von 82,20 Mark auf 223,87 Mark. Der bundesdeutsche Verkehrsminister Lauritz Lauritzen daher schon am 25. November 1973 erstmals ein totales Fahrverbot. Auch an zwei weiteren Sonntagen im Dezember mußten die Bundesbürger auf Autofahrten verzichten. Bis auf einige wenige Ausnahmen wurden die Fahrverbote überall befolgt. Viele Bürger nutzten die Gelegenheiten zu vorweihnachtlichen Sonntagsspaziergängen auf den leeren Autobahnen. 28.02.74 Edward Heath stürzt über Wirtschaftskrise Aus den Wahlen zum britischen Unterhaus geht die Labour-Partei als stärkste Kraft hervor. Die Bevölkerung reagierte mit ihrem Votum auf die katastrophale wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Großbritannien steht nach Internationaler Energiekrise und Bergarbeiterstreiks am Rand des Kollaps. Die Arbeiterpartei verfehlte bei den Wahlen allerdings die absolute Mehrheit. Der amtierende Premierminster Edward Heath (l.) versuchte noch, eine Koalitionsregierung mit den Liberalen zu bilden. Als diese das Ansinnen der Konservativen ablehnten, trat Heath 146 VON 300 von seinem Amt zurück. Der Führer der Labour-Partei, Harold Wilson bildete daraufhin eine Minderheitsregierung. Eine seiner ersten Amtshandlungen waren weitreichende Zusagen an die immer noch streikenden Bergleute, die daraufhin den Streik beendeten und die Arbeit wiederaufnahmen. Die Dreitagewoche wurde wieder aufgehoben. Die wirtschaftlichen Folgen des Ausstandes blieben jedoch noch lange Zeit spürbar. 03.03.74 Konstruktionsfehler verursacht Flugzeugabsturz Ein seit längerem bekannter Konstruktionsfehler an den Maschinen vom Typ DC-10 verursacht ein verheerendes Unglück. 346 Menschen sterben beim Absturz einer türkischen Maschine auf dem Flug von Istanbul über Paris nach London. Kurz nach dem Start in Paris versagte die Verriegelung der Frachtraumtür. Die Tür öffnete sich, und der nun entstehende Druckverlust riß ein Loch in die Kabine und zerstörte wichtige Leitungen. Die Maschine stürzte brennend in ein Waldgebiet nördlich von Paris, sämtliche Insassen kamen ums Leben. Obwohl dies nicht das erste Unglück einer Maschine des Flugzeugherstellers Douglas war, wurden die DC-10-Maschinen erst fünf Jahre später, nachdem ein Wartungsfehler zu einem erneuten Absturz in Chicago geführt hatte, aus dem Verkehr genommen. Der Konstruktionsfehler der Großraum-Passagiermaschine hatte bereits im Juni 1972 fast zu einem Absturz geführt. Als Ursache war damals ein serieller Fehler am Verriegelungssystem erkannt worden. Trotzdem wurde der Mangel nicht bei allen Maschinen sofort behoben, so auch an der nun verunglückten türkischen Maschine. 24.04.74 Späher, Spitzel und Spione Die Enttarnung des persönlichen Referenten von Willy Brandt, Günter Guillaume, als DDRSpion bedeutet das Ende der Regierungszeit des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik. Seit jeher wurden Agenten in die Reihen des Feindes eingeschleust. Sie meldeten frühzeitig Angriffspläne, schmuggelten militärische Hochtechnologie außer Landes oder streuten gezielt Desinformationen. Manche konnten sich vor ihrer Enttarnung absetzen, nicht wenige bezahlten für ihre Dienste mit dem Leben. Kanzleramtsspion enttarnt Günter Guillaume, persönlicher Referent von Bundeskanzler Willy Brandt, und seine Frau Christel, Verwaltungsangestellte beim hessischen Landesbevollmächtigten, werden unter Spionageverdacht verhaftet. Die Enttarnung eines ostdeutschen Spions im Kanzleramt entwickelt sich zum Skandal. Seit 1972 hatte Guillaume auch Zugang zu geheimem Material. Bei seiner Verhaftung gab er an, "Staatsbürger der DDR und ihr Offizier" zu sein, im Verhör gestand er, hauptberuflicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit zu sein. Nach seiner angeblichen Flucht 1956 habe er über Funk, "tote Briefkästen" und Kontaktpersonen Material übermittelt. Seit 1970 gehörte er dem Bundeskanzleramt an, obwohl der Verfassungsschutz Bedenken wegen seiner linksagitatorischen Tätigkeiten in der DDR geäußert hatte. Karl Carstens, Vorsitzender der CDU/CSUBundestagsfraktion forderte die Bundesregierung auf, die bisherige Praxis, Spione auszutauschen, einzustellen, da ansonsten das Risiko für enttarnte Spione "gleich Null" sei. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (li.) erklärte daraufhin, daß nicht jeder Agent ausgetauscht würde, er aber im übrigen eine Veränderung jener Praxis anstrebe. 25.04.74 Europas letzte Diktaturen 147 VON 300 Portugals Streitkräfte räumen mit der jahrzehntealten rechten Diktatur auf: Die Soldaten stecken sich Nelken an die Gewehre, das Volk bejubelt die in Lissabon aufgefahrenen Panzer. Die ganze Halbinsel wandte sich nun Europa zu: Der Tod des greisen Faschisten Francisco Franco machte im folgenden Jahr auch Spanien den Weg frei für die Rückkehr in die Völkergemeinschaft. Und auch in Griechenland kündigte sich das Ende der Militärherrschaft an. Militärputsch in Portugal beendet Diktatur "Revolution der Nelken": Oppositionelle Offiziere besetzen unter dem Jubel der Bevölkerung Lissabon und stürzten die Regierung Marcelo Caetano. Durch den weitgehend unblutig verlaufenden Putsch endet nach 41 Jahren die Diktatur in Portugal. Der ehemalige Vize-Generalstabschef António de Spínola wurde Vorsitzender der Militärjunta, die sich für eine Demokratisierung aussprach. Die regierungstreuen Truppen hatten kaum Widerstand geleistet. Die Junta löste die Nationalversammlung auf, setzte Staatspräsident Américo Tomás ab und entließ politische Häftlinge. Im Mai 1974 wurde ein ziviler Ministerpräsident eingesetzt und die Verfassung schrittweise demokratisiert. Parteien und Gewerkschaften wurden wieder zugelassen, nachdem während der Diktatur faktisch nur die Staatspartei existierte. Die Junta sprach sich darüber hinaus für die Unabhängigkeit der Kolonien aus, die im August desselben Jahres eingelöst wurde. Im Februar hatte Spínola ein Buch mit dem Titel "Portugal und die Zukunft" veröffentlicht, in dem er die Kolonialpolitik der Regierung kritisierte, die mit blutigen Kriegen die überseeischen Besitzungen zu halten versuchte. Dafür hatte er im März seinen Abschied nehmen müssen, was Unruhen in verschiedenen Kasernen auslöste. Der Reformprozeß geriet jedoch seitens der Bevölkerung unter Druck. Die neugebildeten Gruppierungen rivalisierten mit ihren Ideen und Konzepten: Es kam zu häufigen Demonstrationen und Unruhen. Der Demokratisierungsprozeß indes ließ sich nicht mehr umkehren. Zum ersten Jahrestag des Militärputsches fanden 1975 die ersten freien Wahlen statt. Erstmals durfte auch die weibliche Bevölkerung teilnehmen. 06.05.74 Bundeskanzler Brandt tritt zurück Nach der Enttarnung seines persönlichen Referenten Günter Guillaume als DDR-Spion zieht Bundeskanzler Willy Brandt die Konsequenzen und tritt von seinem Amt zurück. In einem Schreiben an Bundespräsident Gustav Heinemann erklärte Brandt: "Ich übernehme die politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume". Bereits zuvor hatte er sich im Bundestag dazu geäußert und erklärt, daß er "... menschlich tief enttäuscht über den SED-Staat ..." sei. Die SPD , deren Vorsitz Brandt auch weiterhin innehatte, nominierte den bisherigen Finanzminister Helmut Schmidt zu seinem Nachfolger, der zehn Tage später vom Bundestag zum Kanzler gewählt wurde. Der Rücktritt Brandts bedeutete das Ende einer Ära. Als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte er durch seine Entspannungspolitik zur Überwindung des Kalten Krieges in Europa beigetragen. Innenpolitisch leitete er unter dem Slogan "Mehr Demokratie wagen" eine Erneuerung der deutschen Politik ein. 16.05.74 Schmidt wird Bundeskanzler Am 16. Mai 1974 wählt der deutsche Bundestag mit 267 gegen 225 Stimmen den bisherigen Finanzminister Helmut Schmidt zum neuen Bundeskanzler, nachdem Willy Brandt zehn Tage zuvor im Zusammenhang mit der Guillaume-Affäre zurückgetreten war. 148 VON 300 In seiner Regierungserklärung versicherte Schmidt, daß er die 1969 eingeschlagene Politik fortsetzen wolle: "Kontinuität und Konzentration – das sind die Leitworte der neuen Regierung". Er dankte seinem Amtsvorgänger Brandt für seine Arbeit und würdigte ihn als Mann, dessen Engagement in der Ostpolitik die Welt einen großen Schritt dem Frieden näher gebracht hatte. Willy Brandt hatte am 6. Mai 1974 Bundespräsident Gustav Heinemann um seine Demission gebeten. Er übernahm damit die politische Verantwortung für die GuillaumeAffäre, die hohe Wellen in der Boulevardpresse geschlagen hatte. Vor allem die öffentlichen Spekulationen über sein Privatleben verbitterten den Kanzler sehr. So wurde behauptet, daß Guillaume Brandt "Mädchen zugeführt" habe, da durch ihn vermittelte Besuche weiblicher Journalisten in der Regel länger als die ihrer männlichen Kollegen gedauert hätten. Noch am 7. Mai hatte Helmut Schmidt versucht, die Amtsniederlegung zu verhindern, indem er erklärte, daß der Skandal den Rücktritt nicht bedinge. Auf Brandts Vorschlag wurde Schmidt als Kanzlerkandidat aufgestellt. 18.05.74 Indien wird sechste Atommacht Auch Indien wird Atommacht - obwohl es 1964 ausdrücklich den Verzicht ausgesprochen hatte, ein eigenes Atomwaffenpotential aufzubauen. Es hagelt wütende internationale Proteste, vor allem von Kanada, das Indien mit Atommaterial für seine Kernkraftwerke beliefert hatte. Am 18. Mai 1974 wurde in der Wüstenregion Rajasthans die erste indische Atombombe gezündet. Das dabei verwendete Plutonium war in Indien selbst produziert worden. Die Sprengkraft der Bombe lag bei 10.000 bis 15.000 Tonnen Dynamit. Premierministerin Indira Gandhi erklärte jedoch nach dem Versuch, daß Indien sich auch weiterhin der rein friedlichen Nutzung der Kernkraft verpflichtet fühle. Der Atomwaffenversuch beschwor harsche internationale Proteste herauf: Kanada stoppte die weitere Lieferung von Ausrüstungsmaterial für indische Kernkraftwerke. Pakistan hob am 9. Juni 1974 seinen Militärhaushalt von umgerechnet 1,1 auf 1,4 Milliarden DM an. Premierministerin Gandhi wurde kritisiert, die weltweiten Abrüstungsverhandlungen zu erschweren und von innenpolitischen Problemen ablenken zu wollen. Im Februar desselben Jahres waren in der Provinz Gujarat die Lebensmittel knapp geworden und seit dem 8. Mai befanden sich die Eisenbahner im Ausstand. Indira Gandhi erklärte dagegen, daß Indien nur durch technologischen Fortschritt aus seiner wirtschaftlichen Misere herauskommen könnte. 07.07.74 BRD wird zum zweiten Mal Fußballweltmeister Zum zweiten Mal nach 1954 wird die bundesdeutsche Nationalelf Fußballweltmeister. Sie bezwingt die Niederländer in München mit einem 2:1. Die deutschen Tore schossen Paul Breitner (Foulelfmeter) in der 25. und Gerd Müller in der 43. Minute der ersten Halbzeit. Bereits in der dritten Minute hatte der Holländer Johan Neeskens seine Mannschaft in Führung gebracht. Zuvor hatte Uli Hoeneß gegen den durchgestarteten holländischen Kapitän Johan Cruyff an der Strafraumgrenze die "Notbremse" gezogen und einen Strafstoß provoziert. In der zweiten Halbzeit erlebten die Zuschauer das vergebliche Bemühen der niederländischen Mannschaft, noch den Ausgleich zu erreichen. Die deutsche Mannschaft war insbesondere nach den Erfolgen bei der Europameisterschaft 1972 als Favorit in die Weltmeisterschaft im eigenen Lande gegangen. In der Vorrunde hatte es allerdings einen Dämpfer gegeben, als die bundesdeutsche Elf im einzigen Länderspiel gegen die Auswahl der DDR mit 0:1 unterlag. 20.07.74 NATO-Partner im Krieg 149 VON 300 Zypern bleibt auch nach der Unabhängigkeit ein ständiger Unruheherd. Im Juli 1974 droht die Lage mit dem Sturz von Präsident Makarios und der Invasion türkischer Truppenverbände auf die Insel zu eskalieren. Die griechische Militärjunta in Athen hatte den Anschluß Zyperns ans Mutterland im Visier. Als die Türkei zum Schutz der türkischen Minderheit eingriff, kam es zur direkten militärischen Konfrontation. Fazit: Zypern blieb an der Waffenstillstandslinie geteilt. Militärischer Konflikt zwischen NATO-Partnern Die Türkei beantwortet den griechisch-nationalen Putsch auf Zypern mit einer militärischen Invasion auf der Insel. Die Türkei beschuldigt die griechische Militärregierung von Adamantros Androstopoulos, den Putsch inszeniert zu haben, um Zypern an Griechenland anzuschließen. Frühmorgens begannen türkische Kriegsschiffe, den zypriotischen Hafen Kyrenia zu beschießen. Kurz darauf landeten 2.000 Fallschirmjäger bei Nikosia. Es kam zu heftigen Feuergefechten mit der rund 15.000 Mann starken griechisch-zypriotischen Nationalgarde, während die türkische Luftwaffe Nikosia bombardierte. Griechenlands Präsident Phaidon Gisikis ordnete die Generalmobilmachung an. Am 21. Juli kam es vor der zypriotischen Hafenstadt Paphos zu einem Gefecht zwischen türkischer und griechischer Marine, wobei drei griechische Schnellboote versenkt und ein türkisches Kriegsschiff beschädigt wurden. Bülent Ecevit (u.l.) rechtfertigte die Invasion als Maßnahme zum Schutz der türkischen Minderheit auf Zypern - ungefähr 114.000 Menschen gegenüber 512.000 Griechen. Nach intensiven Bemühungen von US-Außenminister Henry Kissinger und einer britischen Intervention, vereinbarten Griechenland und die Türkei am 22. Juli einen Waffenstillstand. Dennoch dauerten die Kämpfe zwischen dem türkischen Invasionscorps und der Nationalgarde an. Einen Tag nach dem Waffenstillstand trat die schwer angeschlagene griechische Junta unter Androstopoulos zugunsten einer zivilen Regierung unter Konstandinos Karamanlís zurück. Makarios III. kehrte im Dezember 1974 unter dem Schutz der UN-Friedenstruppe nach Zypern zurück. 24.07.74 Griechisches Militärregime gestürzt Der fehlgeschlagene Anschlußversuch Zyperns beendet die siebenjährige Militärdiktatur in Griechenland. Staatspräsident General Phaidon Gisikis erklärt den "Wunsch der Militärs", wieder eine zivile Regierung einzusetzen. Die Militärregierung unter Ministerpräsident Adamantros Androstopoulos hatte jedes Ansehen verloren, als sie neun Tage zuvor versucht hatte, eine von Athen abhängige Regierung auf Zypern einzusetzen. Es kam zum bewaffneten Konflikt mit der Türkei: Ein Krieg drohte, den Griechenland nicht gewinnen konnte. Gisikis berief den ehemaligen Premier Konstandinos Karamanlís (l.) aus dem Exil zurück und betraute ihn mit der Regierungsbildung. Nach der Vereidigung begann er tatkräftig mit der Wiederherstellung der Demokratie: Fast alle politischen Häftlinge wurden entlassen und rehabilitiert, die Grenzen geöffnet und alle Exilanten gebeten, zurückzukehren. Karamanlís kündigte ein Referendum über die zukünftige Staatsform an und setzte die demokratische Verfassung von 1952 wieder in Kraft. Wie ein Befreier war Karamanlís bei seiner Rückkehr in Athen begrüßt worden. In den vergangenen sieben Jahren hatten die Militärs mit brutalen Unterdrückungsmethoden geherrscht: Tausende politisch Andersdenkende waren interniert und gefoltert worden oder geflohen. Auch in die Privatsphäre hatten sich die Militärmachthaber eingemischt, so war es z.B. ein strafwürdiges Delikt, wenn Mädchen Hosen trugen. Die neue Zivilregierung mußte jedoch auch das Vertrauen des Auslands wiedergewinnen. Der staatliche Terror hatte das Land international isoliert. 08.08.74 Watergate 150 VON 300 Nixons Mitwisserschaft am Einbruch in das Hauptquartier der Demokratischen Partei ist nicht mehr von der Hand zu weisen. Mit versteinerter Miene teilt er dem Volk seine Demission mit. Nach Nixons Rücktritt war das Amt des Präsidenten über Jahre hinaus beschädigt. Eines war klar geworden: Auch demokratische Staaten haben ihre Polit-Skandale, auch gewählte Volksvertreter sind vor Gaunerstücken nicht gefeit - insbesondere wenn ihre Wiederwahl gefährdet ist. Nixon stürzt über Watergate Watergate - der größte Polit-Skandal in der Geschichte der USA, der zum ersten Rücktritt eines US-Präsidenten, Richard Nixon, führte. Er hatte versucht, im Washingtoner Watergate-Hotel die Büros seiner demokratischen Gegenspieler abhören zu lassen, hatte Steuergelder hinterzogen und zudem alle Gespräche im Weißen Haus bespitzeln lassen. Richard Nixon war der erste Präsident der USA, der sein Amt vorzeitig aufgeben mußte. Er kam am 8. August 1974 wegen seiner Verwicklungen in die "WatergateAffäre" einer Amtsenthebung zuvor. Der Skandal ging auf einen Einbruch in das Hauptquartier der Demokratischen Partei im Washingtoner Watergate-Haus im Sommer 1972 zurück. Eine Gruppe ehemaliger CIA- oder FBI-Agenten, die dem "Komitee zur Wiederwahl des Präsidenten" angehörten, hatten auf Weisung des Wahlkampfbüros Nixons Kameras, Abhörgeräte und "Wanzen" in den Büros angebracht. Nixon selbst hatte erwiesenermaßen spätestens Anfang 1973 von den Vorfällen Kenntnis erhalten, gab jedoch Anweisung, die Angelegenheit zu vertuschen. Es waren vor allem die Recherchen der Journalisten Carl Bernstein und Robert Woodward (links) von der "Washington Post", die die Hintermänner aufdeckten. Bei den Senatsuntersuchungen ab Februar 1973 geriet Nixon zunehmend unter Beschuß. Es wurde bewiesen, daß er Gespräche im Weißen Haus geheim aufzeichnen ließ und daß er Steuern von fast 500.000 US-Dollar hinterzogen hatte. In der live im Fernsehen übertragenen Rücktrittsrede, die Nixon mit versteinerter Mine vortrug, gestand er Fehler ein. Einen Tag später wurde Vizepräsident Gerald Ford zum 38. US-Präsidenten vereidigt. 26.08.74 Portugiesische Kolonien werden unabhängig Portugiesisch-Guinea erhält als erste Kolonie Portugals unter dem Namen Guinea-Bissau die Unabhängigkeit. Damit löst der provisorische Staatschef Portugals, António de Spínola, sein Versprechen ein, das er nach dem Sturz der Diktatur im April des Jahres gegeben hatte. Die Vertragsunterzeichnung fand im Präsidentenpalast Algeriens in Algier unter der Gastgeberschaft von Houari Boumedienne statt. Guinea-Bissau war bereits 14 Tage zuvor als 138. Vollmitglied in die UNO aufgenommen und von einer großen Zahl westlicher Länder anerkannt worden. Spínola (l.) hatte im Vormonat in einer Rundfunkrede angekündigt, daß sukzessive alle afrikanischen Kolonien, in erster Linie Moçambique (unter Samora Machel) und Angola (unter António Neto), in dem seit 1961 ein blutiger Krieg gegen die Kolonialherrschaft tobte, unabhängig werden sollen. Er erläuterte, daß alle Völker hinreichend bereit für die Unabhängigkeit seien, da sie die Fähigkeit zur politischen Organisation und zur Verteidigung ihrer Freiheit bewiesen haben. Zuvor wurde Art. 1 der portugiesischen Verfassung außer Kraft gesetzt, der die überseeischen Besitzungen als integrierten Bestandteil des Mutterlandes definierte. Im November wurde ein Abkommen geschlossen, das für die Inseln São Tomé und Príncipe die Unabhängigkeit im Jahre 1975 vorsah. Am 18. Dezember erlangten die Kapverdischen Inseln die Unabhängigkeit. 20.11.74 151 VON 300 Jumbo-Jet der Lufthansa stürzt in Kenia ab Mit dem vergleichsweise glimpflich verlaufenen erstmaligen Absturz eines Jumbo-Jets in Kenia setzt sich die weltweite Serie von Flugzeugabstürzen fort. Weil die vorderen Flügelklappen der Lufthansa-Boeing beim Start auf dem Flughafen Nairobi nicht ausgefahren waren, stürzte die 747 aus einer Höhe von 30 Metern hinter der Startbahn auf ein Feld. Die Maschine, die am 20. November in Frankfurt gestartet war, befand sich auf dem Weg nach Johannesburg in Südafrika und war in Nairobi zwischengelandet. Nach dem Auftanken kam es zu der Katastrophe. Beim Aufprall brach die Maschine auseinander und fing Feuer. 55 Passagiere und vier Besatzungsmitglieder starben in den Flammen. Weitere 98 Insassen konnten sich in Sicherheit bringen, viele allerdings verletzt. Die Untersuchung ergab, daß der Bordingenieur mehrere Warnleuchten übersehen hatte und die Besatzung wahrscheinlich die Startkontrolle nicht korrekt durchgeführt hatte. Das Unglück wäre vermeidbar gewesen, da bereits 1972 nach einem Beinaheabsturz eines Jumbos aus ähnlichen Gründen erkannt worden war, daß Probleme beim Ausfahren der Flügelklappen im Cockpit übersehen werden konnten. Diese Information war jedoch nicht allen Fluggesellschaften bekannt. 25.02.75 Bundesverfassungsgericht stoppt Fristenlösung Das BVG in Karlsruhe erklärt die von der Bundesregierung vorgelegte Reform des Abtreibungsgesetzes (§ 218) für verfassungswidrig. Der Schutz des werdenden Lebens rangiere vor dem Recht der Mutter auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Die Gesetzesnovelle wollte eine Abtreibung bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats legalisieren ("Fristenlösung"). Nach dem dritten Monat wäre ein Abbruch nur noch bei Vorliegen einer medizinischen Indikation möglich gewesen. Das Urteil war nicht einstimmig: Zwei der Verfassungsrichter hielten eine freiwillige Abtreibung für durchaus mit dem Grundgesetz vereinbar. Dennoch mußte sich der Gesetzgeber dem Entscheid aus Karlsruhe beugen und das Abtreibungsgesetz erneut überarbeiten. Die endgültige Fassung sah vor, daß der Abbruch einer Schwangerschaft in den ersten zwölf Wochen nur dann straffrei ist, wenn die Voraussetzungen der medizinischen, sozialen oder eugenischen Indikation erfüllt sind und dies durch einen Arzt festgestellt wurde. Das neue Gesetz, das am 18. Mai 1976 in Kraft trat, löste - wie schon in den Jahren zuvor - heftige Proteste aus. Auch in der DDR fand die Diskussion über das Selbstbestimmungsrecht der Frau statt. Doch während die dort bereits 1972 gefundene Regelung zum Schwangerschaftsabbruch eine Liberalisierung bedeutete, kritisierten Befürworter einer freizügigen Regelung das neue bundesdeutsche Gesetz als Rückschritt. 28.02.75 Erstes Abkommen von Lomé unterzeichnet Die neun EG-Mitgliedsstaaten und die sogenannten AKP-Staaten unterzeichnen mit der Konvention von Lomé ein umfangreiches Vertragswerk, das eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den 55 Mitgliedsstaaten mit 600 Millionen Einwohnern vorsieht. Die EG feiert das Abkommen als beispielloses Vorbild für andere internationale Handelsverträge. Besonders stolz ist man auf die "völlige Gleichberechtigung" zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern. Bei den AKP-Staaten handelte es sich um 46 Entwicklungsländer in Afrika, der Karibik und im Pazifik. Nach der Unterzeichnung in der togolesischen Hauptstadt Lomé erklärte der EGRatspräsident, der irische Außenminister Garret FitzGerald, daß die Beziehungen zu den 46 Entwicklungsländern nur der erste Schritt sei. Die Einbeziehung der Mittelmeeranrainerstaaten, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko sei wünschenswert. 22 der 37 afrikanischen Staaten waren bereits bilateral mit der EG assoziiert. 152 VON 300 Die Euphorie hielt jedoch nicht lange an. Bereits am 6. Juni, als sich die AKP-Staaten als Organisation konstituierten, richteten sie eine Protestnote an die EG. Sie warfen den Industriestaaten vor, die Konventionsbestimmungen nur in schleppender Weise bzw. gar nicht zu erfüllen. Insbesondere die Entscheidungen für Entwicklungshilfegelder würden unnötig verzögert. Mit dem Folgeabkommen Lomé II 1980 wurden erste Verbesserungen erreicht. 13.04.75 Bürgerkrieg im Libanon Blutige Straßenkämpfe zwischen Christen und Moslems: Im Libanon zerbricht das fragile politische Gleichgewicht zwischen den Religionen. Es folgen über 16 Jahre Terror, ausländische Interventionen und Leben in Ruinen. Die zersplitterten Volksgruppen des Libanon - Christen, Drusen, Sunniten, Schiiten, PLOFlüchtlinge - bildeten eigene Milizen und schlossen verworrene Koalitionen untereinander sowie mit Israel, Syrien und dem Iran. Beirut, das Paris des Nahen Ostens, verkam zur Trümmerwüste, ein Friedensschluß in der Krisenregion rückte in weite Ferne. Bürgerkrieg zwischen Christen und Moslems Das politische System des Libanon zerbirst: Ein Angriff christlicher Falangisten auf einen Palästinenser-Bus wird zum Auslöser eines blutigen Bürgerkrieges zwischen Christen und Moslems. Die tiefere Ursache für den Konflikt war die Machtverteilung zwischen den Religionen. Bei der Staatsgründung 1943 war festgelegt worden, daß beide Religionen eine gleichberechtigte Rolle im politischen Leben spielen sollten, wobei davon ausgegangen worden war, daß beide Religionsgemeinschaften gleich stark seien. Die muslimische Bevölkerung forderte nun aber eine Volkszählung um damit den Proporz zu ändern, was die Christen strikt ablehnten. In Beirut kam es zu Straßenkämpfen zwischen der christlichen Miliz des Führers der Falange-Partei, Pierre Gemayel, und muslimischen Milizen, die sich vor allem aus palästinensischen Flüchtlingen rekrutierten. Einige muslimische Freischärlerkommandos wurden bereits seit Jahren vom libyschen Staatsoberhaupt al-Gaddafi unterstützt. Bei anhaltenden Kämpfen traten am 23. April elf Minister aller Richtungen und am 15. Mai der muslimische Ministerpräsident Taki ed-Din as-Solh zurück. Eine Militärregierung unter General Nur ed-Din Rifai hielt sich nur drei Tage im Amt. Nach einer Schlichtung durch Ministerpräsident Raschid Karami im Juli brachen die Kämpfe bereits im September wieder aus. Bis November 1975 kamen bei den Kämpfen ungefähr 4.500 Menschen ums Leben. Vermittlungsversuche des UNGeneralsekretärs Kurt Waldheim, des PLO-Führers Yassir Arafat oder des päpstlichen Legaten Kardinal Paolo Bertoli blieben erfolglos. 30.04.75 Südvietnam kapituliert Das letzte Kapitel des Vietnamkrieges: Saigon fällt endgültig in die Hände des Vietkong. Verzweifelt versuchen Südvietnamesen mit den letzten Hubschraubern vom Dach der USBotschaft zu entkommen. Stück für Stück hatten sich die USA militärisch aus Indochina zurückgezogen und die Region ihrem Schicksal überlassen. Mit der schnellen Kapitulation Südvietnams rechnete allerdings kaum jemand. Umso nachhaltiger erschütterten die dramatischen Ereignisse das Selbstbewußtsein der Supermacht Amerika. 153 VON 300 Südvietnam kapituliert vor dem Vietkong Die bedingungslose Kapitulation erfolgte am 30. April 1975 um 9 Uhr morgens. Mit dem Sturz des südvietnamesischen Präsidenten Duong Van Minh ging die vierzig Jahre währende Auseinandersetzung um Indochina zu Ende. Anfang Dezember 1974 hatten die Vietkong-Streitkräfte die Schlußoffensive gegen Saigon eingeleitet. Seit dem Pariser Waffenstillstandsabkommen von 1973 geriet die südvietnamesische Armee unter immensen Druck der ca. 300.000 Vietkong-Kämpfer vier Fünftel davon Nordvietnamesen. Anfang April begann die USA, die letzten US-Bürger sowie rund 250.000 Südvietnamesen über eine Luftbrücke zu evakuieren. Während Saigon in den frühen Morgenstunden des 30. April in die Hände des Vietkong fiel, spielten sich vor der USBotschaft dramatische Szenen ab. Tausende von Südvietnamesen versuchten verzweifelt in die Botschaft zu gelangen, von deren Dach noch letzte Hubschrauber starteten. Ansonsten war die Stadt wie ausgestorben. Am 3. Mai öffnete Nordvietnam die Grenzen zu Südvietnam. Nguyên Huu Tho, Präsident der "Provisorischen Revolutionsregierung der Republik Südvietnam" erklärte, daß er die Hilfe aller Staaten, eingeschlossen die USA, auf jedem Sektor akzeptieren würde. Staatsangehörige und Truppen der USA durften gemäß früherer Abkommen unbehindert das Land verlassen. Vietnamkrieg Nach dem Indochinakrieg, der mit dem vollständigen Abzug Frankreichs aus seiner vorherigen Kolonie endete, wurde Vietnam provisorisch im Genfer Vertrag von 1954 in das kommunistische Nordvietnam und das prowestliche Südvietnam geteilt. Bis spätestens Juli 1956 sollte das Land jedoch wiedervereinigt werden. Die Wiedervereinigung scheiterte jedoch am Festhalten beider Seiten an ihrem jeweiligen Gesellschaftssystem, das sie im Falle der Union auf die jeweils andere Seite übertragen wollten. Zusätzlich erschwert wurde eine Wiedervereinigung Vietnams 1954 durch die Gründung der SEATO, der die militärische Verteidigung des südostasiatischen Raums gegen den Kommunismus vorsah. Die Zunahme kommunistischer Guerillakämpfe in Südvietnam ab 1960 veranlaßten die USA, zunehmend militärische Präsenz in der Region zu zeigen. Im Dezember 1960 gründeten 20 kommunistische und bürgerliche Parteien, sowie verschiedene ethnische Minderheiten Südvietnams die "Nationale Befreiungsfront von Südvietnam" (FNL, Vietkong). Ab 1962 unterstand der Vietkong direktem nordvietnamesischen Einfluß. Auf dem sogenannten "Ho-Chi-Minh-Pfad" (zu Ehren von Ho Chi Minh), einem Netz von Dschungelpfaden von Nord- nach Südvietnam, der über weite Strecken auch durch laotisches und kambodschanisches Gebiet führte, erhielt der Vietkong einen Gutteil seines Nachschubs. Nach mehreren militärischen Zwischenfällen im August 1964 kam es ohne Kriegserklärung zur direkten Konfrontation der USA mit Nordvietnam. Bis 1967 erhöhten die USA ihre Truppenstärke auf 550.000 Mann. Von Thailand aus wurde der Luftkrieg gegen Nordvietnam, aber auch gegen Kambodscha und Laos organisiert, bei dem unter anderem Napalmbomben und hochgiftige Entlaubungsmittel (Agent Orange) Einsatz fanden, um dem Vietkong den natürlichen Schutz durch den Dschungel zu nehmen. Auch viele andere SEATO-Mitglieder beteiligten sich an dem Krieg durch eigene Truppenkontingente. Nordvietnam, das wellenweise massiv bombardiert wurde, fand Unterstützung durch China und die UdSSR. Aber trotz des massiven Militäraufgebots und hoher Verluste des Vietkong konnte die Kontrolle über Südvietnam nicht gehalten werden. Jahr für Jahr stiegen die Verluste der USA. Allein 1968 bei der großen Tet-Offensive fielen 14.549 US-Soldaten. 1970 und 1971 wurde der Krieg auf Kambodscha und Laos ausgeweitet, um durch die Zerstörung des Ho-Chi-Minh-Pfads den Vietkong von Truppen- und Waffennachschub abzuschneiden. Doch auch dieser Plan brachte keinen Erfolg. Bereits 1968 hatten in Paris Geheimverhandlungen zwischen den Kriegsparteien begonnen. US-Präsident Richard 154 VON 300 Nixon zeigte sich grundsätzlich bereit, das US-Engagement einzustellen. Auf Druck der USÖffentlichkeit und der Aussicht auf einen langen, verlustreichen und kaum zu gewinnenden Krieg begannen die US-Bodentruppen, ebenso wie die SEATO-Partner, 1972 den Rückzug aus Südvietnam. Mit dem Pariser Vietnamabkommen von 1973 zog sich die USA offiziell aus dem Krieg zurück. Allerdings wurde das diktatorische Regime in Saigon weiterhin massiv logistisch unterstützt. Auch blieb eine starke US-Luft- und Seeflotte im indochinesischen Raum präsent. Allein auf seine eigene Armee gestellt konnte sich der südvietnamesische Staatschef Nguyên Van Thiêu noch zwei Jahre halten. Der Krieg endete mit der bedingungslosen Kapitulation Südvietnams im April 1975. Der Vietnamkrieg hatte auf allen Seiten zahlreiche Opfer gefordert. 200.000 südvietnamesiche und 56.000 amerikanische Soldaten sowie 5.000 Angehörige der Armeen der SEATO-Staaten kamen ums Leben. Nordvietnam und der Vietkong hatten 920.000 Soldaten verloren. Enorm war aber die erschreckend hohe Zahl an Opfern unter den Zivilisten: In Südvietnam starben 450.000, in Nordvietnam 350.000 Zivilisten. Vor allem die Flächenbombardements der US-Luftwaffe hatten ganze Landstriche entvölkert. 21.05.75 Baader-Meinhof-Prozeß beginnt Führende Terroristen vor Gericht: Ulrike Meinhof (u.l.), Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin werden wegen versuchten Mordes, Raub, Diebstahl, Sprengstoffverbrechen und Gründung einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Der Prozeß wurde wegen zahlreicher Freipressungsversuche der RAF in einem eigens errichteten schuß- und detonationssicheren Gebäude im Stuttgarter Gefängnis Stammheim eröffnet. Der Bau war nach außen mit Stacheldraht, Mauern und Alarmanlagen abgeschirmt. Bereits Monate vor dem Prozeß hatten Hundertschaften der Polizei das Gelände systematisch abgeriegelt. Vor Prozeßbeginn war die deutsche Strafprozeßordnung geändert worden. Um unnötige Verzögerungen zu verhindern, konnte nun auch in Abwesenheit der Angeklagten verhandelt werden, wenn diese den zeitweiligen Ausschluß von der Verhandlung provoziert oder sich selbst "schuldhaft verhandlungsunfähig" gemacht hatten. Außerdem standen jedem Angeklagten nur noch drei Wahlverteidiger zu Verfügung, die das Gericht ablehnen konnte, wenn sie verdächtigt wurden, an der Straftat der Mandanten beteiligt gewesen zu sein. Wenige Tage vor Prozeßeröffnung wurden die Verteidiger Baaders, Klaus Croissant, Kurt Groenwald und Christian Ströbele abgelehnt, zwei von ihnen wenig später sogar verhaftet. 01.08.75 KSZE-Schlußakte unterzeichnet Ein erster Schritt hin zu einer friedlicheren Welt: In Helsinki unterzeichnen 35 Staaten die Schlußakte der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa". Alle europäischen Staaten, mit Ausnahme von Albanien, sowie die USA und Kanada, im ganzen 35 Staaten, erklärten nach fast zwei Jahren Verhandlungen auf der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE), ihre Absicht zur Achtung der Souveränität, Durchführung vertrauensbildender Maßnahmen, Abrüstung, sowie Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten wie Technik und Umwelt. Obwohl es sich nicht um ein verbindliches Abkommen handelte, galt es als großer Erfolg, die Fesseln des Kalten Krieges zu lösen. Von westlichen Regierungschefs, wie Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing, Großbritanniens Premierminister Harold Wilson und Bundeskanzler Helmut Schmidt, wurde die Schlußakte als Grundstein der Entspannung insbesondere für den Konflikt um Berlin gewürdigt. Der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew bezeichnete die Akte als "notwendige Bestandsaufnahme nach dem Zweiten Weltkrieg". Breschnew hatte sich im Vorfeld als treibende Kraft für den Abschluß der Konferenz 155 VON 300 gezeigt. Immer wieder forderte er die Beschleunigung der Debatten und die schriftliche Fixierung der Ergebnisse. 09.08.75 Brand in der Lüneburger Heide Nach einer mehrwöchigen Hitzewelle steht im Sommer 1975 die Lüneburger Heide in Flammen. Erst nach sechs Tagen bekommen Feuerwehr und Katastrophenhelfer die Flächenbrände bei Gifhorn unter Kontrolle. Sechs Menschen verlieren bei den Löscharbeiten ihr Leben. Die sechs Feuerwehrleute waren durch ständig wechselnde Winde plötzlich vom Feuer eingeschlossen worden und konnten nicht mehr aus dieser Falle gerettet werden. Bis es den Helfern gelang, das Feuer einzudämmen, waren bereits 4.000 Hektar Wald vernichtet. Es schwelte jedoch weiter und wurde durch Winde immer wieder aufs neue entfacht. Die ursprüngliche Anzahl von 4.000 Helfern von Feuerwehr, Bundeswehr und Technischem Hilfswerk wurde in den Tagen der Katastrophe auf 14.000 erhöht. Die Brandbekämpfung selbst wurde durch organisatorische Mängel und Kompetenzstreitigkeiten erschwert. Bis das Feuer am 15. August endgültig gelöscht worden war, waren bereits 8.000 Hektar Wald vernichtet. 07.10.75 Neuer Freundschaftsvertrag mit der UdSSR Der 26. Jahrestag der Gründung der DDR wird mit dem Abschluß des zweiten Vertrags über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen der DDR und der Sowjetunion gekrönt. Von Wiedervereinigung ist keine Rede mehr. Dieser Freundschaftsvertrag hatte eine Gültigkeit von 25 Jahren. Während im ersten Freundschaftsvertrag vom 12. Juni 1964 noch davon die Rede war, daß die Wiedervereinigung Deutschlands ein Prozeß wäre, den die beiden Staaten gemeinsam durchlaufen müßten, galt die deutsche Frage nun im Sinne der neuen Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1974 als gelöst. Der Vertrag betonte die Einbindung der DDR in die sozialistische Staatengemeinschaft und die unwiderrufliche Freundschaft zur Sowjetunion. Bis zum Oktober 1977 schloß die DDR weitere bilaterale Freundschaftsverträge mit Ungarn, Polen, Bulgarien und der CSSR ab. Das Netz der Freundschaftsverträge im Ostblock gestattete es der Sowjetunion, die Breschnew-Doktrin zu zementieren: Die Vertragspartner hatten jeweils das Recht, zu intervenieren, wenn der Sozialismus in einem der Vertragsländer geschützt werden mußte. 14.11.75 Spanisch-Sahara wird "unabhängig" Spanien erklärt sich bereit, die Westsahara, seine letzte Kolonie in Afrika, aufzugeben. Marokko und Mauretanien stehen bereit, die Beute unter sich aufzuteilen. Dem Entschluß Madrids waren dreitägige, geheime Verhandlungen zwischen den spanischen und marokkanischen Ministerpräsidenten, Carlos Arias Navarro und Ahmed Osman, sowie dem mauretanischen Außenminister Hamdi Ould Mouknass vorangegangen. Das Territorium wurde zwischen Marokko und Mauretanien im Verhältnis 2 zu 1 aufgeteilt. Die über 200.000 Bewohner, fast ausschließlich Nomaden, wurden dazu nicht befragt. Ähnlich wie Portugal, hatte sich Spanien lange geweigert, seine Kolonien aufzugeben. Die Staatskrise in Spanien, ausgelöst durch die schwere Krankheit des Diktators Francisco Franco, zwang die Kolonialmacht zum Einlenken. Seit 1956 hielt der Konflikt um die Entkolonialisierung an. Marokkos König Hassan II. (l.) erhob vor allem aus wirtschaftlichen Überlegungen Ansprüche auf das Land, da im Nordteil die großen Phosphatvorkommen lagen. Mauretanien erhob in der Folge ebenfalls Gebietsansprüche, vor allem aus Sicherheitsgründen. Am 6. November hatte sich Marokko darum bemüht, vollendete Tatsachen zu schaffen. 20.000 Soldaten und 350.000 unbewaffnete Zivilisten besetzten unter der Führung Ahmed Osmans grenznahes saharisches Gebiet. Der "Grüne Marsch" 156 VON 300 war medienwirksam aufgezogen worden. Die Zivilisten zogen sich kurz darauf zurück, doch die Soldaten blieben, was zu schweren Protesten Mauretaniens führte. Nach dem Abkommen nahm die saharische Freiheitsbewegung F-POLISARIO den Kampf für die Unabhängigkeit auf. 15.11.75 Erster Gipfel zur Weltwirtschaft Die Weltwirtschaft steht im Zeichen der Ölkrise und anhaltender Währungskrisen. Da treffen sich völlig informell die führenden Staatsmänner der westlichen Welt, um auf Schloß Rambouillet, 50 Kilometer außerhalb von Paris, tragfähige Lösungen für die Zukunft auszuloten. Bundeskanzler Helmut Schmidt und Frankreichs Staatspräsident Giscard d´Estaing hatten die Initiative zu diesem ersten "Weltwirtschaftsgipfel" ergriffen. Nur ihre beiden Länder, Japan, Großbritannien, Italien und die USA waren eingeladen. Die westlichen Demokratien befanden sich in ihrer schwersten Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Wirtschaftswachstum war nach der dramatischen Erhöhung der Energiepreise drastisch zurückgegangen und eine neue Weltwährungsordnung hatte sich noch nicht etabliert. US-Präsident Gerald Ford (u.l.), durch den Watergate-Skandal gerade erst ins Amt gelangt, umschrieb die Gipfel-Idee so: "Wir müssen sicherstellen, daß die derzeitige weltwirtschaftliche Situation nicht als Krise des demokratischen oder des kapitalistischen Systems gewertet wird." Die sechs Regierungschefs rauften sich zusammen und erklärten ihre Absicht, sich künftig stärker in allen wirtschaftspolitischen Fragen zu koordinieren. Das erste Treffen in Rambouillet schien sich zu also bewähren. Schon im Jahr darauf wurde ein ähnliches Meeting unter Einschluß Kanadas arrangiert: Der G-7-Club wurde zur jährlich wiederkehrenden Institution. 22.11.75 König Juan Carlos übernimmt die Herrschaft Mit der Proklamation von Juan Carlos I. zum König kehrt Spanien nach 44 Jahren Diktatur zur Monarchie zurück. Zwei Tage zuvor war der seit 1939 an der Spitze des Staates stehende Francisco Franco (u.l.) nach einmonatiger Krankheit verstorben. Juan Carlos hatte bereits am 30. Oktober auf Wunsch Francos das Amt als Provisorischer Staatschef angetreten. Er bestätigte Ministerpräsident Carlos Arias Navarro im Amt, der am 15. Dezember in einer Regierungserklärung umfassende Reformen ankündigte: Politische, administrative und gewerkschaftliche Institutionen sollten fortschrittlich verändert, bürgerlichen Freiheiten und Rechte ausgeweitet werden. Alle Bürger ein wurden eingeladen, an der Politik des Landes teilzunehmen. Auf Landesebene sollten die einzelnen Regionen institutionell anerkannt werden. Im Ausland wurde Besorgnis über die Stabilität Spaniens laut. Juan Carlos, der als unentschlossen und zögerlich galt, wurde aufgrund der angespannten Wirtschaftslage nicht zugetraut, die Monarchie lange am Leben zu erhalten. Dennoch entwickelte sich Spanien kontinuierlich zu einer modernen Demokratie. Im Sommer 1977 fanden die ersten freien Wahlen seit 40 Jahren statt. 21.12.75 Geiselnahme auf OPEC-Konferenz Als im Dezember 1975 die Ölminister der in der OPEC zusammengeschlossenen ölexportierenden Staaten in Wien tagen, überfällt eine arabische Terrorgruppe mit dem Namen "Arm der arabischen Revolution" die Konferenz. Die Terrorgruppe nahm insgesamt 70 Personen als Geiseln, darunter elf der Ölminister. Drei Menschen wurden von den Terroristen getötet. Die Terrorgruppe wollte mit ihrer Aktion gegen die beginnende Entspannungspolitik zwischen Israel und den arabischen Staaten nach dem Yom-Kippur Krieg im Jahre 1973 protestieren und verlangte die Ausstrahlung ihrer Forderungen im Radio. Diese Forderung wurde erfüllt. Anschließend flogen die Terroristen mit ihren Geiseln nach Algerien und Libyen, wo die Gefangenen freigelassen 157 VON 300 wurden. In Algerien erhielten die Terroristen Asyl. An dem Überfall in Wien war unter anderem auch ein ehemaliges Mitglied der Rote-Armee-Fraktion beteiligt. Die Geiselnahme war neben der Entführung der "Landshut" die wohl spektakulärste Aktion palästinensischer Terroristen seit dem Massaker im Olympischen Dorf in München. 24.03.76 Junta übernimmt die Macht in Argentinien Staatsstreich einer Militärjunta gegen die argentinische Staatspräsidentin María "Isabel" Perón, die beim Versuch, außer Landes zu flüchten, von Soldaten auf dem Flugplatz von Buenos Aires verhaftet und unter Hausarrest gestellt wird. Am Abend zuvor hatten sich die Oberkommandierenden der drei Waffengattungen, Generalleutnant Jorge Videla (l.) (Heer), Konteradmiral Emilio Massera (Marine) und Brigadegeneral Orlando Agosti (Luftwaffe) zu dem Schritt entschlossen. Etwa 2.000 Peronisten wurden verhaftet, die kommunistischen Parteien verboten. Argentinien befand sich seit dem Tod von Staatspräsident Juan Domingo Perón in einer schweren innenpolitischen und wirtschaftliche Krise. Fünf Tage nach dem Putsch wurde Jorge Videla als 38. Staatspräsident vereidigt. Er erklärte, die Ordnung wiederherstellen zu wollen und die Wirtschaftskrise durch pragmatische Schritte zu lösen. Die Abschaffung des Peronismus wurde angekündigt und ausländische Investoren eingeladen. Unter den neuen Machthabern griff der staatliche Terror auch auf gemäßigte Politiker und Gewerkschaften über. Die Zahl der politischen Morde stieg auf etwa 100 täglich an. 06.05.76 Erdbeben in Norditalien zerstört 20 Orte Nur vier Wochen nach dem verheerenden Erdbeben in Guatemala wird die norditalienische Region Friaul am 6. Mai 1976 durch heftige Erdstöße mit einer Stärke von 6,5 auf der Richter-Skala erschüttert. Die Orte Gemona del Friuli (li.: die Kirche des Ortes), Osoppo, San Daniele del Friuli und Venzone werden fast völlig zerstört, insgesamt 80.000 Menschen werden obdachlos. Nach unterschiedlichen Angaben fanden zwischen 1.000 und 2.000 Menschen den Tod. Der entstandene Sachschaden wurde in der ohnehin nicht wohlhabenden Region auf etwa 20 Milliarden DM beziffert. Trotz sofort einsetzender internationaler Hilfsangebote kamen die Bergungsarbeiten nur schleppend in Gang. Zusätzlich wurden sie durch Schaulustige, sogenannte "Katastrophentouristen", behindert. Die Region gilt neben China, Griechenland und der Türkei als eine der erdbebengefährdetsten in Europa. Allein während der letzten 80 Jahre wurden dort etwa 30 Beben registriert. 02.07.76 Vietnam wird wiedervereinigt Mit der offiziellen Wiedervereinigung im Juli 1976 ging die künstliche Staatstrennung Vietnams nach 22 Jahren zu Ende. 1954 war das Land auf der Genfer Indochina-Konferenz beim Ende des Indochinakrieges in das kommunistische Nordvietnam und das prowestliche Südvietnam geteilt worden. Im April 1975 war der Krieg in Vietnam zu Ende. Saigon hatte bedingungslos kapituliert, der letzte pro-westliche Staatspräsident Duong Van Minh war gestürzt, die USA waren schon 1973 zum Abzug aus dem Land gezwungen worden. Das daraufhin in Saigon gebildete "Revolutionäre Volkskomitee", war völlig vom Norden abhängig. Im April 1976 fanden Wahlen für ein gesamtvietnamesisches Parlament statt: der Süden erhielt 243 und der Norden 249 Sitze. Für den Süden kandidierten auch Ex-Offiziere des Militärregimes, die wie etwa 200.000 weitere Südvietnamesen sogenannte "Umerziehungskurse" absolviert hatten. Einige Mitglieder der politische Elite Südvietnams waren hingerichtet worden. Im neuen Staat, der "Sozialistischen Republik Vietnam", blieben jedoch die Südvietnamesen, 21 von 45 Millionen Einwohnern, aus führenden Positionen ausgeschlossen. Sowohl der Staats-, als auch der Ministerpräsident, Ton Duc Thang und 158 VON 300 Pham Van Dong, waren Nordvietnamesen. Hauptstadt blieb Nordvietnams Kapitale Hanoi. Saigon, das in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt wurde, erhielt weit weniger Aufbauhilfe wie andere Städte. 04.07.76 Israelisches Kommando befreit Geiseln Ein israelisches Kommando befreit ein Zivilflugzeug, das von propalästinensischen Terroristen nach Entebbe in Uganda entführt worden ist. Durch den nicht abgesprochenen Militäreinsatz auf ugandischem Boden verletzt Israel jedoch die Souveränität Ugandas. Am 27. Juni hatte eine vierköpfige Terroristengruppe unter dem Namen "Kommando Ché Guevara" der "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) eine Linienmaschine der Air France auf dem Flug von Paris nach Tel Aviv gekapert. Unter den 248 Passagieren befanden sich 70 Israelis und 34 Juden anderer Nationalitäten. Die Geiselnehmer forderten die Freilassung von 53 "Kampfgenossen", die in fünf Ländern inhaftiert waren. Das Flugzeug landete in Entebbe, wo der ugandische Staatspräsident Idi Amin (li.) alles zur Versorgung der Terroristen vorbereitet hatte. Indes weigerten sich alle betroffenen Regierungen, den Forderungen der Terroristen nachzukommen. Am 4. Juli startete das israelische Militär eine geheime Befreiungsaktion. 48 Fallschirmjäger und 100 Infanteristen stürmten den Flughafen. Bei den Feuergefechten wurden drei Geiseln, alle noch anwesenden sieben Terroristen, 20 ugandische und ein israelischer Soldat getötet und sieben ugandische Kampfflugzeuge am Boden zerstört. Idi Amin ließ die getöteten Soldaten und Terroristen mit militärischen Ehren beisetzen, richtete jedoch am 9. Juli dem israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin seine Glückwünsche zur "erfolgreichen Aktion" aus. 10.07.76 UMWELT: Umweltkatastrophe in Seveso Der Kreis Seveso unweit von Mailand wird Opfer eines der schwersten Chemieunfälle des Jahrhunderts. Durch Überhitzung war in einer Fabrik des Ortes Meda die hochgiftige Substanz Tetrachlordibenzoparadioxin (TCCD) durch die Fabrikschornsteine in die Umwelt entwichen. Für die Bevölkerung war die ständige Umweltverschmutzung durch die Firma Icmesa, einer Tochter des schweizer Hoffmann-La Roche-Konzerns, schon seit langem trauriger Alltag, so daß der Vorfall bei der Herstellung von Trichlorphenol zunächst kein Aufsehen erregte. Wenige Tage später starben in dem betroffenen Kreis Seveso zahlreiche Haustiere, Pflanzen verdorrten binnen kürzester Zeit. Erst jetzt meldete die Firmenleitung den Behörden den Vorfall. Aufgrund der nun auch massiv auftretenden Hauterkrankungen bei Menschen ordnete die Regionalverwaltung die Evakuierung einer 115 Hektar großen Fläche um die Fabrik an. Das gesamte Vieh in der Region wurde getötet, zahlreiche Betriebe auf unbestimmte Zeit geschlossen. Ärzte wurden angewiesen, vorerst ihren weiblichen Patienten von Schwangerschaften abzuraten und die Verwendung von Verhütungsmitteln zu empfehlen. Aus Angst vor Mißbildungen der Embryonen entschlossen sich viele Schwangere zur Abtreibung. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen gegen die schweizer und italienische Firmenleitung auf. Ihr wurde Fahrlässigkeit und Mißachtung der Sicherheitsbestimmungen vorgeworfen. die Aktionäre der Icmesa richteten in der Folge einen Hilfsfond für die Betroffenen ein. Die Entsorgung des kontaminierten Erdreiches hatte jedoch ein Nachspiel. Chemie- und Umweltkatastrophen Mit steigendem Umweltbewußtsein immer größerer Bevölkerungskreise stieg auch die Sensibilität für die Praktiken vieler Chemieproduzenten, die bei Herstellung und Entsorgung ihrer Produkte oftmals unverantwortlichen Leichtsinn an den Tag legten. Die 159 VON 300 Bundesrepublik Deutschland erlebte in den 60er Jahren mit dem Contergan-Prozeß einen ersten großen Skandal, als nach der Einnahme des Beruhigungsmittels Contergan über 2.600 Mütter schwer körperbehinderte Babies zur Welt brachten. Zumeist wiesen die Kinder starke Verkrüppelungen der Gliedmaßen auf. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen den Hersteller, stellte das Verfahren allerdings 1970 ohne Urteil ein. Der Gesetzgeber reagierte mit drastischen Verschärfungen der Arzneimittel- und Medikamentengesetze. Ab Mitte der 70er Jahre gerieten weltweit immer wieder Chemiekonzerne wegen fahrlässigen und leichtfertigen Umgangs mit Sicherheitsbestimmungen und Produktionspraktiken in die Schlagzeilen. 1976 mußte in der oberitalienischen Lombardei ein Gebiet von 115 ha evakuiert, und hunderte von Tonnen verseuchten Erdreichs abgetragen werden, nachdem aus dem Schornstein einer Tochterfirma des Schweizer Konzerns Hoffmann-La Roche Dioxingas entwichen war und die Region Seveso verseucht hatte. Noch Jahre später sorgten Schlampereien bei der Entsorgung des kontaminierten Erdreichs immer wieder für Aufregung in der Öffentlichkeit. Wegen deutlich geringerer Produktions- und Lohnkosten sowie einem fast vollständigen Fehlen staatlicher Kontrolle der Sicherheits- und Produktionsbestimmungen verlagerten viele Chemiekonzerne ihre Fabriken zunehmend in Länder der sogenannten "Dritten Welt". Zu dem bisher folgenschwersten Chemieunfall kam es am 3. Dezember 1984 im indischen Bhopal. Über 2.000 Menschen verloren ihr Leben, als hochgiftiges Gas aus einem undichten Ventil einer Fabrik zur Pflanzenschutzmittelherstellung entwich. Viele Tausende verloren ihr Augenlicht. Besonders umstritten war seit Ende der 60er Jahre die zivile Nutzung von Kernenergie. Nachdem bereits 1979 ein schwerer Störfall im U.S.-amerikanischen Atomkraftwerk Harrisburg die Diskussion verschärft hatte aufflammen lassen, wurden 1986 die schimmsten Befürchtungen der Atomkraftgegner Realität. Im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl hatten sich in den frühen Morgenstunden des 26. Aprils zwei Explosionen ereignet. Weite Teile der Umwelt wurden radioaktiv verseucht, die Strahlenbelastung betrug etwa ein 40faches der Atombombenexplosion von Hiroshima. 28 Menschen starben unmittelbar nach der Katastrophe, über 200 weitere Personen wurden akut verstrahlt. Die langfristigen Wirkungen lassen sich bis heute noch nicht absehen. Mit genetisch bedingten Schädigungen nachfolgender Generationen und einem Anstieg der Krebsrate ist zu rechnen. Die Katastrophen von Bhopal und Tschernobyl sorgten vor allem in den westeuropäischen Ländern – allen voran der Bundesrepublik – für eine weitere Sensibilisierung der Bevölkerung. Entsprechend groß war das Aufsehen, als im Oktober des selben Jahres bekannt wurde, daß beim Baseler Chemiekonzern Ciba-Geigy 400 Liter des hochgiftigen Herbizids Atrazin in die Kanalisation und anschließend in den Rhein gelangt waren. Nur einen Tag später machte ein Großbrand in der gleichfalls in Basel liegenden Firma Sandoz die jahrelangen internationalen Bemühungen um eine Verbesserung der Qualität des Rheinwassers zunichte. Mit dem unkontrolliert abfließenden Löschwasser gelangten hunderte Tonnen hochgiftiger Insekten- und Pflanzenvernichtungsmittel in den Rhein. Eine giftige Wolke legte sich über die Stadt. Im Oberlauf des Flusses wurde fast alles Leben vernichtet, auf einer Länge von dreihundert Kilometern war der Rhein schwer verseucht. Der giftige Teppich zog langsam den Fluß hinunter und erreichte am 7. November Nordrhein-Westfalen. Wie schon zuvor in Rheinland-Pfalz, wurden auch hier die Rheinbrunnen geschlossen. Die definitive Regeneration des Flusses würde – nach damaligen Schätzungen – etwa zehn Jahre dauern. Der fahrlässige Umgang mit Chemikalien ging uneingedenk dieser Katastrophe weiter. Allein in den nächsten fünf Wochen wurde in den Medien über fünf weitere – wenngleich auch bei weitem nicht so schwere – Chemieunfälle am Rhein berichtet. Die Meldungen über Chemie- und Umweltkatastrophen rissen auch während der folgenden Jahre nicht ab. Ölpesten auf Land oder auf dem Wasser sorgen immer wieder für Schlagzeilen, wie auch andere Unglücke, die durch Fahrlässigkeit oder Leichtsinn ausgelöst wurden. Das Robbensterben in der Nordsee und der Algenteppich auf der Adria 160 VON 300 sind zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit. 1999 führte ein Skandal um Dioxin in belgischen Lebensmitteln zum Rücktritt der Regierung. 12.07.76 Überschwemmung verwüstet Colorado Eine der schwersten Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte überschattet im Juli 1976 die Feiern zum 200. Geburtstag der USA. Mehrere Bundesstaaten werden von schweren Unwettern heimgesucht. Besonders hart betroffen war Colorado. Nachdem innerhalb von sechs Stunden mehr als 30 Zentimeter Niederschlag gefallen waren, schwollen der Colorado River und seine Nebenflüsse blitzartig an und verwandelten sich in reißende Ströme. Schwere Verwüstungen richteten die Wassermassen vor allem im Big Thompson Canyon an. 139 Menschen, darunter zahlreiche Urlauber, starben bei dieser Katastrophe. Naturkatastrophen gehören seit langem zum amerikanischen Alltag und fordern alljährlich Hunderte von Menschenleben. Während der Westen fast jedes Jahr Schauplatz von Überschwemmungen und Tornados ist, werden die östlichen Staaten regelmäßig von verheerenden Hurrikanes heimgesucht. Aus der traurigen Bilanz der Naturkatastrophen in den USA sticht die Überschwemmung des Jahres 1976 jedoch wegen der ungewöhnlich hohen Zahl von Opfern hervor. 27.07.76 Hunderttausende Tote nach Erdbeben in China Das tragischste Erdbeben der Neuzeit verwüstet die nordchinesische Stadt Tangschan, 130 Kilometer südlich von Peking. Nach unterschiedlichen Angaben verloren infolge des Erdbebens in der Volksrepublik China zwischen 200.000 und 750.000 Menschen ihr Leben. In der Millionenstadt setzte das Erdbeben in den frühen Morgenstunden des 27. Juli mit einer Stärke von 8,2 auf der Richter-Skala ein, dem ersten Beben folgte in der Nacht ein weiteres mit einer Stärke von 7,9. Der Sachschaden wurde mit mehr als 75 Millionen DM beziffert. Die Stadt wurde bei dem Beben vollkommen zerstört. Die Zerstörung war auch deshalb so groß, weil Tangschan das Zentrum eines Kohleabbaugebietes war und durch das Beben die unter der Stadt liegenden Gruben und Kanäle nachgaben und einstürzten. Dadurch wurden große Teile der Stadt von der Erde verschlungen. Das Land war bereits mehrfach durch Naturkatastrophen unvorstellbaren Ausmaßes verwüstet worden. 1556 waren in Shensi nach ungesicherten Angaben sogar über 800.000 Menschen Opfer eines starken Bebens geworden. 09.09.76 Ende der Ära Mao Mao Tse-tung ist tot - das Ende einer Ära. Der linke Flügel innerhalb der KP verliert nun seine entscheidende Stütze. Am 9. September 1976 starb in Peking der 82jährige Mao Tse-tung vermutlich an der Parkinsonschen Krankheit. Offizielle Stellen schwiegen zur Todesursache. Bereits ab Juni des Jahres hatte Mao aufgrund der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes keine ausländischen Staatsgäste mehr in Peking empfangen können. Die Leiche Maos wurde am 10.September in der Halle des Volkskongresses aufgebahrt. Die Trauerfeier fand am 18. September in Peking statt. Ministerpräsident Hua Kuo-feng sprach dabei vor einer riesigen Menschenmenge. Die Zahl der Teilnehmer an den Feierlichkeiten wird auf 1,5 Millionen geschätzt. Mit dem Tode Maos ging in der Volksrepublik China eine Ära zu Ende. Als Exponent des linken Flügels der KP war er zur Leitfigur und zum Symbol des radikalen Wandels geworden. Neben großen politischen Leistungen sind auf seinem Konto aber auch Fehlentscheidungen katastrophalen Ausmaßes zu verbuchen, so der "Große Sprung nach vorne" oder die Kulturrevolution. 161 VON 300 Der innerparteiliche Machtkampf um die Nachfolge Maos tobte bereits seit Jahren, ohne daß eine Seite ihn bisher zu ihren Gunsten hätte entscheiden können. Mit dem Tode Maos verlor die linke Fraktion der KP ihre entscheidende Stütze. In einer letzten Anstrengung leiteten ihre Exponenten eine Pressekampagne gegen die "Revisionisten" in der KP ein und forderten die Fortsetzung der Kulturrevolution. 13.11.76 Atomkraftgegner demonstrieren in Brokdorf Am 13. November 1976 versuchen Tausende von Kernkraftgegnern, den Bauplatz für das Atomkraftwerk in Brokdorf zu besetzen. Rund 25.000 Menschen, unter ihnen Pastoren im Talar, ziehen an die Großbaustelle in der Wilster Marsch, um ihren Protest gegen die Kernenergie zum Ausdruck zu bringen. Die ursprünglich friedlich geplante Demonstration endete mit einer Schlacht zwischen Polizei und Kernkraftgegnern. 14 Polizei-Hundertschaften gingen gegen 1.000 bis 3.000 vermummte und militante Demonstranten vor. Hubschrauber warfen Tränengaspatronen auf gewalttätige wie auf friedliche Demonstranten. Mit Wasserwerfern versuchte die Polizei, der Demonstration ein Ende zu setzen. Das Ergebnis waren 100 verletzte Demonstranten und 81 verletzte Polizisten. Zeitungen machten am folgenden Tag mit Schlagzeilen wie "Bürgerkrieg in der Wilster Marsch" auf. Die Anti-Atomkraft-Bewegung etablierte sich Mitte der 70er Jahre und fand in der Bevölkerung eine breite Zustimmung. Die heftige Auseinandersetzung um Brokdorf sorgte zwar für Irritationen in der Öffentlichkeit und bei den Initiatoren der Protestkundgebung, dennoch nahmen die Massenproteste gegen Atomkraftwerke in den folgenden Jahren noch zu, in Brokdorf selbst, aber auch an anderen Standorten wie Kalkar, Grohnde oder Gorleben. 14.12.76 Oetker-Sohn wird entführt Spektakulärster Entführungsfall in der Geschichte der Bundesrepublik: der Sohn der Chefs des Oetker-Konzerns, Richard Oetker, wird in Freising bei München Opfer eines minutiös geplanten Verbrechens. Hinweise auf einen terrorristischen Hintergrund erhärteten sich nicht. Die Entführer verlangten ein Lösegeld von 21 Millionen Mark. Zwei Tage später begab sich der Bruder des Entführten mit einem Koffer, der das Lösegeld enthielt, in die Münchener Innenstadt. Dort wurde er vom Entführer zu einer Hauswand dirigiert, wo der Lösegeldkoffer unbemerkt hinter einer Metalltür verschwand. Fünf Stunden später wurde der Entführte gefunden. Er war brutal gequält und in einer nur 60x70x120 Zentimeter großen Kiste eingesperrt worden. Innerhalb der zwei Tage hatte er sich schwerste Verletzungen und Folgeerkrankungen zugezogen. Der Entführer des Oetker-Sohns hatte nichts von seinem Geld: Er wurde wenig später verhaftet und zu einer lebenslangen Strafe verurteilt. Als er 1996 wieder in Freiheit war, waren die Tausendmarkscheine, aus denen das Lösegeld bestand, ungültig geworden. 01.01.77 Bürgerrechtsgruppe "Charta 77" gegründet In Prag sammelt sich eine Gruppe von Bürgerrechtlern, um gegen die fortdauernden Menschenrechtsverletzungen durch die kommunistische Regierung zu protestieren. Sie fordern in einer am 1. Januar 1977 veröffentlichten "Charta 77" bürgerliche Freiheiten und politische Rechte. Die 257 Unterzeichner beriefen sich dabei auf die UNO-Menschenrechtsdeklaration und die KSZE-Schlußakte von Helsinki. Dieses Manifest gab der Gruppe auch den Namen, unter dem sie später weltberühmt werden sollte. Zu den Gründern der "Charta 77" gehörten der Dramatiker Vaclav Havel, der Philosoph Jan Patocka, der Schriftsteller Pavel Kohout und Jiri Hajek, ehemaliger Außenminister zur Zeit des Prager Frühlings. Die Gruppe verstand sich nicht als politische Partei, sondern als 162 VON 300 offenes Forum all derjenigen, die sich für Menschenrechte einsetzen wollten. Ihre Absicht war es, "einen konstruktiven Dialog mit der politischen und staatlichen Macht" zu führen und Fälle von Menschenrechtsverletzung an die Öffentlichkeit zu bringen. Die tschechoslowakischen Behörden verhafteten sofort nach Erscheinen der "Charta 77" die Hauptinitiatoren. Der bereits kränkliche Jan Patocka wurde einem elfstündigen Verhör unterzogen und erlag wenig später einem Schlaganfall. Die übrigen Verhafteten wurden unter strengen Auflagen aus der Haft entlassen. Trotz des Mutes und des unerschrockenen Einsatzes der Aktivisten entwickelte sich die "Charta 77" nicht zu einer Massenbewegung, wie dies in einem vergleichbaren Fall in Polen geschah. 27.03.77 Jumbo-Jets stoßen bei Start zusammen Das bislang schwerste Unglück der Luftfahrtgeschichte ereignet sich im März 1977 auf der Ferieninsel Teneriffa. Beim Zusammenstoß zweier vollbesetzter Maschinen sterben 575 Menschen. Innenpolitische Turbulenzen der jungen spanischen Demokratie hatten das Unglück zumindest mitverursacht. Der Flughafen von Los Rodeos war seit einigen Tagen stark überlastet, da wegen Bombendrohungen spanischer Terroristen auf der Nachbarinsel Gran Canaria etliche der dort vorgesehenen Starts und Landungen auf Teneriffa abgewickelt wurden. Eine vollbesetzte Boeing 747 der holländischen Fluggesellschaft KLM war ohne Genehmigung des Towers im dichten Nebel auf die Startbahn gerollt und dort mit einem PanAm-Jumbo kollidiert, der sich gerade im Startvorgang befand. Nur 70 Passagiere konnten mit zum Teil erheblichen Verletzungen gerettet werden. (Li.: Spurensuche in den Trümmern) Drei Jahre nachdem erstmals ein Jumbo-Jet durch einen Absturz in die Schlagzeilen geraten war, bedeutete die Katastrophe von Teneriffa einen weiteren Rückschlag für den Flugzeughersteller Boeing, wiewohl nachweislich kein technisches, sondern menschliches Versagen das Unglück verursacht hatte. 07.04.77 Generalbundesanwalt Buback ermordet Auftakt einer bislang beispiellosen Serie von Mordanschlägen der RAF ist die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback (u.l.). Buback wird zusammen mit zwei Begleitern auf der Fahrt in sein Büro an einer roten Ampel erschossen. Wenig später bekannte sich ein "Kommando Ulrike Meinhof – Rote Armee Fraktion" benannt nach der im letzten Jahr durch Selbstmord umgekommenen Topterroristin - zu diesem Anschlag; die Terroristen deklarierten ihn als "Hinrichtung". Die Polizei konnte zwar Anfang Mai zwei des Mordes an Buback verdächtigte Terroristen verhaften und die Logistik der RAF in der Schweiz und in Teilen der Bundesrepublik aufdecken, doch unterbrach das die Serie der Attentate nicht. Am 30. Juli wurde Jürgen Ponto, Vorstandsvorsitzender der Dresdner Bank, bei einem Entführungsversuch erschossen. Am 5. September wurde Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer entführt und am 19. Oktober nach der gewalttätigen Beendigung der Flugzeugentführung in Mogadischu ermordet. Nach dem Selbstmord der drei Terroristen Baader, Ensslin und Raspe ging die Zahl der Anschläge in den Jahren 1978 und 1979 zwar leicht zurück, in den 80er Jahren brach jedoch eine neue Welle der Gewalt aus. 15.06.77 Erste freie Wahlen in Spanien Die ersten freien Wahlen in Spanien nach 41 Jahren Diktatur bestätigen die "Demokratische Zentrumsunion" des amtierenden Regierungschefs Adolfo Suárez Gonzalez. 163 VON 300 Gonzalez’ Parteienbündnis aus christlichen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien erhielt fast 34 Prozent der Stimmen, während die Sozialisten knapp 29 Prozent auf sich vereinigen konnten. Die erst im April zugelassene KP erhielt 9,2 Prozent, während sich acht Prozent der Wähler für die konservative Volksallianz entschieden. Die Neuwahlen konnten durchgeführt werden, nachdem im November 1975 der spanische König Juan Carlos (l.) die Herrschaft übernommen hatte. Unter den von ihm eingesetzten provisorischen Regierungen Suárez und Carrillo war Spanien schnell zu einer modernen demokratischen Gesellschaft umgestaltet worden. Mit den demokratischen Wahlen hatte sich als letztes europäisches Land nun auch Spanien endgültig vom dunklen Schatten der faschistischen Diktatur befreit und näherte sich kontinuierlich den westeuropäischen Demokratien an. Deutlich sichtbare Zeichen waren neben der Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts auch der Beitritt des Landes zur NATO 1982 und EG 1986. Zwar versuchten während der nächsten Jahre neofranquistische Gruppen durch Putschversuche zur Diktatur zurückzukehren, das Rad der Geschichte ließ sich jedoch nicht zurückdrehen. Die erste und wichtigste Aufgabe des neugewählten Parlaments war die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die am 27. Dezember 1978 in Kraft trat. 19.10.77 Terror im Wohlfahrtsstaat Mit der Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer erreicht der Terror der "Rote Armee Fraktion" seinen Höhepunkt. Für die Regierung wurde der "Deutsche Herbst" zur Bewährungsprobe. Bonn blieb unnachgiebig und unerpressbar - und zahlte einen hohen Preis. Doch auch die RAF erlitt einen herben Rückschlag: Nach den Selbstmorden von Stammheim verlor die Organisation erheblich an innerer Struktur und auch an Rückhalt bei ihren Sympathisanten. Was in den nächsten Jahren folgte, war wütender, blinder Terror. Schleyer ermordet Hanns Martin Schleyer ist tot: Nach sechs Wochen quälender Ungewißheit wird der Arbeitgeberpräsident im französischen Mulhouse im Kofferraum eines grünen Audi 100 tot aufgefunden. Vorausgegangen waren eineinhalb Monate voller Hoffen und Bangen, daß der Entführte doch noch freikommen würde. Ein "Kommando Siegfried Hauser" der "RAF" hatte die Freilassung von elf inhaftierten RAF-Mitgliedern und ein Lösegeld in Höhe von etwa 35 Millionen Mark gefordert. Die anfangs seitens der Behörden praktizierte Verschleppungstaktik wurde aufgegeben, als arabische Verbündete der Terroristen die Lufthansa-Maschine "Landshut" entführten. Die Angehörigen Schleyers versuchten alles, um die Freilassung des Entführten zu ermöglichenen. Sein Sohn Hanns Eberhard Schleyer hatte sich als Geldbote angeboten. Nach der Flugzeugentführung versuchte er eine eventuelle Befreiung der Geiseln zu stoppen, indem er eine Klage am Bundesverfassungsgericht einreichte, die jedoch abgewiesen wurde. Als in der Nacht vom 18. Oktober die Luftpiraten in Mogadischu überwältigt wurden, sanken die Hoffnungen, Hanns Martin Schleyer lebend wiederzusehen. Am Nachmittag des 19. Oktober bekam die Deutsche Presseagentur in Stuttgart von einer Frau den Hinweis auf den Standort des Wagens. Um 21.11 Uhr fanden die Fahnder den Wagen mit der Leiche des Entführten. Chronik der Studentenproteste in Deutschland 7. Januar 1966 Demonstrationen und Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Bundesregierung, die erklärt hat, daß sie den Krieg der Amerikaner in Vietnam unterstützen wird 22. Juni 1966 164 VON 300 Sitzstreik von 3.000 Berliner Studenten gegen das Verbot, Universitätsräume nicht mehr für politische Versammlungen benutzten zu dürfen sowie für mehr Mitbestimmung und eine Studienreform 28. November 1966 Protestaktion von über 1.200 Studenten gegen die Beteiligung der SPD an einer "Großen Koalition" 1. Dezember 1966 Nach der Bildung der "Großen Koalition" aus CDU/CSU und SPD unter dem neuen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger gründet sich die Außerparlamentarische Opposition (APO) 27. Mai 1967 Beginn der Proteste gegen den Deutschlandbesuch des Schah von Persiens Reza Pahlawi 2. Juni 1967 Bei den Studentenprotesten gegen den Schah wird der Berliner Germanistikstudent Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen; Auftakt zur Radikalisierung der Studentenbewegung 9. November 1967 Nach dem Beschluß der sogenannten Notstandverfassung finden in Bonn erste öffentliche Hearings statt 18. Februar 1968 Demonstration von 12.000 Studenten in Berlin gegen den amerikanischen Militäreinsatz in Vietnam 3. April 1968 Brandanschlag auf ein Frankfurter Kaufhaus aus Reihen der sich radikalisierenden Aktivisten, unter anderen Andreas Baader und Gudrun Ensslin, soll gegen die politischen Verhältnisse in Deutschland protestieren 11. April 1968 Rudi Dutschke, der Vorsitzende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) wird bei einem Attentat schwer verletzt; in ganz Deutschland kommt es zu Demonstrationen und blutigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei 12. April 1968 Heftige Ausschreitungen in mehreren deutschen Städten als über 10.000 Menschen gegen die Machtstellung der Springer-Presse protestieren, die wegen ihrer hetzerischer Berichterstattung für das Attentat auf Dutschke verantwortlich gemacht wird 15. April 1968 Solidaritätserklärung prominenter Professoren und Schriftsteller mit den Studenten und der APO 11. Mai 1968 Sternmarsch nach Bonn von etwa 30.000 Demonstranten gegen die Notstandsgesetze, in denen sie eine Bedrohung der demokratischen Grundrechte sehen; Großdemonstrationen in Bonn und Dortmund 30. Mai 1968 Verkündung der Notstandsgesetze durch den Bundestag 165 VON 300 Treuhand-Chef von der RAF ermordet Der Vorstandsvorsitzende der Berliner Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder (SPD), wurde am 1. April 1991 im Arbeitszimmer seines Düsseldorfer Privathauses erschossen. Zu dem Attentat, bei dem auch seine Frau verletzt wurde, bekannte sich die “Rote-ArmeeFraktion” (RAF), die Fahndung nach den Tätern verlief jedoch ergebnislos. Rohwedder, der am 20. August 1990 zum Präsidenten der Treuhand berufen worden war, war in der letzten Zeit vor dem Attentat immer wieder in die Kritik geraten, weil sein Sanierungskurs vielen zu hart erschien. Ihm wurde vorgeworfen, daß soziale Aspekte bei der Arbeit der Treuhand zu wenig berücksichtigt und Projekte nur schleppend bearbeitet würden, so daß Tausende von Arbeitsplätzen verloren gingen. Bundespräsident Richard von Weizsäcker würdigte den Treuhandchef während des Staatsaktes in Berlin aber als leidenschaftlichen Wegbereiter der deutschen Einheit, der als Treuhändler das wirtschaftliche Desaster der DDR-Firmen zu regeln hatte. Am 13. April wurde Birgit Breuel, bisherige Vizepräsidentin, zur Nachfolgerin Rohwedders berufen. Die 53jährige CDU-Politikerin, die bis 1990 als Finanzministerin in Niedersachsen tätig gewesen war, bekräftigte grundsätzlich das angewandte Konzept. Entgegen den Hoffnungen von Treuhandkritikern änderten sich so die Kriterien der Treuhandarbeit nicht. Die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung sozialer Aspekte wurde weiterhin aufrechterhalten. 29.01.78 Sowjetischer Satellit zerschellt über Kanada Im Januar 1978 kommt der sowjetische Spionagesatellit Kosmos von seiner Umlaufbahn ab und stürzt auf die Erde. Wenig später entdeckt ein Forscherteam Überreste des Satelliten, die sich bei Walden's Grove in die nordkanadische Eiswüste gebrannt hatten. Der Satellit war am 18. September 1977 in eine Erdumlaufbahn geschossen worden, um Truppenbewegungen zu beobachten. Der mit Atomkraft angetriebene Satellit benötigte etwa 100 Minuten, um die Erde einmal zu umrunden. Unter seiner Flugbahn lagen unter anderem Spanien, Tunesien, Madagaskar, Kalifornien, Neuseeland und Zentralkanada. Es war reiner Zufall, daß die Antriebseinheit des Satellits sowie weitere Trümmer nicht über einem der dichtbesiedelten Punkte seiner Umlaufbahn vom Himmel stürzten, sondern auf die nordkanadische Eiswüste. Ebenso war es Zufall, daß das radioaktive Material wahrscheinlich schon beim Eintritt in die oberen Schichten der Erdatmosphäre verbrannte. 09.05.78 166 VON 300 Aldo Moro wird ermordet In der italienischen Hauptstadt Rom wird die Leiche des ehemaligen Ministerpräsidenten und Chef der "Democrazia Christiana", Aldo Moro, im Kofferraum eines Wagens gefunden. Der 62jährige ist am 16. März von Terroristen der Roten Brigaden entführt worden und konnte trotz fieberhafter Ermittlungen der Polizei nicht befreit werden. Die "Brigate Rosse", die schon in der Vergangenheit mehrfach Entführungen und politische Morde begangen hatten, trieben ein grausames Katz-und-Maus-Spiel mit den Polizeibehörden. Etwa 50.000 Beamte waren an der Suche nach dem Entführten beteiligt. Nachdem zuvor in einem Schreiben der Entführte als "zum Tode verurteilt" bezeichnet wurde, hieß es am 18. April, Moro sei "durch Selbstmord hingerichtet" worden, seine Leiche liege im einem See. Zwei Tage später sandten die Entführer ein Foto als neuen Lebensbeweis und stellten jetzt erstmals Forderungen. Unter anderem forderten sie die Freilassung "kommunistischer" Gefangener, darunter auch den angeklagten "BrigateRosse"-Führer Renato Curcio. Trotz dringender Appelle des Entführten und seiner Familie ließen sich die Behörden auf keinerlei Zugeständnisse an die Entführer ein. Daraufhin ermordeten die Terroristen ihr Opfer. 11.07.78 Explosion verwüstet Campingplatz Der direkt neben einer Nationalstraße gelegene Campingplatz Los Alfaques an der spanischen Costa Blanca wird mitten in der Urlaubszeit durch eine Feuerwalze völlig zerstört. Ursache: ein mit Propylengas beladener Tankzug. Der Tankzug war von der Nationalstraße abgekommen, wobei der Tank zerstört worden war. Dann prallte der Tankzug auf die Begrenzungsmauer des Campingplatzes. Das Propylengas explodierte und entlud eine alles verschlingende Feuerwalze über den Campingplatz, die 180 Menschen das Leben kostete. Weitere 600 Menschen überlebten mit zum Teil schweren Brandverletzungen. Im Vorfeld des Unglücks hatte man immer wieder darauf hingewiesen, daß ein solcher Unfall unvermeidbar sei, wenn nicht Sicherungsmaßnahmen getroffen würden, die den Campingplatz von der Nationalstraße abtrennten. Eine erneute Diskussion um die Sicherheit von Campingplätzen kam auch 1996 wieder auf, als eine Schlammlawine 71 Camping-Urlauber in den Tod riß. Auch hier hatten Experten vor dem Standplatz gewarnt. 17.09.78 Frieden im Nahen Osten? Nach drei Jahrzehnten anhaltender Krisen und Kriege kommt es zu einer Entspannung im Nahen Osten. Ägyptens Präsident Sadat sucht den Dialog mit Israel und den Anschluß an den Westen. Höhepunkt des Kurswechsels wurde der Gipfel von Camp David. Israel zog sich nun endgültig vom Sinai zurück. Ägypten bezahlte allerdings mit dem Ausschluß aus der arabischen Liga, Sadat mit dem Leben. Der Frieden in der Region blieb jedoch auch während der nächsten Jahrzehnte brüchig. Gipfel von Camp David Hoffnung auf Frieden in Nahost: Auf Einladung des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter treffen der israelische Ministerpräsident Menachem Begin und Ägyptens Präsident Awar as-Sadat zu Verhandlungen in Camp David zusammen. Damit wurden die ägyptisch-israelischen Gespräche fortgesetzt, die durch den Jerusalem-Besuch von Präsident Awar as-Sadat im November 1977 in Gang gekommen waren. In schwierigen Verhandlungen einigten sich Carter, Sadat und Begin auf zwei Rahmenabkommen für eine Nahost-Friedenslösung. Das erste Abkommen über eine allgemeine Nahost-Friedensregelung sah den Rückzug der israelischen Armee aus dem 1967 besetzten Westjordanland und dem Gaza-Streifen 167 VON 300 vor, sowie palästinensische Selbstverwaltung und die endgültige Regelung der Palästinenserfrage nach fünf Jahren. Die Verhandlungen sollten allen am Konflikt beteiligten arabischen Staaten und Vertretern der Palästinenser offenstehen. Das zweite Abkommen sah vor, daß ein israelisch-ägyptischer Friedensvertrag innerhalb von drei Monaten unterzeichnet werden sollte. Der Friedensvertrag kam schließlich im März 1979 zustande. 16.10.78 Drei Päpste in einem Jahr Am 16. Oktober 1978 wurde im Vatikan der ehemalige Erzbischof von Krakau, Karol Wojtila, zum neuen Papst Johannes Paul II. gewählt. Als Reminiszenz an seinen nach nur 33tägiger Amtszeit verstorbenen Vorgänger Johannes Paul I., wählte der neue Papst denselben Namen. Im selben Jahr war bereits Papst Paul VI. gestorben. Johannes Paul II. war der erste nichtitalienische Papst seit über 450 Jahren. In Kirchenfragen steuerte er einen deutlich restaurativen Kurs. Im Zeitalter von Emanzipation und weltweit verbreitetem Aids sorgte er durch seine unnachgiebige Haltung in Fragen wie Scheidungsrecht, Zölibat, Empfängnisverhütung oder Zulassung von Frauen zum Priesteramt für zunehmendes Unverständnis und Kritik auch aus den Reihen der Katholiken. Die Folge war eine drastische Zunahme der Kirchenaustritte. Durch theologisch restaurative Praktiken, wie z.B. der Marienverehrung, versuchte der Papst, die Gläubigen wieder stärker unter den Einfluß des kirchlichen Dogmas zu bringen. Besondere Kritik erregten auch die als perfekte Massenveranstaltungen organisierten Auftritte des Papstes in Fußballstadien und anderen Großraumarenen während seiner zahlreichen Reisen vor allem in den Ländern der "Dritten Welt". Den gerade hier weitverbreiteten Problemen Aids und Überbevölkerung hielt der Papst seine dogmatischen Überzeugungen von der Verwerflichkeit jedweder Empfängnisverhütung entgegen und predigte sexuelle Enthaltsamkeit und Rückkehr zu "katholischer Tugend". Der Papst wurde mehrfach das Ziel von Attentaten. 28.12.78 Schneekatastrophe sucht Norddeutschland heim Schneekatastrophe in Deutschlands Norden. Stundenlange Schneefälle und heftige Stürme verwandeln die Bundesländer Schleswig-Holstein und Niedersachsen in regelrechte Schneewüsten. Über 100 Gemeinden wurden von der Außenwelt abgeschnitten, viele davon auch von der Stromversorgung. Fahrzeuge und selbst Züge der Bundesbahn blieben in den Schneemassen stecken und mußten mühsam freigeschaufelt werden. Weil die norddeutschen Gemeinden auf eine solche Schneekatastrophe nicht eingerichtet waren, standen zuwenig Schneefräsen zur Verfügung. Viele der eingeschlossenen Einwohner mußten solange von Panzern der Bundeswehr versorgt werden, bis aus Bayern Fräsen herangeschafft werden konnten. Auch als Krankentransporter wurden die Panzer eingesetzt. Zu Silvester 1978 sanken die Temperaturen in ganz Deutschland auf minus 22 Grad Celsius. Schon in den Jahren zuvor waren Mitteleuropa und Deutschland waren mehrfach Schauplatz ungewöhnlich extremer Wetterbedingungen geworden. 07.01.79 Killing Fields Mit der Einnahme der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh durch vietnamesische Truppen endet die Terrorherrschaft Pol Pots. Das Land gleicht nach seiner fast vierjährigen Tyrannei einem Inferno. Nach dem Abzug der Amerikaner aus Indochina hatten die "Roten Khmer" 1975 die Macht an sich gerissen: Pots Visionen eines "Steinzeit-Kommunismus" kosteten über eine Million Menschen das Leben und zerrissen das Land über Jahrzehnte. 168 VON 300 Vietnamesen nehmen Phnom Penh ein Das kommunistische Vietnam beendet durch einen Blitzkrieg die fast vierjährige Tyrannei des Pol Pot-Regimes. Der Tyrann zieht sich mit einigen Getreuen in den Dschungel zurück. Nach mehrmonatigen Grenzgefechten waren am 25. Dezember 1978 rund 100.000 vietnamesische Soldaten zusammen mit der 20.000 Mann starken "Kambodschanischen Revolutionsarmee", die zuvor in Vietnam ausgebildet worden war, in vier Keilen in Kambodscha einmarschiert. Durch die Überlegenheit der Panzerund Luftstreitkräfte schlug Vietnam die Regierungstruppen der Roten Khmer und nahm die Hauptstadt Phnom Penh ein. Pol Pot und die Führungsclique zogen sich ins Gebirgsmassiv von Phnom Malai im Südwesten zurück und organisierten von dort aus den Guerillakampf. In Phnom Penh wurde vier Tage nach der Eroberung die "Volksrepublik Kambodscha" ausgerufen. Die Regierung übernahm der vietnamfreundliche Heng Samrin (l.), ein desertierter Offizier der geschlagenen Roten Khmer. Erst nach und nach kam das Ausmaß der Schreckensherrschaft Pol Pots ans Licht. Im ganzen Land wurden Massengräber gefunden. Die Städte waren entvölkert worden. Auf westlicher Seite hielt man dennoch an Pol Pot fest. US-Präsident Jimmy Carter verurteilte den Einmarsch der Vietnamesen als ungerechtfertigte Invasion. Besorgnis erregte, daß Vietnam als neue Regionalmacht entstehen könnte, denn auch in Laos übte Vietnams Staatspräsident Ton Duc Thang großen Einfluß aus. In der UNO blieb Pol Pot das anerkannte Staatsoberhaupt von Kambodscha. Der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew und die Warschauer Pakt-Staaten erkannten dagegen die Regierung Samrins schnell an. 16.01.79 Islamische Revolution Der seit 1941 regierende Schah Reza Pahlawi flieht im Januar 1979 aus dem Iran und ermöglicht damit dem 77jährigen islamischen Geistlichen Ayatollah Khomeini die Rückkehr aus seinem Pariser Exil. Das Land wurde radikal nach dem Muster eines "Gottesstaates" umgebaut. Im November mußte Amerika eine tiefe Demütigung hinnehmen: Radikale Studenten besetzten die USBotschaft in Teheran und nahmen etwa 70 Geiseln. Ein Versuch zur Befreiung der Geiseln scheiterte kläglich. Khomeini übernimmt die Macht im Iran Der seit 1941 regierende Schah Reza Pahlawi verläßt am 16. Januar 1979 den Iran und ermöglicht damit dem 77jährigen islamischen Geistlichen Ayatollah Ruhollah Khomeini die Rückkehr aus seinem 15jährigen Exil. Am 1. April 1979 proklamierte Khomeini die Islamische Republik Iran und ließ sie durch eine Volksabstimmung bestätigen. Dem Schah war es nicht gelungen, den Widerstand der Demonstranten und Streikenden des Jahres 1978 zu brechen, obwohl er mehrfach das Kriegsrecht verhängt und eine Militärregierung eingesetzt hatte. Das militärische Oberkommando erklärte im Februar 1979 die Neutralität der Armee. Viele Soldaten hatten schon vorher Befehle nicht mehr ausgeführt. Der noch am 1. Januar 1979 von Pahlawi eingesetzte Premier Bachtiar trat am 11. Februar zurück. Die neue Regierung bildete der von Khomeini ernannte Mehdi Basargan. Bis August 1979 wurden hunderte Repräsentanten des Schah-Regimes und Mitarbeiter des Geheimdienstes nach Schnellverfahren hingerichtet. Alle Spuren der Verwestlichung sollten aus dem öffentlichen Leben verschwinden, Alkohol und westliche Filme wurden verboten. Für Frauen wurde die traditionelle islamische Verschleierung vorgeschrieben. Wirtschaftlich gab es große Probleme, besonders weil Familienmitglieder und Anhänger des Schahs einen guten Teil des Volksvermögens ins Ausland gebracht hatten. Außenpolitisch spielte die Ablehnung der USA, die den Schah unterstützt hatte, eine immer größere Rolle. Die 169 VON 300 diplomatischen Beziehungen zu Israel und Südafrika wurden abgebrochen. Im Februar 1979 konnte PLO-Chef Yassir Arafat eine Vertretung in Teheran eröffnen. Der iranische Schah geht ins Exil Nach monatelangen Unruhen muß Schah Reza Pahlawi Anfang 1979 den Iran verlassen. Der aus 15jährigen Exil zurückgekehrte Ayatollah Khomeini übernimmt die Regierung und beginnt mit der Errichtung eines Islamischen Gottesstaates. Bis August wurden hunderte Repräsentanten des Schah-Regimes und Mitarbeiter des Geheimdienstes nach Schnellverfahren hingerichtet. Alle Spuren der Verwestlichung sollten verschwinden, Alkohol und westliche Filme wurden verboten. Für Frauen wurde die traditionelle islamische Verschleierung vorgeschrieben. Wirtschaftlich drohte ein Desaster, da Anhänger des Schahs einen großen Teil des Volksvermögens ins Ausland gebracht hatten. Außenpolitisch spitzte sich Lage die Ablehnung der USA, die den Schah unterstützt hatte, eine immer größere Rolle. Im Februar 1979 konnte PLO-Chef Yassir Arafat eine Vertretung in Teheran eröffnen. Trotz größter Brutalität und Verhängung des Kriegsrechts war es dem Schah nicht gelungen, den Widerstand der Demonstranten und Streikenden des Jahres 1978 zu brechen. Die Armee hatte sich im Februar neutral erklärt, viele Soldaten hatten schon vorher Befehle nicht mehr ausgeführt. 13.03.79 Europäisches Währungssystem tritt in Kraft Die Länder der Europäischen Gemeinschaft setzen dem freien "Floaten" ihrer Währungen das Europäische Währungssystem (EWS) entgegen. Damit wird eine Entwicklung in Gang gesetzt, die zu einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion führen soll. Der sogenannte ECU (European Currency Unit) sollte als Grundlage zur Verwirklichung der wirtschaftlichen und politischen Einigung dienen und einen Wert von etwa zwei DM haben. In fernerer Zukunft soll er als alleiniges europäisches Zahlungsmittel die vielen unterschiedlichen bislang geltenden Währungen ersetzen. Bis zur Einführung des ECUs sollte das EWS die gegenseitigen Wechselkurse der europäischen Währungen auf der Basis sogenannter Leitkurse regeln. Bei erheblicher Abweichung vom Leitkurs waren die europäischen Banken zur Intervention verpflichtet, d. h. sie mußten durch An- oder Verkäufe die Schwankungen im Währungssystem ausgleichen, oder wenn dies nicht möglich war, die Leitkurse neu bestimmen. Heftigen Widerspruch gegen das EWS leistete vor allem Großbritannien, dessen Bevölkerung dem europäischen Einigungsprozeß große Skepsis entgegenbrachte. Nach einigen Jahren weitgehender Stabilität der Kurse, führte die anhaltende Stärke der deutschen Mark und die Schwäche des britischen Pfundes, der italienischen Lira und des griechischen Drachmen 1992 zum vorübergehenden Austritt der drei betroffenen Länder aus dem Währungssystem. 28.03.79 Atomunfall in Harrisburg Atomunfall im Kernkraftwerk "Three Mile Island" bei Harrisburg/Pennsylvania. Ein GAU ("Größter Anzunehmender Unfall") läßt sich nur um Haaresbreite verhindern. Aufgrund menschlichen und technischen Versagens fiel im Kraftwerk zunächst das Kühlsystem aus. Die Brennstäbe wurden beschädigt und eine leicht radioaktive Wolke entwich. Als dann das Bedienungspersonal auch noch das Ersatzsystem ausschaltete, bestand völlig unbemerkt Explosionsgefahr. Erst zwei Tage später wurde die Bevölkerung, etwa zwei Millionen Menschen im Umkreis von etwa 80 Kilometer gewarnt, Schwangere und Kinder evakuiert. Die Behörden schlossen in öffentlichen Verlautbarungen eine generelle Gefährdung aus, obwohl erst eine Woche nach dem Unfall die herbeigerufenen Experten Entwarnung gaben. Dennoch kam es zur Massenflucht aus der Region. Die US-Regierung ließ nach dem Unfall eine Studie zur Beruhigung der Bevölkerung veröffentlichen, nach der das gestiegene Krebsrisiko nur bei 0,003 Prozent läge. Der Abfluß von 1,5 Mio. Liter 170 VON 300 radioaktiv-verseuchtem Wasser in den nahe gelegenen Susquehanna-Fluß wurde verschwiegen. Trotz Beruhigungskampagnen der US-Regierung Carter (l.) gewann die AntiAtomkraftbewegung an Zulauf. Überall in den USA kam es in der Folge zu Protestkundgebungen gegen die zivile und militärische Nutzung der Atomkraft. Die Atomenergiebehörde (NRC) verhängte wegen schwerer Sicherheitsmängel umgehend einen Baustopp weiterer fünf Kraftwerke desselben Typs. Unter Carter war die Atomkraft besonders gefördert worden, um der Energiekrise Herr zu werden. Reaktorunfälle Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 hatten der Weltöffentlichkeit die Auswirkungen von Radioaktivität vor Augen geführt. Trotz der bekannten Risiken setzten jedoch seit den 60er Jahren immer mehr Regierungen vor dem Hintergrund der zur Neige gehenden fossilen Brennstoffe zur Energiegewinnung auf die zivile Nutzung der Atomenergie. Die Risiken für Mensch und Umwelt seien, ihrer Argumentation zufolge, sehr gering bzw. nicht vorhanden. Diese bis heute immer wieder hartnäckig vertretene These, wird durch eine Anzahl von Unfällen in Kernkraftwerken widerlegt: 1948: Eine Wolke radioaktiven Jods 131 entweicht im Atom-Versuchszentrum Hanford, Washington (USA) 1952/53: Mehrfach werden in der englischen Wiederaufbereitungsanlage Windscale (Sellafield) größere Mengen radioaktiven Plutoniums ins Meer geleitet 1957: Etwa 40 Menschen sterben bis 1982 an den Folgen der Verseuchung einer 500 Quadratkilometer großen Fläche durch einen Schwelbrand in der englischen Wiederaufbereitungsanlage Windscale 1957/58: Im Ural werden nach einer Explosion in einem Zwischenlager für abgebrannte Brennstäbe 30 Dörfer evakuiert 1966: Partielle Kernschmelze im Forschungsreaktor "Enrico Fermi" (Illinois/USA) 1975: Im Reaktor "Browns Ferry" (Alabama/USA) fallen das Steuerzentrum und das Kühlsystem nach Kabelbrand aus 1979: Evakuierung von 200.000 Menschen aus einer 36 km² großen Zone um den Reaktor "Three Mile Island" bei Harrisburg (USA); Kernschmelze wird knapp vermieden 1984: Beinahe-GAU durch Störung der Stromversorgung im Atomkraftwerk Bugley (Frankreich) 1986: Im Reaktorblock 4 des Atomkraftwerkes Tschernobyl ereignet sich ein GAU (größter anzumehmender Unfall); innerhalb von drei Monaten sterben 28 Menschen; hunderte werden radioaktiv verseucht; 136.000 Menschen werden evakuiert; in weiten Teile Europas und Asien werden erhöhte radioaktive Werte gemessen. 11.04.79 Schwarze Tyrannen Streitkräfte Tansanias beenden die achtjährige Diktatur Idi Amins. Der Schlächter ist vertrieben, aber Frieden zieht nicht ein in Uganda: Warlords beherrschen das Land, das Leiden geht weiter. "Black Uhuru" - Freiheit für Schwarzafrika - war die Hoffnung eines ganzen Kontinents. Oft genug traten schwarze Despoten an die Stelle der weißen Kolonisatoren und standen diesen an Grausamkeit in nichts nach. Die Liste ist lang: Uganda, Liberia, Ruanda. Nigeria, die Zentralafrikanische Republik... 171 VON 300 Idi Amin entmachtet Idi Amins grausame achtjährige Diktatur endet mit der Besetzung der Hauptstadt Kampala durch ugandische Rebellen und reguläre Streitkräfte Tansanias. Der Diktator flieht ins Exil. Im Oktober 1978 war ein Grenzkonflikt mit Tansania zum Krieg eskaliert, als Idi Amin den tansanischen Grenzdistrikt Kagera annektiert hatte. Tansanias Staatspräsident Julius Nyerere (l.) hatte daraufhin die Invasion in Uganda befohlen. Im Verein mit Rebellen der "Ugandischen Nationalen Befreiungsfront" (UNLF) wurde die ugandische Regierungsarmee zerschlagen, die Waffenhilfe von Libyens Staatschef Muammar al Gaddafi erhalten hatte. Idi Amin floh nach Libyen. Uganda, einst eines der reichsten Länder Afrikas, war unter Idi Amin wirtschaftlich ruiniert worden. Auf seine hochgerüstete Armee gestützt, hatte er Tausende ermorden und Zehntausende vertreiben lassen. Angelehnt an die UdSSR und Libyen, war es ihm immer wieder gelungen, andere Staaten ungestraft zu bedrohen oder zu bluffen. Neuer Regierungschef wurde der Oberkommandierende der UNLF, Jusufu Lule. Die Lage in Uganda stabilisierte sich jedoch nicht: Zum einen kam es immer wieder zu Scharmützeln und Überfällen Amin-treuer Soldaten, zum anderen begannen sich die tansanischen Soldaten wie Besatzer zu gebärden und verübten Raubmorde und Plünderungen. Lule, der die tansanischen Truppen zum Rückzug aufforderte, wurde auf Befehl Nyereres Ende Juni gestürzt und inhaftiert. Neuer Staatschef in Uganda wurde daraufhin Godfrey Binaisa, ein Anhänger des 1971 gestürzten Präsidenten Milton Apollo Obote. In Uganda blieb auch weiterhin tansanisches Militär stationiert. 03.05.79 Neokonservative Wende Margaret Thatchers Regierungsantritt in Großbritannien bedeutet einen radikalen Kurswechsel in der Innen- und Wirtschaftspolitik: "Law and Order" und Neoliberalismus werden zur Richtschnur. Der Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten der USA im folgenden Jahr folgten konservative Wenden auch in anderen westlichen Staaten. Überall wurden Sozialabbau, Privatisierungen und Steuererleichterungen für Besserverdienende gesellschaftsfähig. Und auch in der Außenpolitik setzten die neuen konservativen Regierungen auf eine Politik der Stärke. Margaret Thatcher wird Premierministerin Vorgezogene Neuwahlen zum britischen Parlament bringen die Konservative Partei an die Macht. Margaret Thatcher wird in den folgenden Jahren das Land radikal nach neoliberalem Muster umbauen. Die Tories erreichte einen Stimmenanteil von fast 44 Prozent gegenüber 36,9 Prozent für die bisher regierende Labour-Partei (Liberale: 13,8 Prozent). Die Neuwahlen waren nötig geworden, nachdem der seit 1976 amtierende Premierminister James Callaghan ein Mißtrauensvotum mit 311 gegen 310 Stimmen verloren hatte. Die 1975 gewählte Vorsitzende der Konservativen Partei, Margaret Thatcher, wurde als erste Frau Premierministerin des Landes. Wie keine andere Persönlichkeit dominierte sie die britische Politik der 80er Jahre, so daß die gesamte Epoche unter dem Namen "Thatcherismus" Eingang in die Geschichtsbücher fand. Außenminister wurde Lord Peter Alexander Carrington, Schatzkanzler Sir Geoffrey Howe. 25.05.79 Erneuter Absturz einer DC-10 Flugzeugabsturz in Chicago: Kurz nach dem Start auf dem Flughafen O'Hare in Chicago verliert eine DC-10 ein Triebwerk und explodiert wenig später am Boden. 273 Menschen werden getötet. 172 VON 300 Der Ruf der DC-10 war bereits seit dem Absturz eines solchen Flugzeugs in Frankreich im Jahre 1974 in Mißkredit geraten, ohne daß entscheidende Maßnahmen gefolgt wären. Nach diesem Absturz vom 25. Mai 1979 verhängte die Flugbehörde ein Flugverbot von 37 Tagen für diesen Maschinentyp. Der Absturz führte zu einer Explosion 1,5 Kilometer hinter der Startbahn und zum Tod aller 271 Insassen des Großraum-Airliners sowie zweier weiterer Personen auf dem Boden. Im Gegensatz zu dem Unglück von 1974 nördlich von Paris hatte hier kein Konstruktions-, sondern ein Wartungsfehler zum Absturz geführt, der allerdings durch Konstruktionsmängel unterstützt worden war. 07.06.79 Erste Direktwahl zum Europaparlament Erstmals sind die Bürger der EG-Staaten aufgerufen, direkt über die Verteilung der Sitze des Europaparlaments zu entscheiden. Die Wahlbeteiligung fällt extrem unterschiedlich aus: Im ohnehin wenig EG-freundlichen Großbritannien wählten 31 Prozent der Bürger, während 88 Prozent der Belgier ihrer Wahlpflicht nachkamen. Mit 66 Prozent liegt die Beteiligung der Bundesbürger deutlich unter der der letzten Bundestagswahlen. Die stärkste Gruppierung in Straßburg wurde mit 112 Sitzen die sozialistisch/sozialdemokratische Fraktion, gefolgt von den Christdemokraten mit 106 Abgeordneten. Die liberalen Parteien erhielten 40 Mandate, während am linken Rand die Kommunisten 44 und rechts außen die Konservativen 63 Sitze einnahmen. Erste Präsidentin des Parlaments wurde die ehemalige französische Gesundheitsministerin Simone Veil. Das Europaparlament verfügte zunächst nur über sehr eingeschränkte Befugnisse und hatte lediglich konsultativen Charakter. Erst mit der Umwandlung zur Europäischen Union wurden die Kompetenzen des Parlaments erweitert. Durch die Einführung der Direktwahl erhielt die Bevölkerung aber erstmals eine Möglichkeit, zumindest graduell ihre Zustimmung oder Ablehnung zum europäischen Einigungsprozeß zu bekunden. 28.06.79 Änderungen bei Strafrecht und Wahlgesetz Die Volkskammer verabschiedet das dritte Strafrechtsänderungsgesetz sowie das neue Wahlgesetz. Das Wahlgesetz schreibt nun vor, daß die Ost-Berliner Volkskammerabgeordneten nicht mehr von der Stadtverordnetenversammlung Ost-Berlins delegiert, sondern direkt gewählt werden sollen. Die Ost-Berliner Abgeordneten, die zuvor nur eine beratende Funktion in der Volkskammer gehabt hatten, erhielten mit der Gesetzesnovelle volles Stimmrecht. Durch das dritte Strafrechtsänderungsgesetz wurde insbesondere das politische Strafrecht deutlich verschärft: Neu eingeführt wurden Strafrechtsbestände wie etwa "landesverräterische Nachrichtenübermittlung", während Strafrechtsbestände wie etwa "staatsfeindliche Hetze" oder "ungesetzliche Verbindungsaufnahme" ausgeweitet wurden. Durch die Einführung der neuen Bestände sollten Kontakte der DDR-Bürger zu Bürgern westlicher Staaten weiter erschwert werden. 04.11.79 Iran nimmt US-Botschaftsangehörige als Geiseln Aus Protest gegen die Einreiseerlaubnis für den Schah Reza Pahlawi in die USA besetzen etwa 400 iranische Studenten am 4. November 1979 die US-Botschaft in Teheran. Der krebskranke Schah war zur medizinischen Behandlung nach Amerika gekommen. Die Studenten forderten die Auslieferung des seit Januar 1979 im Exil lebenden Schahs und drohten damit, das etwa 70-köpfige Botschaftspersonal wegen Spionage vor Gericht stellen zu lassen. Ayatollah Khomeini rechtfertigte die Geiselnahme. Nach dem Rücktritt des Premierministers Mehdi Basargan am 5. November übernahm der Revolutionsrat die Regierung. Die amerikanische Regierung unter Jimmy Carter weigerte sich, den Schah auszuliefern. Als die Verhandlungen in Teheran scheiterten, stoppten die USA den Ankauf 173 VON 300 iranischen Erdöls, hielten Manöver im Indischen Ozean ab und froren alle iranischen Bankguthaben ein. Die iranischen Studenten ließen am 20. November alle schwarzen und alle weiblichen Geiseln frei. Die Verhandlungen, die Anfang des Jahres 1980 eine von UNGeneralsekretär Kurt Waldheim geführte Kommission mit dem iranischen Revolutionsrat führte, brachten kein Ergebnis. Im April 1980 scheiterte eine gewaltsame Befreiung der Geiseln durch US-Militär. Die Geiseln kamen erst im Januar 1981 frei. 12.12.79 NATO-Mitgliedstaaten beschließen Nachrüstung Um den angeblichen Rüstungsvorsprung der Sowjetunion aufzuholen, beschließen die Mitgliedsstaaten der NATO im Dezember 1979 in Brüssel ein Nachrüstungsprogramm. Gemäß diesem sogenannten NATO-Doppelbeschluß wurden die USA mit der Produktion von 108 Pershing-2-Raketen und 484 Marschflugkörpern vom Typ Cruise Missile beauftragt. Damit sollte eine Antwort auf die Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen gegeben werden, die nicht unter die in den SALT-Gesprächen gefaßten Abrüstungsschritte fiel. Vorerst sollte dieser Beschluß als Warnung an die UdSSR verstanden werden - gleichzeitig bot man ihr nämlich Verhandlungen über gegenseitige Rüstungsbeschränkungen an. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan verhärtete jedoch zusehends die Fronten, so daß bald mit der zügigen Stationierung der Waffensysteme in den westeuropäischen Staaten begonnen wurde. In den betroffenen Ländern Westeuropas stießen die NATO-Pläne auf Kritik. Auf Regierungsebene zögerten allerdings lediglich Belgien und die Niederlande die Zustimmung zum Doppelbeschluß hinaus, viele Bürger hingegen schlossen sich den von der Friedensbewegung organisierten Massenkundgebungen und Demonstrationen gegen die Stationierung der Massenvernichtungswaffen in Europa an. 27.12.79 Russen in Afghanistan Ohne Vorwarnung marschieren sowjetische Truppen in Afghanistan ein und besetzen die Hauptstadt Kabul. Babrak Karmal schwingt sich dank der "brüderlichen Hilfe" zum neuen Präsidenten auf. Für Moskau geriet die Intervention jedoch zu einer Blamage. Es gelang nicht, das Land gegen die mit westlichen Waffen kämpfenden Mudschaheddin zu befrieden. Das Ost-WestVerhältnis schlitterte in eine schwere Krise, das Vokabular des Kalten Krieges wurde wieder hervorgeholt. Für einige Jahre stand die Welt nun stets am Rande des Abgrunds. Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan Sowjetische Truppen marschieren in die afghanische Hauptstadt Kabul ein. Schon seit drei Tagen melden Presseagenturen das Eindringen sowjetischen Militärs über eine Luftbrücke. Am Tag der Einnahme Kabuls verbreitete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS eine Ansprache des einstigen stellvertretenden Ministerpräsidenten Babrak Karmal. Er verkündete darin im Auftrag des ZK der afghanischen KP den Sturz des bisherigen Vorsitzenden des Revolutionsrates, Hafizullah Amin, den er als "gekauftes Werkzeug des Weltimperialismus" bezeichnete. In Afghanistan hatten 1978 linksgerichtete Offiziere die Macht ergriffen und von Anfang an engen Anschluß an die UdSSR unter Breschnew gesucht. Am 5. Dezember 1978 schlossen beide Staaten einen Freundschaftsvertrag. Der antiislamische Kurs der Regierung traf bei den traditionsbewußten und kriegerischen Stammesgemeinschaften im Land jedoch trotz Terrors auf entschiedenen Widerstand. Interne Querellen im Revolutionsrat erhöhten die Instabilität im Laufe des Jahres 1978 weiter. Um das Regime insgesamt zu stabilisieren, intervenierte die UdSSR schließlich zugunsten der Fraktion des im sowjetischen Exil befindlichen Babrak Karmal. Die sowjetischen Truppen konnten den Machtkampf in Kabul rasch 174 VON 300 zugunsten ihres Schützlings entscheiden. Sein Rivale, Hafizullah Amin, wurde am 28. Dezember hingerichtet und Karmal wurde statt diesem Präsident des Revolutionsrates. 01.01.80 Sanktionen gegen UdSSR wegen Afghanistan US-Präsident Jimmy Carter kündigt in einer Fernsehansprache scharfe Sanktionen gegen die UdSSR an, falls diese nicht ihre Truppen aus Afghanistan zurückziehe. Tatsächlich unterbrach Carter am 4. Januar 1980 den Ratifizierungsprozeß für SALT-II und verhängte ein Getreideembargo gegen die UdSSR. Den Boykott der Olympiade verkündete er offiziell am 20. Februar 1980. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan rief nicht nur innerhalb des westlichen Bündnisses, sondern auch weltweit ein weitaus negativeres Echo hervor, als es der Führung der UdSSR unter Breschnew lieb sein konnte. Die islamische Welt war empört. Die Vollversammlung der UNO forderte die UdSSR bereits am 14. Januar 1980 in einer mit überwältigender Mehrheit verabschiedeten Resolution dazu auf, sofort und ohne weitere Bedingungen aus Afghanistan abzuziehen. Auf der Konferenz der Blockfreien in Delhi Mitte Februar kippte die Stimmung ebenfalls zuungunsten der UdSSR. Die sowjetische Intervention in Afghanistan bildete einen Wendepunkt im Ost-WestVerhältnis. Das Pendel schwang um: die Politik der Abrüstung und Entspannung schien diskreditiert. Die USA setzten auf neue Rüstungsprogramme und verstärktes militärisches Engagement. 30.01.80 "Wehrsportgruppe Hoffmann" verboten Nach längerer Beobachtung durch den BND wird die als rechtsextremistisch und verfassungsfeindlich eingestufte "Wehrsportgruppe Hoffmann" am 30. Januar 1980 verboten. Der 43jährige Grafiker Karl-Heinz Hoffmann hatte 1974 mit dem Aufbau seiner Organisation begonnen. Seither war es zu regelmäßigen Treffen gekommen, zumeist auf Schloß Ermreuth in Franken, wo die bis zu 500 Mitglieder starke Gruppe ein paramilitärisches Training durchführte. Als Ziel seiner Organisation gab Hoffmann die Zerschlagung "der bestehenden Gesellschaftsordnung" an. Bei Hausdurchsuchungen und Razzien in zahlreichen Städten der Bundesrepublik fand die Polizei umfangreiche Mengen an Waffen und Munition sowie Nazi-Propagandamaterial. Schon seit längerem war von verschiedenen Seiten ein Verbot der Organisation gefordert worden. Auch nach dem Verbot blieben die Anhänger der "Wehrsportgruppe" im Untergrund aktiv. Während jedoch ihre Verantwortung für den Anschlag auf das Münchner Oktoberfest nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, gingen die Morde an dem jüdischen Verleger Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin zweifelsfrei auf das Konto eines HoffmannGefolgsmannes. Hoffmann selbst war keine Beteiligung an den Terroraktionen nachzuweisen, er wurde 1986 lediglich wegen Geldfälschung, illegalen Waffenbesitzes, Freiheitsberaubung und Körperverletzung zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. 30.04.80 Königin Juliana dankt ab Die niederländische Königin Juliana dankt ab. Die 71jährige stand seit 1947 an der Spitze des kleinen Landes und erfreute sich großen internationalen Ansehens. Kontinuierlich und fast ohne Skandale steuerte sie ihr Land durch 33 Jahre turbulente europäische Geschichte. Während ihrer Amtszeit waren die letzten niederländischen Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen worden, zuletzt 1975 auch Surinam. Wenig später gerieten die Niederlande wegen Terrorakten molukkischer und ambonesischer Unabhängigkeitskämpfer in die Schlagzeilen. Einen Skandal verursachte 1976 die Lockheed-Affäre. Gegen Julianas 175 VON 300 Ehemann, Prinz Bernhard, wurde wegen des Verdachts der Bestechlichkeit ermittelt. Die Vorwürfe ließen sich zwar nicht erhärten, dennoch trat Bernhard, der auch Generalinspekteur der Armee war, sofort von allen öffentlichen Ämtern zurück. Nachfolgerin Julianas wurde noch am Tag ihres Rücktritts ihre Tochter Beatrix. Sie war 1966 in die Schlagzeilen gekommen, als sie den deutschen Diplomaten Claus von Amsberg geheiratet hatte. Viele Holländer empfanden die Heirat mit dem Deutschen angesichts der Kriegsvergangenheit als Provokation. Mit ihrem Regierungsantritt ließ die Kritik an ihrer Person nach. Beatrix erwies sich als energische, fachlich versierte Regentin, die, wie ihre Mutter, das Land auch in den innenpolitisch bewegten 80er und 90er Jahren souverän regierte. 18.05.80 Mount Saint Helens fliegt in die Luft Bei einem Ausbruch des 2.950 Meter hohen Mount Saint Helens wird das obere Sechstel des Berges abgesprengt und stürzt hangabwärts. Eine gewaltige Aschefontäne verdunkelt den Himmel. Während der nächsten Wochen kommt es zu weiteren Ausbrüche. Da die Gegend um den Vulkan im US-Bundesstaat Washington nur sehr dünn besiedelt ist, blieb die Zahl der Todesopfer mit 34 vergleichsweise gering. In der Landwirtschaft richtete der Ausbruch hingegen Schäden in einer Höhe von etwa einer halben Milliarde Dollar an. Darüber hinaus wurde eine Waldfläche von 150 Quadratkilometer verwüstet. Präsident Carter (li.) ordnete den Einsatz von Militär bei der Behebung der Schäden an. Nachdem der Vulkan seit 1857 inaktiv gewesen war, brach er während der nun folgenden Jahre immer wieder aus, allerdings nie wieder mit solcher Wucht. Ausbrüche ereigneten sich 1982, 1984, 1986, 1989 und 1991. Die USA, die fast jährlich von schlimmen Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Hurrikans heimgesucht wird, konnten nach diesem Ausbruch des Mount Saint Helens nun auch ihren Namen in die Liste der größten Vulkanausbrüche des Jahrhunderts eintragen. 04.06.80 Polizei räumt "Freie Republik Wendland" Am 4. Juni 1980 bereiten Polizei und Bundesgrenzschutz der "Freien Republik Wendland" nach 33 Tagen ein jähes Ende und räumen die von mehreren hundert Kernkraftgegnern besetzte Bohrstelle Gorleben. Umweltschützer aus der Anti-Kernkraft-Bewegung hatten Anfang Mai den Platz besetzt, an dem durch Probebohrungenn festgestellt werden sollte, ob der Salzstock für die Endlagerung radioaktiven Restmülls in Frage käme. Die fast 5.000 Gründer der "Freien Republik Wendland" wollten in ihrem "autonomen Staat" ein alternatives Leben praktizieren und durch die gelebte Einheit von Arbeit, Wohnen und Kultur eine ökologische Alternative zur Konsumgesellschaft aufzeigen. Ihr Protest richtete sich gegen eine Energiepolitik, die von steigendem Energieverbrauch ausging und als Antwort auf diese Entwicklung nur den forcierten Bau von Atomkraftwerken sah. Die Kernkraftgegner forderten eine Alternative zur Kernenergie, die mittels "sanfter Technik" gefunden werden und ökologisch verträglich sein sollte. In den 90er Jahren erreichte der Kampf um das Atommüllager Gorleben mit den umstrittenen Castor-Transporten einen neuen Höhepunkt. 22.06.80 Deutschland wieder Europameister Endspiel der Fußball-Europameisterschaft 1980: Die bundesdeutsche Fußballnationalmannschaft besiegt in Rom das Team aus Belgien mit 2:1 und wird damit zum zweiten Mal nach 1972 Fußball-Europameister. Die Tore für die deutsche Mannschaft erzielt Horst Hrubesch. Eine Zitterpartie: Das Siegtor fällt erst in der 89. Minute. Insgesamt war das Turnier in Italien jedoch ein Mißerfolg: Der Torschützenkönig des Turniers benötigte nur drei Treffer für diesen Titel. Nahezu alle Mannschaften, insbesondere auch die gastgebenden Italiener, hatten auf eine verstärkte Defensivtaktik 176 VON 300 gesetzt und einen so uninteressanten Fußball geboten, daß viele Spiele vor leeren Rängen stattfanden. Für Bundestrainer Jupp Derwall, der die Mannschaft 1978 von Helmut Schön übernommen hatte, war es dennoch ein Einstieg nach Maß: Das erste große Turnier unter seiner Regie war gleich gewonnen worden. Deutschland war damit auch Favorit für die Weltmeisterschaft 1982 in Spanien geworden. 02.08.80 Terroranschlag in Bologna Im vollbesetzten Wartesaal des Bahnhofs von Bologna tötet eine Bombenexplosion 83 Menschen. Über 200 weitere Personen werden verletzt. Die Detonation ist so heftig, daß ein Flügel des Bahnhofes völlig zerstört wird. In einem Bekennerschreiben erklärte die rechtsgerichtete Organisation "Bewaffnete Revolutionäre Stoßtrupps", die Bombe aus Protest gegen die seit 35 Jahren amtierende kommunistische Stadtregierung gelegt zu haben. Bologna gilt traditionell als Bastion der Linken. Der Zeitpunkt der Explosion war bewußt gewählt worden, da in Italien am selben Tag Anklage gegen mehrere inhaftierte Rechtsradikale erhoben werden sollte. Während sich, wie auch in den meisten anderen europäischen Staaten, die Bekämpfung des Terrorismus auf die linken Gruppierungen wie die "Brigate Rosse" konzentriert hatte, hatten sich unmerklich der Rechtsextremismus und der Neofaschismus deutlich verstärkt. Mit diesem blutigsten Anschlag in Europa seit Kriegsende hatte er sich nun unüberhörbar auch in Italien bemerkbar gemacht, nachdem vor allem seit dem Verbot der "Wehrsportgruppe Hoffmann" (li.) im Januar dieses Jahres auch in der BRD ein Anwachsen fremdenfeindlicher Attentate registriert worden war. 19.08.80 Flugzeug brennt nach geglückter Landung aus Ein besonders tragisches Flugzeugunglück ereignet sich in der Nacht des 19. August 1980 auf dem Flughafen der saudi-arabischen Hauptstadt Riad, als eine Lockheed TriStar nach geglückter Landung ausbrennt und alle 301 Insassen des Flugzeugs in den Flammen sterben. Nach dem Start der Maschine in Riad hatte die Besatzung Rauchentwicklung in einem Frachtraum festgestellt und beschlossen, nach Riad zurückzukehren. Obwohl Feuer und Rauch in die über dem Frachtraum liegende Kabine eindrangen, konnte die Maschine problemlos in Riad gelandet werden. Es bestanden gute Aussichten, alle Insassen zu retten. Unverständlicherweise ließ der Pilot die Maschine aber nicht sofort abbremsen, sondern rollte sie aus, so daß die Rettungsmannschaften nicht direkt nach der Landung eingreifen konnten. Die Rettungsmannschaften waren darüber hinaus nicht mit der korrekten Prozedur zum Öffnen der Türen des Flugzeugs vertraut, so daß nach dem Aufsetzen der Maschine insgesamt 28 Minuten vergingen, bis die Türen geöffnet werden konnten. In dieser Zeit waren alle Insassen der Maschine bereits den Folgen des Feuers bzw. der Gas- und Rauchentwicklung erlegen. Die eigentliche Brandursache war nicht mehr festzustellen. 30.08.80 Gewerkschaft "Solidarnosc" in Polen gegründet In Polen bildet sich eine landesweit operierende freie Gewerkschaft. Diese wird unter dem Namen "Solidarnosc" bei den Behörden angemeldet und nach einigen Schwierigkeiten einen Monat später offiziell registriert. Die Voraussetzungen für die Arbeit einer freien Gewerkschaft in Polen waren am 30. August 1980 durch eine Vereinbarung zwischen der Regierung und dem überbetrieblichen Streikkomitee geschaffen worden. Die Regierung akzeptierte letztlich alle 21 Forderungen, welche die Streikenden am 21. August erhoben hatten. Das Streikkomitee in Stettin beschließt nach mehreren Zusammenkünften das Statut für die neue Gewerkschaft, die Behörden änderten jedoch eigenmächtig deren Satzung und ergänzten sie um eine Eintragung über die führende Rolle der KP. Die Arbeiterführer 177 VON 300 fochten dies vor Gericht an und drohten für den Fall der Ablehnung mit einem landesweiten Streik. Nach sechs Wochen, am 10. November, gab der Oberste Gerichtshof dem Einspruch der Solidarnosc gegen die Änderung ihrer Satzung statt und garantierte ihre legale Existenz auf Grundlage der ursprünglichen Fassung. 12.09.80 Militärputsch in der Türkei Generalstabschef Kenan Evren putscht sich auf den Posten des türkischen Staatspräsidenten. Bülent Ulusu, ein früherer Kommandant der türkischen Flotte, wird Ministerpräsident. Die Militärs stellen das ganze Land unter Kriegsrecht und nehmen führende Parteipolitiker sowie etwa 100 Abgeordnete vorübergehend in Haft. Parlament, Regierung und sämtliche Parteien wurden aufgelöst. Es kam zu zahlreichen Verurteilungen vor Kriegsgerichten und auch zu Folterungen. Begründet wurde der Putsch mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen und der Wirtschaftskrise, die von der Regierung unter Süleyman Demirel (u.l.) nicht unter Kontrolle gebracht wurden. Die Auslandsverschuldung war ebenso beängstigend angestiegen wie die Arbeitslosenzahlen. Innerhalb weniger Jahre waren mehrere tausend Menschen politisch motivierten Terroranschlägen zum Opfer gefallen. Auch der Kurdenkrieg im Osten verschärfte sich, nachdem die Militärregierung den Gebrauch der kurdischen Sprache auch im privaten Bereich verbot. Die üblichen Übergriffe der türkischen Sicherheitsorgane gegen Zivilisten nahmen zu. Massenverhaftungen und Todesurteile waren an der Tagesordnung. Der Nationale Sicherheitsrat unter General Evren versprach die rasche Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie. Die neue Verfassung trat im November 1982 in Kraft und bestätigte die Machtstellung des Militärs. 22.09.80 Golfkrieg zwischen Irak und Iran Mit dem irakischen Angriff auf die erdölreiche iranische Provinz Khuzestan beginnt der erste Golfkrieg. Der irakische Präsident Saddam Hussein hatte fünf Tage zuvor den Vertrag von Algier gekündigt, der den Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern seit 1975 regelt. Saddam Hussein forderte die Souveränität im Schatt el-Arab, dem Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris, für den Irak. Die seit Ende 1979 zunehmenden Spannungen hatten bereits zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern geführt. Der Irak befürchtete ein Übergreifen der islamischen Revolution des Ayatollah Khomeini auf die eigene schiitische Bevölkerungsmehrheit. Hussein hatte die Stabilität des iranischen Regimes unterschätzt, als er bei Kriegsbeginn auf einen schnellen Sieg und die Unterstützung der überwiegend arabischen Bevölkerung der Provinz Khuzestan hoffte. Trotz innenpolitischer Auseinandersetzungen im Iran kam es nicht zum Sturz der iranischen Regierung. Iran wiederum hoffte auf ein Ende der irakischen Regierung und der panarabischen, sozialistischen Baath-Partei. Für Khomeini gab es auch persönliche Gründe zur Feindschaft, denn der Irak hatte ihn 1978 aus seinem dortigen Exil ausgewiesen. Im Sommer 1982 zeichnete sich eine Kriegswende ab, als die irakischen Truppen von iranischem Gebiet vertrieben wurden. Eine weitere Eskalation des Konflikts brachte im Frühjahr 1984 der sogenannte Tankerkrieg sowie ab März 1985 der Städtekrieg. Erst im Juli 1988 kam ein Waffenstillstand zustande. 04.11.80 Reagan wird US-Präsident Bei den Präsidentschaftswahlen 1980 erleidet Jimmy Carter die schlimmste Niederlage eines amtierende Präsidenten und Kandidaten der "Demokratischen Partei". Mit 51 Prozent der Wählerstimmen, aber 489 Wahlmännern geht der Kandidat der Republikaner, der ehemalige Schauspieler Ronald Reagan, als glänzender Sieger hervor. 178 VON 300 Carter erreichte zwar immerhin 41 Prozent der Wählerstimmen, erhielt jedoch wegen des Mehrheitswahlrechts nur 49 Wahlmänner. Es war ein klares Votum der Bevölkerung, die insbesondere mit der Wirtschaftspolitik Carters unzufrieden war. Carter war es, entgegen seinen Wahlversprechen vier Jahre zuvor, während seiner Amtszeit nicht gelungen, die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Bruttosozialprodukt zu steigern und die Inflation in den Griff zu bekommen. Seine außenpolitischen Erfolge, wie das Abkommen von Camp David, das scheinbar den Friedensprozeß im Nahen Osten eingeläutet hatte, verblaßten daneben. Auch im Wahlkampf hatte sich Carter ungeschickter Mittel bedient: Seine Strategie bestand darin, Reagan als "außenpolitisch unerfahren, verantwortungslos und kriegslüstern", sich selbst jedoch als "Garant für den Frieden" darzustellen. Reagan, der ehemalige Gouverneur Kaliforniens, lockte dagegen mit populären Maßnahmen, wie drastischen Steuersenkungen und versprach, den Einfluß des Staates auf die Bevölkerung einzuschränken. Auch blieb Carter versagt, einen Erfolg in dem seit 1979 anhaltenden Geiseldrama in Teheran durch Freilassung der dort festgehaltenen US-Bürger noch kurz vor der Wahl vorzuweisen. 15.11.80 Der Papst besucht die BRD Zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik besucht ein katholisches Kirchenoberhaupt, Papst Johannes Paul II., das Land. 1782 hatte Pius VI. als letzter Papst deutschsprachigen Boden betreten. Ziel dieser Reise war damals Wien gewesen. Der Besuch des reisefreudigen Johannes Paul geriet zu einem gewaltigen Medienspektakel. Mehr als 1,5 Millionen Menschen kamen, um den Heiligen Vater zu sehen. Abgeschirmt von Sicherheitsbeamten und in einem mit kugelsicheren Glas umgebenen Aufbau versehenen PKW nahm der Papst den Jubel der Massen entgegen. Allein in Köln sprach Johannes Paul vor annähernd 400.000 Gläubigen und forderte sie zur Erhaltung christlicher Werte bei der Bewältigung der Probleme der Neuzeit auf. Anschließend trafen im Kölner Dom, wo wenige Wochen zuvor der 100. Jahrestag der nach über 700jährigen Bauzeit erfolgten Fertigstellung gefeiert worden war, Wissenschaftler und Studenten mit dem Papst zusammen. Einen ersten Schritt in Richtung auf ein friedliches Miteinander der beiden großen Kirchen in Deutschland unternahm Johannes Paul auf einem Treffen mit Vertretern der Evangelischen Kirche in Mainz. Weitere Stationen der Papstreise waren Osnabrück und Fulda, den Abschluß bildete der Besuch des bayerischen Marien-Wallfahrtsortes Altötting. 26.11.80 Honecker schlägt Einmarsch in Polen vor KPdSU-Chef Leonid Breschnew erhält von DDR-Staatschef Erich Honecker (u.l.) den Rat, alsbald Pläne für einen Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Polen auszuarbeiten. Vorbild ist der Einmarsch in die CSSR 1968. Die Entwicklung in Polen, insbesondere seit dem "Danziger Abkommen" zwischen der Gewerkschaft Solidarität und der polnischen Regierung vom 30. August 1980 war Honecker ein Dorn im Auge. Honecker empfahl, besser jetzt als später Maßnahmen für eine Intervention vorzubereiten, denn es könnte sehr wohl sein, daß die Dynamik der Ereignisse eine Intervention zu einem späteren Zeitpunkt unmöglich machen würde. Zuvor hatte die SED die polnischen Kommunisten scharf getadelt und ihnen Verrat vorgeworfen. Obwohl Breschnew die Vorschläge Honeckers ernsthaft erwog, entschied er sich auf einem Treffen der Staaten des Warschauer Paktes am 5. Dezember 1980 gegen eine Intervention, nachdem die Vertreter der neuen polnischen Regierung angeboten hatten, das Kriegsrecht in Polen zu verhängen. Bis zur Realisierung dieses Angebots sollte allerdings noch mehr als ein Jahr vergehen. Erst am 13. Dezember 1981 verhing die Regierung in Warschau das Kriegsrecht über das Land. 08.12.80 Ex-Beatle Lennon wird erschossen 179 VON 300 Der 25jährige Mark Chapman nähert sich seinem Idol, dem Ex-Beatle John Lennon, vor dessen Haus in New York. Er bittet ihn um ein Autogramm, richtet seine Waffe auf Lennon und erschießt ihn. Die Generation der 60er und 70er Jahre verlor mit John Lennon wieder eines ihrer Idole. Zwar waren schon viele Musiker der Generation Lennons früh gestorben, etwa Jim Morrison, Jimi Hendrix oder Janis Joplin. Es war jedoch das erste Mal, daß ein bekannter Popmusiker durch ein Attentat ums Leben kam. Lennon galt lange Zeit als der kreativste der vier Beatles. Gemeinsam mit Paul McCartney hatte er die meisten Lieder der Gruppe komponiert. Seit der Trennung der Band 1970 hatte es immer wieder Gerüchte über eine Wiedervereinigung der wohl berühmtesten Band aller Zeiten gegeben. Doch erst in den Jahren 1994 und 1995 verwendeten die verbliebenen drei Beatles alte Tonbandaufnahmen von John Lennon dazu, 25 Jahre nach ihrer Auflösung und 15 Jahre nach dem Tod Lennons zwei Singles in "Originalbesetzung" auf den Markt zu bringen. 01.01.81 Griechenland wird EG-Mitglied Auch Griechenland tritt der EG bei - nun besteht die Europäische Gemeinschaft bereits aus zehn Mitgliedsstaaten. Seit den schweren innenpolitischen Querelen bis Mitte der 70er Jahre hatte sich die Lage deutlich beruhigt. Auch die aufgetretenen Spannungen mit der NATO anläßlich der Zypernkrise waren beigelegt worden. Seit 1976 hatten die USA sogar gegen eine Finanzhilfe von 700 Millionen Dollar vier Militärstützpunkte in Griechenland erhalten. Die Wahl des mehrmaligen Ex-Ministerpräsidenten Konstandinos Karamanlís (links) zum Staatspräsidenten im Mai 1980 markierte den Schlußpunkt der Entwicklung zur Beruhigung der politischen Lage. Das Land nahm nun seinen Platz in der europäischen Staatengemeinschaft ein. Problematisch blieb weiterhin allerdings das Verhältnis zum türkischen Nachbarn. Noch 1996 drohten Streitigkeiten wegen vordergründig belanglosen Territorialfragen den Frieden in der östlichen Mittelmeerregion zu gefährden. 28.02.81 Bürger gegen Atomkraft Unter dem Eindruck der Ölkrise setzt die bundesdeutsche Regierung vermehrt auf Kernenergie. Doch überall in der Republik wehren sich Bürgerinitiativen gegen den Bau neuer Atomkraftwerke. Schon Ende der 70er Jahre kam es zu Massendemonstrationen und Bauplatzbesetzungen. Der Reaktorunfall von Tschernobyl konfrontierte dann eine breite Öffentlichkeit mit den Risiken der Kerntechnologie. Die Forderung nach einem Kernenergie-Ausstieg gewann über die Reihen der Umweltbewegung hinaus Auftrieb, zumal das Problem der Entsorgung nuklearer Abfälle weiterhin ungelöst blieb. 06.03.81 Mutter erschießt Mörder ihrer Tochter Drama vor den Augen der Richter des Lübecker Landgerichts: die 30jährige Marianne Bachmeier erschießt den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter Anna, Klaus Grabowski, im Gerichtssaal. Grabowski war dringend verdächtig, das siebenjährige Mädchen am 5. Mai des Vorjahres mißhandelt und anschließend ermordet zu haben. 1976 hatte sich der Angeklagte nach einer ersten Verurteilung wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in der Haft kastrieren lassen, seine Potenz jedoch zwei Jahre später mittels einer Hormonbehandlung wiederherstellen lassen. Frau Bachmeier war es am dritten Verhandlungstag gelungen, die Waffe an den Sicherheitsbeamten vorbei in den Gerichtssaal zu schmuggeln. Mitten in der Verhandlung zog sie plötzlich die Pistole und feuerte achtmal auf den Angeklagten. Von sechs Kugeln getroffen, sank Grabowski zusammen, bevor Polizeibeamte die Frau überwältigen konnten. 180 VON 300 In einer durch die kurz vorher bekanntgewordenen Fälle von Kindesentführungen und mißhandlungen sensibilisierten Öffentlichkeit rief der "Fall Bachmeier", der später verfilmt werden sollte, ein geteiltes Echo hervor. Weite Teile der Bevölkerung äußerten großes Verständnis für die Tat der Frau, während andere auf die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verwiesen. Entsprechend kontrovers wurde zwei Jahre später der Urteilsspruch über Marianne Bachmeier diskutiert. In jüngster Zeit wurde die Diskussion durch neue Fälle von Kindesmißhandlungen wieder angefacht. 30.03.81 Attentat auf Reagan Auch der 40. Amerikanische Präsident wird Opfer eines Attentats. Doch Reagan überlebt. Der psychisch gestörte 25jährige Täter behauptet, er habe mit der Tat sein Idol, die Schauspielerin Jodie Foster beeindrucken wollen. Ein Einzelgänger verübte am 30. März 1981 ein Attentat auf den US-Präsidenten Ronald Reagan, als dieser ein Hotel in Washington verließ. Er hatte dort eine Rede vor Gewerkschaftlern gehalten. Der Attentäter, J. Hinckley, verletzte Reagan in der Lunge und traf zwei Sicherheitsbeamte sowie einen Berater des Präsidenten, J. Brady, der schwer verletzt wurde und seit dem Attentat querschnittsgelähmt ist. Während sich Reagan im Krankenhaus von seiner Verletzung erholte, führte der spätere US-Präsident George Bush die Amtsgeschäfte weiter. Reagan übernahm sein Amt wenige Wochen nach dem Anschlag erneut. Im Gegensatz zum Attentat an J.F. Kennedy in Dallas am 22. November bestand beim Attentat auf Reagan allerdings nie ein Zweifel, daß es sich um die Tat eines Einzelgängers gehandelt und keinerlei Verschwörung bestanden hatte. 01.05.81 Ermittlungen in der Parteispendenaffäre Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung im Rahmen einer Parteispendenaffäre. Bis zum Sommer werden immer weitere Fälle verdeckter Parteienfinanzierung bekannt. Bald war Lambsdorff nur noch einer von etwa 700 Fällen. Neue Brisanz bekam die Parteispendenaffäre insbesondere im November desselben Jahres, als auch der FlickKonzern in den Verdacht der Steuerhinterziehung geriet. Das Wirtschaftsministerium hatte dem Flick-Konzern Steuerfreiheit in Höhe von 1,5 Milliarden Mark Gewinnauschüttung gewährt, ein Beschluß, der nach Paragraph sechs des Einkommenssteuergesetzes zwar möglich ist, allerdings nur, wenn die Gewinne auf "volkswirtschaftlich besonders förderungswürdige Weise" wieder angelegt werden. Flick hatte das Geld in einen amerikanischen Konzern gesteckt, wodurch dem Staat 120 Millionen Steuereinnahmen entgingen; – und das zu einem Zeitpunkt, als die volkswirtschaftliche Lage der Bundesrepublik auf einem Tiefpunkt angelangt war und die Koalition wegen Haushaltsstreitigkeiten immer wieder ins Wackeln kam. Lambsdorff stand nun unter dem Verdacht der Bestechung und Bestechlichkeit, so daß nicht mehr das Problem Parteienfinanzierung und Parteispendenaffäre im Brennpunkt der Öffentlichkeit stand, sondern die Käuflichkeit der einzelnen Parteien und Minister. Für die Stabilität der sozialliberalen Koalition bedeutete weniger die Affäre Lambsdorff die große Krise, als viel mehr die Suche nach einer politischen Lösung bezüglich einer Amnestie für die mittlerweile fast 1.000 Fälle von Parteispendenaffären. 13.05.81 Papst bei Attentat verletzt Papst Johannes Paul II. wird während einer Audienz auf dem Petersplatz in Rom durch mehrere Schüsse schwer verletzt. Aus den Reihen der etwa 20.000 Anwesenden hat der 23jährige Türke Mehmet Ali Agça mit einem Revolver auf den Papst gefeuert. Von drei Kugeln getroffen sank der Papst zu Boden. Nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus wurde er sofort operiert und erholte sich binnen der nächsten Wochen und Monate unerwartet rasch von seinen Verletzungen. 181 VON 300 Der Attentäter wurde sofort nach den Schüssen von Polizei und Leibwächtern überwältigt und inhaftiert. Am 22. Juli 1981 verurteilte ihn ein Gericht zu lebenslanger Gefängnishaft. Die Hintergründe des Attentats blieben im Dunkeln. Wieder gab es Gerüchte um Zusammenhänge mit dem unerwarteten Tod des Amtsvorgängers des Papstes und Verschwörungstheorien. Agça war allgemeinen Verlautbarungen zufolge allerdings wohl doch nur ein Einzeltäter, wenngleich er einer rechtsextremistischen türkischen Organisation zugerechnet wurde. Die permanente Präsenz des Papstes in der Öffentlichkeit und in den Medien machte ihn zu einem bevorzugten Ziel für Attentate. Nach diesem ersten mißglückten Mordversuch wurden die Sicherheitsbestimmungen für die öffentlichen Auftritte des Kirchenoberhauptes drastisch verschärft. So wurde der Papst in der Folge bei seinen Auftritten in einem mit Panzerglas gesicherten Jeep zu seinen Auftritten gefahren. 29.07.81 Monarchie im Wandel Für manche sind sie Lebensinhalt, für andere purer Anachronismus. Den einschlägigen Gazetten hingegen garantieren Könige und Fürsten immer wieder umsatzfördernde Schlagzeilen. Ob Traumhochzeiten oder Seitensprünge, der Alltag der "Royals" stößt auf rege Anteilnahme in der Bevölkerung. Von Regentenpflichten weitgehend entbunden, stehen sie nicht nur bei der Ausübung ihrer repräsentativen Pflichten, sondern rund um die Uhr unter Beobachtung der Regenbogenpresse. Manchmal bis in den Tod ... 06.10.81 Tödliches Attentat auf Sadat Die Rache der Friedensgegner: Ägyptens Präsident und Friedensnobelpreisträger Anwar as-Sadat wird während der Parade zum 8. Jahrestag des Oktoberkrieges (Yom-KippurKrieg) in Kairo ermordet. Bei dem Attentat sterben außer Sadat noch sechs weitere Personen, 28 werden verletzt. Die Attentäter gehörten zu der islamistischen Gruppe "al-Jihad". Ihr Anführer, Leutnant Ahmed al-Islambuli, wurde mit vier weiteren Attentätern im März 1982 zum Tode verurteilt. Einen Monat vor seinem Tod hatte Sadat oppositionelle Politiker und führende Islamisten verhaften lassen. In der arabischen Welt stand Sadat seit seiner spektakulären JerusalemReise im November 1977 und dem Friedensvertrag mit Israel weitgehend allein. Bei der Beerdigung Sadats, an der Trauergäste aus 80 Ländern teilnahmen, fehlten Vertreter der meisten arabischen Staaten. Sadats Nachfolger im Präsidentenamt war der bisherige Vizepräsident Hosni Mubarak, der versicherte, den Friedensprozeß mit Israel fortsetzen zu wollen, aber seit 1982 auch wieder Kontakte zur PLO und zu den arabischen Staaten herstellte. 15.11.81 Proteste gegen Startbahn West Nicht nur der Bau von Kernkraftwerken, auch Großprojekte wie der Ausbau des Frankfurter Flughafens stoßen auf den Widerstand zahlreicher Bürgerinitiativen. Um den 15. November 1981 kam es zu einer Reihe von Protesten gegen die Anlage einer zusätzlichen Startbahn ("Startbahn West") für den Frankfurter Rhein-Main-Flughafen. Vor allem die Anwohner befürchteten eine unerträgliche Zunahme der Lärmbelästigung und die Zerstörung des letzten großen Waldgebietes der Rhein-Main-Gegend. Während bei der bisher größten Kundgebung gegen den geplanten Bau am 14. November in Wiesbaden etwa 100.000 Menschen friedlich demonstrierten, kam es in den Tagen vorher und nachher zu gewalttätigen Ausschreitungen. Am 12. und 13. November räumte die Polizei ein Hüttendorf auf dem Baugelände, am 15. November besetzten Demonstranten die Autobahnzufahrten zum Flughafen und verschiedene Flughafengebäude. Bei den Ausschreitungen gab es sowohl unter den Demonstranten als auch unter den Beamten Verletzte. 182 VON 300 Trotz des bundesweiten Proteststurms gegen die Startbahn West konnte der Ausbau des Frankfurter Flughafens nicht verhindert werden. 11.12.81 Deutsch-deutscher Gipfel in der Uckermark Deutsch-deutscher Gipfel in der DDR: Helmut Schmidt besucht Erich Honecker. Doch die hohen Erwartungen werden nicht erfüllt, statt konkreter Vereinbarungen gibt es nur einen allgemeinen Meinungsaustausch über die weltpolitische Lage und deren Auswirkungen auf Europa und die beiden deutschen Staaten. Im Gegensatz zu Honecker glaubte Schmidt, daß die beiden deutschen Staaten gemeinsam auf eine Entspannung oder zumindest Stabilisierung der internationalen Lage hinwirken könnten. Der DDR-Chef vertrat dagegen die Meinung, daß eine Verbesserung des internationalen Klimas die Voraussetzung und nicht das Resultat weiterer Fortschritte in den deutsch-deutschen Beziehungen sein müßte. Damit zielte er auch auf ein Abrücken der Bundesregierung vom NATO-Doppelbeschluß. Schmidt beschwerte sich massiv über die Erhöhung der Mindestumtauschsätze und wies auf den Schaden für das deutsch-deutsche Verhältnis hin. Im Gegenzug forderte Honecker erneut die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft. Die "Eiszeit" zwischen den beiden deutschen Staaten symbolisierte auch der abschließende gemeinsame Besuch des Doms von Güstrow. Sicherheitsorgane verhinderten jeden Kontakt der Bevölkerung mit dem Bundeskanzler. Entsprechend floskelhaft fiel denn auch das Abschlußkommuniqué aus, das kaum greifbare Ergebnisse enthielt. 13.12.81 Kriegsrecht in Polen General Jaruzelski greift einer sowjetischen Intervention vor und verhängt das Kriegsrecht in Polen - offenbar das letzte Mittel der Kommunisten, um mit den aufmüpfigen Arbeitern der Danziger Lenin-Werft fertig zu werden. Unter der Führung von Lech Walesa hatten die Arbeiter eine unabhängige Gewerkschaft gegründet und politische Mitbestimmung durchgesetzt. Nun ließ der General Panzer gegen das eigene Volk rollen. Doch auch die Auflösung der "Solidarnosc" 1982 konnte den Gang der Geschichte nicht aufhalten. Jaruzelski verhängt Kriegsrecht über Polen Unter dem Damoklesschwert einer sowjetischen Militärintervention stehend, ruft Polens Staats- und Parteichef Jaruzelski selbst das Kriegsrecht in seinem Lande aus. Die staatlichen Befugnisse in Warschau gehen an ein "Militärkomitee zur Nationalen Rettung" über. Jaruzelski wählte diesen Zeitpunkt, um einen nationalen Protesttag zur Erinnerung an die Ereignisse vom 17. Dezember 1970 zu verhindern. Dies war der Endpunkt einer Entwicklung, die sich bereits Monate zuvor abgezeichnet hatte. In dem Maß wie die Popularität der "Solidarnosc" gestiegen war, stieg auch die Nervosität der KP-Führung in Warschau, zumal die UdSSR deutlich ihr Mißfallen an dieser Entwicklung bekundete. Nach der Verhängung des Kriegsrechtes verhafteten die Sicherheitskräfte Hunderte von Aktivisten der Gewerkschaft und der Opposition, unter ihnen auch den Arbeiterführer Lech Walesa. Die "Solidarnosc" wurde suspendiert, das Streikrecht aufgehoben und die wichtigsten Betriebe unter Militäraufsicht gestellt. Der Westen verhängte Sanktionen und gab auch keine neuen Kredite mehr. Trotz dieser innenwie außenpolitischen Isolation gelang der Militärregierung dennoch eine gewisse Stabilisierung der Wirtschaftslage. 07.02.82 183 VON 300 "Schwerter zu Pflugscharen" Unter dem Schutz der evangelischen Kirche formiert sich auch in der DDR eine unabhängige Friedensbewegung. Unter dem biblischen Motto "Schwerter zu Pflugscharen" engagiert sie sich für Abrüstung in Ost und West. So wurden am 7. Februar 1982 in zahlreichen ostdeutschen Kirchen Unterschriften für den "Berliner Appell – Frieden schaffen ohne Waffen" gesammelt. Dieser Appell, der auf eine Bürgerinitiative aus 35 Geistlichen, Arbeitern und Angestellten zurückging, forderte ein atomwaffenfreies Europa. Die Aufnahme von Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR mit dem Ziel, aus beiden deutschen Staaten alle Atomwaffen zu entfernen, wurde in dem Aufruf als ein erster Schritt zu einer weltweiten Abrüstung vorgeschlagen. Von der DDR-Regierung verlangte die Bürgerinitiative die Einführung eines sozialen Friedensdienstes und die Abschaffung des Wehrkunde-Unterrichts an den Schulen. Die Friedensbewegung "Schwerter zu Pflugscharen" war die einzige Oppositionsgruppe in den Ostblockländern, die nicht direkt verfolgt wurde. Da diese Staaten für sich in Anspruch nahmen, aufgrund ihrer "antiimperialistischen" Zielsetzung selbst Träger der Friedensbewegung zu sein, ließen sie keine Aktivitäten oppositioneller Gruppen zu. In der DDR war die Evangelische Kirche eine autonome Organisation, was sie zum Zufluchtsort der Friedensbewegung machte. 02.04.82 Argentinien besetzt die Falkland-Inseln Großbritannien führt Krieg im Südatlantik. Der Auslöser: Die Besetzung der britische Kronkolonie Falkland durch argentinische Truppen. Nach 45 Tagen Kampfhandlungen behauptete London seinen Anspruch auf das Eiland. Am 2. April landeten 5.000 argentinische Soldaten auf den seit Jahrzehnten beanspruchten Falklands und zwangen die 79 stationierten britischen Soldaten nach dreistündigen Gefechten zur Kapitulation. Die Falklands bestehen aus zwei Hauptinseln und 200 kleinen Inseln und wurden von 1.900 Briten besiedelt. Unter den Felsen der Inseln vermutete man große Erdölvorkommen, zudem sicherten sie Großbritannien den Status als AntarktisAnrainer und damit den Anspruch auf die dortigen Bodenschätze. Die argentinische Militärregierung unter Leopoldo Galtieri und die britische Premierministerin Margaret Thatcher verschlossen sich allen Vermittlungsversuchen von US-Präsident Reagan und UN-Generalsekretärs Pérez de Cuéllar. In beiden Staaten wurde der Kriegsbeginn mit großem Jubel gefeiert. Am 1. Mai begann unter massivem Materialeinsatz die Rückeroberung durch 5.000 britische Soldaten, die am 14. Juni mit der Kapitulation der in der Hauptstadt Port Stanley eingeschlossenen argentinischen Truppen endete. 11.800 Soldaten gerieten in Gefangenschaft, 256 britische und 712 argentinische Soldaten sowie drei Zivilisten fanden den Tod. Die Kriegskosten waren mit 2,3 Mrd. britischen Pfund enorm. Der verlorene Krieg verschärfte die innere Krise in Argentinien, und führte im Juni zum Sturz der Regierung, während für die Thatcher-Regierung die Wiederwahl im Jahr darauf gesichert war. 06.06.82 Israelis marschieren im Libanon ein Der Libanon wird erneut Ziel einer israelischen Militärintervention. Konkreter Anlaß war ein Anschlag auf den israelischen Botschafter in London Schlomo Argov. Die Intention des israelischen Angriffs ist die militärische und politische Vernichtung der PLO. Bereits im Jahr 1978 war Israel im Südlibanon gegen PLO-Lager vorgegangen und hatte eine Sicherheitszone errichtet, die von UN-Truppen geschützt werden sollte. Der Einfluß der PLO in diesem Gebiet blieb aber groß. Im Juni 1982 erreichten die israelischen Truppen innerhalb weniger Tage Beirut. Gemeinsam mit den christlichen Milizen belagerten sie Stellungen der Palästinenser. Nach der Vereinbarung eines Waffenstillstandes, der auf Druck des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan zustande kam, wurden die PLO-Kämpfer aus Beirut evakuiert. Yassir Arafat und die PLO verließen den Libanon. Nach den Massakern in palästinensischen 184 VON 300 Flüchtlingslagern wurden im September 1982 UN-Beobachter nach Beirut entsand. Bis sich Israel 1985 aus dem Libanon zurückzog, forderte die Intervention ca. 20.000 Tote, der größte Teil davon Zivilisten. In Israel kam es zu innenpolitischen Auseinandersetzungen über den Libanonkrieg, die sich nach dem Massaker in den Palästinenserlagern verschärften. Es kam zu einer gerichtliche Untersuchung über die israelische Verantwortung für die. Verteidigungsminister Ariel Scharon trat nach der Veröffentlichung der Ergebnisse zurück. 10.06.82 Hunderttausende auf Friedensdemo Anläßlich des Deutschlandaufenthalts von Ronald Reagan kommt es im Juni 1982 in zahlreichen Städten im Bundesgebiet zu Großdemonstrationen gegen den US-Präsidenten und die Aufrüstung in Ost und West. Der Name des Präsidenten, der seine Anwesenheit in der BRD nutzte, um auf dem Bonner NATO-Gipfeltreffen zu sprechen, galt der Friedensbewegung als Synonym für die Fortsetzung des Ost-West-Konfliktes und die im NATO-Doppelbeschluß von 1979 festgeschriebene Aufrüstung. Die Redner der Veranstaltungen verlangten in ihren Ansprachen ein Ende der Hochrüstung und forderten, die hier ausgegebenen Milliarden sinnvoller für Umwelt und Soziales zu verwenden. Wie auf fast allen Stationen der Europareise Reagans strömten auch in Bonn die Menschen zusammen, um für eine friedliche Zukunft in einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa zu demonstrieren. Zur größten Kundgebung kam es am Tag des Gipfels am 10. Juni in den Beueler Rheinauen gegenüber dem Tagungsgebäude: Etwa 400.000 Menschen hatten sich zur bislang größten Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik versammelt. Wenige Tage zuvor hatten an gleicher Stelle knapp 100.000 CDU-Anhänger für die deutsch-amerikanische Freundschaft demonstriert. 12.08.82 Mexiko schlittert in die Schuldenfalle Nächtlicher Anruf von Mexikos Finanzminister bei seinem US-Kollegen Donald Regan und bei IWF-Direktor Larosière (u.l.): Mexikos Staatsreserven seien erschöpft, allfällige Kredite können nicht mehr bedient werden. Bald erfaßt die Krise ganz Lateinamerika, das globale Finanzsystem steht vor dem Kollaps. Mexiko hatte wie viele andere Staaten Lateinamerikas immense Kreditsummen auf dem internationalen Kapitalmarkt beschafft, um damit eine beschleunigte industrielle Entwicklung zu finanzieren. Über Jahre hinweg schien das System zu funktionieren, zumal Erdölfunde im Lande Mexiko beträchtliche Deviseneinnahmen erbrachten. Anfang der 80er Jahre setzte jedoch bei international steigendem Zinsniveau eine sich rasch verstärkende Kapitalflucht ein, da der Peso als klar überbewertet galt. Mexikos Regierung versuchte hingegen verzweifelt den Peso stabil zu halten und dem steigenden Abwertungsdruck durch immer neue Kredite zu begegnen. Im August 1982 waren die Staatskassen leer, Mexiko bedurfte internationaler Hilfe, um nicht den Staatsbankrott erklären zu müssen. Bald zeigte sich zum Entsetzen der internationalen Finanzwelt, daß Mexiko kein Einzelfall war: Argentinien, Brasilien, Kolumbien folgten. Die abzuschreibenden Kredite bedrohten die Liquidität internationaler Großbanken und erst das entschlossene Krisenmanagement von IWF und US-Notenbank verhinderten ein Desaster. Über Jahre hinweg mußten immer neue Umschuldungsmaßnahmen gefunden werden, bis heute ist die Schuldenkrise nicht endgültig überwunden. 16.09.82 Fast 2000 Tote bei Massakern in PLO-Lagern Die von Israel unterstützte libanesische Falange-Miliz richtet zwei Tage lang in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila grauenhafte Massaker an. Knapp 2.000 Menschen fallen dem Wüten zum Opfer. 185 VON 300 Ermordet wurden vor allem Alte, Frauen und Kinder. Schon zwei Tage zuvor war der im August 1982 zum libanesischen Staatspräsidenten gewählte Kommandant der christlichnationalen Falange-Miliz, Baschir Gemayel, bei einem Sprengstoffanschlag ums Leben gekommen. Amin Gemayel wurde am 21. September 1982 als Nachfolger seines Bruders zum neuen Präsidenten gewählt. Nach dem Massaker kehrten die Anfang September abgezogenen westlichen Interventionstruppen und UN-Beobachter nach Beirut zurück. Die israelischen Truppen verließen Beirut. Im Juni 1982 hatte Israel die Invasion in den Libanon begonnen, mit dem Ziel, die PLO zu zerschlagen. Die Führung der PLO und ihre Kämpfer verließen das Land seit August 1982 . In Israel kam es nach dem Massaker verstärkt zu Auseinandersetzungen, die zu einer gerichtlichen Untersuchung der israelischen Verantwortung führten. Verteidigungsminister Ariel Scharon trat im Februar 1983 zurück. 17.09.82 Die Regierungskoalition bricht auseinander Bundeskanzler Helmut Schmidt beendet die Koalition mit den Liberalen. Zu tiefgehend waren die Differenzen zwischen den Partnern geworden, zu hartnäckig beharrte die kleine FDP auf ihren Forderungen. Mit dem Rücktritt der FDP-Minister Genscher, Lambsdorff, Baum und Ertl enden schließlich 13 Jahre sozialliberaler Koalition. Die Streitigkeiten zwischen den Koalitionspartnern waren im Sommer eskaliert. Die FDP warf der SPD Wankelmütigkeit gegenüber den Bündnispartnern vor und kritisierte die unzureichenden Sparmaßnahmen im Haushalt. Die SPD beschuldigte die FDP, nicht mehr zu den Koalitionsabmachungen zu stehen und zudem im Haushaltsplan vor allem an Sozialleistungen sparen zu wollen. Nach anfänglich signalisierter Kompromißbereitschaft lehnte Schmidt spätestens in seinem Bericht "Zur Lage der Nation" die FDP-Forderungen ab, da sich mittlerweile sogar die Gewerkschaften öffentlich von der SPD distanzierten. In der Rede vor dem Bundestag rechtfertigte er die Koalitionsabsage und stellte den "taktischen Manövern" und dem "eigensüchtigen parteilichen Handeln" der Liberalen das "Interesse unseres Landes" entgegen. Die FDP stand als Buhmann der Nation da. Zwar versuchte sie noch, den endgültigen Bruch der Koalition über die Landtagswahlen in Hessen hinauszuretten, doch kam ihr die SPD zuvor. In Hessen quittierten die Wahlberechtigten die Wende der FDP: Die Liberalen scheiterten an der Fünfprozenthürde, dafür zogen die Grünen in den Landtag ein. 01.10.82 Wende in Bonn Machtwechsel in Bonn: Der CDUKandidat Helmut Kohl löst Helmut Schmidt als Bundeskanzler ab. Die sozialliberale Koalition ist beendet. Nach dem Rechtsruck in Großbritannien und den USA begann nun auch in der Bundesrepublik die neokonservative Ära. Was kaum jemand dem behäbig wirkenden Pfälzer Kohl zutraute, sollte Wirklichkeit werden: Er überstand nicht nur eine, sondern gleich vier Legislaturperioden und regierte länger als sein Idol Adenauer. Höhepunkt seiner Regentschaft wurde die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. 186 VON 300 Kohl wird Bundeskanzler Machtwechsel in Bonn: Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition übergibt Bundeskanzler Helmut Schmidt die Amtsgeschäfte an den CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl. CDU/CSU und FDP hatten sich in ihren Koalitionsverhandlungen auf den Kanzlerkandidaten geeinigt und so eine Mehrheit für ein Konstruktives Mißtrauensvotum gesichert. Die Abstimmung über das Mißtrauensvotum fand am Nachmittag des 1. Oktober statt und brachte für Helmut Kohl eine Kanzlermehrheit von 7 Stimmen. Der Wechsel war vollzogen, und Kohl bildete ein christlich-liberales Kabinett. In der Debatte vor der Abstimmung resümierten alle Seiten die Vorgänge des vergangenen Jahres. Die SPD warf ihrem bisherigen Koalitionspartner FDP vor, das Wahlversprechen von 1980 gebrochen zu haben und den Wählerwillen übergangen zu haben. Die CDU beschuldigte die SPD, den Staat auf eine Verschuldung von 300 Milliarden Mark und 1,79 Millionen Arbeitslose heruntergewirtschaftet zu haben und begründete mit dieser "Regierungsunfähigkeit" ihren Mißtrauensantrag. Insgesamt gab es nur wenig Aufruhr um den Kanzler- und Regierungswechsel. Die bewegendsten Reden kamen aus den Reihen der FDP. Hildegard Hamm-Brücher warf den Verfechtern des Mißtrauensantrags vor, daß sie "... quasi die moralischsittliche Integrität von Machtwechseln ..." beschädigten. 08.10.82 Gewerkschaft "Solidarnosc" aufgelöst Die Gewerkschaft "Solidarnosc" wird aufgelöst und durch unter der Vormundschaft der KP stehende Einzelgewerkschaften ersetzt. Als Reaktion darauf legen Tausende von Arbeitern in Danzig und anderen Städten Polens die Arbeit nieder. Schwere Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften folgten. Grundlage dieser Entscheidung war ein von der Regierung des Generals Wociech Jaruzelski vorgelegtes neues Gewerkschaftsgesetz, angenommen vom Parlament in Warschau bei nur 10 Gegenstimmen. Trotz des nach wie vor starken Widerstandes in Teilen der Bevölkerung fühlte sich die Regierung in Warschau zum Ende des Jahres 1982 stark genug, um die Zügel wieder etwas zu lockern. So ordnete sie die Freilassung des Führers der "Solidarnosc", Lech Walesa, an. Am 12. Dezember 1982 konnte er das Jagdschloß in Südostpolen verlassen, in dem er seit der Verhängung des Kriegsrechts vor elf Monaten festgehalten worden war. Offiziellen Angaben zufolge hatte Walesa Bereitschaft zum Dialog gezeigt. Walesa selbst betonte, daß man ihm keinerlei Bedingungen für seine Haftentlassung gestellt habe: Er werde sich für die Freilassung der noch Internierten einsetzen und dem Geist der Vereinbarungen vom August 1980 treu bleiben. Walesa versicherte in einem Interview, die Haftbedingungen seien eher gut gewesen. Er habe drei Fernsehprogramme und einen Radiosender empfangen können und das Essen sei das gleiche gewesen, wie das seiner Bewacher. 10.11.82 Breschnew gestorben Machtwechsel im Kreml: Drei Tage nach den Feiern zum 65. Jahrestag der Oktoberrevolution stirbt in Moskau der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew an Herzversagen. Er stand im 75. Lebensjahr. Breschnews Tod kam für niemanden überraschend, war sein Gesundheitszustand doch schon seit längerer Zeit so schlecht gewesen, daß er seinen Amtspflichten kaum mehr hatte nachkommen können. Dennoch hielten die sowjetischen Behörden die Nachricht mehr als einen Tag lang zurück. Sein Leichnam wurde im Moskauer Gewerkschaftshaus aufgebahrt und wenig später mit dem üblichen Pomp an der Kremlmauer beigesetzt. Breschnew hatte die Geschicke der UdSSR seit dem Sturz Chruschtschows im Jahre 1964 gelenkt. Innenpolitisch war seine Regierungszeit durch Stagnation gekennzeichnet. In der 187 VON 300 Außenpolitik war die Bilanz zwiespältig. Anfang der 70er Jahre zeigte sich Breschnew um Abrüstung und Entspannung bemüht, 1979 beendete er selbst diese Phase durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan. Nachfolger wurde am 12. November Jurij Andropow (u.l.). 16.11.82 RAF-Terroristen verhaftet Den Fahndungsbehörden gelingen entscheidende Schläge gegen die linke Terrorszene. Nach der Festnahme von Adelheid Schulz und Brigitte Mohnhaupt wird nun auch Topterrorist Christian Klar (l.), der meistgesuchte RAF-Aktivist, gefaßt. Schulz und Mohnhaupt waren im hessischen Heusenstamm festgenommen, die Verhaftung Klars gelang Beamten des Sondereinsatzkommandos Eutin und des Mobilen Einsatzkommandos Hamburg in Sachsenwald bei Hamburg. Klar wurde in einer Wohnung von den Fahndern überrascht. Der 30jährige leistete bei der Festnahme keinen Widerstand. Christian Klar war nach den Selbstmorden der alten RAF-Führungsriege im Stammheimer Hochsicherheitsgefängnis an die Spitze der Organisation gerückt und wurde unter anderem wegen der Morde an Siegfried Buback, Jürgen Ponto und Hanns-Martin Schleyer 1977 gesucht. Im April 1985 wurden Klar und Mohnhaupt in Stuttgart wegen Beteiligung an neun Morden und mehreren Mordversuchen zu jeweils fünfmal lebenslänglich und 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. 23.02.83 UMWELT: Maßnahmen gegen das Waldsterben Die Bundesregierung verabschiedet eine Großfeuerungsanlagenordnung: das Waldsterben soll damit zumindest gemindert werden. Nachdem in den 70er Jahren beobachtet worden war, daß Waldbestände in Bayern und dem Schwarzwald großflächig zugrundegingen, war der Begriff des "Waldsterbens" geboren, der so auch in die englische und französische Sprache Eingang fand. Zu Beginn der 80er Jahre hatte das Waldsterben den gesamten deutschen Forstbestand erfaßt. Das vor allem in Industrienationen beobachtete Waldsterben ist eine Folge der Übersäuerung des Bodens, die wiederum aus der Verbindung von verbrannten Schwefelschadstoffen mit Regenwasser resultiert. Neben dem Forstbestand sind durch den sauren Regen auch Gebäude bedroht, besonders deutlich etwa am Kölner Dom. Schadstoffe wie Schwefeldioxid werden insbesondere von Kraftwerken freigesetzt. Die neue Verordnung zwang die Betreiber von Kraftwerken, die Schadstoffemission zu vermindern. Da die Maßnahme, wie die meisten anderen Umweltschutzprogramme, nur eine Ursache des sauren Regens angriff, wurde sie von der Opposition, die weitergehende Maßnahmen forderte, scharf kritisiert. 06.03.83 Grüne erstmals im Bundestag Überraschung bei den Wahlen: Zum ersten Mal zieht die Partei der "Grünen" in den Bundestag ein. Mit ihr wird Umweltschutz auch für die etablierten Parteien ein Thema. Künftig können diese nicht mehr umhin, sich den drängenden Fragen zu stellen, die die "Grünen" erstmals auf den Tisch bringen. Zentrale Forderungen der neuen Partei war der Kampf für den Umweltschutz, die Ablehnung der Atomenergie und die Abrüstung. Die Grünen hatten sich 1980 als "ökologische, basisdemokratische, soziale und gewaltfreie" Bundespartei begründet. Politiker der ersten Stunde waren Petra Kelly (l.), August Haußleitner, Norbert Mann, Otto Schily, Joschka Fischer und Gerd Bastian. Die Grünen grenzten sich von Anfang von den etablierten Parteien ab, so durch ihre radikalen Umweltpolitik, ihre frauenpolitischen Forderungen oder dem Prinzip, ihre Abgeordneten im Zwei-Jahres-Turnus auszuwechseln. 188 VON 300 Dadurch, daß die Grünen von Anfang an eine "Sammelpartei" für unterschiedlichste Bürgerrechts- und Umweltbewegungen darstellte, waren die kommenden Jahre von innerparteilichen Grabenkämpfen zwischen sogenannten Fundis und Realos gekennzeichnet: Die "Fundis" sahen ihre Aufgabe darin, Maximalprinzipien durchzusetzen, während die "Realos" bereit waren, auch Kompromisse einzugehen, um politisch konsensfähig zu sein. 23.03.83 Reagan kündigt Weltraumprojekt SDI an Präsident Ronald Reagan kündigt in einer Fernsehansprache Pläne zur Rüstung im Weltraum an. Mit dem Forschungsprogramm "Strategic Defense Initiative" (SDI) soll die USA durch eine tiefe Staffelung von Abwehrgürteln unverwundbar gegen ballistische Nuklearwaffen gemacht werden. Die Einrichtung eines solchen Systems brach jedoch den SALT I-Vertrag zwischen den USA und der UdSSR von 1974. Darin war die Militarisierung des Weltraums untersagt worden, allerdings war die Forschung an weltraumgestützten Waffensystemen darin nicht inbegriffen. Der Abschuß von Langstreckenraketen in den ersten 5 bis 10 Minuten nach dem Start konnte jedoch nur durch eine Stationierung von Abwehrsystemen im Weltraum gewährleistet werden. Reagan begründete das Programm mit dem Ziel, Nuklearwaffen gänzlich nutzlos zu machen und damit eine vollständige nukleare Abrüstung zu erreichen. Kritiker jedoch warfen Reagan vor, das atomare Gleichgewicht außer Kraft zu setzen, da ja die USA bei Projektrealisierung gegen sowjetische Langstrekkenraketen geschützt wäre. Außerdem ließ Reagan see- und luftgestützte Nuklearwaffen außer acht. Der sowjetische Staatschef Jurij Andropow beschuldigte Reagan, die bisherigen Abrüstungsabkommen gebrochen zu haben und die laufenden zu boykottieren. Die NATOPartner, die Reagan zur Beteiligung einlud, äußerten Bedenken über die enormen Kosten von mehreren hundert Milliarden US-Dollar. 22.10.83 Millionenprotest gegen NATO-Nachrüstung Kurz vor der Entscheidung des Bundestags über die Stationierung amerikanischer Mittelstrekkenraketen im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses hält die Friedensbewegung eine Aktionswoche gegen die Atomrüstung ab. Abschluß und Höhepunkt bilden die Veranstaltungen am 22. Oktober, an denen sich bundesweit mehr als eine Million Menschen beteiligen. In Hamburg, Bonn und Berlin wurden "Volksversammlungen" mit jeweils mehreren Hunderttausend Teilnehmern abgehalten. Auf der zentralen Kundgebung im Bonner Hofgarten sprach sich u.a. der SPD-Vorsitzende Brandt für ein klares "Nein" gegen "immer neue Atomraketen", bekannte sich aber gleichzeitig zur NATO und zur Bundeswehr. Zwischen Stuttgart und Neu-Ulm bildeten rund 200.000 Friedensbewegte eine geschlossene Menschenkette. Wie schon an den vorangegangenen Tagen der Aktionswoche verliefen alle Kundgebungen und Demonstrationen friedlich und gewaltfrei, lediglich in Hamburg kam es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Auch in zahlreichen Städten des westeuropäischen Auslands - v.a. in Rom, London und Wien - fanden zur gleichen Zeit Massenproteste gegen die Stationierung von Pershing-2Raketen und Marschflugkörpern in Europa statt. 25.10.83 US-Invasion auf Grenada Die Insel Grenada, auf der kurz zuvor ein Umsturz stattgefunden hatte, wird von amerikanischen Soldaten und Truppen aus sechs weiteren Karibikstaaten besetzt. Es ist eine der umstrittensten US-Militärinterventionen. 189 VON 300 US-Präsident Ronald Reagan befahl die Invasion, nachdem sechs Tage zuvor der grenadische Premierminister Maurice Bishop ermordet worden war und daraufhin eine Militärjunta unter dem Armeebefehlshaber Hudson Austin die Macht übernommen hatte. Reagan begründete die Aktion damit, daß er von den ostkaribischen Staaten Barbados, Jamaika, Dominica, Antigua, St. Vincent und St. Lucia darum gebeten worden sei. Die sechs Staaten beteiligten sich an der Militäraktion mit 300 Soldaten. Reagan erklärte außerdem, daß die rund 1.000 US-Bürger auf Grenada vor einer etwaigen Geiselnahme geschützt werden müßten. Die US-Regierung fürchtete bereits seit dem Putsch Bishops 1979 eine Einflußnahme des kubanischen Staatschefs Fidel Castro. Die 1.300 Mann starke grenadische Armee und 750 kubanische Bauarbeiter, die den Flughafen "Port Salines" errichteten, leisteten bis Ende des Monats heftigen Widerstand. 71 Grenader, 27 Kubaner und 18 US-Amerikaner wurden getötet. Weltweit kam es zu Protesten gegen die Intervention: Die britische Labour-Opposition bezeichnete Premier Margaret Thatcher einen "Pudel Washingtons". Königin Elisabeth II. von Großbritannien, nominell das Staatsoberhaupt Grenadas, setzte den britischen Generalgouverneur Sir Paul Scoon ein, demokratische Wahlen vorzubereiten. 30.10.83 Freie Wahlen in Argentinien Aus den ersten freien Wahlen in Argentinien nach acht Jahren Militärdiktatur geht der Sozialdemokrat Raúl Alfonsín (u.l.) als Sieger hervor. Er übernimmt das Amt in einer schweren Zeit. Alfonsín vereinigte 50,5 Prozent der Wählerstimmen und 317 der 600 Wahlmänner, die den Präsidenten direkt wählten. Der Kandidat der Militärs, der Peronist, Italo Argentino verlor mit 259 Wahlmännern. Im Abgeordnetenhaus errang Alfonsíns Partei, die "Unión Civica Radical" (UCR), die knappe Mehrheit von 129 zu 125 Sitzen. Nur im Senat hatten die Peronisten noch die Mehrheit. Die Niederlage General Galtieris im Falkland-Krieg gegen Großbritannien war von vielen Argentiniern als nationale Schmach empfunden worden. Auch die Wunden aus der Zeit der Militärdiktatur mußten geheilt werden: 30.000 Menschen galten als vermißt und waren vermutlich von den Militärs ermordet worden. Alfonsín versprach bei seiner Amtseinführung in Buenos Aires, auf die volle Einhaltung der Menschenrechte zu achten und den "Unterdrükkungsapparat" abzubauen. Gegen mehrere alte Machthaber, darunter die ehemaligen Präsidenten Jorge Rafael Videla, der im März 1976 Staatspräsidentin María "Isabel" Perón abgesetzt hatte, und Roberto Eduardo Viola ließ Alfonsín Anklage erheben. Zwei Jahre später wurden sie zu lebenslanger Haft bzw. 17 Jahren Gefängnis verurteilt. Auch auf wirtschaftlicher Seite stand er vor enormen Problemen: Im März hatte Argentinien Schuldentilgungen von 1,4 Milliarden US-Dollar aussetzen müssen. Die Inflation lag bei über 100 Prozent. 21.11.83 NATO-Doppelbeschluß Angesichts der bedrohlichen Entwicklungen im Ostblock setzt die Regierung Kohl ihren 1979 gefaßten Beschluß um: Die NATO beginnt mit der Stationierung von Pershing-IIRaketen und Cruise Missiles. "Frieden schaffen ohne Waffen": Der NATO-Doppelbeschluß brachte der Friedensbewegung regen Zulauf. Millionen von Menschen demonstrierten in den betroffenen Staaten gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen und für eine weltweite Abrüstung. Nachrüstungsdebatte im Bundestag Die Bundesregierung muß eine Entscheidung bezüglich einer Stationierung von neuen Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden treffen. Am 21. und 22. November debattieren die Abgeordneten im Bundestag in teils turbulent geführten Diskussionen über die neuen Atomraketen. 190 VON 300 Mit der Mehrheit von CDU/CSU unter Bundeskanzler Kohl und der FDP entschloß sich der Bundestag am 22. November schließlich für die Stationierung neuer Raketen. Während die USA schon am nächsten Tag mit der Aufstellung von Pershing-IIRaketen in der Bundesrepublik begannen, brach die Sowjetunion die bilateralen Nachrüstungsverhandlungen zwischen den beiden Supermächten in Genf unverzüglich ab. Moskau reagierte auf den Stationierungsbeschluß mit der Aufstellung neuer SS-20-Raketen in den Warschauer-Pakt-Staaten. Die Öffentlichkeit reagierte entsetzt auf den Nachrüstungsbeschluß. Noch am 22. Oktober hatte eine riesige Demonstration der Friedensbewegung gegen die Stationierung stattgefunden und die SPD hatte auf ihrem Parteitag Anfang November mit überwältigender Mehrheit beschlossen, sich gegen die Nachrüstung auszusprechen und nicht, wie CDU/CSU und FDP, an dem NATO-Doppelbeschluß festzuhalten. Vor allem auch die Grünen, die sich als parlamentarischer Arm der Friedensbewegung verstanden, bekämpften kompromißlos die Nachrüstung. 24.01.84 Kohl besucht Israel Die Beziehungen zwischen Deutschland und dem Staat Israel sind durch die Belastungen der Vergangenheit höchst kompliziert. Doch seit Ende der siebziger Jahre hat sich der Konflikt beider Staaten durch die deutsche Nahostpolitik zusätzlich verschärft. 1984 reist Bundeskanzler Kohl nach Israel um Verständigungsgespräche mit Ministerpräsident Schamir zu führen. Der seit 1982 regierende deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl traf am 24. Januar 1984 zu einem fünftägigen Besuch in Israel ein. Bei den Gesprächen mit dem israelischen Regierungschef Yitzhak Schamir versuchte Kohl, die Unstimmigkeiten, die sich wegen der deutschen Nahostpolitik und besonders wegen der geplanter Waffenlieferungen der Bundesrepublik an Saudi-Arabien in letzter Zeit entwickelt hatten, auszuräumen. Seit Ende der 70er Jahre war es wegen der zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Verbindungen der BRD mit arabischen Staaten zu Spannungen im deutsch-israelischen Verhältnis gekommen. Auch die Kritik der Deutschen am israelischen Verhalten im Libanonkrieg hatte das Verhältnis Israels zu seinem nach den USA zweitwichtigsten Handelspartner belastet. Seit die CDU/FDP-Koalition 1982 die Regierung in Bonn übernommen hatte, hatte sich das politische Klima zur liberal-konservativen Regierung in Jerusalem verbessert. 03.04.84 Gewerkschaften streiken für 35-Stunden-Woche Einer der längsten und härtesten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik: Eine gewaltige Streikwelle lähmt weite Teile der westdeutschen Druckerei- und Metallwirtschaft. Im Zentrum der Forderungen der Gewerkschaften steht die Einführung der 35-Stunden-Woche. Ausgelöst wurden die Massenstreiks durch das Scheitern der Schlichtungsverhandlungen zwischen der IG Druck und Papier und den Arbeitgeberverbänden der Druckindustrie am 3. April. Bei bundesweiten Schwerpunktstreiks befanden sich teilweise über 10.000 Arbeitnehmer in mehr als 100 Betrieben im Ausstand. Zahlreiche Zeitungen erschienen nur noch in Notausgaben oder überhaupt nicht. Mitte Mai griffen die Streiks auch auf die Metallindustrie über, in der Gewerkschaftsforderungen nach Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich ebenfalls zum Abbruch der Tarifverhandlungen geführt hatte. Streikschwerpunkt war hier das Tarifgebiet Nordwürttemberg/Nordbaden, wo 13.000 "Metaller" die Arbeit niederlegten. Als besonders wirkungsvoll erwies sich dabei die neue Strategie der IG Metall, gezielt Zulieferbetriebe der Automobilindustrie zu bestreiken. Die Arbeitgeber reagierten auf die Streiks mit Aussperrung. Insgesamt waren teilweise bis zu 250.000 Arbeitnehmer von der Aussperrung betroffen. Ende Juni vermittelte der als Schlichter eingesetzte SPD-Politiker Georg Leber einen Kompromiß, durch den die 191 VON 300 wöchentliche Arbeitszeit im Metallgewerbe auf durchschnittlich 38,5 Stunden verkürzt wurde. Erst am 6. Juli wurde dieser Kompromiß auch von den Tarifparteien des Druckereigewerbes übernommen. 03.12.84 Giftgaskatastrophe im indischen Bhopal In der indischen Stadt Bhopal ereignet sich der bisher folgenschwerste Chemieunfall der Industriegeschichte: Hochgiftige Gase entweichen aus einem defekten Ventil einer Chemiefabrik und vergiften die Umwelt. Binnen kurzem sterben über 2.000 Menschen, viele Tausende verlieren ihr Augenlicht. Die Fabrik, die zu 51 Prozent im Besitz der US-amerikanischen Firma Union Carbide war, produzierte hochgiftige Pflanzenschutzmittel. Das Unglück löste heftige Diskussionen über die Praxis der Chemiekonzerne aus, die ihre Fabriken zunehmend in die sogenannten Billiglohnländer auslagerten. Im Gegensatz zu den unprofitablen Produktionsbedingungen und den sehr hohen Sicherheitsbestimmungen in den westlichen Staaten, konnten sie in den "Dritte-Welt-Ländern" unkontrolliert und unter Ausbeutung der einheimischen billigen Arbeitskräfte maximale Gewinne erwirtschaften. Der neugewählte indische Premierminister Rahjiv Gandhi kündigte eine Klage gegen die Union Carbide an. Als Soforthilfe für die Opfer stellte die indische Regierung 1,2 Millionen Mark zur Verfügung. Der Konzernchef und fünf leitende Angestellte wurden von der indischen Polizei verhaftet. Als Spätfolge der Katastrophe kamen während der Jahre nach dem Unglück in der Region unverhältnismäßig viele mißgebildete Kinder zur Welt. Viele Frauen waren unfruchtbar geworden. 01.01.85 Weltweit Angst vor AIDS 1985 beherrscht die Immunschwächekrankheit Aids weltweit in die Schlagzeilen: Eine neue Geißel scheint über die Menschheit hereingebrochen zu sein. Die Krankheit, aller Wahrscheinlichkeit nach Anfang der 70er Jahre in Zaire erstmals aufgetreten, war 1978 auch in den USA registriert worden. Bis 1985 waren in den USA bereits 8.000 Menschen an der Krankheit gestorben. Zunächst wurde angenommen, daß sich das Infektionsrisiko auf Homosexuelle und Drogenabhängige reduzieren lasse. Doch schon bald wurde nachgewiesen, daß sich das Virus auch bei heterosexuellem Geschlechtsverkehr übertragen kann. Nachdem bereits im Herbst 1984 westdeutsche Zeitungen über die neue Seuche berichteten, schreckte im Sommer 1985 das Geständnis des Filmstars Rock Hudson, er sei aids-infiziert, die Weltöffentlichkeit auf. Zweieinhalb Monate später starb der Hollywood-Star an der Krankheit. Die Gefährdung, die AIDS auch für Heterosexuelle darstellt, wurde vor allem der amerikanischen Öffentlichkeit deutlich demonstriert, als der Basketballspieler Earvin "Magic" Johnson im November 1991 vor laufenden TV-Kameras ebenfalls bekanntgab, HIV-positiv zu sein, obwohl er weder homosexuell noch drogenabhängig sei. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist Aids in den meisten Ländern der Welt politisches Dauerthema. Die Regierungen geben erhebliche Summen für Aufklärungskampagnen und die Aids-Forschung aus. 15.01.85 Generäle in Brasilien am Ende Die Opposition nutzt ihre Chance: Nach 21 Jahren Klüngelei und Korruption haben die brasilianischen Militärs abgewirtschaftet. General Figueiredo (u.l.) kann keinen starken Nachfolger präsentieren. Millionen Brasilianer schließen sich der Volksbewegung "Direktwahlen jetzt" an und bejubeln Oppositionsführer Tancredo Neves. 1964 hatte sich die Armee in dem fünftgrößten Staat der Erde an die Macht geputscht - ein Schicksal, das bald die meisten Staaten Südamerikas teilten. Gewaltsam industrialisierte die Junta das Land; daß im Nordosten Brasiliens Abertausende von Kindern verhungerten, interessierte die Generäle nicht. In den großen Städten hatten sich internationale Konzerne 192 VON 300 niedergelassen und zogen Arbeitssuchende vom Land an. Riesige Elendsslums schossen aus dem Boden, während eine neue, kleine Mittelklasse den Reichtum genoß. Doch es war ein Boom auf Pump. Als die Industriestaaten seit 1979 die Zinsen drastisch erhöhten, explodierten Brasiliens Auslandsschulden auf 100 Mrd. Dollar im Jahr 1984. Im selben Jahr zerbrach die Regierungspartei PDS über der Nachfolgefrage für Figueiredo. Geschickt verstand es der konservative Demokrat Tancredo Neves, die zersplitterte Opposition und Dissidenten der PDS hinter sich zu vereinen. Am 15. Januar wählten sie Neves zum neuen Präsidenten. Nach seinem Tod am 22. April folgte José Sarney als Präsident nach, 1989 wählten die Brasilianer Collor de Mello. 18.01.85 UMWELT: Erstmals Smogalarm der Stufe III Im östlichen Ruhrgebiet (Bochum, Gelsenkirchen, Dortmund) wurde am 18. Januar 1985 zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Smogalarm der Stufe III ausgelöst. Bei Alarm der Stufe III wird ein völliges Fahrverbot verhängt und alle Produktionsanlagen müssen stillgelegt werden. In den betroffenen Ruhrgebietsstädten wurden entsprechend der private Autoverkehr untersagt und die Kraftwerke stillgelegt. In anderen Teilen Deutschlands kam es zu Smogalarm der Stufe II, bei dem zeitweilige Fahrverbote und eine Einschränkung auf schwefelarme Brennstoffe vorgesehen sind. Daß in Nordrhein-Westfalen überhaupt Smogalarm der Stufe III ausgerufen wurde, lag daran, daß dort nur einen Tag vor dem Alarm eine neue Smogverordnung erlassen worden war. Die Werte in den Teilen Deutschlands, in denen ein Alarm der Stufe II ausgerufen wurde, waren also nicht geringer, nur gab es dort keine ebenso strenge Smogverordnung. 11.03.85 Glasnost in Moskau Generationswechsel: Nach dem Tod Tschernenkos wird der fast 20 Jahre jüngere Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU bestimmt. "Glasnost" und "Perestroika" werden die Schlagwörter seiner Amtszeit. Bei seiner Amtseinführung hatte der neue Parteichef noch erklärt, die Linie seiner Vorgänger im Prinzip fortsetzen zu wollen. Nur die Wirtschaftspolitik müsse vollkommen umgestaltet werden. Immer öfter wurde nun die "Stagnation" der Breschnew-Ära angeprangert, Anzeichen für tiefgreifende Reformen gab es zunächst jedoch kaum. Gorbatschow wird Staatschef Der sowjetische Staats- und Parteichef Konstantin Tschernenko stirbt nach langem Leiden. Einen Tag später tritt das ZK der KPdSU zusammen, um seinen Nachfolger zu bestimmen und trifft eine folgenschwere Entscheidung. Nachdem die beiden letzten Staatschefs Andropow und Tschernenko jeweils in sehr hohem Alter ins Amt gewählt worden und beide nach relativ kurzer Zeit gestorben waren, wählte das ZK dieses Mal einen jungen Kandidaten wählen: Der 54jährige Michail Gorbatschow sollte wieder Kontinuität und Elan in die Politik bringen. Als bisherige Sekretär des ZK und nach sechsjähriger Mitgliedschaft im Politbüro galt Gorbatschow als Reformer. Außenminister Gromyko und auch KGB-Chef Viktor Tschebrinkow hatten sich für seine Wahl eingesetzt. In seiner Antrittsrede vor dem Plenum des ZK erklärte Gorbatschow, er wolle der Linie seiner Vorgänger treu bleiben. Nur für die Wirtschaft hatte der neue Mann energische Reformen angekündigt. Seine radikalen Maßnahmen hierzu stellte er der Partei auf dem Parteitag im März 1986 vor. Stagnation und Schlendrian der Breschnew-Jahre wurden gegeißelt. In den ersten Jahren seiner Herrschaft baute Gorbatschow vor allem seine Machtbasis im Parteiapparat aus. Seine loyalste Stütze war dabei der KGB. Von einer politischen Liberalisierung war zunächst keine Rede. 193 VON 300 05.05.85 Staatsbesuch von Ronald Reagan in der BRD Peinlichkeiten überschatten den Besuch von US-Präsident Ronald Reagan in der Bundesrepublik. Der 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation und des Kriegsendes bot den Anlaß für Reagans Europareise. Zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl nahm der Gast aus Washington an einer Gedenkveranstaltung im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen teil und legte auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg einen Kranz nieder. Die Tatsache, daß Reagan zum Gedenken des Kriegsendes einen Soldatenfriedhof besuchte, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS begraben waren, erregte heftige Kritik in der Öffentlichkeit. Jüdische Organisationen aus beiden Ländern, Veteranenverbände und beide Häuser des US-Kongresses forderten Reagan auf, das Besuchsprogramm zu ändern. Aber allen Protesten zum Trotz hielt Reagan an dem Besuch in Bitburg fest. Die Gedenkveranstaltung in Bergen-Belsen wurde daraufhin von den zentralen Organisationen der Juden, Sinti und Roma nicht besucht. Statt dessen protestierten auf dem KZ-Gelände Juden gegen den Besuch des amerikanischen Präsidenten. Auch der am folgenden Tag stattfindende Besuch des Soldatenfriedhofs fand vor dem Hintergrund einiger Protestaktionen statt. 29.05.85 Stadionunruhen fordern Todesopfer Tragisches Unglück beim Europapokalfinale in Brüssel: Bei Ausschreitungen zwischen Hooligans kommen noch während des Spiel 39 Menschen ums Leben. Nur wenige Wochen nach der Tragödie von Bradford forderten Ausschreitungen zwischen Fußballfans aus Italien und Großbritannien beim Finalspiel des Europapokals der Landesmeister zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool im Brüsseler Heyselstadion am 29. Mai 1985 39 Todesopfer. Die Ordner hatten nicht darauf geachtet, die Fans durch mehrere neutrale Blöcke zu trennen, so daß die Hooligans aufeinander losgehen konnten. In der entstehenden Panik kamen die 39 Menschen – die meisten von ihnen waren italienische Fans – zu Tode, mindestens 250 weitere Personen wurden verletzt. Trotz der Tragödie wurde das Spiel ausgetragen. Turin gewann mit 1:0. Die Auswirkungen für die Fußballverbände Großbritanniens waren gravierend. Auf fünf Jahre wurden britische Vereine vom Dachverband des europäischen Fußball, der UEFA, von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen. Nach dem "Fußballkrieg", der 1969 zwischen Honduras und El Salvador ausgebrochen war, hatte es nun auch in Europa infolge von Zuschaueraktivitäten erstmals eine größere Anzahl Tote in einem Fußballstadion gegeben. 01.07.85 Rückkehr der Seuchen? Anfang der 80er Jahre sterben immer mehr Menschen an einer rätselhaften Immunschwächekrankheit. Zwar wird das AIDS-Virus 1984 entdeckt, doch besteht weiterhin kaum Aussicht auf Heilung. Die Opfer - zunächst vor allem im Homosexuellen- und Fixermilieu - tragen den Virus jahrelang in sich, bevor das volle Krankheitsbild auftritt. Die unheimliche Seuche verändert die Gesellschaft: Ungeschützte Promiskuität wird zum tödlichen Risiko. Aber auch längst zurückgedrängt geglaubte Seuchen wie Pest und Cholera traten während der letzten Jahre wieder verstärkt auf. AIDS Der Begriff Aids wurde 1982 geprägt und steht für "Acquired Immune Deficiency Syndrome" ("erworbenes Immunschwäche-Syndrom"). Die Immunschwächekrankheit nahm ihren Ausgang vermutlich 1970 im afrikanischen Zaïre und breitete sich seither in alle Teile der 194 VON 300 Welt aus. 1978 wurde der erste Fall in den Vereinigten Staaten bekannt, seit 1985 ist die Krankheit politisches Tagesthema in fast allen Ländern der Welt. Besonders verbreitet ist Aids in Asien und Afrika. Von den europäischen Ländern und Nordamerika weisen vor allem solche Länder mit hohen Einwanderungsquoten aus Afrika eine große Zahl von AidsOpfern auf. 1983 identifizierten unabhängig voneinander der französische Arzt Luc Montagnier und sein amerikanischer Kollege Robert Gallo die Struktur des Immunschwächevirus (HIV) und entwickelten Tests, mit denen Abwehrstoffe (Antikörper) bei AIDS-Kranken nachgewiesen werden konnten. 1985 gelang es Wissenschaftlern erstmals, den Aids-Erreger HIV zu isolieren, 1987 wurde das Medikament AZT (Azidothymidin) in den USA und der BRD freigegeben, das den Ausbruch der Krankheit hinauszögert. In der Bundesrepublik waren Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung Ländersache: während etwa Bayern 1987 unter Protest zahlreicher Betroffener und Politiker eine Meldepflicht für HIV-Infizierte einführte und die Betroffenen somit der Gefahr der Diskriminierung aussetzte, wurden andererseits in Berlin 1988 ein nationales Aidszentrum eröffnet. 1993 offenbarte der sogenannte "Blutkonservenskandal" das Ausmaß der Sorglosigkeit und Fahrlässigkeit, die vielerorts im Umgang mit der Seuche an den Tag gelegt wurde. 1994 rief UNO-Generalsekretär Butros Butros-Ghali in Paris den globalen Aids-Notstand aus. Weltweit waren zu diesem Zeitpunkt etwa 17 Millionen Menschen infiziert. Bei täglich etwa 5.000 Neuanstekkungen lag die Zahl der Infizierten laut WHO Ende 1998 bei 33,4 Millionen. Etwa 13,9 Millionen Menschen waren bis Dezember 1998 bereits an AIDS gestorben, davon 11,5 Millionen allein in Schwarzafrika. Prominenteste Opfer der Krankheit, von der besonders promiskuitiv lebende Personen, Homosexuelle und Drogenabhängige betroffen sind, waren bislang Hollywood-Schauspieler Rock Hudson (gest.: 1985) und Rock-Star Freddie Mercury (gest.: 1991) von der Gruppe "Queen". Für weiteres Aufsehen sorgte 1991 das Bekenntnis des amerikanischen Basketball-Superstars Earvin "Magic" Johnson, auch er sei, obwohl keiner der Risikogruppen zuzuordnen sei, infiziert. Vorbildfunktion erlangte er, als er nach der sofortigen vorläufigen Beendigung seiner Sportlerlaufbahn ein intensives Engagement zur Bekämpfung und Verhütung von Aids begann und Anfang 1996 mit seinem umjubelten Comeback als Basketballer ein deutliches Zeichen gegen die Ausgrenzung Aidskranker setzte. Zweifelhaften Einfluß auf die Entwicklung nimmt noch heute die katholische Kirche. Papst Johannes Paul II. wandte sich bei seinen zahlreichen Reisen, vor allem in den stark betroffenen Ländern der sogenannten "Dritten Welt", stets gegen jede Form der Empfängnisverhütung, also auch die Verwendung von Kondomen, obgleich bekannt ist, daß (neben sexueller Enthaltsamkeit) nur die Verwendung von Präservativen wirksamen Schutz vor der Krankheit bietet. Nachdem zur Eindämmung der Seuche in Deutschland bereits zum 1. Oktober der AidsTest für Blutspender obligatorisch wurde, sorgte 1993 der "Blutkonservenskandal" für neue Schlagzeilen im Zusammenhang mit AIDS. 10.07.85 Rainbow Warrior versenkt Im Hafen der neuseeländischen Stadt Auckland wird das "Greenpeace"-Schiff RainbowWarrior versenkt. Das Schiff der Umweltschutz-Organisation wollte von dort aus starten, um gegen die Atombombentests der französischen Regierung auf dem Südsee-Atoll Mururoa demonstrieren. Ein Mitarbeiter der Organisation wird bei der Bombenexplosion getötet. Unmittelbar nach der Tat tauchten Gerüchte über Verwicklungen des französischen Geheimdienstes in den Terrorakt auf, die sich bald bestätigten. Die Attentäter wurden wenig später gefaßt und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der französische Präsident François Mitterrand reagierte auf die weltweite Empörung und entließ den verantwortlichen Minister Charles Hernu und Geheimdienstchef Pierre Lacoste. Kritik am französischen Vorgehen gab es von fast allen Seiten. Das Verhältnis Neuseelands und Australiens zu 195 VON 300 Paris wurde schwer belastet, aber auch aus Europa und den USA gab es schwere Vorwürfe. Innerhalb Frankreichs, wo die Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung ohnehin nur sehr wenige Anhänger hat, hielt sich der Protest in Grenzen. Hier wurde in erster Linie die Schlamperei bei der Geheimdienst-Aktion kritisiert und der Tod des GreenpeaceMitarbeiters bedauert. An der Legitimität der Atombombentests auf Mururoa zweifelte in Frankreich jedoch kaum jemand. 20.07.85 Ausnahmezustand in Südafrika verhängt Südafrikas Staatspräsident Pieter Willem Botha (u.l.) verhängt das Ausnahmerecht über 36 der 265 Amtsdistrikte des Landes. Seit Anfang des Jahres waren die Ausschreitungen der schwarzen Bevölkerung nicht mehr abgeebbt. Anlaß der Unruhen war unter anderem die angespannte Wirtschaftslage Südafrikas. Kohleund Goldbergbau erlebten eine starke Rezession. Tausende von schwarzen Arbeitern, die zuvor für einen Hungerlohn arbeiteten, wurden ganz arbeitslos. Gleichzeitig erhöhte die Regierung Busfahrt- und Benzinpreise drastisch. Im März streikten in Port Elizabeth 300.000 schwarze Arbeiter und Angestellte. Bei den Unruhen griff die Polizei hart durch: Bis August starben rund 500 Personen, etwa 1.000 weitere wurden verletzt. Der schwarze Bischof und Bürgerrechtler Desmond Tutu kritisierte die Verhängung des Ausnahmezustands: Es "... wird nur eine trügerische, düstere und oberflächliche Ruhe sein, denn wir alle wissen, daß der Kessel unter der Oberfläche brodelt und daß es eine gewaltige Explosion geben könnte." Im August erklärte Botha, daß er unbeirrt am eingeschlagenen Kurs festhalten würde. Unter seiner Regierung würden Schwarze niemals das Wahlrecht bekommen. Seine Rede löste international Enttäuschung aus, hatte Botha doch im Juli internationalen Druck Pläne zur Abschaffung der Apartheid geprüft. Mehrere Regierungen, darunter die USA und die Bundesrepublik Deutschland drohten nach der Rede mit Wirtschaftsboykott. 26.07.85 Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen UN-Abschlußkonferenz des "Jahrzehnts der Frauen" in Nairobi: Rund 3.000 offizielle Delegierte und über 10.000 Beobachter aus 157 Staaten ziehen Bilanz aus den vergangenen zehn Jahren. Trotz einiger Verbesserungen war die Gleichberechtigung der Frauen weltweit nicht erreicht: Untersuchungen belegten, daß Frauen 66 Prozent der erbrachten Arbeitsstunden leisteten, aber nur 10 Prozent des Welteinkommens erhielten und nur über 1 Prozent des Weltbesitzes verfügten. Durchschnittlich erhielten Frauen 25 Prozent weniger Lohn als Männer für die gleiche Arbeit. In den meisten Erdteilen leisteten Frauen die Hausarbeit unbezahlt neben der Feld- und Gartenarbeit. Der überwiegende Teil der Analphabeten waren Frauen. Abgesehen von einigen spektakulären Einzelfällen waren Frauen kaum in hohen politischen Funktionen zu finden. Während der Tagung war in der Universität von Nairobi ein Forum zum Dialog zwischen den Kulturen organisiert worden. Über 10.000 Frauen nahmen daran teil. Trotz einiger Schwierigkeiten bei der Festlegung der Tagesordnungen und den Abstimmungsmodus wurde in dem Grundsatzpapier "Zukunftsstrategien zur Verbesserung der Lage der Frau bis zum Jahr 2.000" folgende Forderungen aufgestellt: 1. Angleichung des Frauen- und Männerlohnes für gleiche Arbeit und Öffnung aller Berufe für Frauen 2. Stärkere Einbindung der Frauen in der politischen Ebene 3. Beseitigung der Zwangsprostitution und Verurteilung jeder Form von Gewalt gegen Frauen. Neue Frauenbewegung 196 VON 300 Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre bildeten sich im Zusammenhang mit der Studentenbewegung und unter dem Einfluß der neuen Frauenbewegung in den USA auch in Deutschland verschiedene autonome, meist politisch links orientierte Frauengruppen. Das Grundgesetz hatte zwar die Gleichstellung von Mann und Frau verbindlich festgeschrieben, doch blieb die tatsächliche Diskriminierung der Frau in der Gesellschaft weiterhin Element des Lebens im Alltag. In Ausbildung, beruflicher Entwicklung, Bezahlung, bei der Besetzung öffentlicher Ämter, bei Bewerbungen und in vielen anderen Bereichen blieb die Frau weiterhin benachteiligt. Hausarbeit und Kindererziehung galten nach wie vor ausschließlich als "Frauensache", mit der die Männer nichts zu tun hatten. Die verschiedenen Gruppen der neuen Frauenbewegung engagierten sich zunächst in erster Linie für die Liberalisierung des "Abtreibungsparagraphen" 218. 1970 organisierten sich in vielen europäischen Ländern feministische Frauengruppen neu und traten mit spektakulären Aktionen an die Öffentlichkeit. So zogen in den Niederlanden die "Dollen Minnas" durch die Straßen und machten auf die alltägliche Unterdrückung aufmerksam, indem sie Männern hinterherpfiffen und ins Gesäß kniffen. In Dänemark machten die autonomen Rotstrümpfe auf sich aufmerksam, als sie mit roten Ballons in Riesenbüstenhaltern und Nylonperücken durch Kopenhagen zogen. In Frankreich zogen Feministinnen an den Triumphbogen und legten dort einen Kranz für die "unbekannte Frau des Soldaten" nieder. Bis 1976 engagierten sich die Gruppen stark in der Öffentlichkeit und zogen sich nach der Enttäuschung von 1976 (das BVG hatte die Fristenlösung für verfassungswidrig erklärt) aus der direkten politischen Auseinandersetzung zurück. Dafür begann durch die Gründung von Frauenzentren, Frauenhäusern, Frauenkabaretts, Frauencafés und Frauenkneipen der Aufbau einer Art feministischer Gegenkultur. Das männliche Prinzip sollte nicht mehr durch das weibliche ergänzt werden, wie noch in der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende, die sich in erster Linie für das Frauenwahlrecht stark machte. Die neue Frauenbewegung wollte eine eigene weibliche Kultur schaffen, die in eigenen Räumen allem männlichen polar gegenüber stehen sollte. Die Frauenzeitschrift "Emma", die 1977 von der Feministin Alice Schwarzer gegründet wurde, war Teil dieser neuen Gegenwelt. Mit der Entstehung der Grünen in den 80er Jahren zog die Frauenbewegung auch in die parlamentarische Politik ein. Quotenregelung und Frauenlisten fanden später nach dem Vorbild der Grünen auch in den anderen Parteien Nachahmung. 12.08.85 Jumbo-Absturz fordert 520 Todesopfer Eines der schwersten Unglücke der internationalen Luftfahrt ereignet sich in Japan. Wegen eines technischen Defekts zerschellt eine Boeing 747 mit 524 Menschen an Bord in den Bergen Japans. Ein Bruch des hinteren Druckschotts hatte zur Zerstörung der Steueranlage des Seitenruders geführt. Die Piloten versuchten, das Flugzeug über die Gaszufuhr auf die Triebwerke zu steuern und unversehrt nach Tokio zurückzukommen. Zwar gelang es ihnen noch, den Fujiyama zu umfliegen, doch dann zerschellte das Flugzeug in einer Höhe von 1.500 Metern in der Nähe des Berges Mikumi 120 Kilometer nordwestlich von Tokio. Von den 524 Insassen überlebten vier den Absturz mit schweren Verletzungen. Die Untersuchung des Unglücks führte zu dem Ergebnis, daß die Zerstörung des Druckschotts auf eine unzulängliche Reparatur nach einem Unfall im Jahr 1978 zurückzuführen war. Mit 520 Toten handelte es sich bei diesem Absturz um die bislang höchste Zahl von Todesopfern in einer Maschine. Nur bei dem Zusammenstoß zweier Jumbos auf Teneriffa 1977 waren insgesamt noch mehr Menschenleben zu beklagen gewesen. 23.08.85 Ostagent Tiedge flüchtet in die DDR Aufdeckung einer der größten Spionageaffären in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Die DDR-Nachrichtenagentur ADN meldet, daß Hansjoachim Tiedge, bis dato 197 VON 300 für die Spionageabwehr beim Bundesamt für Verfassungsschutz zuständig, in die DDR übergetreten sei. Tiedge selbst erklärte einen Tag später, daß er "... aus einer für ihn ausweglosen persönlichen Situation, aber aus freien Stücken und auf Grund seiner eigenen Entscheidung ..." bereits am 19. August in die DDR übergewechselt sei. Als Konsequenz aus dem bislang schwersten Spionagefall wurde Herbert Hellenbroich, bis Juli 1985 Präsident des BfV, von seinem neuen Amt als Chef des Bundesnachrichtendienstes enthoben. Ihm wurde vorgeworfen, Tiedge trotz dessen persönlicher Schwachstellen im Amt belassen zu haben. Sein Nachfolger wurde Hans Georg Wieck. In der Folgezeit wurden die Ermittlungen gegen mutmaßliche Spione verschärft. Es stellte sich heraus, daß auch Sonja Lüneburg, die als Sekretärin des Bundeswirtschaftsministers und FDP-Vorsitzenden Martin Bangemann tätig war, in die DDR gewechselt war. Auch Ursula Richter, Angestellte des Bundes der Vertriebenen, und Lorenz Betzing, im Bundeswehr-Verwaltungsamt tätig, hatten sich ebenso wie die Sekretärin im Bundeskanzleramt, Herta Astrid Willner in die DDR abgesetzt. Nun häuften sich die Vorwürfe gegen Innenminister Friedrich Zimmermann (u.l.). Sie wurden stärker, als bekannt wurde, daß sein Ministerium die vom BfV vorgeschlagene Überwachung des Telefon- und Postverkehrs beim Ehepaar Willner wegen "dünner Verdachtslage" nicht genehmigt hatte. Die Opposition forderte nun einhellig Zimmermanns Entlassung, scheiterte aber an der erforderlichen Mehrheit im Bundestag. 07.10.85 "Achille Lauro" wird entführt Eine Palästinensergruppe entführt das italienische Kreuzfahrtschiff "Achille Lauro" vor der ägyptischen Küste bei Port Said. Sie fordern die Freilassung von 51 palästinensischen Gefangenen aus israelischer Haft. Über 500 Passagiere befinden sich an Bord des Schiffes. Mehrere Versuche, an Syriens Küste zu landen, scheiterten, so daß die "Achille Lauro" wieder Kurs auf Port Said nahm. Die Entführer verhandelten über Funk mit der ägyptischen Regierung, die gegen vorerst geheime Zusagen die Freilassung der Geiseln erwirkte. Am 9. Oktober gingen sie in Port Said mit den Kidnappern von Bord. Gemäß den mit der ägyptischen Regierung getroffenen Vereinbarungen verließen die vier Entführer einen Tag später in Begleitung des vielgesuchten Chefs der PLO-Splittergruppe PLF, Abul Abbas, in einer Boeing 737 Ägypten. Kurze Zeit später wurde das Flugzeug von amerikanischen Abfangjägern umzingelt und zur Landung auf dem US-Stützpunkt Sigonella auf Sizilien gezwungen. Die entschiedene Reaktion der Amerikaner ging auf eine Weisung von US-Präsident Ronald Reagan zurück, der unter starken öffentlichen Druck geriet, als bekannt wurde, daß ein Amerikaner auf der "Achille Lauro" umgekommen war. Die amerikanische Aktion führte zu Spannungen mit Ägypten und Italien, der italienische Ministerpräsident Bettino Craxi erklärte eine Woche später den Rücktritt seines Kabinetts. 15.10.85 Hinterhof Mittelamerika In Nicaragua herrscht Bürgerkrieg: Washington unterstützt massiv den militanten Widerstand der "Contras" gegen den linksgerichteten Präsidenten Daniel Ortega. Die USA fürchteten ein zweites Kuba in ihrem von Krisen geschüttelten "Hinterhof" Mittelamerika. Präsident Reagan bestritt allerdings die Absicht, mit eigenen Truppen direkt zu intervenieren - ein in der Vergangenheit probates Mittel Washingtons zur Durchsetzung hegemonialer Interessen. Sandinisten gegen Contras Der nicaraguanische Staatspräsident Daniel Ortega verhängt im Oktober 1985 in Managua das Ausnahmerecht über sein Land. Er reagiert damit auf die Destabilisierungspolitik der USA. 198 VON 300 Im vorangegangenen Mai hatte Präsident Reagan einen totalen Wirtschaftsboykott über Nicaragua verhängt der das Land in einer Phase traf, als sich die sandinistische Regierung zu stabilisieren schien. 17 Prozent der nationalen Ausfuhr fielen damit weg. Reagan entschloß sich zu dem Boykott, nachdem der US-Kongreß die weitere Unterstützung der rechtsgerichteten Contra-Rebellen verweigert hatte. Nach einer Klage Nicaraguas gegen die USA im April 1984 wegen Hafenverminungen durch den CIA, verlor Reagan international an Ansehen. Nicaragua hatte unter Ortega nicht nur Kontakt mit kommunistischen, sondern auch mit sozialdemokratischen Ländern in Mittelamerika und Europa gesucht. Im Juni jedoch billigte das USRepräsentantenhaus "humanitäre Hilfe" für die Contra-Rebellen. Für 27 Millionen USDollar durften noch 1985 Kampfanzüge, militärische Ausrüstung, jedoch keine Waffen und Munition, gekauft werden. 1986 unterwanderten hohe Regierungsbeamte mit Billigung Reagans den Kongreßbeschluß und leiteten Gelder aus illegalen Waffenlieferungen an den Iran an die Contras weiter. Mit dem Ausnahmerecht wurden in Nicaragua Grundfreiheiten, wie Versammlungsund Demonstrationsfreiheit, Streikrecht und freie Meinungsäußerung eingeschränkt, während der blutige Bürgerkrieg der Contras fortdauerte. Noch im Juni schlossen sich die drei großen Contra-Führer Calero, Robelo und Cruz zur "Union der nationalen Opposition" zusammen. Chronik: Kriege und Konflikte in Lateinamerika Seit 1945: 1948 Kolumbien: Bürgerkrieg linksgerichteter Guerilla gegen die konservative Zentralregierung (bis 1957) 1959 Kuba: Sozialistische Revolution unter der Führung Fidel Castros gegen das diktatorische Regime Batistas 1960 Guatemala: Bürgerkrieg linksgericheter Guerilla gegen die rechtskonservative Zentralregierung (bis 1996) 1961 Kuba: Schweinebucht-Invasion 1962 Kuba: "Kuba-Krise" - USA fordert ultimativ den Abbau sowjetischer Raketenbasen 1964 Kolumbien: Bürgerkrieg linksgerichteter Guerillaorganisationen gegen die Zentralregierung (bis heute) 1965 Dominikanische Republik: Bürgerkrieg und Intervention der USA 1966 Bolivien: Guerillakrieg (bis 1967) 1969 El Salvador/Honduras: "Fußballkrieg" 1973 Chile: Militärputsch gegen die linksgerichtete Regierung Salvador Allendes 1977 Nicaragua: Bürgerkrieg der linksgerichteten Sandinisten gegen die Zentralregierung (bis 1979) 1979 El Salvador: Bürgerkrieg (bis 1992) 1980 Peru: Bürgerkrieg linksgerichteter Guerilla-Organisationen gegen die Zentralregierung (bis heute) 199 VON 300 1982 Argentinien/Großbritannien: Krieg um die Falklandinseln Nicaragua: Bürgerkrieg der rechtsgerichteten Contras gegen die sandinistische Zentralregierung (bis 1990) 1983 Grenada: Invasion der USA zur Niederschlagung eines linksgerichteten Putsches 1986 Haiti: Aufstände und Unruhen (bis 1994) Surinam: Bürgerkrieg (bis 1992) 1989 Panama: Intervention der USA zur Absetzung Noriegas 1994 Mexiko: Aufstände in der Provinz Chiapas (bis heute) 1995 Peru/Ecuador: Grenzkrieg 1996 Peru: Geiselkrise in Lima; linksgerichtete Guerilleros besetzen die japanische Botschaft (bis 1997) 13.11.85 Verheerender Vulkanausbruch in Kolumbien Westlich von Kolumbiens Hauptstadt Bogotá liegt der 5.200 Meter hohe Vulkan Nevado del Ruiz. 140 Jahre war er ruhig, bevor er am 13. November 1985 ausbricht und 23.000 Todesopfer fordert. Binnen zwei Stunden ereigneten sich im Krater des Berges zwei heftige Explosionen. Bereits seit einigen Monaten hatten Experten Aktivitäten im Berginneren beobachtet, ihre Empfehlung, die unmittelbar am Berg wohnende Bevölkerung zu evakuieren, waren von der kolumbianischen Regierung (li.: Präsident Cuartas) ignoriert worden. Seine verheerende Wirkung erzielte dieser Vulkanausbruch dadurch, daß zum Zeitpunkt der Eruption Schnee lag. Durch die Hitze schmolz der Schnee und vermischte sich mit der talwärts stürzenden Lava zu einer 1.500 Meter breiten Schlammlawine. Die 50 Kilometer enfernt gelegene Kleinstadt Armero wurde von einer fast acht Meter hohen Schlammasse verschüttet. Allein hier kamen etwa 20.000 Menschen ums Leben, 2.500 wurden verletzt und mehrere 10.000 Personen wurden obdachlos. Die dramatischen Bilder von der Rettung einiger Verschütteter gingen um die Welt. 19.11.85 Abrüstungsverhandlungen in Genf Erstmals seit der Unterzeichnung des SALT II-Vertrages 1979 treffen sich Ende 1985 die Staatschefs der beiden Supermächte. Die Begegnung zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow findet im neutralem Genf statt. Mit dem Regierungsantritt Gorbatschows im März hatte sich das Ende der "neuen Eiszeit" zwischen den Supermächten angekündigt, die mit dem Abbruch der START-Verhandlungen siebzehn Monate zuvor begonnen hatte. Die Gespräche verliefen in ungewöhnlich freundschaftlicher Atmosphäre. Mehr als fünf Stunden diskutierten beide Politiker unter vier Augen. Entsprechend positiv fielen die Resultate aus. Am 21. November konnten die Staatschefs der Weltöffentlichkeit in einer Abschlußerklärung verkünden, daß baldmöglichst Verhandlungen über eine 50-prozentige Reduzierung der Atomwaffen beginnen werden. Keiner der beiden Staaten strebe eine militärische Überlegenheit über die andere Seite an. Auch weitere Begegnungen zwischen den beiden Staatschefs wurden vereinbart. Eine Fortsetzung der Rüstungskontrollverhandlungen machte Gorbatschow allerdings von Reagans Festhalten an seinen Plänen zum weltraumgestützten Raketenabwehrprogramm SDI abhängig. Erst 1987 kamen die Gespräche über die Abrüstung in Washington zum vorläufigen Abschluß. 200 VON 300 08.12.85 Herrschaft der Militärs in Guatemala beendet Christdemokrat Vinicio Cerezo Arévalo (u.l.) holt sich in der Stichwahl für das Präsidentenamt in Guatemala 68,4 Prozent der Stimmen. Die seit 1956 de facto bestehende Militärherrschaft ist damit beendet. Trotz Versprechungen des noch amtierenden Militärdiktators Oscar Mejia Victores, dem demokratisch gewählten Staatspräsidenten am 14. Januar 1986 die Regierung zu übergeben, blieb die Amtseinführung Cerezos unsicher. Er hatte vorsichtig, aber wiederholt eine Bodenreform versprochen. Die Militärs, die Großgrundbesitzer und die "Todesschwadronen" lehnten Cerezo ab. Die drei Gruppen favorisierten den erzkonservativen Zeitungsmagnaten Jorge Carpio, der in der Stichwahl mit 31,6 Prozent Cerezo unterlegen war. Vor allem die Schicht der Großgrundbesitzer, die 2 Prozent der Bevölkerung ausmachte, aber 89 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens besaß, verweigerte jede Reform und unterstützte den Terror der Todesschwadronen. Allein 1984 waren über 4.000 Menschen entführt, gefoltert und ermordet worden. Das Elend in den Gebieten, auf die sich die kommunistische Guerilla "Guatemaltekische Nationale Revolutionäre Einheit" (UGNR) gestützt hatte, war besonders groß. Die vorwiegend indianische Bevölkerung war durch das Militär mißhandelt und vertrieben worden. Tausende, die man für Sympathisanten der UGNR hielt, waren in sogenannten "strategischen Dörfern" mit KZ-ähnlichem Charakter inhaftiert. Mit seinem Reformeifer gerade auf dem sozialen Gebiet setzte Cerezo sein Leben aufs Spiel. In dem mittelamerikanischen Land waren unter anderem 1981 und 1983 zwei Universitätsdirektoren von Guatemala-Stadt wegen Anprangerung der sozialen Mißstände ermordet worden. 01.01.86 Spanien und Portugal treten der EG bei Mit dem Beitritt von Spanien und Portugal als vollwertige EG-Mitglieder erweitert sich die Europäische Gemeinschaft auf 12 Staaten. Bereits im Juni 1985 hatten der spanische Regierungschef, Felipe Gonzalez, und sein portugiesischer Kollege, Cavaco Silva (l.), die Beitrittsurkunden unterzeichnet. Seit dem 1. Juli durften Vertreter der beiden Länder EG-Versammlungen beiwohnen. Bis zur vollen Integration der neuen Mitgliedstaaten sollte allerdings noch bis 1996 gewartet werden. Nach dem EG-Beitritt Griechenlands 1981 waren nun zwölf europäische Staaten EGMitglieder. Die Gemeinschaft umfaßte mit 320 Millionen Menschen zwar nur knapp 7 Prozent der Weltbevölkerung, ökonomisch hatte sich die EG seit ihrer Gründung jedoch zu einem bedeutsamen Faktor entwickelt. Ihr Anteil an der weltweiten Wirtschaftsproduktivität betrug 1986 etwa 25 Prozent. 28.01.86 Sieben Tote bei "Challenger"-Explosion Die Explosion der US-Raumfähre "Challenger" kurz nach dem Start bedeutet das bislang schwerste Unglück der bemannten Raumfahrt. Alle sieben Astronauten fanden den Tod. Das Unglück stoppte für zweieinhalb Jahre das bemannte Raumfahrtprogramm der USA. Der Start der Challenger, eine der vier USRaumfähren, war bereits mehrmals wegen technischer und witterungsbedingter Probleme verschoben worden, doch wurde die Starterlaubnis erteilt, obwohl Experten erhebliche Bedenken wegen der Raketentanks geäußert hatten. 72 Sekunden nach dem Start löste 201 VON 300 sich eine der beiden Feststoffraketen aus der Halterung und brach in den Flüssigstofftank ein: die Raumfähre explodierte. Unter der Besatzung befand sich mit Christa McAuliffe die erste Zivilperson. US-Präsident Reagan hatte die Beteiligung einer "Normalbürgerin" verordnet, um das Interesse der Bevölkerung am Raumfahrtprogramm wieder zu wecken. Die Katastrophe wirkte wie ein Schock auf die Nation und rief weltweit Bestürzung hervor: alle für 1986 vorgesehen 15 Raumfährenstarts wurden abgesagt. NASA-Generaldirektor Culbertson mußte seinen Abschied nehmen. Während der Untersuchungen wurden unglaubliche Schlampereien der NASA bei der Wartung der hochempfindlichen Technologie aufgedeckt. Allein bei über 200 Bauteilen der Challenger war die einwandfreie Funktionstüchtigkeit nicht gewährleistet. Die Absage der Flüge gefährdeten aber auch den Vorsprung gegenüber dem europäischen Weltraumprogramm ebenso wie das SDIProgramm. 28.02.86 Olof Palme ermordet Wenige Minuten vor Mitternacht wird am 28. Februar 1986 der schwedische Ministerpräsident Olof Palme in der Stockholmer Innenstadt erschossen. Auf dem Heimweg von einem Kinobesuch feuert ein Unbekannter mehrere Schüsse ab. Der Täter entkommt unerkannt und ist bis heute nicht ermittelt worden. Auch der genaue Tathergang und die Tatmotive sind ungeklärt. 1989 wurde nach einem fragwürdigen Indizienprozeß ein alkoholabhängiger Frührentner verurteilt, das Urteil wurde von der nächsten Instanz jedoch bald wieder aufgehoben. Währenddessen gingen die Ermittler Hunderten von Spuren nach, darunter auch zahlreichen Hinweisen, denen zufolge ausländische Geheimdienste die Auftraggeber des Attentats sein könnten. Doch erst 1996, nach dem Ende der Apartheid in Südafrika, traten ehemalige Geheimdienstleute mit Behauptungen, der Mord sei vom südafrikanischen Geheimdienst in Auftrag gegeben worden, an die Öffentlichkeit. Palme, der 1982 zum zweiten Mal schwedischer Regierungschef geworden war, genoß international hohes Ansehen. Vor allem sein Engagement für den Ausbau des Nord-SüdDialogs und sein Eintreten für die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Europa hatten ihm den Ruf eines Weltbürgers eingebracht. Innenpolitisch hatte er schon während seiner ersten Amtszeit ab 1969 den von seinem Vorgänger Tage Erlander eingeschlagenen Weg fortgesetzt und den schwedischen Wohlfahrtsstaat weiter ausgebaut. 15.04.86 US-Luftangriff auf Tripolis und Bengasi Der seit den 70er Jahren andauernde Konflikt zwischen den USA und Libyen spitzt sich durch den amerikanischen Luftangriff auf Tripolis und Bengasi dramatisch zu. Mit der Begründung, Muammar al Gaddafi unterstütze den internationalen Terrorismus, hatte Präsident Reagan schon Anfang 1986 einen Wirtschaftsboykott gegen Libyen verhängt. Wie bereits fünf Jahre zuvor kam es im Frühjahr wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen libyscher und amerikanischer Flotte in dem umstrittenen Gebiet der Großen Syrte. Bei den Untersuchungen eines Bombenanschlages auf eine vor allem von Amerikanern besuchte Diskothek in Berlin im April 1986 wurden angeblich Indizien für eine Beteiligung Libyens gefunden. Reagan befahl als Reaktion auf den Terrorakt den Angriff auf Libyen. Am 15. April starteten die Amerikaner von Großbritannien aus und beschossen Ziele in Tripolis und Bengasi. Der Angriff forderte rund 100 Todesopfer. Gaddafis kleine Adoptivtochter wurde getötet, nicht aber – wie von den USA beabsichtigt – Gaddafi selbst. Es entstand erheblicher Sachschaden. Die Verurteilung des Angriffs durch den UNSicherheitsrat scheiterte am Veto der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Die meisten arabischen Staaten und die UdSSR kritisierten den amerikanischen Luftangriff. Libyen verwies zahlreiche europäische Botschafter des Landes. Ende 1988 geriet Libyen nach der Explosion eines amerikanischen Zivilflugzeuges über der schottischen Stadt Lockerbie erneut in den Verdacht der Beteiligung. Der Bruch 202 VON 300 internationaler Gesetze, wie der Bau von Fabriken zur Herstellung von Giftgas, wurden dem Land nachgewiesen. 26.04.86 Super-GAU in Tschernobyl 26. April 1986: Der GAU, der immer befürchtete "Größte anzunehmende Unfall", ist da. Im Block Vier des sowjetischen Atomkraftwerks Tschernobyl kommt es zur Kernschmelze. Die Risiken und Gefahren der Kernenergie waren keineswegs unbekannt. Der Störfall in Tschernobyl enthüllte jedoch die volle Dimension eines Reaktorunglücks: Evakuierung ganzer Landstriche, radioaktive Niederschläge über Ländergrenzen hinweg, Erbschäden bei Mensch und Tier, nicht abreißende Zunahme der Krebserkrankungen. Reaktorkatastrophe in Tschernobyl Der bislang schwerste Unfall in der Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie schürt in ganz Europa die Angst vor radioaktiver Verstrahlung. Anderthalb Stunden nach Mitternacht kam es am 26. April 1986 im Reaktorblock Vier der Kernenergieanlage von Tschernobyl in der Ukraine zu einer gewaltigen Explosion. Eine große Menge radioaktiver Substanzen entwich in die Umwelt. Nach Regierungsangaben kamen bei der Explosion zwei Menschen ums Leben, etwa 200 mußten zur Behandlung in Krankenhäuser gebracht werden. Ein "Super-GAU", d.h. die völlige Kernschmelze, konnte vermieden werden. Obwohl nur etwa 3,5 Prozent des gesamten radioaktiven Materials in die Umwelt gelangten, hatte das Reaktorunglück verheerende Folgen. Erst am nächsten Tag wurde mit Evakuierungsmaßnahmen begonnen. Bis Anfang Mai wurden 136.000 Menschen aus einem Umkreis von 30 Kilometern fortgebracht. Auf massive Kritik stieß die zögerliche Informationspolitik der Regierung in Moskau. Erst am Abend des 28. April wurde die Öffentlichkeit in Ansätzen über das Unglück informiert, am nächsten Tag sprachen sowjetische Stellen erstmals von einer "Katastrophe". Ausländische Regierungen boten sofort technische und medizinische Hilfe an. Für die Bundesrepublik erklärte Innenminister Friedrich Zimmermann, die Regierung sei zu jeder Art von Hilfe bereit, falls dies von der UdSSR gewünscht werde. 07.06.86 Polizei kesselt Demonstranten ein Das erste Juniwochenende 1986 steht ganz im Zeichen zahlreicher Anti-AtomkraftDemonstrationen. Dabei kommt es in Hamburg zu einer mehr als zwölfstündigen Einkesselung von mehreren hundert Demonstranten durch die Polizei. Sechs Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl waren am 7. Juni Hunderttausende von Bundesbürgern gegen die sogenannte "friedliche Nutzung der Kernenergie" auf die Straße gegangen. Schauplätze der größten Kundgebungen waren die Baustellen des Atomkraftwerks Brokdorf, wo etwa 100.000 Menschen gegen die geplante Inbetriebnahme demonstrierten, und die Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf, wo 30.000 Demonstranten gezählt wurden. An beiden Orten zogen die Behörden starke Polizeikräfte zusammen, und sowohl in Brokdorf wie auch in Wackersdorf eskalierte die Situation, als die Polizei unter Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas ungewöhnlich scharf gegen die größtenteils friedlichen Demonstranten vorzugehen begann. Aus Protest gegen das Vorgehen der Polizei in Brokdorf versammelten sich in den Vormittagsstunden des nächsten Tages auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg spontan etwa 800 Menschen. Das sofort zusammengezogene Polizeiaufgebot kreiste gegen Mittag die Demonstranten in einem Kessel ein, der erst um 1.00 Uhr in der Nacht wieder geöffnet wurde. Während dieser Zeit erhielten die Demonstranten weder Essen noch Getränke, auch die Verrichtung körperlicher Bedürfnisse wurde von der Polizei unterbunden, so daß die Veranstalter und einige betroffene Demonstranten den Tatbestand der Nötigung und Freiheitsberaubung erfüllt sahen und Klage gegen die Polizei einreichten. 203 VON 300 09.07.86 RAF mordet weiter Nach mehreren Jahren relativer Ruhe schlägt die "Rote-Armee-Fraktion" wieder zu: Zwei prominente Vertreter aus Politik und Wirtschaft kommen kurz hintereinander durch Anschläge der Linksterroristen ums Leben. Am 9. Juli wurden der Siemens-Manager und Atomphysiker Karlheinz Beckurts (re.) sowie sein Fahrer Eckhardt Groppler durch eine 50-Kilo-Bombe getötet. Die beiden Männer waren sofort tot. Bereits seit zwei Jahren wußte Beckurts, daß er auf einer "Todesliste" der RAF stand. Als Manager eines auch im Rüstungsbereich aktiven Unternehmens und als Vorsitzender des "Arbeitskreises Kernenergie" des Bundes deutscher Industrieller paßte er ins Feindbild der Terroristen. Am 10. Oktober starb in Bonn Gerold von Braunmühl (li.)durch mehrere Schüsse des "R.A.F.-Kommandos Ingrid Schubert". Der Diplomat, der 20 Jahre im Auswärtigen Amt gearbeitet hatte, war seit 1985 Leiter der Abteilung 2 gewesen, in deren Aufgabenbereich die Koordinierung der politischen Bereiche von NATO und EG fielen. Auch das Verhältnis der Bundesrepublik zu Warschauer Pakt und UNO fiel in die Zuständigkeit dieser Abteilung. Diese Attentate zeigten eine Verschiebung der Strategie der Linksterroristen: Anders als in den 70er Jahren standen weniger "Symbolfiguren des politischen und gesellschaftlichen Systems" im Fadenkreuz, die Aktionen galten jetzt zunehmend den – wie es in den Bekennerschreiben hieß – "Funktionsträgern", die im Prozeß der "Formierung westeuropäischer Politik im imperialistischen Gesamtsystem" wichtige Rollen spielten. 07.08.86 Weimar-Kinder ermordet Kriminalfall Monika und Reinhard Weimar: In Philippstal bei Bad Hersfeld werden die Leichen der siebenjährigen Melanie und ihrer fünfjährigen Schwester Karola (u.l.) in der Nähe ihres Elternhauses entdeckt. Die Eltern hatten drei Tage zuvor eine Vermißtenanzeige aufgegeben. Schon nach kurzer Zeit konzentrierten sich die polizeilichen Ermittlungen der angeblich entführten Kinder auf deren Eltern. Nach schweren Beschuldigungen der 27jährigen Mutter Monika Weimar geriet zunächst der Vater Reinhard unter dringenden Tatverdacht. Im Verlauf des Prozesses kam der Richter des Fuldaer Landgerichtes aufgrund von Indizien zu der Überzeugung, daß die Mutter die beiden Kinder erstickt hatte. Vor allem Faserspuren an Melanies Kleidung sowie die am Vorabend der Tat geäußerte Drohung des Geliebten der Frau, eines US-Soldaten, sie zu verlassen, falls sie sich nicht scheiden lassen würde, sprachen in den Augen des Richters gegen Monika Weimar. Am 8. Januar 1988 wurde mit der Verurteilung der Frau zu lebenslanger Haft einer der größten Indizienprozesse in der bundesdeutschen Justizgeschichte vorläufig abgeschlossen. Im Dezember 1995 erwirkten die Anwälte der Verurteilten die Wiederaufnahme des Verfahrens. 31.08.86 Passagierflugzeug stürzt in Wohnsiedlung 81 Tote und ein zerstörtes Wohnviertel von Los Angeles sind die Bilanz einer Kollision zweier Flugzeuge am Vormittag des 31. August 1986. Ein Privatpilot war mit seinem Leichtflugzeug ohne Genehmigung in den stark frequentierten Luftraum über dem internationalen Flughafen von Los Angeles eingedrungen und hatte dabei den Flugweg eines aus Tijuana in Mexico kommenden Passagierflugzeugs gekreuzt. Bei der Kollision der Maschinen verlor die DC-9 ihre Höhenflosse, das Leichtflugzeug stürzte in einen Hinterhof. Das Passagierflugzeug flog in Rückenlage auf einen Vorort von Los Angeles zu und explodierte dort beim Aufprall auf ein Wohngebiet. Nicht nur die 64 Insassen der DC-9 und die drei Insassen des Leichtflugzeugs verloren bei der Kollision ihr 204 VON 300 Leben, sondern auch 15 Anwohner der Wohnsiedlung, in der durch den Aufprall auch 15 Häuser zerstört wurden. 18.09.86 "Neue Heimat" wird verkauft Mit dem Verkauf der "Neuen Heimat" zieht der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) am 18. September 1986 einen vorläufigen Schlußstrich unter den seit Jahren andauernden Streit um das hochverschuldete Wohnungsbauunternehmen. Zum symbolischen Preis von einer Mark gingen die insgesamt 190.000 gewerkschaftseigenen Wohnungen, aber auch die 17 Milliarden DM Schulden an den Berliner Brotfabrikanten Horst Schiesser (l.). Zuvor waren alle Versuche des DGB, das Unternehmen an Bund und Länder zu verkaufen, am Widerstand der CDU-regierten Länder gescheitert. Schiesser, dessen Brotfabriken einen jährlichen Umsatz von 300 Millionen DM erwirtschafteten, präsentierte den Gläubigerbanken wenig später einen Sanierungsplan, den diese jedoch – nicht zuletzt wohl auch unter dem Druck der nach dem Verkauf ausgebrochenen öffentlichen Diskussion – nicht akzeptierten. Heftige Kritik an dem Verkauf der "Neuen Heimat" kam vor allem von Seiten der Belegschaften, aber auch aus den Führungsetagen der Einzelgewerkschaften, deren Führungsspitzen nicht über die Transaktion informiert worden waren. Der DGB gab diesem Druck schließlich nach und kaufte am 12. November desselben Jahres die "NH" zum gleichen Preis wieder von Schiesser zurück. Skandal um "Neue Heimat" Das Nachrichtenmagazin "DER SPIEGEL" deckte mit der Titelgeschichte "Neue Heimat – Die dunklen Geschäfte von Vietor und Genossen" am 8. Februar 1982 einen Skandal um den größten Wohnungskonzern in Europa auf. Der SPIEGEL hatte herausgefunden, daß sich mehrere Vorstandsmitglieder der gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaft "Neue Heimat", in deren Besitz etwa 190.000 Wohnungen waren, mit Hilfe von Strohmännern und Scheinfirmen persönlich bereichert hatten. Eine Woche später enthob der Aufsichtsrat unter Vorsitz von DGB-Chef Heinz Oskar Vetter den Vorstandsvorsitzenden Albert Vietor und die beiden Vorstandsmitglieder Wolfgang Vormbrock und Harro Iden ihrer Ämter. Vietor hatte 1967 die Wölbern Hausbau-Gesellschaft gegründet, an der die vier Vorstandsmitglieder Vietor, Iden, Vormbrock und Georg Bamberg als stille Teilhaber beteiligt waren und 75 Prozent des Gewinns bekamen. Über das als Strohmann fungierende Bankhaus Wölbern – so die Recherchen des Nachrichtenmagazins – konnte die Hausbaugesellschaft Häuser in der Neue-Heimat-Siedlung Mümmelmannsberg in Hamburg kaufen und bauen. Der Skandal blieb nicht auf Hamburg beschränkt. Der SPIEGEL hatte herausgefunden, daß auch in Berlin führende Gewerkschaftsmitglieder in diffuse Immobiliengeschäfte verwickelt waren. Die "Neue Heimat" in Berlin hatte anscheinend für nicht entstandene, aber abgerechnete Kosten aus öffentlichen Mitteln Subventionen erhalten. Der Skandal um den gewerkschaftseigenen Konzern erschütterte das Vertrauen der Bevölkerung in die Gemeinwirtschaft enorm. Das durch diese Mißwirtschaft mit 17 Milliarden Mark verschuldete Unternehmen mußte schließlich am 18. September 1986 für den symbolischen Wert von einer Mark verkauft werden. 12.10.86 Der Gipfel in Reykjavik Mit hohen Erwartungen blickt die Weltöffentlichkeit im Oktober 1986 auf Island. Präsident Ronald Reagan und der Staatschef Michail Gorbatschow hatten die Hauptstadt Reykjavik 205 VON 300 zum Ort ihres zweiten Gipfeltreffens gewählt und besprechen drei Tage lang die Möglichkeiten einer Reduzierung der strategischen Atomwaffen. Die hochgesteckten Erwartungen wurden aber dieses Mal enttäuscht. Am 12. Oktober erklärten die beiden Gesprächspartner, es werde vorläufig keinen Vertragsabschluß zur Verringerung des Atomwaffenpotentials geben. Nachdem in den letzten Monaten und Jahren bedeutende Fortschritte erreicht worden waren und der Vertrag zum Abschluß der START-Verhandlungen nur noch der Unterschriften der beiden Präsidenten bedurfte, scheiterte ein verbindlicher Abschluß am unnachgiebigen Festhalten Reagans an dem SDIProjekt. Gorbatschow hatte als Kompromiß vorgeschlagen, die SDI-Forschung für die Dauer von zehn Jahren auf Laborversuche zu begrenzen, Reagan indes war von seinem Vorhaben, das Projekt möglichst rasch voranzutreiben, nicht abzubringen. Trotz des unbefriedigenden Ergebnisses verliefen die Gespräche in freundschaftlicher Atmosphäre, weitere Konsultationen wurde vereinbart. 01.11.86 Chemieunfälle in Basel verseuchen Rhein Brand beim Pharma- und Chemieunternehmen Sandoz AG in Basel: Die rasch anrückende Feuerwehr bekommt den Brandherd zwar schnell unter Kontrolle, verhindert jedoch nicht das Abfließen des mit Chemikalien verseuchten Löschwasser in den neben den brennenden Fabrikationsanlagen fließenden Rhein. Als skandalös wurde empfunden, daß nicht die Schweiz, sondern – mit erheblicher Verzögerung – die Bundesrepublik "Rheinalarm" auslöste, nachdem Tausende toter Fische im Fluß gesichtet worden waren. Bereits am Tag vor dem Unglück waren auf dem Gelände der ebenfalls in Basel ansässigen Firma Ciba-Geigy 400 Liter des hochgiftigen Herbizids Atrazin durch die Kanalisation in den Rhein gelangt und hatte ein erstes, geringeres Fischsterben ausgelöst. Die Mischung aus Löschwasser und Chemikalien verseuchte den Oberlauf des Rheins soweit, daß dieser biologisch als tot galt. Umfangreiche Rekultivierungsarbeiten führten im Anschluß zu einer Wiederbelebung des Flusses. 25.01.87 Bundestagswahl bestätigt Regierungskoalition Nach einem Wahlkampf, der vor allem unter den Aspekten der Wirtschaftspolitik, der Umwelt- sowie der Energieproblematik stand, erringt die von CDU/CSU und FDP geführte Bundesregierung bei den Bundestagswahlen 1987 eine eindeutige Mehrheit. Mit 44,3 Prozent erreichte die Union unter Bundeskanzler Helmut Kohl zwar ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949, bekam aber zusammen mit der FDP, die sich auf 9,1 Prozent verbesserte, 269 von 497 Sitzen und stellte so weiterhin den Kanzler. In Kohls neuer Regierungsmannschaft waren die Liberalen nun mit fünf Ministern vertreten. Die SPD verfehlte mit ihrem Kanzlerkandidaten Johannes Rau das Ziel einer Alleinregierung deutlich: Gegenüber der Bundestagswahl 1983 verlor sie nochmals 1,2 Prozent und verzeichnete mit 37 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1965. Wahlgewinner waren neben der FDP auch die Grünen, die sich um 2,8 Prozentpunkte auf 8,3 Prozent verbesserten. In der SPD kam es nach der Wahlniederlage zu einer Kurskorrektur. Die klare Absage an eine Zusammenarbeit mit den Grünen wurde von einigen SPD-Politikern als Grund für das Scheitern bei der Wahl betrachtet. Oskar Lafontaine, der saarländische Ministerpräsident, kritisierte vor allem auch die Wahlkampfführung Raus, der in erster Linie immer wieder die hohen Arbeitslosenzahlen thematisiert hatte. 27.01.87 Rede Gorbatschows wird Programm Generalsekretär Gorbatschow hält auf einer Sitzung des ZK der KPdSU ein Grundsatzreferat über die Umgestaltung der Gesellschaft und der inneren Parteistrukturen. Die Rede gerät zu einer schonungslosen Abrechnung mit der Breschnew-Ära. 206 VON 300 Er forderte die Parteigenossen zu einem neuen Umgang und einer neuen Offenheit gegenüber den Fehlern des Systems auf. Es genüge nicht mehr, die Fehler der Vorgänger aufzuzeigen, um anschließend in Selbstgefälligkeit zu erstarren. Der Zusammenhang zwischen Sozialismus und Demokratie müsse wieder hergestellt werden. Kein Umbruch des politischen Systems, sondern die Entwicklung des "demokratischen Sozialismus" durch mehr innerparteiliche Demokratie, die Einführung einer "demokratischen Selbstverwaltung" in den Betrieben und Änderungen im sowjetischen Wahlsystem müsse forciert werden. Als Leitlinien gab Gorbatschow hierzu die Begriffe "Glasnost" (Selbstkritik, Offenheit) und "Perestroika" (Reform, Umbau) aus. In der Schlußresolution billigte das Plenum die politischen Konsequenzen sowie die konkreten Maßnahmen, die sich aus dem Programm ergaben. Die Endabstimmung endete ohne Proteste, obwohl die Resolution einigen Mitgliedern eindeutig zu weit ging. Auch in einigen Staaten des Ostblocks stieß der Kurs Gorbatschows auf Kritik: Erich Honecker ging in einer Grundsatzrede vom 6. Februar 1987 in Ost-Berlin auf Distanz und wollte die besondere Situation in der DDR berücksichtigt wissen. 16.08.87 Passagierflugzeug zerschellt kurz nach Start Beim Absturz einer DC-9 auf eine Straße bei Detroit sterben im August 1987 156 Menschen. Die Maschine hatte knapp zehn Sekunden nach dem Start einen Lichtmast gestreift und war in Brand geraten. Das Flugzeug hatte den Mast in einer Höhe von nur zwölf Metern mit der linken Tragfläche berührt und dabei Teile der Tragfläche verloren. Außerdem wurde ein Treibstofftank beschädigt, der Treibstoff fing Feuer. Die Maschine geriet außer Kontrolle, stürzte auf die Straße und brannte aus. Ein Passagier überlebte das Inferno schwer verletzt. Neben den übrigen 154 Flugzeuginsassen wurden auch zwei Autofahrer getötet, deren Fahrzeug das Flugzeug beim Aufprall getroffen hatte. Bei der anschließenden Untersuchung des Unglücks wurde festgestellt, daß der Abflugwinkel der Maschine aufgrund eines Pilotenfehlers viel zu gering war. Unklar blieb, warum den Piloten der Fehler überhaupt unterlaufen war: Unter normalen Umständen wäre die Besatzung durch ein Kontrollsignal gewarnt worden. Aufgrund einer Stromunterbrechung war das Signal jedoch nicht aktiviert worden. Ob die Stromunterbrechung willentlich durch Abschaltung der Anlage oder aber durch einen technischen Defekt ausgelöst wurde, konnte nicht mehr festgestellt werden. Nachdem lange Zeit bei Flugzeugunglücken Opfer fast ausschließlich "nur" unter den Insassen waren, kam es ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre zu einer auffälligen Häufung von Abstürzen über bewohnten Gebieten, bei denen nun auch die Bewohner derselben zu Schaden kamen. 07.09.87 Honecker mit allen Ehren empfangen Der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker wird bei seinem ersten Besuch in der Bundesrepublik mit allen protokollarischen Ehren empfangen. Die DDR-Führung hatte ihr Ziel, von Bonn als souveräner Staat anerkannt zu werden, erreicht. In Gesprächen mit Bundeskanzler Kohl und Bundespräsident von Weizsäcker wurde vereinbart, solche Gipfeltreffen nun in kürzeren Abständen zu veranstalten. Am folgenden Tag wurden drei Abkommen über den Umwelt- und Strahlenschutz sowie über eine Ausweitung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit unterzeichnet. Honecker sicherte Erleichterungen im innerdeutschen Reise- und Postverkehr zu. 207 VON 300 Neben den Bonner Gesprächen umfaßte das Besuchsprogramm auch Unterredungen mit anderen Politikern und Vertretern der Wirtschaft sowie eine Rundreise durch die Bundesrepublik. Im saarländischen Neunkirchen besuchte Honecker zum ersten Mal seit 39 Jahren sein Elternhaus. Bei einem Besuch des Geburtshauses von Friedrich Engels in Wuppertal bekam Honecker von Rocksänger Udo Lindenberg mit den Worten: "Gitarren statt Knarren" eine elektrische Gitarre überreicht. Lindenberg widmete dem DDR-Chef wenig später seinen auf der Melodie eines Glenn-Miller-Klassikers basierenden Hit "Sonderzug nach Pankow". 11.10.87 Barschel tot aufgefunden Der umstrittene ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel wird tot in der Badewanne eines Genfer Hotels aufgefunden. Während alle Indizien auf Selbstmord hinweisen, spricht die Familie des Toten von Mord. Barschel war in der konstituierenden Sitzung des neugewählten Länderparlaments am 2. Oktober zurückgetreten, nachdem sein Medienreferent Reiner Pfeiffer (l.) gravierende Vorwürfe gegen ihn vorgebracht hatte. Pfeiffer hatte gegenüber dem Nachrichtenmagazin "DER SPIEGEL" erklärt, daß Barschel seinen Konkurrenten, Björn Engholm, hatte bespitzeln lassen, um so den SPD-Kandidaten in der Öffentlichkeit angreifen zu können. In einer Presseerklärung hatte Barschel noch am 18. September mit seinem Ehrenwort alle Anschuldigungen von sich gewiesen. Der eingesetzte Untersuchungsausschuß befand jedoch einige der Vorwürfe als zutreffend. Barschel, der zu dieser Zeit in Urlaub war, wollte nach Kiel zurückfliegen, um sich zu der Affäre zu äußern. Angeblich wollte er bei einem Zwischenaufenthalt in Genf einen Unbekannten treffen, der ihm entlastendes Material liefern sollte. Belege für ein solches Treffen gab es allerdings nicht, so daß die Polizei bei ihrer Selbstmordversion blieb. 26.10.87 US-Handelsembargo gegen Iran Erneute Zuspitzung im Verhältnis USA-Iran: Washington reagiert auf die Eskalation im Golfkrieg und verhängt ein Handelsembargo gegen die Islamische Republik Iran. Im Persischen Golf waren seit 1984 wiederholt ausländische Schiffe sowohl vom Iran, als auch vom Irak attackiert worden. Insbesondere Kuwait fürchtete um seine Tankerflotte. Die kuwaitische Regierung unter Emir Jabir al-Ahmed as-Sabbah hatte deshalb US-Präsident Ronald Reagan um Schutz gebeten. Am 22. Juli fuhren zum ersten Mal kuwaitische Tanker unter US-Flagge und wurden von US-Kriegsschiffen eskortiert. Dennoch beschoß der Iran am 16. Oktober einen umgeflaggten kuwaitischen Tanker mit einer Rakete. Die USA übte militärische Vergeltung. In dieser explosiven Lage wurde auch noch Saudi-Arabien beinahe in den Krieg hineingezogen. Bei Auseinandersetzungen im saudi-arabischen Mekka am 31. Juli zwischen iranischen Pilgern und Sicherheitskräften hatten 402 Iraner das Leben verloren, 4.000 weiter waren verletzt worden. Der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini warf König Fahd von Saudi-Arabien vor, daß die Sicherheitskräfte den Vorfall angeblich provoziert und danach wahllos in die Menge geschossen hätten. Die saudische Regierung trat dieser Darstellung energisch entgegen. Bereits am 29. September sprach sich der US-Senat einstimmig für ein Handelsembargo aus. Die US-Importe aus dem Iran waren 1987 bereits von 900 Millionen auf 600 Millionen US-Dollar gefallen. Die US-Exporte in den Iran beliefen sich auf 36 Millionen Dollar. 24.11.87 Li Peng wird Ministerpräsident Chinas Der Ständige Ausschuß des Nationalen Volkskongresses in Peking ernennt Li Peng zum amtierenden Ministerpräsidenten Chinas. Er wird sich während des politischen Umbruchs in der kommunistischen Welt als knallharter Hardliner erweisen. 208 VON 300 Li Pengs formelle Amtseinsetzung erfolgte erst auf der Frühlingssitzung des Volkskongresses, die am 25. März 1988 in Peking eröffnet wurde. Das Amt war frei geworden, nachdem Chao Tzu-yang auf dem 13. Parteitag der chinesischen KP vom 25. Oktober bis zum 1. November 1987 zum Generalsekretär der Partei bestimmt worden war und daraufhin vom Amt des Ministerpräsidenten zurückgetreten war. Der bei seinem Amtsantritt 59jährige Li Peng war ein Adoptivsohn des 1976 verstorbenen ehemaligen Ministerpräsidenten Chou En-lai (u.l.). Nach einem Studium in Moskau arbeitete er zunächst in der Energiewirtschaft, seit 1981 war er Minister. Er galt als Technokrat und maßvoller Reformer. In der ersten Stellungnahme nach seiner Amtsübernahme bekräftigte Li, daß er an den "Vier Prinzipien" festhalten werde: dem sozialistischen Weg, der demokratischen Diktatur des Volkes, dem Marxismus-Leninismus und den Ideen Mao Tsetungs. 08.12.87 Abrüstung wird möglich Der Durchbruch im Verhältnis der beiden Supermächte: Mit der sogenannten "Doppel-NullLösung" des INF-Vertrages vereinbaren Reagan und Gorbatschow den Abbau sämtlicher atomarer Mittelstreckenraketen in Europa. Das erste wirkliche Abrüstungsabkommen war damit perfekt und konnte den Parlamenten zur Abstimmung vorgelegt werden. Das Ende des Kalten Krieges - möglich geworden durch Gorbatschows neue Politik - war damit eingeläutet. Doppel-Null-Lösung perfekt Mit ihren Unterschriften unter den Vertrag zur vollständigen Vernichtung aller atomaren Mittelstreckenwaffen bringen US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow die 1982 begonnenen STARTVerhandlungen zum vorläufigen Abschluß. Das erste wirkliche Abrüstungsabkommen war somit beschlossen und konnte den Parlamenten zur Abstimmung vorgelegt werden. Im sogenannten INF-Vertrag wurde die Verschrottung von 1.500 sowjetischen und 500 amerikanischen Waffensystemen beschlossen. Weltweit wurde das Ergebnis mit Erleichterung aufgenommen, nachdem noch der Gipfel in Reykjavik im Vorjahr ohne konkrete Ergebnisse zu Ende gegangen war. Besonders erfreulich waren die weitreichenden Bestimmungen über die Art und Weise der gegenseitigen Kontrolle. Fotoaufnahmen der Raketen waren ausdrücklich ebenso erlaubt wie nicht angemeldete Ortstermine. Ausgenommen von den Abrüstungsschritten waren die Langstreckenwaffen. In Europa feierten Regierungen und Friedensbewegung den Beschluß zur Verschrottung der 1983 laut NATODoppelbeschluß unter heftigen Protesten stationierten "Pershing 2"-Raketen und "Cruise Missiles". Im Mai 1988 wurde das Abkommen in Moskau endgültig ratifiziert. 14.01.88 Atomskandal in Hessen Ausgerechnet wegen ihrer Atompolitik, zuvor ein zentraler Kritikpunkt an der rot-grünen Koalition, erlebt die seit neun Monaten in der Regierungsverantwortung stehende hessische CDU ihren ersten Skandal. Nachdem bereits Mitte Dezember 1987 der Firma "Transnuklear" in Hanau nach massiven Rechtsverstößen die Betriebsgenehmigung entzogen worden war, wies Bundesumweltminister Klaus Töpfer (l.) am 14. Januar 1988 die hessische Landesregierung an, auch die Betriebsgenehmigung für die Muttergesellschaft, die Hanauer Brennelemente-Firma "Nukem", zurückzuziehen. Die Transnuklear hatte mittels gefälschter Papiere und Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe mehrfach illegal Atommüll transportiert. Nach Auffassung der Ermittlungsbehörden mußte auch die Nukem von den Machenschaften des Tochterunternehmens gewußt haben, was die Leitung der Firma jedoch leugnete. 209 VON 300 Durch den Skandal sahen sich die hessischen Grünen in ihrer Position bestätigt: Bundesweit lebte die Diskussion um den mittlerweile auch von SPD-Politikern geforderten Ausstieg aus der Atomenergie auf. Die Bundesregierung hielt jedoch an den Grundsätzen ihrer Atompolitik fest und beschränkte sich lediglich auf die Ausarbeitung eines Konzeptes zur Entflechtung der verschiedenen Bereiche der Atomwirtschaft (Kraftwerke, Brennstäbeproduktion und Transport), um künftig Bestechungsversuche und Korruption zu erschweren. 30.06.88 Glasnost und Perestroika nehmen Gestalt an Die Folgen der Politik von Glasnost und Perestroika werden sichtbar. Auf der Allunionskonferenz des Obersten Sowjets liefern sich die etwa 5.000 Delegierten heftige Wortgefechte - ein bis dato undenkbarer Vorgang. Erstmals seit 50 Jahren entwickelte sich die so etwas wie eine demokratische Streitkultur im Parlament. Zu den Wortführern von Reformern bzw. Bewahrern entwickelten sich Boris Jelzin (l.) und Jegor Ligatschow. Eher unauffällig agierend, vermittelte Generalsekretär Gorbatschow und boxte dabei seine wichtigsten Reformvorhaben durch: Mit einem neuen Obersten Sowjet sollte ein ständig tagendes Parlament geschaffen werden. Für das Frühjahr 1989 wurden freie und geheime Wahlen für den "Kongreß der Volksdeputierten" angesetzt. Einzige Ausnahme: das Politbüro. Zugleich wurde als Kernelement von Glasnost ein "verfassungsmäßiges Recht auf Information" für die Zukunft garantiert. Am 1. Oktober wurde Gorbatschow auch zum Staatsoberhaupt gewählt und vereinigte damit Staats- und Parteiführung in seiner Hand. Er war nun in einer Position, die es ihm endgültig erlaubte, die geplanten Reformen durchzuführen. Die "Bruderländer" Ungarn und Polen griffen, im Gegensatz zur DDR, diese Botschaften aus Moskau dankbar auf und setzten sie auch in größere Unabhängigkeit von Moskau um. 06.07.88 Technik, UMWELT: Explosion auf Ölplattform fordert 167 Tote Auf der Ölplattform "Piper Alpha" - in der Nordsee zur Erdölförderung eingesetzt - ereignet sich eine Gasexplosion. Nur 61 der 228 Arbeiter überleben das Unglück. Die Ventile des Förderturms der Plattform wurden bei der Detonation zerstört, so daß Erdöl ungehindert austreten und sich entzünden konnte. 167 Arbeiter kamen bei dieser bislang größten Katastrophe auf einer Nordsee-Ölplattform ums Leben. Die wie eine Fakkel auf offener See brennende Ölförderinsel konnte erst drei Wochen nach der Explosion durch US-amerikanische Spezialisten unter der Leitung von Red Adair gelöscht werden, die drei Jahre später auch die brennenden Ölquellen von Kuwait löschen mußten. In der internationalen Presse wurden schwere Vorwürfe gegen die Betreibergesellschaft erhoben, der Nachlässigkeiten bei den Sicherheitsvorkehrungen vorgeworfen wurden. Der Brand auf der "Piper Alpha" war die schlimmste Katastrophe auf einer Ölplattform seit dem Kentern der Förderplattform "Alexander Kielland" acht Jahre zuvor. 16.08.88 Geiseldrama in den Medien Zwei schwerbewaffnete Bankräuber nehmen bei einem mißglückten Banküberfall in Gladbeck mehrere Geiseln. Sie flüchten quer durch die Republik und geben zwischendurch Live-Interviews an Journalisten, die sich an ihre Fersen geheftet hatten. Die Geiselnehmer kaperten unter anderem einen Nahverkehrsbus in Bremen. Nachdem es der Polizei gelungen war, auf einer Autobahnraststätte eine Komplizin des Duos in Gewahrsam zu nehmen, erschossen die Geiselnehmer einen 15jährigen Jungen, der zu den Insassen des Busses gehört hatte. Ein Polizist kam bei der Verfolgung des Busses ums Leben. Nachdem die Geiselgangster an einem Grenzübergang zu den Niederlanden ein weiteres Fluchtfahrzeug erhalten hatten, flüchteten sie mit zwei der Geiseln nach Köln, wo sie in der 210 VON 300 Innenstadt herbeigeeilten Reportern Interviews aus dem Geiselfahrzeug gaben, während sie die Geiseln weiter bedrohten. Ein Reporter setzte sich sogar zu den Gangstern ins Fahrzeug. Das Verhalten der Medien löste in der Öffentlichkeit eine heftige Diskussion aus. Die Polizei war nicht in der Lage, die Gangster noch in der Kölner City zu stellen. Schließlich stellte ein Einsatzkommando der Polizei das Geiselfahrzeug auf der A3 bei Siegburg. Im Kugelhagel starb eine der Geiseln, während die Geiselnehmer verletzt festgenommen wurden. 28.08.88 Flugstaffel stürzt in Zuschauermenge Beim alljährlichen Flugtag auf dem Militärflughafen der US-Luftwaffe im pfälzischen Ramstein-Miesenbach kollidieren drei Flugzeuge der italienischen Kunstflugstaffel "Frecce Tricolori" während einer waghalsigen Flugnummer. Eine der Maschinen stürzte brennend in die Zuschauermenge. 70 Menschen verlieren ihr Leben, über 300 weitere Personen werden zum Teil schwer verletzt. Nach der Katastrophe sprachen sich Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gegen derartige Flugvorführungen aus. Verstärkt wurde auf die unnötigen Risiken hingewiesen, die solch waghalsige Flugnummern bergen. Da jedoch durch den Wegfall dieses Nervenkitzels die Flugschauen deutlich an Attraktivität verlieren würden, wäre somit auch der wirtschaftliche Sinn der Veranstaltung in Frage gestellt. Zur Beruhigung der Gemüter reagierte Verteidigungsminister Rupert Scholz mit einem vorläufigen Verbot militärischer Kunstflugvorführungen. Die Bundesrepublik wurde 1988 Schauplatz einer ganzen Reihe schrecklicher Unfälle und Terrorakte mit zahlreichen Todesopfern. Zu den traurigen Höhepunkten gehören die Abstürze von Ramstein und Remscheid und das Geiseldrama von Gladbeck. 10.11.88 Eklat um Jenninger-Rede In der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht kommt es aufgrund der Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zu einem Eklat. Noch am folgenden Tag mußte der CDU-Politiker daraufhin seinen Rücktritt erklären. Jenninger hatte versucht, in seiner Rede den Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären, doch formulierte er Passagen seiner Rede so unglücklich, daß der Eindruck entstand, er wolle Verständnis für die Täter erwecken, anstatt der Opfer zu gedenken. Noch während Jenninger seine Rede hielt, kam es zu Zwischenrufen und viele Abgeordnete der SPD und der Grünen aber auch der FDP und der CDU verließen aus Protest den Saal. Der SPD-Parteivorsitzende Jochen Vogel (li.) sagte später, daß es Stellen gegeben hätte, "an denen man in den Boden versinken wollte". Auch in der in- und ausländischen Öffentlichkeit wurde die Rede Jenningers mit Unverständnis und Bestürzung aufgenommen. Nach seinem Rücktritt am 11. Oktober entschuldigte sich Jenninger. In seiner Rede hatten Passagen in Anführungszeichen gestanden, so der Politiker, die er wohl nicht ausdrücklich genug formuliert habe. Zudem habe er sich stets für die Aussöhnung mit den Juden engagiert. 07.12.88 Mutiger Entschluß Gorbatschows Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow kündigt in einer Rede vor der UNOVollversammlung in New York die Absicht der UdSSR an, einseitige Abrüstungsschritte zu unternehmen. Die sowjetischen Streitkräfte sollten bis 1991 um rund 10 Prozent verringert und zahlreiche Geschütze und Kampfflugzeuge aus den verbündeten Staaten des Warschauer Paktes abgezogen werden. Außerdem gab Gorbatschow bekannt, daß er in den nächsten Monaten 211 VON 300 einige Gesetzesänderungen zur Sicherung der Meinungs- und Glaubensfreiheit beabsichtige. Die westliche Welt begrüßte die Abrüstungsinitiative einhellig. Unmittelbar im Anschluß daran fand auf der Insel Governors Island bei New York ein Treffen zwischen Gorbatschow und dem scheidenden US-Präsidenten Ronald Reagan statt. Im Verlaufe der eher informellen Unterredung kamen Probleme der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, der Rüstungskontrolle und der internationalen Beziehungen zur Sprache. Reagan erklärte, er sei "hocherfreut" über diese Begegnung und kündigte nun seinerseits weitere Abrüstungsschritte des Westens an. Schweres Erdbeben im Kaukasus Ein schweres Erdbeben erschüttert die Sowjetrepubliken Armenien, Georgien und Aserbaidschan. Besonders stark sind die Verwüstungen in Armenien. Das Epizentrum des Bebens lag unter der Stadt Leninakan (heute Kirovakan). Die 230.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Armeniens wird zu 40 Prozent zerstört. Insgesamt verloren infolge der Beben zwischen 50.000 und 60.000 Menschen das Leben, 500.000 Menschen wurden obdachlos. Bei den Rettungsarbeiten kam es am 11. Dezember 1988 zu einem Flugzeugunfall in Leninakan, der 79 Retter das Leben kostete. Das schwerste Erdbeben im Kaukasus seit 1902 bewegte Michael Gorbatschow (li. bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen am Tag des Bebens) zum Abbruch eines USAAufenthaltes, um die Koordination der Rettungsarbeiten übernehmen zu können. 08.12.88 US-Militärflugzeug stürzt in Wohngegend Auf eine Wohngegend der Stadt Remscheid im Bergischen Land stürzt am 8. Dezember 1988 ein Jagdbomber der US-Luftwaffe. Das Unglück fordert sechs Tote, darunter den Piloten des Jagdbombers, sowie 50 Verletzte und richtete erheblichen Sachschaden an. Das Flugzeug vom Typ Thunderbolt II A befand sich auf einem Übungsflug, als der Pilot wahrscheinlich wegen schlechter Sicht die Kontrolle über das Flugzeug verlor. Zwölf Wohnhäuser im Ortsteil Vieringhausen wurden zum Teil vollständig zerstört, auf 300 Metern standen Autos und Häuser in Flammen. Nach dem Unglück von Ramstein belebte dieses erneute Unglück die Diskussion über die Notwendigkeit militärischer Übungsflüge über dicht besiedelten Gebieten. Weil die zuständigen Militärdienststellen nur zögernd Auskunft über die Art und Menge der an Bord befindlichen Waffen gaben, konnten Technisches Hilfswerk, Katastrophenschutz und Feuerwehren zunächst nur mit äußerster Vorsicht vorgehen. Wie sich später herausstellte, befanden sich über 1.000 Schuß Übungsmunition an Bord. Darüber hinaus hatte die Maschine jedoch auch chemische Substanzen geladen: Während der nächsten Jahre mehrten sich in der Umgebung der Absturzstelle die Beschwerden über Erkrankungen der Haut und der Atemwege. 21.12.88 Jumbo explodiert über Lockerbie Über der schottischen Kleinstadt Lockerbie explodiert ein Jumbo-Jet der USamerikanischen Fluggesellschaft PanAm. Bei der Explosion werden alle 259 Passagiere der "Maid of Seas" getötet, Wrackteile stürzen auf Lockerbie und fordern sieben weitere Todesopfer. Eine Untersuchung des Unglücks erwies, daß die von Frankfurt nach New York gestartete Boeing 747 eine Bombe an Bord gehabt hatte. Zu Beginn der Untersuchungen ging man von einem Racheakt für den im Sommer 1988 erfolgten Abschuß eines iranischen Airbus im persischen Golf durch eine US-amerikanische Fregatte aus. Später wurde vermutet, daß das Bombenattentat von libyschen Terroristen verübt worden war. Dies konnte jedoch nie zweifelsfrei nachgewiesen werden. So wurden unter anderem auch Drogenhändler für den Anschlag verantwortlich gemacht. Besonders tragisch war in diesem Fall, daß die USBotschaft in Helsinki zwei Wochen vor der Explosion eine Warnung erhalten hatte, 212 VON 300 demnächst könne eine PanAm-Maschine auf der Strecke Frankfurt-New York Opfer eines Attentats werden. Die Öffentlichkeit hatte davon jedoch keine Kenntnis erhalten. 11.01.89 Chemische Waffen weltweit geächtet Eine ganze Waffengattung wird geächtet: Vertreter von 149 Staaten unterzeichnen in Pariseine Erklärung, in der sie im Namen ihrer Regierungen dem Verzicht auf den Einsatz chemischer Waffen zustimmen. Einige Länder der sogenannten "Dritten Welt" stimmten der Unterzeichnung der Erklärung der fünftägigen "Internationalen Konferenz zur Beseitigung der C-Waffen" erst nach längeren Diskussionen und einigen Änderungen zu. Für diese Länder, die sich die Atombombe aus Kostengründen nicht leisten konnten, stellten C-Waffen nach wie vor das effizienteste Mittel im Kriegsfall dar. Sie drängten auf eine zusätzliche Vereinbarung über weitreichende atomare Abrüstung, da sie im Falle eines Verzichts auf ihre C-Waffen einem Angriff durch eine Atommacht nichts mehr entgegenzusetzen hätten. Schon 1925 war aufgrund der grausamen Giftgaseinsätze während des Ersten Weltkrieges die Verwendung von Giftgas völkerrechtlich unter Strafe gestellt worden. Während des Vietnamkrieges hatten die Amerikaner zur Entlaubung der vietnamesischen Wälder das krebserregende Gas "Agent Orange" eingesetzt, der Iran und der Irak gingen während des Ersten Golfkrieges 1987/88 mit Senfgas und Phosgen gegeneinander vor. Bei den irakischen Angriffen gegen die im Nordirak beheimateten Kurden wurden ganze Dörfer auf Befehl des irakischen Diktator Saddam Hussein durch den Einsatz von Giftgas entvölkert. Eine gleichzeitig in Genf tagende Abrüstungskonferenz war mit der Ausarbeitung eines Abkommens zur Vernichtung der C-Waffen befaßt. 03.02.89 Militärs putschen in Paraguay Paraguays Staatspräsident Alfredo Stroessner (u.l.), über 34 Jahre Diktator des Landes, stürzt durch einen blutigen Militärputsch. General Andrés Rodríguez hatte sich entschlossen, mit Einheiten des Heeres den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Asunción zu stürmen. Bei den Schießereien mit der Präsidialgarde kamen etwa 300 Personen ums Leben. Putschist Rodríguez kündigte demokratische Reformen und Neuwahlen an. Der gestürzte Präsident war zunächst von der Luftwaffe an der Flucht nach Brasilien gehindert worden, die ihn zwei Tage später dennoch gelang. Dem Putsch waren Mißstimmigkeiten zwischen Stroessner und Rodríguez vorangegangen. Stroessner hatte geplant, den General abzulösen. Zudem hatte die Stabilität des Stroessner-Regimes zu bröckeln begonnen, als in mehreren südamerikanischen Ländern, darunter Brasilien, Argentinien und Uruguay, die Militärdiktaturen durch zivile Regierungen abgelöst wurden und sich die verhältnismäßig gute wirtschaftliche Lage Paraguays weiter verschlechterte. Aus den Parlamentswahlen am 1. Mai ging die Regierungspartei "Colorados" mit 74 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. Die Oppositionsparteien, die unter Stroessner unterdrückt worden waren, hatten nicht die Zeit gehabt, einen echten Wahlkampf zu organisieren. Die Kommunisten waren verboten worden. Für deren brutale Verfolgung hatte Stroessner umfangreiche amerikanische Wirtschaftsunterstützung erhalten. Kaum jemand erwartete nun tiefgreifende demokratische Reformen. Als alter Weggefährte Stroessners und tief ins Drogengeschäft verstrickt, war Rodríguez’ Putsch nicht viel mehr als eine "Palastrevolte". 14.02.89 Iran erläßt Mordbefehl gegen Rushdie Salman Rushdie soll für die Blasphemien in seinem Buch "Satanische Verse" sterben. Irans Revolutionsführer Ayatollah Khomeini erklärt in einem islamischen Rechtsurteil den indischbritischen Schriftsteller für vogelfrei. Eine Entschuldigung Rushdies wird nicht akzeptiert. Große Teile der islamischen Welt empfanden das Buch als eine Beleidigung des Propheten Mohammed und des Islam. In Indien, Pakistan, Saudi-Arabien, Ägypten und anderen 213 VON 300 Ländern war der Roman bereits Ende des Jahres 1988 verboten worden. Die 18. Außenministerkonferenz der Islamischen Konferenz erklärte zwar im März ´89 das Buch für blasphemisch, unterstützte aber nicht den Mordaufruf. In Deutschland und Frankreich wurde die Produktion der "Satanischen Verse" zunächst eingestellt. Als Reaktion auf den Mordaufruf riefen die Staaten der Europäischen Gemeinschaften ihre Botschafter aus Teheran zurück. Bis auf den britischen kehrten aber alle europäischen Botschafter bereits im März wieder in den Iran zurück. Im September 1990 nahmen Iran und Großbritannien wieder diplomatische Beziehungen auf. Der Mordbefehl gegen Rushdie wurde auch nach dem Tod Khomeinis im Juni 1989 aufrechterhalten. Der Schriftsteller lebte in der Folge an einem geheimgehaltenen Ort in Großbritannien. 24.03.29 Technik, UMWELT: Ölpest verwüstet Alaskas Südküste Vor der Südküste Alaskas läuft der Supertanker "Exxon Valdez" auf ein Riff. 44.000 Tonnen Rohöl, etwa ein Fünftel der Ladung, laufen aus und verseuchen den Prinz-William-Sund. Der Kapitän war zur Unglückszeit offenbar betrunken. Während der Kapitän in der Kabine seinen Rausch ausschlief, hatte den unerfahrenen Dritten Offizier mit der Führung des Tankers beauftragt. Nach mehreren groben Manövrierfehlern verlor der Mann schließlich die Orientierung und steuerte das Schiff auf das Riff. Erst 18 Stunden nach der Kollision trafen erste Ölbekämpfungsteams ein, die die Ausbreitung des Ölteppichs vor der Küste des Naturschutz- und Brutgebiets zu verhindern versuchten. Das auslaufende Öl verseuchte das Meer und die Küste Alaskas auf einer Länge von 1.100 Kilometern. Mehrere Millionen Seevögel und unzählige Fische, Seelöwen, Seehunde und Wale gingen in der Folge zugrunde. Die Regierungen in Anchorage und in Washington erhoben schwere Vorwürfe gegen die Reederei und verklagten den Konzern auf Schadenersatz in mehrstelliger Millionenhöhe. Bei dem Kapitän des Schiffes wurde noch zehn Stunden nach dem Unglück ein Blutalkoholgehalt von 0,6 Promille festgestellt. International setzte erneut eine lebhafte Diskussion um die Sicherheitsbestimmungen für die Schiffahrt ein. 12.04.89 "Aus" für Wackersdorf Der Vorstand des Energiekonzerns VEBA (l.: VEBA-Chef von Bennigsen-Foerder) verblüfft am 12. April 1989 die deutsche Öffentlichkeit mit der Ankündigung, den in der Bundesrepublik anfallenden radioaktiven Müll künftig im französischen La Hague und nicht in Wackersdorf wiederaufbereiten zu lassen. In La Hague ließen sich die Abfälle wesentlich kostengünstiger und in größeren Mengen verarbeiten als in der immer noch nicht fertiggestellten Anlage in der Oberpfalz. Geschätzten Kosten von 10 Milliarden DM in Wackersdorf standen "nur" 2,5 Milliarden DM in der Normandie gegenüber. Für die seit Jahren zwischen Kernkraftgegnern und -befürwortern heftig umstrittene Anlage bedeutete die Ankündigung das Aus. Der Jubel der Wackersdorf-Gegner hielt sich allerdings in Grenzen. In ihren Augen waren mit der Entscheidung gegen Wackersdorf, wie später auch im Fall des "Schnellen Brüters" in Kalkar, Betreiber und Politiker lediglich wirtschaftlichen Interessen gefolgt. Daß die Entscheidung keine Wende in der Atompolitik der Bundesregierung bedeutete, demonstrierte 1995 der erste Transport eines sogenannten CASTOR-Containers ins atomare Endlager Gorleben. Es blieb neben dem Unbehagen vor allem der Zorn über die sinnlose Vergeudung von Steuergeldern. Bis zum Baustopp waren in Wackersdorf für Bau, Instandhaltung und Schutz des Geländes 2,6 Milliarden DM ausgegeben worden. 214 VON 300 15.04.89 CHINA Studenten protestieren für mehr Demokratie Der Tod des ehemaligen chinesischen KP-Chefs Hu Yao-pangs führt zu spontanen Trauerversammlungen Tausender von Studenten in Peking. Schnell schlagen die Demonstrationen in politische Kundgebungen um. Der reformfreudige Hu Yao-pang war vor 1987 aus seinem Amt entlassen worden. Konservative Parteikreise hatten ihm die Verantwortung für die zunehmenden Studentendemonstrationen angelastet. Am 15. April war Hu gestorben. Seither richteten sich Proteste zunehmend gegen die Parteispitze und das herrschende System. Hochschuldelegationen aus ganz China kamen nach Peking. Sie forderten eine energischere Reformpolitik, um mit dem demokratischen Wandel, der in anderen sozialistischen Staaten wie Ungarn und der UdSSR stattfand, Schritt zu halten. Von Tag zu Tag gingen mehr Menschen auf die Straßen. Die zunächst rein studentischen Aktionen stießen auf ein immer größeres Echo. Am 17. Mai fanden sich über eine Million Menschen auf dem Platz des Himmlischen Friedens zur größten Demonstration seit Gründung der VR zusammen. Sie forderten Demokratie und Freiheit, Eindämmung der Korruption und Umbesetzungen in der Führungsspitze. Immer unverhüllter wurde auch die Forderung nach dem Rücktritt Teng Hsiao-pings erhoben. 03.06.89 Khomeini gestorben Der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini stirbt im Alter von 87 Jahren in einem Teheraner Krankenhaus. Die Bestimmung von Rafsandschani zu seinem Nachfolger läßt Hoffnungen auf eine Liberalisierung aufkeimen. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil hatte Khomeini im April 1979 die Islamische Republik Iran ausgerufen, in der er als Oberhaupt der Schiiten auch ohne politisches Amt das Sagen hatte. Im iranisch-irakischen Krieg von 1980 bis 1988 gelang es ihm, die eigenen Soldaten so zu motivieren, daß die an militärischer Ausrüstung überlegenen irakischen Truppen von iranischem Gebiet zurückgetrieben wurden. Wenige Monate vor seinem Tod hatte Khomeini den Mordaufruf gegen den Schriftsteller Salman Rushdie ausgesprochen, der auch weiterhin wirksam blieb. Nachfolger Khomeinis als Führer der islamischen Revolution wurde der bisherige Staatspräsident Ali Khamenei. Zum neuen Präsidenten wurde Ali Akbar Rafsandschani gewählt, der als Vertreter eines pragmatischen Kurses galt. An der Beisetzung Khomeinis nahmen mehrere Millionen Trauernde teil, und es kam teilweise zu chaotischen Szenen. Im Ausland herrschte nach dem Tod Khomeinis zunächst Unsicherheit über den weiteren politischen Kurs des Iran. Die Islamische Republik brach aber nicht zusammen. 04.06.89 Massaker in Peking Das chinesische Militär beendet die wochenlangen Proteste auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" mit einem Blutbad. Nach inoffiziellen Angaben starben mehrere tausend Personen. Seit Mitte April war Peking Schauplatz von Massenprotesten für Demokratie und Menschenrechte. Der rücksichtslose Einsatz des Militärs beendete alle Hoffnungen, die KP-Führung würde einlenken und sich dem endlich in Gang gekommenen Ost-West-Dialog öffnen. Als einziges Land verteidigte die DDR das Vorgehen Pekings. Über 3.000 Tote bei gewaltsamer Räumung Mit einem Blutbad beendet chinesisches Militär die seit Mitte April anhaltenden Massenproteste für Demokratie und Menschenrechte auf dem "Platz des himmlischen Friedens". 215 VON 300 Zunächst schien es, als würde die Führung einlenken: Am 17. Mai hatte Parteichef Chao Tzu-yang den Demonstranten versichert, die Partei teile ihre Bestrebungen und werde keine Schritte gegen sie unternehmen. Ministerpräsident Li Peng warnte jedoch, es drohe größeres Chaos als während der Kulturrevolution. Am 3. Juni rückten militärische Verbände auf das Stadtzentrum vor. Ein schwer bewaffneter Stoßtrupp bahnte sich den Weg zum "Platz des Himmlischen Friedens", der mit Zehntausenden von Menschen bevölkert war. In der Nacht schossen Soldaten dann wahllos in die Menge, Fliehende wurden von Panzern niedergewalzt. Die Bevölkerung beschimpfte die Truppen in Sprechchören als "Volksverräter" und "faschistische Hunde". Einzelne Soldaten wurden zu Tode geprügelt oder erhängt. Bis zum Abend des 5. Juni riegelten Panzereinheiten die gesamte Innenstadt ab. Der Widerstand der größtenteils unbewaffneten Demonstranten brach daraufhin rasch zusammen. Offizielle Angaben über die Zahl der Opfer gab es nicht. Das chinesische Rote Kreuz sprach von mindestens 2.500 Toten, Studentenvertreter schätzten die Zahl der Opfer auf etwa 4.000. 12.06.89 Beifallsstürme für den sowjetischen Gast Der viertägige Staatsbesuch Michail Gorbatschows in der Bundesrepublik Deutschland wird zu einem einzigen Jubelfest für den Mann aus Moskau. Im Zentrum der Gespräche standen Fragen des künftigen politischen und wirtschaftlichen Miteinanders. Mit Bundeskanzler Kohl wurden regelmäßige Konsultationen vereinbart. Gorbatschow betonte, daß er den Besuch nutzen wolle, die mit dem Moskauer Vertrag 1970 begonnene Normalisierung des Verhältnisses fortzusetzen und unterzeichnete mit Kohl eine gemeinsame deutsch-sowjetische Erklärung. Mit Lothar Späth erörterte er Probleme der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. In seiner Rede vor 7.000 Stahlarbeitern des Hoesch-Stahlwerks in Dortmund forderte er eine "Gesellschaft der Volksmacht". Der Betriebsratsvorsitzende schlug ihn darauf hin unter allgemeinem Beifall für den Friedensnobelpreis vor. Gorbatschows Besuch stieß auf ungeheure Resonanz in der Bevölkerung. Auf einer Pressekonferenz zeigte sich Gorbatschow dann auch beeindruckt von der "Wärme und Sympathie", die man ihm entgegengebracht habe. Er habe gespürt, wie sehr die Menschen des Kalten Krieges müde seien. Auch bei den Begegnungen mit Geschäftsleuten habe er "viel Neues" gelernt. 27.06.89 Eiserner Vorhang Mock und Horn zerschneiden den Zaun Mit dem Durchtrennen des Grenzzauns zwischen ihren Ländern läuten der österreichische und der ungarische Außenminister, Alois Mock und Gyula Horn, eine neue Zeit ein: Es ist der Anfang vom Ende des gesamten "Eisernen Vorhangs". Die kommunistische Partei Ungarns hatte zuvor die Reformen des sowjetischen Staats- und Parteichefs Gorbatschow übernommen und weitergeführt, in Ungarn den Boden für demokratische Wahlen bereitet und am 2. Mai 1989 verkündet, der Eiserne Vorhang zwischen Ungarn und Österreich werde abgebaut. Unmittelbar danach wurde mit dem Abbau der Grenzbefestigungen begonnen. Die Grenzkontrollen zwischen beiden Staaten wurden dadurch jedoch nicht berührt. DDR-Bürger, die ab Juli 1989 zum Urlaub nach Ungarn fuhren, nutzten die Gelegenheit, in Ungarn über die grüne Grenze nach Österreich zu flüchten. Der Zustrom nach Ungarn wurde so stark, daß Lager für Flüchtlinge aus der DDR eingerichtet werden mußten. Die ungarische Regierung war der Ansicht, es handle sich dabei um ein bilaterales Problem zwischen den beiden deutschen Staaten. Die Flüchtlinge erhielten daher kein Asyl, wurden aber auch nicht abgeschoben. 08.08.89 216 VON 300 Publikumsverkehr eingestellt Mit der Schließung der bundesdeutschen Ständigen Vertretung in Ost-Berlin nimmt der Exodus von DDR-Bürgern im Herbst seinen Anfang. 130 ausreisewillige Ostdeutsche haben dort Zuflucht gesucht. Erheblich mehr sind es bald in den Botschaften in Prag, Budapest und Warschau. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN hatte schon am 5. August gemeldet, daß "einige DDRBürger Botschaften der BRD im Ausland beziehungsweise die Ständige Vertretung der BRD" besuchten, um "dort persönliche Angelegenheiten vorzubringen". Sie betonten aber, daß die Vertretungen der BRD über "keinerlei Rechte und Obhutspflichten gegenüber Bürgern der DDR" verfügten. Kanzleramtsminister Seiters versuchte schon am 9. August die brisante Situation zu entschärfen. Während der Bundespressekonferenz rief er fluchtwillige DDR-Bürger auf, nicht den Weg über die Missionen der BRD zu wählen, schließlich sei es bis Juli 1989 über 46.000 Personen gelungen, legal aus der DDR auszureisen. Genau einen Monat nach der vorübergehenden Schließung räumten die letzten DDRBürger freiwillig die Vertretung. Ihnen war von Rechtsanwalt Vogel im Namen der DDRRegierung zwar nicht die Ausreise, aber volle Straffreiheit und juristischer Beistand versprochen worden. Für die Botschaften in Prag und Budapest war das Flüchtlingsdrama jedoch nicht zu Ende. 24.08.89 Maszowiecki wird polnischer Ministerpräsident Die Wahl des Kandidaten des "Bürgerkomitees Solidarität", Tadeusz Maszowiecki, zum polnischen Premier stellt eine entscheidende Wegmarke des Umbruchs in Osteuropa dar. Mit 85 Prozent hatte sich eine deutliche Mehrheit des Parlaments für den bisherigen Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung "Solidarität" entschieden, der somit der erste nichtkommunistische Regierungschef eines Warschauer-Pakt-Staates wurde. Die Wahl des erklärten Antikommunisten war nach den Reformen des Wahlrechts im Juni möglich geworden. Erstmals konnten die Polen ein Drittel ihres Parlamentes selbst wählen und zusätzlich über die Zusammensetzung einer neugeschaffenen, 100köpfigen zweiten Kammer entscheiden. Für die Kommunistische Partei endete die Wahl in einem Debakel. Die meisten Stimmen gingen an Lech Walesas "Solidarität". Die seit der Verhängung des Kriegsrechts verbotene Gewerkschaft war erst vier Monate zuvor wieder zugelassen worden und hatte sich zwischenzeitlich zu einer politischen Partei entwickelt. Der neugewählte Präsident kündigte drastische Schritte zur Verbesserung der katastrophalen Wirtschaftslage an. Der Weg Polens - fort von den Ostblockstaaten und hin zur EG - war mit der Wahl Maszowieckis vorgezeichnet. Polen übernahm somit eine Vorreiterrolle für ähnliche Entwicklungen auch in anderen Ostblockstaaten. 11.09.89 "Politische Plattform für die ganze DDR" 30 DDR-Regimekritiker, darunter Bärbel Bohley, Jens Reich (li.), Katja Havemann und Sebastian Pflugbeil, gründen in Grünheide bei Ost-Berlin als erste landesweite nichtkirchliche Oppositionsgruppe das "Neue Forum". Das "Neue Forum" verstand sich als "Plattform für die ganze DDR", die in einem "demokratischen Dialog" öffentlich und friedlich über Reformen diskutieren wollte. Mehr als 1.500 DDR-Bürger – darunter auch SED-Mitglieder – unterschrieben den Gründungsaufruf. Das Innenministerium blockte am 19. September die Zulassung des "Neue Forums" als politische rigoros ab: Ziele und Anliegen der neuen Vereinigung widersprächen der Verfassung der DDR und stellten eine staatsfeindliche Plattform dar. In einer späteren Erklärung hieß es lapidar, daß für eine neue Partei "keine gesellschaftliche Notwendigkeit" bestehe. Im Oktober erkannte die SED das Neue Forum dennoch als Gesprächspartner an. Das Beispiel machte Schule. So entstanden in kurzer Folge die Bewegungen "Demokratie jetzt", "Demokratischer Aufbruch" sowie die SDP. Nach dem Fall der Mauer gingen von den 217 VON 300 am "Runden Tisch" vertretenen Bürgerrechtsgruppen entscheidende Impulse zur Neugestaltung des politischen Lebens und zur Durchführung der ersten freien Wahlen in der DDR aus. 30.09.89 Genscher verkündet die frohe Botschaft Vor etwa 6.000 DDR-Flüchtlingen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag verkündet Außenminister Hans-Dietrich Genscher die mit der DDR und der Tschechoslowakei getroffene Sondervereinbarung über die Ausreisemöglichkeit für Botschaftsflüchtlinge. Genschers Worte gingen in einem Jubelsturm unter. Die Ausreisewilligen durften nun in verriegelten Sonderzügen über die DDR in die Bundesrepublik reisen. Genscher hatte die Vereinbarung am Rande einer UN-Vollversammlung am 27. September mit der DDR, der Tschechoslowakei und Polen erzielt. Die bedrohlich anschwellende Fluchtwelle war der DDR-Führung vor allem angesichts der bevorstehenden 40-Jahrfeier ein Dorn im Auge. Die Übereinkunft wurde als "einmalige" Regelung getroffen. Um die Form zu waren, wurden den Flüchtlingen auf DDR-Territorium Urkunden über ihre Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR ausgehändigt. Wenige Tage später suchten wieder Tausende DDR-Bürger in der bundesdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht. Am 3. Oktober willigte die DDR-Führung abermals ein, die "einmalige" Regelung erneut anzuwenden. Am Dresdener Hauptbahnhof kam es zu schweren Tumulten, als etwa 3.000 Menschen versuchten, Zugang zu den passierenden Flüchtlingszügen zu bekommen. Um die Fluchtbewegung endgültig zu stoppen, stellte die Regierung in Ost-Berlin den visafreien Verkehr zwischen DDR und Tschechoslowakei am 3. Oktober ein. 07.10.89 "Wer zu spät kommt..." "...den bestraft das Leben." Abseits der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR fordert Gorbatschow vergeblich Reformen ein. Trotz Massenflucht und rapide zunehmendem Aufbegehren der Bevölkerung ließ Honecker den Jahrestag zur Republikgründung pompös feiern. Alle Bemühungen der Ordnungskräfte konnten die Bildung von spontanen Gegendemonstrationen nicht verhindern. Gorbatschow versuchte vergeblich, die alten Herren für die Krise der DDR zu sensibilisieren. Tragikomisches Spektakel - die DDR wird vierzig Die DDR steht vor dem Kollaps. Doch allen Verfallserscheinungen zum Trotz feiert die Führung unverdrossen das 40jähriges Bestehen ihres Staates. Es sollte Honeckers letzter großer Auftritt werden. In seiner Festansprache bezeichnete er die DDR als "Bollwerk gegen den Imperialismus" und "Wellenbrecher" der sozialistischen Länder. Auf Gorbatschows Worte, jedes Land habe seine eigenen Entwicklungsprozesse, "... die ihre Durchdenkung und Lösung erforderten ..." ging Honecker nicht ein. Der KPdSU-Generalsekretärs kommentierte dies gegenüber der Presse: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben " Nach den Feierlichkeiten forderte Gorbatschow Honecker in einem Gespräch unter vier Augen auf, eine deutsche Version der Perestroika durchzuführen. Der DDR-Chef lehnte dies mit Hinweis auf die katastrophale Wirtschaftslage in der Sowjetunion ab. Während der Feierlichkeiten bildeten sich in einigen Städten deutlich vernehmbare Gegendemonstrationen. Wo die Westpresse nicht direkt dabei war, griffen Polizei und Staatssicherheit brutal ein. Zwei Tage später gingen nach den Montagsgebeten in Leipzig 70.000 Menschen auf die Straße und leiteten damit endgültig den Umbruch in der DDR ein. 09.10.89 75.000 und ein Ruf: "Wir sind das Volk" 218 VON 300 Unmittelbar im Anschluß an die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Staatsgründung der DDR zieht die Leipziger Montagsdemonstration 75.000 Menschen an. Erstmals erklingt auf der Demo der Slogan "Wir sind das Volk". Die Stimmung in Leipzig war aufgeheizt, da man nach dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten vom Wochenende in Ost-Berlin nun auch in Leipzig mit einer gewaltsamen Reaktion der Staatsmacht rechnete. Gegen Ende der Demonstration erklang über Lautsprecher ein Appell zum "Friedlichen Dialog". Sechs Leipziger, darunter auch drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung, hatten ihn aufgesetzt. Gerüchte besagten anschließend, daß zumindest Erich Honecker befohlen hatte, schonungslos gegen die Demonstranten vorzugehen. Es kam jedoch nicht zum befürchteten Eingreifen von Polizei, Militär und Betriebskampfgruppen, die zuvor in großem Umfang um Leipzig zusammengezogen worden waren: Die örtliche SED-Führung hatte sich geweigert, den Angriffsbefehl zu geben. Zu groß schien den Verantwortlichen die Gefahr eines bewaffneten Aufstands. 17.10.89 Honecker aus allen Ämtern entlassen Tagesordnungspunkt 1 der Politbüro-Sitzung vom 17. Oktober lautet: "Ablösung von Honecker und die Wahl von Krenz als Generalsekretär." Honeckers politische Uhr ist abgelaufen. Nach 18jähriger Herrschaft über Staat und SED-Apparat trat Honecker von seinen Ämtern als Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender sowie als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats zurück - wie es offiziell hieß "aus gesundheitlichen Gründen". Aus dem Munde des designierten "Kronfolgers" Krenz sind die Worte überliefert "Erich, es geht nicht mehr!" Honecker soll völlig betreten gewesen sein, stimmte aber letztlich seiner eigenen Demission zu. Am Vortag hatte sich die Montagsdemonstration in Leipzig erneut ausgeweitet. Diesmal waren 100.000 bis 120.000 Menschen erschienen und die Sicherheitsorgane hatten sich wie am 9. Oktober zurückgehalten. Honeckers Abtritt schien die letzte Möglichkeit zu sein, den Unmut der Bevölkerung zu beschwichtigen. Mit Honecker wurden auch Günter Mittag, Sekretär für Wirtschaft, und Joachim Herrmann, Sekretär für Agitation und Propaganda aus dem Politbüro gekippt. Das Zentralkomitee wählte Egon Krenz einstimmig zum Nachfolger Honeckers in allen Ämtern. 04.11.89 Die erste genehmigte Großkundgebung Der Berliner Alexanderplatz ist Anfang November Schauplatz der größten nichtstaatlichen Demonstration in der Geschichte der DDR. Sie war vor Wochen angemeldet und später genehmigt worden. Etwa eine Million Menschen gingen in Ost-Berlin auf die Straße und riefen nach Reformen, freien Wahlen, Abschaffung des Machtmonopols der SED, Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Meinungsfreiheit und Reisefreiheit. 26 Redner, darunter Schriftsteller wie Stefan Heym (li.), Christa Wolf und Heiner Müller sowie Vertreter neuer oppositioneller Vereinigungen forderten ebenfalls schnellstmögliche Reformen. Die Kritik richtete sich vor allem gegen die Wahl von Egon Krenz zum Nachfolger Honeckers, da offensichtlich an der Praxis der Ämterhäufung festgehalten werden sollte. Die Massendemonstrationen in der DDR hatten ihr Vorbild in den Leipziger Montagsdemos. Ermutigt durch die Schlagkraft, die diese friedlich demonstrierenden Menschenmassen zeigten, wurden diese Demonstrationen bald nachgeahmt. Sie gipfelten in der Massendemonstration in Ost-Berlin und trugen maßgeblich zur Beseitigung des SEDRegimes und der Öffnung der Mauer bei. 07.11.89 Die Regierung dankt ab 219 VON 300 Die DDR wird von einer regelrechten Rücktrittswelle erfaßt. Zuerst trifft es am 2. November den Vorsitzenden des FDGB, Harry Tisch, und die Vorsitzenden der Blockparteien CDU und NDPD, Gerald Götting und Heinrich Homann. Es folgen tags darauf die Politbüromitglieder Herrmann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke, Erich Mückenberger und Alfred Neumann. Am 7. November beugte sich schließlich das gesamte Kabinett von Willi Stoph (l.) den Forderungen der Demonstranten und trat zurück. Geschäftsführend blieb nur Stoph zunächst noch im Amt. Auf einer Sitzung der Volkskammer am 13. November wurde dann der Ministerrat endgültig abberufen, Rechtfertigungsreden von Stoph und Mielke wurden von den Abgeordneten nur noch mit Gelächter quittiert. Das Politbüro, die eigentliche Führung der SED, trat am 8. November unter dem Druck der Massendemonstrationen ebenfalls geschlossen zurück. Sang- und klanglos kapitulierten die bis dato sturen Betonköpfe, die ganze Garde befand sich in Auflösung. Lediglich Egon Krenz wurde noch am gleichen Tag vom Zentralkomitee in seinem Amt als Generalsekretär bestätigt. Im neuen Politbüro befanden sich nur noch elf Mitglieder, neu unter ihnen der Dresdener SED-Politiker Hans Modrow, der schließlich wenige Tage später zum Nachfolger Stophs gewählt wurde. Dazwischen lag allerdings der Fall der Mauer! 09.11.89 Umwälzung in Osteuropa Innerhalb weniger Wochen überschlagen sich die Ereignisse im Osten Europas: Reihenweise werden die kommunistischen Führungen von demokratischen Massenbewegungen gestürzt. Ungarn und Polen waren mit inneren Reformen vorangegangen, dann brachen auch andernorts die Dämme: Die Berliner Mauer wurde gestürmt, Prag erlebte seine "samtene Revolution", Ceausescu wurde hingerichtet, Schiwkow entmachtet. Volksfest in den Straßen Berlins Der Massenandrang an den innerdeutschen Grenzen, ausgelöst durch Schabowskis Fernsehinterview, bringt in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 die Berliner Mauer zum Einsturz. Der Todesstreifen am Brandenburger Tor hatte seine Funktion vollends verloren: Menschen tanzten auf der Mauer und spazierten durch das seit 1961 unzugängliche Brandenburger Tor. Überall herrschte Volksfeststimmung: Sekt floß in Strömen, Feuerwerkskörper erleuchteten den Himmel, man sang: "So ein Tag, so wunderschön wie heute".... Das Freudenfest am 9. November 1989, das weltweit von Millionen verfolgt wurde, fand ebenso in den Grenzstädten statt. Überall kam es zu volksfestartigen Wiedersehensfeiern zwischen den Deutschen aus Ost und West. Erst in den frühen Morgenstunden des 10. Novembers gelang es den DDR-Grenzern durch Abriegelung des Brandenburger Tores, diese neue Art des Grenzverkehrs zu unterbinden. Die allermeisten kehrten noch in der späten Nacht von ihrem spontanen Westausflug zurück. Das folgende "erste Wochenende in Freiheit" sollte allerdings für noch größeres Chaos in der Berliner Innenstadt sorgen. Am 12. November wurden die ersten Löcher in die Mauer geschlagen und tags darauf setzte die neue Regierung Modrow den Schießbefehl endgültig außer Kraft. Die offizielle Öffnung des Brandenburger Tores wurde jedoch erst kurz vor Weihnachten vollzogen. Der Fall der Mauer Menschenmassen tanzen auf der Mauer: Freudentaumel in Ost und West nach der völlig unerwarteten Öffnung der Grenzübergänge in Berlin. Unbeabsichtigt und in Panik hatte die ehemalige DDR-Führung den Fall des "antifaschistischen Schutzwalles" ausgelöst. Völlig überforderte Grenzer gaben schließlich dem Ansturm der Massen nach, und das Volk feierte: Am Brandenburger 220 VON 300 Tor tanzten und sangen die Berliner auf der Mauer - trotz offiziell noch bestehenden Schießbefehls. Schabowski verliest beiläufig einen Beschluß... Als die Nacht des 9. November anbricht, ahnt noch niemand, zu welchem Feuerwerk sie sich entwickeln würde. Die letzte offizielle Handlung der vor zwei Tagen zurückgetretenen Regierung war der Beschluß eines eher lauen Reisegesetzes gewesen. Am 9. November um 18.57 Uhr teilte Günter Schabowski vom SED-Zentralkomitee auf einer live übertragenen Pressekonferenz im Anschluß an eine Sitzung beiläufig mit, daß eine neue Reiseregelung beschlossen worden sei. Auf Nachfragen suchte Schabowski einen Zettel hervor und verlas den Ministerratsbeschluß: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Voraussetzungen beantragt werden ... Die zuständigen Abteilungen Paß und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen ... Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu BerlinWest erfolgen." Die staatliche Nachrichtenagentur ADN verbreitete diese Meldung schon wenige Minuten später, doch schien anfangs kaum einer die Worte Schabowskis recht zu begreifen. Über eine Stunde lang passierte an den Grenzstationen nahezu gar nichts. Es kursierten zwar überall Gerüchte, doch den Menschen schien erst so allmählich zu dämmern, daß in dieser Nacht noch einiges passieren könnte... 17.11.89 Modrows Regierungserklärung Einschneidende Reformen in der Wirtschaft, der Verwaltung, dem politischen System und im Bildungswesen sollen nach dem Willen von Hans Modrow die künftige Regierungsarbeit kennzeichnen. Am dringlichsten sei es, "die Wirtschaft der DDR aus der Krise zu führen, ihr Stabilität zu verleihen und Wachstumsimpulse zu geben ... Nur ein ökonomisch starker Staat kann viel für die Bürger tun ... (und) ... ökologischen Fortschritt leisten." Es seien "Reformen des politischen Systems" erforderlich, "um Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit zu stärken". Ein Grundanliegen sei dagegen - so Modrow - "eine neue sozialistische Gesellschaft, in der die Bürger ihre Hoffnungen und ihre Selbstbestimmung verwirklichen können." In Bezug auf das Verhältnis zur BRD sprach Modrow von einer "Verantwortungsgemeinschaft", die über eine "kooperative Koexistenz" zu einer "Vertagsgemeinschaft" ausgebaut werden sollte, deren Kern weit über die bisherigen Regelungen hinausreichen würde. Aufkeimenden Spekulationen um eine Wiedervereinigung begegnete der neue Regierungschef allerdings mit einer klaren Absage: Sie stehe nicht auf der Tagesordnung. 28.11.89 221 VON 300 Wiedervereinigung in zehn Schritten Mit der Vorlage seines Zehn-Punkte-Plans zur deutschen Einheit überrascht der Kanzler den Bundestag, die Öffentlichkeit und das Ausland. Schon am Tag vor dem Fall der Mauer hatte Bundeskanzler Helmut Kohl in seinem "Bericht zur Lage der Nation" der DDR umfassende wirtschaftliche Hilfe zugesagt, wenn vorher eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse verbindlich festgelegt worden sei. Laut Zehn-Punkte-Plan sollten erste Maßnahmen nach einer Verfassungsänderung in der DDR in die Tat umgesetzt werden. Nach Abhaltung freier Wahlen sollte schließlich ein Staatenbund ("konföderative Strukturen") geschaffen werden, mit dem Ziel einer deutschen Föderation, d.h. einer bundesstaatlichen Ordnung. Als politisches Ziel verfolgte der Kanzler eindeutig "die Wiedererlangung der staatlichen Einheit Deutschlands", eingebettet in den "gesamteuropäischen Prozeß". Allerdings gab Kohl keinen konkreten Zeitplan vor. Sofortmaßnahmen sagte der Kanzler der DDR im humanitären Bereich zu. Um die neue Reisefreiheit der DDR-Bürger gewähren zu können, versprach Kohl die Beteiligung der Bundesregierung an einem Devisenfond. Im Prinzip stimmte die Opposition im deutschen Bundestag dem Plan zu, bemängelte aber den mutwilligen Alleingang des Kanzlers. Nach der skeptischen Reaktion der westlichen Verbündeten ging die SPD stärker auf Distanz. 03.12.89 Krenz und SED-Spitze treten zurück Egon Krenz hatte auch den Rückhalt der eigenen Parteimitglieder verloren: Anfang Dezember tritt er von der politischen Bühne ab. Mit ihm weicht die gesamte Führung der SED. Trotz Öffnung der Grenzen waren die Demonstrationen nicht abgeebbt. Man forderte das Recht auf Beteiligung an den Entscheidungen. Zahlreiche Enthüllungen über das luxuriöse Leben der ehemaligen Führung in Wandlitz und ihren weitverbreiteten Amtsmißbrauch hatte die Wut der Bevölkerung zum Überschäumen gebracht. Zwei Tage nach Streichung des Machtmonopols der SED aus der Verfassung trat das Zentralkomitee sowie das gesamte SED-Politbüro mit Krenz an der Spitze zurück. Am gleichen Tag wurde ein großer Teil der "alten Garde", darunter Erich Honecker, Alexander Schalck-Golodkowski, Erich Mielke, Willi Stoph und Horst Sindermann, wegen "schweren Verstößen gegen das Statut der SED" aus der Partei ausgeschlossen. Die Geschäfte der Partei leitete bis zum Sonderparteitag der SED in der folgenden Woche übergangsweise ein Arbeitsausschuß, dem Gregor Gysi, Wolfgang Bergdorfer und Markus Wolf angehörten. 07.12.89 Ein Forum aller politischen Kräfte Der "Runde Tisch" - in der Praxis ein eckiger Konferenztisch - sichert vom 7. Dezember an die Mitwirkung der Opposition an den Entscheidungen der Regierung. Man erhofft sich eine Reform des gesamten politischen Systems. Je zur Hälfte waren Delegierte der SED und Vertreter von Oppositionsgruppen wie dem "Neuen Forum" und "Demokratie jetzt" am Runden Tisch vertreten. Die Regierung wurde durch Gregor Gysi und Wolfgang Berghofer repräsentiert. Die Moderation wurde von Kirchenvertretern übernommen. Das Modell hatte der politische Wandel in Polen geliefert; dessen konstruktiver Verlauf hatte schon seit Monaten Rufe nach einer ähnlichen Institution für die DDR laut werden lassen. Zuletzt hatten sogar Führungsgremien der SED diese Forderung unterstützt. Die Ergebnisse der ersten Sitzungsperiode des Runden Tisches waren von weitreichender Bedeutung: Man verständigte sich darauf, baldmöglichst eine neue Verfassung auszuarbeiten und das Amt für Nationale Sicherheit mit sofortiger Wirkung aufzulösen. Insbesondere sollten freie Wahlen abgehalten werden, um eine demokratisch legitimierte Regierung zu bilden. Als Wahltermin wurde der 6. Mai 1990 ins Auge gefaßt. 222 VON 300 08.12.89 Der außerordentliche Parteitag im Dezember In den Tagen nach dem Rücktritt des Politbüros der SED unter dem erst sieben Wochen amtierenden Generalsekretär Krenz schreitet der Machtverfall der Partei rasant voran. Der Druck der Basis insbesondere nach den Enthüllungen eines Untersuchungsausschusses zum Ausmaß von Korruption und persönlicher Bereicherung von Spitzenfunktionären schien außergewöhnliche Gesten zu fordern. Man entschloß sich daher, den Beginn des außerordendlichen Parteitages schon auf den 8. Dezember vorzuziehen. Es sollte ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit vollzogen werden. Jeglicher Anschein von Stalinismus sollte vom Bild der Partei entfernt werden und jeder Bezug zu den Parteigrößen der Vergangenheit, gegen die inzwischen zumeist die Staatsanwaltschaft ermittelte, beseitigt werden. Man ging sogar so weit, sich bei der Bevölkerung dafür zu entschuldigen, daß die DDR unter der SED-Führung in diese "existenzgefährdende Krise" gestürzt worden sei. Politbüro und Zentralkomitee, die alten Schaltzentralen der Macht wurden abgeschafft und analog zu anderen Parteien durch den Vorstand ersetzt. Gregor Gysi, der neu gewählte Vorsitzende, sollte die Partei in eine neue Zukunft führen. Zu Gysis Stellvertretern wurden Ministerpräsident Hans Modrow und der Dresdener Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer bestimmt. Zum Abschluß des Parteitages am 17. Dezember wurde beschlossen, dem Parteinamen SED künftig das Kürzel PDS anzuhängen - Partei des Demokratischen Sozialismus. 16.12.89 Ceausescu-Regime gestürzt In der westrumänischen Stadt Temesvar bricht Mitte Dezember ein allgemeiner Aufstand aus, der binnen weniger Tage alle größeren Städte des Landes erfaßt. Er gipfelt im Sturz des nur auf den brutalen Terrormethoden seines Geheimdienstes gestützten CeausescuRegimes. Die Unzufriedenheit gegen das Ceausescu-Regime war wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Lage, der Lebensmittelknappheit und des beispiellosen Personenkults des KP-Chefs besonders groß. In Temesvar verhinderte eine aufgebrachte Menschenmenge die Verhaftung des regimekritischen Pastors Laszlo Tökes. Selbst als die Sicherheitskräfte begannen, wahllos auf die Demonstranten zu schießen, gingen die Menschen in immer größerer Zahl auf die Straße. Es entwickelten sich regelrechte Straßenschlachten, Teile der Truppen liefen zu den Aufständischen über. Die Entscheidung über das Ceausescu-Regimes fiel jedoch in Bukarest. Hohe Parteifunktionäre und Militärs kündigten Ceausescu angesichts des Volksaufstandes ihre Loyalität. Die Ausführung des Putsches in Bukarest übernahm die bereits im Herbst von unzufriedenen Führungsmitgliedern gegründete "Front der nationalen Rettung". Eine für den 22. Dezember 1989 einberufene Jubelkundgebung schlug um: als Ceausescu zur Menge sprechen wollte, ertönten gellende Buh-Rufe und Parolen wie "Nieder mit Ceausescu". Der Diktator flieht, wird verhaftet und unmittelbar darauf mit seiner Frau vor ein Militärtribunal gestellt und am 25. Dezember erschossen. Über das Fernsehen melden die Verschwörer seinen Sturz. Neuer provisorischer Präsident wurde Ion Iliescu, ein in Ungnade gefallener KP-Funktionär. 19.12.89 Dresden begrüßt den Kanzler In Dresden treffen Bundeskanzler Helmut Kohl und der neue Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Hans Modrow, zum ersten Mal persönlich aufeinander. Kohl nutzte seinen ersten Ost-Besuch zu einer kurzen Ansprache an Tausende von Demonstranten und erklärte dabei die Wiedervereinigung zu seinem politischen Ziel. Er tauchte in ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer und der Ruf: "Deutschland einig Vaterland" schallte ihm bei dieser Gelegenheit entgegen. 223 VON 300 Die Regierungsgespräche mit Modrow betrafen die zukünftige Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten. In den Gesprächen zwischen den beiden deutschen Regierungschefs wurden fünf Vereinbarungen abgeschlossen, so unter anderem die Öffnung des Brandenburger Tors für Fußgänger vom 22. Dezember 1989 an, der neue Umtauschkurs von 1:3, der Wegfall von Zwangsumtausch und Visumpflicht sowie die Freilassung politischer Gefangener noch vor Weihnachten. Kohl nutzte den Besuch anschließend für Gespräche mit oppositionellen Gruppen und Vertretern der Kirche. 20.12.89 Amerikanische Truppen besetzen Panama In Dezember 1989 beginnen etwa 24.000 US-Truppen mit der Besetzung Panamas, in deren Verlauf Diktator Noriega verhaftet und vor ein US-Gericht gestellt wird. An der Intervention waren 24.000 US-Soldaten beteiligt. Das panamaische Militär leistete keinen nennenswerten Widerstand. Teilweise zogen sich die Truppen zurück oder die Soldaten tauchten in der Zivilbevölkerung unter. Unmittelbarer Anlaß der US-Invasion war die Ermordung eines US-Offiziers in Panama-Stadt. US-Präsident George Bush stand unter großem innenpolitischen Druck. Wie sein Amtsvorgänger Ronald Reagan, übte er Druck auf Panama aus, um Noriega, der offensichtlich in Geschäfte mit der kolumbianischen Drogenmafia verwickelt war, zu stürzen. Bush hatte es aber versäumt, einen Putsch oppositioneller Militärs gegen Noriega im Oktober zu unterstützen. Am 15. Dezember hatte sich Noriega, der das Land seit 1983 de facto beherrschte, zum Staatspräsidenten ausrufen lassen und den Kriegszustand gegen die USA verhängt. Bush begründete die Intervention mit dem Schutz von 35.000 US-Bürgern in Panama und der Wiederherstellung der Demokratie. Während NATO-Verbündete Verständnis äußerten, wurde die USRegierung weltweit für die Verletzung der Souveränität Panamas verurteilt. Bei den mehrtägigen Feuergefechten, in deren Verlauf die US-Luftwaffe auch Wohnviertel von Panama-Stadt bombardierte, starben nach unabhängigen Schätzungen rund 6.000 Menschen. Noriega stellte sich am 3. Januar 1990 dem US-Militär und wurde 1992 wegen Drogenschmuggels zu 40 Jahren Haft durch ein US-Gericht verurteilt. 29.12.89 Vaclav Havel wird Staatspräsident der CSFR Im Jahr 1989 überschlagen sich die Ereignisse in der Tschechoslowakei. Binnen weniger Monate bricht das alte System vollständig zusammen, und das Land erhält eine neue, demokratische Staatsform. Vorläufiger Höhepunkt der Entwicklung ist die Wahl des ehemaligen Dissidenten Vaclav Havel zum Staatspräsidenten. Noch im Februar 1989 war der Literat Havel nach einer Demonstration zum 20. Jahrestag der Selbstverbrennung Jan Palachs verhaftet und wegen "Rowdytums" zu neun Monaten Haft verurteilt worden. Nach massiven Protesten kam er bereits im Mai wieder auf freien Fuß. Im Herbst verstärkte sich der Widerstand gegen die Regierung erneut. Als am 17. November eine Demonstration von 50.000 Menschen gewaltsam aufgelöst wurde, bewirkte dieses Vorgehen der Behörden das Gegenteil: Die Zahl der Demonstranten auf dem Wenzelsplatz wuchs weiter. Die Dissidenten der Bewegung Charta 77 bildeten am 19. November 1989 ein Bürgerforum, das den Protesten eine konkrete politische Richtung weisen sollte. Die Regierung sah sich zu Kompromissen genötigt. Am 24. November trat die KP-Führung zurück, auf einem Kongreß am 21. und 22. Dezember beschloß die Führung bereits die Umwandlung in eine sozialdemokratische Partei. Am 4. Dezember 1989 wurde die Grenze nach Österreich geöffnet. Sechs Tage später, erfolgte eine Regierungsneubildung: die KP erhielt nur noch acht der 21 Ministerien. Präsident Husák trat ebenfalls zurück. Das Bürgerforum nominierte Vaclav Havel für seine Nachfolge. Das Parlament tat den spektakulären Schritt und wählte den ehemaligen Dissidenten am 29. Dezember 1989 zum neuen Präsidenten der Tschechoslowakei. 08.01.90 224 VON 300 Montagsdemo fordert mehrheitlich die Einheit Hatten bislang politische Reformen und Freiheitsrechte im Zentrum der montäglichen Massendemonstrationen gestanden, so macht sich zum Jahreswechsel 1989/90 ein Stimmungswandel bemerkbar. Die Parole der friedlichen Revolution, "Wir sind das Volk", wurde übertönt von dem Ruf nach Wiedervereinigung. Die erste Leipziger Montagsdemonstration des neuen Jahres am 8. Januar setzte ein deutliches Signal: Mit schwarz-rot-goldenen Fahnen ohne DDREmblem, mit Sprechchören und Transparenten "Wir sind ein Volk" oder "Deutschland, einig Vaterland" und Parolen gegen die PDS und ihre neuen Repräsentanten Modrow und Gysi bildeten die Befürworter der deutschen Einheit die klare Mehrheit gegenüber den Reformgruppen, die für eine eigenständige und souveräne DDR eintraten und einen "dritten Weg" zu einem humanen Sozialismus propagierten. Diese wurden teilweise sogar niedergepfiffen und zogen sich zunehmend von den Montagsdemonstrationen zurück. Die gleiche Trendwende zur deutschen Einheit prägte auch die Massenkundgebungen in anderen Städten der DDR. 28.01.90 Opposition tritt in die Regierung ein Der Rücktritt dreier CDU-Minister aus dem Kabinett Modrow führt zu einer Regierungskrise in Ost-Berlin. Nach längeren Gesprächen am "Runden Tisch" kommt es schließlich zu einer Einigung. Ein wesentlicher Beschluß war, die Volkskammerwahlen auf den 18. März vorzuziehen und alle nicht in der Regierung vertretenen Parteien mit einem Ministerposten an der Regierung zu beteiligen. Der alten am Regierungsmannschaft hatten nur aus Minister aus den Reihen der PDS oder der Blockparteien angehört. Am 5. Februar wurden acht Minister aus den Reihe der Oppositionsparteien in die sogenannte "Regierung der nationalen Verantwortung" berufen und durch die Volkskammer bestätigt: Tatjana Böhm, Rainer Eppelmann, Sebastian Pflugbeil, Mathias Platzeck, Gerd Poppe, Walter Romberg, Klaus Schlüter und Wolfgang Ullmann. Die Minister entstammten den Oppositionsgruppen Neues Forum, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, SDP, Grüne Partei, Grüne Liga, Initiative Frieden und Menschenrechte und dem Unabhängigen Frauenverband. 11.02.90 Mandela aus der Haft entlassen Nelson Mandela, der Führer des ANC, kommt nach 27 Jahren Haft frei: der erste spektakuläre Schritt der neuen Regierung de Klerk zur Beendigung der Apartheidspolitik. Der seit drei Jahren wirksame internationale Wirtschaftsboykott traf die Ökonomie Südafrikas hart. Auch Teile der weißen Minderheit näherten sich der Armutsgrenze, viele Unternehmer forderten gesellschaftliche Reformen. Es herrschte Mangel an Facharbeitern, da das Bildungssystem die schwarze Bevölkerungsmehrheit weitgehend von der Ausbildung ausschloß. Der überwiegende Teil der schwarzen Kinder verfügte über gar keine oder nur rudimentäre Schulbildung. Mehrere zehntausend ANC-Anhänger versammelten sich in Kapstadt und jubelten Mandela nach seiner Freilassung zu. Zehntausende erwarteten ihn vor seinem Haus in Soweto. Mandela erklärte, daß der Kampf des ANC "einen entscheidenden Punkt" erreicht habe, und rief die Regierung auf, "im Namen von Frieden, Demokratie und Freiheit" ein neues Südafrika zu schaffen. Er bat gleichzeitig das Ausland, seine Politik zu unterstützen. De Klerk hatte bereits 1989 Gespräche mit Mandela aufgenommen. Am 2. Februar wurden bereits 33 verbotene Organisationen, darunter der ANC, wieder zugelassen. In fast allen Regierungsdistrikten hob de Klerk den Ausnahmezustand auf. 11.03.90 Juntas treten ab 225 VON 300 General Augusto Pinochet räumt den Präsidentenstuhl, während Christdemokrat Patricio Aylwin in freien Wahlen zu dessen Nachfolger gekürt wird. Chile kehrt damit nach mehr als 16 Jahren blutiger Militärdiktatur zur Demokratie zurück. Die Machtbasis der reaktionären Diktatoren Südamerikas war im Schwinden begriffen, als Washington seine schützende Hand abzog. Argentinien hatte nach dem verlorenen Falkland-Krieg den Anfang einer Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen gemacht. Diktator Pinochet tritt ab Mit der Vereidigung des Christdemokraten Patricio Aylwin (u.l.) als Präsident endet die mehr als 16-jährige blutige Militärdiktatur Chiles. Vorgänger General Augusto Pinochet scheidet damit aus dem Amt, bleibt allerdings Oberkommandierender des Heeres. Aylwin war im Dezember 1989 als Sieger aus den ersten freien Präsidentschaftswahlen seit 1970 hervorgegangen. Als Kandidat eines Bündnisses aus 17 Parteien konnte er sich mit 55,2 Prozent gegen Hernan Büchi, den Kandidaten der Militärs, durchsetzen. Bereits im Jahr 1988 hatte sich die Bevölkerung in einem Plebszit gegen die von Pinochet geplante Verlängerung seiner Amtszeit um acht Jahre ausgesprochen und für freie Wahlen votiert. Bevor die Generäle allerdings den von der Opposition geforderten freien Wahlen zustimmten, erließen sie eine Reihe von Gesetzen, die das Militär der parlamentarischen Kontrolle entzog. Die Pläne Aylwins, nach seinem Amtsantritt eine Menschenrechtskommission einzusetzen, um das Schicksal der unzähligen verschwundenen Oppositionellen zu klären, standen daher unter schwierigen Vorzeichen. Ein Signal für die Demokratisierung des Landes setzte die neue Regierung mit der feierlichen Beisetzung des 1973 bei dem Putsch ermordeten Präsidenten Salvador Allende im September 1990. 15.03.90 Gorbatschow wird Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow erhält ein neues Amt: Der Kongreß der Volksdeputierten wählt den bisherigen Staats- und Parteichef zum Präsidenten der UdSSR. Die Volksdeputierten hatten ihre Sitzung am 13. März begonnen. Die Entscheidung über beide auf der Tagesordnung stehenden Themen fiel bereits an diesem Tag. Zum einen stimmten die Abgeordneten mit überwältigender Mehrheit für eine Abschaffung der bisher verfassungsmäßig verankerten führenden Rolle der Vorherrschaft der KPdSU im Staat. Der neuformulierte Verfassungsartikel sah vor, daß sich neben der KP auch andere Parteien, die Gewerkschaften, Jugendverbände, verschiedene gesellschaftliche Organisationen und "Massenbewegungen" an der "Erarbeitung der Politik des sowjetischen Staates sowie an der Leitung der den Staat und die Gesellschaft betreffenden Angelegenheiten" beteiligen können. Zum anderen beschlossen die Volksdeputierten mit ebenfalls großer Mehrheit die Einrichtung eines Präsidentenamtes, dem zwei neue Organe zur Seite gestellt wurden: Ein "Föderationsrat", in dem alle Unionsrepubliken vertreten sein sollten sowie ein Präsidialrat, der die Grundrichtung der Innen- und Außenpolitik erarbeiten sollte. Ende Mai 1990 wurde Boris Jelzin zum Präsidenten Rußlands gewählt. Diese Position blieb seine Machtbasis über den Putschversuch vom August 1991 hinaus. 28.03.90 Sensationeller Wahlausgang 12,2 Millionen DDR-Bürger haben zum ersten Mal die Möglichkeit, in freier Wahl über die künftige Zusammensetzung ihrer Regierung zu bestimmen. Das Wahlergebnis überraschte: Die konservative "Allianz für Deutschland", ein Bündnis der Deutschen Sozialen Union (DSU), der DDR-CDU und des "Demokratischen Aufbruchs" (DA), erreichte 47,8 Prozent der Stimmen. Die zunächst favorisierte DDR-SPD mußte sich mit 21,8 Prozent zufrieden geben. Neuer Ministerpräsident wurde der CDU-Vorsitzende Lothar de Maizière. 226 VON 300 Die Vorverlegung der Wahl hatte die vielen neuen Parteien benachteiligt. Obwohl der "Runde Tisch" westdeutsche Unterstützung abgelehnt hatte, war der Wahlkampf doch zu großen Teilen durch bundesdeutsche Politiker und Parteien geprägt worden. Ohne westliche Unterstützung waren die PDS und das Bündnis 90 ins Rennen gegangen. Die PDS wurde mit 16,3 Prozent drittstärkste Partei, das "Bündnis 90" landete abgeschlagen bei 2,9 Prozent. Die Wahlen wurden als Zustimmung der DDR-Bürger zu einer schnellen Wiedervereinigung gewertet. Trotz Mehrheit strebte de Maizière eine Koalitionsregierung mit dem "Bund freier Demokraten" und den Sozialdemokraten an, um so eine wirklich breite Mehrheit zu haben. 21.03.90 Namibia wird unabhängig Nach 24 Jahren widerrechtlicher Besetzung erhält Namibia als letzte Kolonie auf dem afrikanischen Kontinent die Unabhängigkeit. Erster Staatspräsident wird Sam Nujoma, der Führer der Befreiungsbewegung SWAPO. Das Land war in den 1890er Jahren als Deutsch-Südwest Kolonie des Kaiserreichs geworden und während des Ersten Weltkrieges unter britische Herrschaft gelangt und im Versailler Vertrag Südafrika als Mandatsgebiet übertragen worden. 1966 hatte die UNO Südafrika vergeblich aufgefordert, Namibia die Unabhängigkeit zu gewähren. Staatspräsident Pieter Willem Botha hatte bereits Ende 1988 im Zusammenhang mit der Beendigung des südafrikanischen Engagements im angolanischen Bürgerkrieg den Truppenabzug angekündigt. Amtsnachfolger Frederick de Klerk zog nun seine Truppen ab, während UN-Generalsekretär Pérez de Cuéllar vereidigte in Windhuk Nujoma in einem feierlichen Akt. Nujoma versprach in seiner Antrittsrede alles zu unternehmen, um eine nationale Identität aller Bewohner zu formen. Neben der weißen Minderheit von 7,5 Prozent, zerfiel die schwarze Bevölkerung in zehn kulturell verschiedene Ethnien. Die neue republikanische Verfassung sah ein Mehrparteiensystem und eine klare Gewaltenteilung vor. Die SWAPO bildete die Regierungspartei, nachdem sie bei freien Wahlen im April 1989 für die verfassungsgebende Versammlung 57 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Namibia wurde 160. Vollmitglied der UNO. Für Spannungen sorgte vorerst noch der Status der Enklave Walvis Bay. De Klerk forderte das Gebiet für Südafrika und übergab es erst im Februar 1994 feierlich an Namibia. 05.05.90 "Zwei-plus-Vier-Gespräche" eröffnet Am 5. Mai 1990 beginnt in Bonn das erste von insgesamt drei sogenannten "Zwei-plus-VierGesprächen" zwischen den Außenministern der beiden deutschen Staaten, Hans-Dietrich Genscher und Markus Meckel, und ihren Kollegen der ehemaligen Besatzungsmächte. Die USA waren durch James Baker, die UdSSR durch Eduard Schewardnadse, Großbritannien durch Douglas Hurd und Frankreich durch Roland Dumas vertreten. Die Gesprächsrunde war im Februar verabredet worden.Im Zentrum der Gespräche standen die außenpolitischen Aspekte der deutschen Einheit. Nachdem man sich rasch auf die Tagesordnung geeinigt hatte, überraschte der sowjetische Minister mit dem Vorschlag die inneren Aspekte der Wiedervereinigung von deren völkerrechtlich-äusseren zu trennen. Ebenso sei die sofortige und unwiderrufliche Übernahme der DDR in die NATO für Moskau nicht tolerierbar. Er stelle sich eine Regelung der deutschen Frage im Rahmen einer gesamteuropäischen Friedensordnung im Rahmen der KSZE vor. Mit diesen Forderungen setze er sich in Gegensatz zum deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, der drei Tage später in einer Ansprache zum 45. Jahrestag des Kriegsendes auf die Untrennbarkeit der inneren und äußeren Fragen der deutschen Einheit hinwies. Im September dieses Jahres wurde beim letzten der Zwei-plus-vier Gespräche schließlich eine einvernehmliche Lösung gefunden. 227 VON 300 Zwei-plus-Vier-Gespräche Nach dem Fall der Mauer im November 1989 rückte die Verwirklichung der deutschen Einheit nach Jahrzehnten der Teilung wieder in greifbare Nähe. Zunächst galt es jedoch, eine Reihe von außenpolitischen Hindernissen zu überwinden, die sich aus den Rechten der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und den Einwendungen der Nachbarstaaten ergaben. Bei seinen Gesprächen am 10. Februar 1990 mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow in Moskau gelang es Bundeskanzler Helmut Kohl, dessen grundsätzliche Vorbehalte gegen die deutsche Einheit auszuräumen. Die Außenminister der beiden deutschen Staaten, Hans-Dietrich Genscher und Markus Meckel, vereinbarten sodann mit ihren Amtskollegen aus Großbritannien, Frankreich, der USA und den UdSSR am 14. Februar 1990 in Ottawa, in der Besetzung "Zweiplus-Vier" in Verhandlungen über die Zukunft Deutschlands einzutreten. Es fanden drei Gesprächsrunden statt: die erste am 5. Mai 1990 in Bonn, die zweite am 22. Juni 1990 in Berlin und die dritte am 17. Juli in Paris. Bei den Verhandlungen ging es um die Modalitäten der Ablösung der alliierten Rechte (etwa der Zuständigkeit für sämtliche Grenzfragen) und des Abzugs der sowjetischen Truppen. Einhellig betonten alle Seiten, daß an der Oder-Neiße-Grenze nicht gerüttelt werden dürfe. Umstritten war hingegen die Frage der Bündniszugehörigkeit. Die deutschen Staaten und ihre westlichen Bündnisstaaten bestanden darauf, daß ein geeintes Deutschland Mitglied der NATO sein müsse. Die UdSSR sperrte sich dagegen, da sie eine Ostverlagerung der NATO verhindern wollte. Erst ein erneutes persönliches Gespräch zwischen Kohl und Gorbatschow am 16. Juli 1990 räumte auch dieses Hindernis aus dem Weg. Am 12. September 1990 unterzeichneten die Außenminister der BRD, der DDR und der vier Siegermächte in Moskau den Deutschlandvertrag. Dieser "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" beendete die Rechte der Allierten und gab Deutschland die volle Souveränität zurück. Das geeinte Land sollte zudem in die westlichen Bündnissysteme integriert werden. 28.05.90 Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 18. Mai 1990 · Einleitung · Kapitel I Grundlagen · Kapitel II Bestimmungen über die Währungsunion · Kapitel III Bestimmungen über die Wirtschaftsunion · Kapitel IV Bestimmungen über die Sozialunion · Kapitel V Bestimmungen über den Staatshaushalt und die Finanzen · Kapitel VI Schlußbestimmungen · Gemeinsames Protokoll über Leitsätze 01.07.90 Begeisterung an den Ausgabeschaltern Der seit der Jahreswende angestrebte Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik tritt in Kraft. Trotz kritischer Stimmen war eine breite Mehrheit dafür eingetreten, die "Alu-Chips" so schnell wie möglich endlich durch "richtiges Geld" zu ersetzen. 228 VON 300 In den Tagen vor dem 1. Juli war es überall in der DDR zu langen Schlangen vor den Sparkassen und Banken gekommen. Man brauchte ein sogenanntes Umstellungskonto, um seine 4.000 Ostmark zum Kurs 1 zu 1 in D-Mark zu verwandeln. Die Deutsche Bank am Alexanderplatz öffnete schon um Mitternacht ihre Tore. Als es dann so weit war, stürmte die wartende Menge das Geldinstitut: Glastüren barsten, einige Menschen wurden ohnmächtig. Die in den letzten Wochen vermehrt aufgetretenen Versorgungsengpässe gehörten nun endgültig der Vergangenheit an, die Regale waren zum Bersten mit Westwaren gefüllt. Allerdings kam es entgegen den Erwartungen nicht zum großen "Run" auf die Geschäfte und Banken. Im Schnitt hob jeder DDR-Bürger an diesem Tag nur 260 Mark von seinem Konto ab. Offenbar war die Euphorie vom Dezember mittlerweile massiven Zukunftssorgen gewichen. 02.07.90 Konflikt im Kosovo und Wahlen in Serbien Machtkampf zwischen der serbischen Zentralregierung und der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo: Das Regionalparlament in Pristina erklärt seine Unabhängigkeit. Die serbische Regierung in Belgrad löst daraufhin die Volksvertretung auf und verstärkt die Repressionen in der Region. In Serbien fanden gegen Ende des Jahres, am 9. Dezember 1990, die ersten freien Wahlen statt. Über 44 Parteien bewarben sich um die 250 Mandate im Parlament, 32 Kandidaten stritten um die Präsidentschaft. Im eigentlichen Serbien lag die Wahlbeteiligung bei 80 Prozent; im Kosovo hingegen folgte die Mehrheit der Bevölkerung dem Boykottaufruf der albanischen Nationalisten. Das Wahlergebnis erbrachte keine Machtverschiebung. Die bisher alleinregierende KP sicherte sich im Parlament die absolute Mehrheit. Ihr Präsidentschaftskandidat Slobodan Milosevic (u.l.), der auch bisher dieses Amt bekleidet hatte, gewann die Wahl mit über 65 Prozent der Stimmen. Milosevic’ Politik war darauf gerichtet, die bisherige Struktur Jugoslawiens zu bewahren und Vormachtstellung der Serben zu sichern. Im Kosovo und der Vojwodina ging der serbische Präsident offen dazu über, diese Vormacht auch gegen den Widerstand der lokalen Bevölkerung auszubauen. Als nach einigen Monaten offenkundig wurde, daß sich Jugoslawien als Bundesstaat nicht länger halten ließ, konzentrierte er sich auf die militärische Errichtung eines großserbischen Staates. 08.07.90 Deutschland nach 16 Jahren wieder Weltmeister 16 Jahre nach ihrem letzten Titelgewinn wird im Olympiastadion zu Rom wieder eine deutsche Mannschaft Fußballweltmeister: Im Finale der XIV. Fußballweltmeisterschaft revanchieren sich die Deutschen mit einem 1:0-Erfolg gegen die Mannschaft aus Argentinien für die 2:3-Niederlage im Finale des vorhergehenden Weltturniers 1986 in Mexiko. In einem qualitativ eher mäßigen Match konzentrierten sich die Argentinier um ihren Starspieler Diego Maradona darauf, das Spiel der deutlich besseren deutschen Mannschaft zu stören. Daß die Entscheidung erst fünf Minuten vor Schluß und zudem durch einen – umstrittenen – Foul-Elfmeter von Andreas Brehme fiel, versinnbildlicht die im letzten Jahrzehnt begonnene Entwicklung vom kämpferischen "Arbeiter-Fußball" der 60er und 70er Jahre hin zu einem durch Technik bestimmten Strategiespiel durchtrainierter Sportmillionäre. Für die Bundesrepublik war es nach 1954 und 1974 der dritte Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft, und für Bundestrainer Franz Beckenbauer gleichzeitig das letzte Länderspiel: Er übergab das Amt an seinen ehemaligen Nationalmannschaftskollegen "Berti" Vogts, mit dem er 1974 als Mannschaftskapitän selbst Weltmeister geworden war, und wechselte als Manager zu seinem alten Verein FC Bayern München. Vogts erlebte seinen vorläufigen Karrierehöhepunkt mit dem Sieg in der Europameisterschaft 1996. 229 VON 300 22.07.90 Fünf Neue Länder Die Volkskammer verabschiedet das verfassungsändernde Ländereinführungsgesetz. Damit erhält die bislang zentralistisch verwaltete DDR eine föderative Struktur. An die Stelle der bisherigen 15 Bezirke treten die fünf Flächenländer Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die Namensgebung und die territoriale Gliederung der fünf "Neuen" Länder orientierte sich an den Verhältnissen aus der Gründungsphase der DDR. Bereits 1946 waren fünf Landtage und eine Länderkammer geschaffen worden, ehe sie durch das Demokratisierungsgesetz vom 23. Juli 1952 aufgelöst wurden. Mit dem 14. Oktober 1990, dem Tag der Landtagswahlen, wurden diese fünf Länder wiederhergestellt. Das Ländereinführungsgesetz übertrug den neugewählten Landtagen die Aufgaben von verfassunggebenden Landesversammlungen. Thüringen erklärte sich ebenso wie Sachsen zum Freistaat. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen ließen ihre Verfassungsentwürfe durch Volksabstimmung bestätigen. Im gesamtdeutschen Bundesrat sind die neuen Bundesländer, entsprechend ihrer Bevölkerungszahl, mit insgesamt 19 von 69 Stimmen vertreten. Auf MecklenburgVorpommern entfallen 3, auf alle übrigen jeweils 4 Stimmen. Ost-Berlin erhielt zunächst ebenfalls Landesbefugnisse, ehe es mit den Gesamtberliner Wahlen am 2. Dezember 1990 mit West-Berlin zum gemeinsamen Bundesland Berlin fusionierte. 02.08.90 Codename "Desert Storm" Überraschend hatten irakische Truppen in einer Blitzaktion das Nachbarland Kuwait überfallen und annektiert. Die Weltgemeinschaft antwortet mit dem Unternehmen "Wüstensturm". Die USA übernahmen die Führung einer Koalition aus 26 Staaten, die im ersten High-Tech-Krieg zuerst den Irak mit fortwährenden Luftschlägen mürbe schossen, um dann in wenigen Tagen das Scheichtum zu befreien. Der alliierte Vormarsch nach Bagdad wurde jedoch gestoppt. Irakische Truppen überfallen Kuwait Völlig überraschend marschieren irakische Truppen in das Nachbarland Kuwait ein. Die 20.000 Mann starke kuwaitische Armee kapituliert nach kurzem Widerstand vor der Übermacht von 130.000 Irakern. Rund 200 Menschen starben während der Invasion. Das kuwaitische Staatsoberhaupt, Emir Jabir al-Ahmed as-Sabbah gelang die Flucht aus Kuwait-Stadt nach Saudi-Arabien. Der irakische Staatspräsident Saddam Hussein legitimierte die Maßnahme als "Wiedereingliederung" Kuwaits in den Irak aufgrund alter Ansprüche. Der wirtschaftliche Hintergrund war der Reichtum des völlig schuldenfreien Kuwait, das zudem neben den großen Öleinnahmen über 120 Milliarden US-Dollar Auslandsinvestitionen verfügte . Der Irak dagegen war mit 86 Milliarden Dollar hoch verschuldet, davon allein bei Kuwait mit 20 Milliarden. Direkter Anlaß für die Invasion war der Vorwurf Husseins an Kuwait, Öl aus dem umstrittenen Gebiet Rumaila gestohlen zu haben. Verhandlungen über eine Entschädigung waren am 1. August gescheitert. 230 VON 300 Noch am Tag der Invasion trat der UN-Sicherheitsrat zu einer Krisensitzung zusammen. Mit 14 Stimmen nahm er auf Antrag der USA bei Enthaltung Jemens die Resolution 660 an, in der der Irak wegen Bruch des Weltfriedens verurteilt und aufgefordert wurde, sich unverzüglich zurückzuziehen. Auch in arabischen Staaten stieß die Invasion auf Protest. Nur in Jordanien und anfänglich in Ägypten fand Saddam Hussein Unterstützung. Golfkrieg: Desert Storm Der Irak machte seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahre 1932 Ansprüche auf das Emirat Kuwait geltend. Unter osmanischer Herrschaft hatte Kuwait zur irakischen Provinz Basra gehört und blieb bis 1961 als Protektorat unter britischem Einfluß. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit drohte der Irak mit Invasion, wurde jedoch durch massive britische Militärpräsenz abgehalten und erkannte 1963 die Souveränität Kuwaits an. Dennoch wurden die Ansprüche stets aufrechterhalten, da über die Frage der Grenzziehung nie Einigung erlangt werden konnte. Der irakische Einmarsch am 2. August 1990 hätte das Schicksal Kuwaits besiegelt, wenn seine Ölquellen nicht für die westlichen Industrienationen von großer Bedeutung gewesen wären. Der Irak war auf dem Weg, die neue Regionalmacht zu werden. Insbesondere im Ersten Golfkrieg hatten ihn die Sowjetunion und der Westen massiv aufgerüstet. Bei 15,4 Millionen Einwohnern war die 510.000 Mann starke Armee eine Bedrohung für die Nachbarstaaten. Zudem gab es im nördlichen, kurdisch bewohnten Gebiet Uranvorkommen, mittels derer, die notwendige Technologie vorausgesetzt, der Irak zur neuen Atommacht hätte werden können. Vor dem Hintergrund dieser Gefahr reagierte die Weltgemeinschaft schnell und hart. Die USA erwarb sich von der UNO das Mandat zur militärischen Intervention. 430.000 US-Soldaten und weitere 246.130 Soldaten aus 25 Nationen marschierten im Golfgebiet auf. Die Alliierten verfügten über 2.673 Panzer, 1.740 Flugzeuge und 149 Schiffe gegenüber 4.000 Panzern, 500 Flugzeugen und 15 Schiffen auf Seiten Iraks. An den Entscheidungen des Präsidenten maßgeblich beteiligt war neben Außenminister Baker und Verteidigungsminister Richard Cheney unter anderem auch Generalstabschef Colin Powell. Nachdem das Rückzugsultimatum des UN-Sicherheitsrates an den Irak am 15. Januar 1991 verstrichen war, begann zwei Tage darauf ein sechswöchiges intensives Bombardement des Irak und irakischer Stellungen in Kuwait. Der Westen nutzte das Schlachtfeld Irak, um neue Waffentechnologien zu erproben, darunter Tarnkappenbomber und Marschflugkörper. Bei der dreitägigen Bodenoffensive ab dem 24. Februar 1991 leisteten die Iraker nur unzusammenhängenden Widerstand. Binnen 100 Stunden wurde damit der Krieg entschieden. Am 28. Februar 1991 verfügte Präsident Bush die Einstellung der Kämpfe. Die irakischen Truppen waren aus Kuwait vertrieben, der Emir konnte aus seinem saudischen Exil nach Kuwait zurückkehren. Nicht verhindert werden konnte jedoch ein bis dahin nie dagewesener ökologischer Krieg: Der Irak leitete fast 500 Millionen Liter Öl in den Persischen Golf und setzte mehr als 700 kuwaitische Ölquellen in Brand. Auch der von manchen erhoffte Sturz Husseins wurde nicht erreicht. Der Waffenstillstand, in dem unter anderem die Zerstörung der biologischen, chemischen sowie nuklearen Waffen des Iraks und eine UN-Kontrolle der irakischen Rüstungsproduktion vereinbart wurden, trat am 12. April in Kraft. Die USA hatten nur 146 Tote zu beklagen, im Gegensatz zu zehntausenden irakischen Opfern. Der Erfolg dieser Militäraktion hat Bush politisch allerdings nichts genützt: Im Novem-ber 1992 wurde der Demokrat Bill Clinton zum neuen amerikanischen Präsidenten gewählt. 06.08.90 USA verlegen Truppen in die Golfregion 231 VON 300 Unmittelbar nach der irakische Besetzung Kuwaits schmiedet Präsident Bush eine Koalition aus 21 Nationen, die bereit sind, Truppen zu stellen, um Saddam Hussein wieder aus Kuwait zu vertreiben. Noch im August landeten amerikanische Militäreinheiten in der Krisenregion. Das streng muslimische Saudi-Arabien hatte anfangs seine Schwierigkeiten, den Schutz der "Ungläubigen" anzunehmen, fühlte sich jedoch alsbald selbst von Saddam Hussein bedroht und stellte seinen nördlichen Landesteil als Aufmarschgebiet zur Verfügung. Ende November 1990 hatte der UN-Sicherheitsrat dem Irak offiziell ein Ultimatum gestellt und Vergeltungsmaßnahmen angedroht, sollten die irakischen Truppen Kuwait nicht bis zum 15. Januar räumen. Kurz darauf verstärkte Präsident Bush die amerikanischen Truppen unter dem Oberbefehl des amerikanischen Generals Norman Schwarzkopf. Bis zum Jahreswechsel konnte die Allianz etwa eine halbe Million Soldaten aufbieten. Diplomatische Bemühungen, den Konflikt zu beenden, wie die Gespräche der Außenminister James Baker und Tarik Asis am 9. Januar in Genf, scheiterten jedoch Saddam wollte offenbar die Entscheidung. Der US-Kongreß billigte daraufhin am 12. Januar den Krieg gegen den Irak. 31.08.90 Einigungsvertrag Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990: Kapitel VI. Öffentliches Vermögen und Präambel Schulden Kapitel I. Wirkung des Beitritts Artikel 21 bis 29 Artikel 1 und 2 Kapitel VII. Arbeit, Soziales, Familie, Kapitel II. Grundgesetz Frauen, Gesundheitswesen und Artikel 3 bis 7 Umweltschutz Kapitel III. Rechtsangleichung Artikel 30 bis 34 Artikel 8 bis 10 Kapitel VIII. Kultur, Bildung und Kapitel IV. Völkerrechtliche Verträge und Wissenschaft, Sport Vereinbarungen Artikel 35 bis 39 Artikel 11 und 12 Kapitel IX. Übergangs- und Kapitel V. Öffentliche Verwaltung und Schlußbestimmungen Rechtspflege Artikel 40 bis 45 Artikel 13 bis 20 02.10.90 Zusammenstoß von drei Passagierflugzeugen Mit einer Katastrophe endet der Versuch einer Flugzeugentführung in China: Am 2. Oktober 1990 versuchte ein Passagier, eine Boeing 737 auf dem Flug von Xiamen nach Kanton zu entführen und nach Taiwan zu dirigieren. Infolge Treibstoffmangels wurde jedoch der Anflug des Flughafens von Kanton unumgänglich. Dabei kam es zu Kampfhandlungen zwischen dem Entführer und dem Kapitän der Maschine. Der Pilot brachte das Passagierflugzeug nicht mehr rechtzeitig zum Stehen, so daß sie gegen eine gerade abgestellte Boeing 707 und eine startbereite Boeing 757 prallte. Dabei überschlug sich die Maschine vollständig, schlitterte auf dem Rücken bis zum Stillstand weiter und geriet anschließend in Brand. Durch den Zusammenprall wurden nicht nur der Flugzeugentführer, sondern auch weitere 84 Insassen der Boeing 737 sowie 47 Insassen der Boeing 757 getötet. Seit den 60er Jahren wurde bedingt durch das gewachsene Passagieraufkommen auch ein Anstieg der Flugzeugunglücke festgestellt. Vor dem Hintergrund des wachsenden internationalen Terrorismus setzte sich diese Tendenz während der 70er und 80er Jahre trotz ständiger Bemühungen um die Erhöhung der Flugsicherheit weiter fort. Die Explosion von Lockerbie 1988 war der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. 232 VON 300 03.10.90 Wiedervereinigung Zwischen Reichstag und Alexanderplatz feiern Hunderttausende Menschen den ersten Tag der wiedererlangten Einheit. Mit dem Mitternachtsgong hörte die DDR auf zu existieren, mehr als 40 Jahre Teilung waren vorüber. Mit einem pompösen Staatsakt feierte man den "Tag der Deutschen Einheit". Die Begeisterung, die noch ein Jahr zuvor den Fall der Mauer begleitet hatte, war allerdings in den letzten Monaten zunehmend der Angst um die Zukunft gewichen. Um Mitternacht die Nationalhymne Um 24 Uhr des 2. Oktober hört die DDR auf zu existieren. 0 Uhr, 3. Oktober: Geburtsstunde der neuen Bundesrepublik, die um die fünf Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen erweitert ist. Die 40 Jahre währende Trennung der beiden deutschen Staaten war vorbei. Mit festlichen Zeremonien und Freudenfesten feierten die Deutschen den "Tag der Deutschen Einheit", der zum Nationalfeiertag erklärt wurde. An der zentralen Festveranstaltung vor dem Reichstag in Berlin nahmen neben Spitzenpolitikern wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Bundeskanzler Helmut Kohl, Außenminister Hans-Dietrich Genscher und dem letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière auch Hunderttausende von Bürgern teil; allerdings war nicht mehr jene Begeisterung zu spüren, die nach der Öffnung der Grenzen ein Jahr zuvor die Menschen in beiden Landesteilen beherrschte. Bei dem Staatsakt in der Berliner Philharmonie bekräftigte Weizsäcker (u.l.): "In freier Selbstbestimmung vollenden wir die Einheit und Freiheit Deutschlands. Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen ... Unsere Einheit ist Teil eines gesamteuropäischen geschichtlichen Prozesses, der die Freiheit der Völker und eine neue Friedensordnung unseres Kontinents zum Ziel hat." 12.11.90 Akihito zum Kaiser gekrönt Mit einer prunkvolle Zeremonie findet in Tokio die Inthronisierung von Japans neuem Kaiser Akihito statt. Nach dem Tode des seit 1928 regierenden Kaisers Hirohito (u.l.) im Januar 1989 war der japanische Kaiserthron verwaist. Die Krönung seines Sohnes und Nachfolgers Akihito konnte erst nach Beendigung der 22 Monate währenden Trauerzeit erfolgen. An den Feierlichkeiten nahmen Gäste aus 158 Staaten teil, unter ihnen viele Staatsoberhäupter und Monarchen aus Europa. In seiner Thronrede betonte Akihito seine Treue gegenüber der seit 1946 geltenden Verfassung. Zum Abschluß des offiziellen Teils wiederholte Premierminister Toshiki Kaifu dreimal den traditionellen Glückwunsch "Der Kaiser lebe zehntausend Jahre!" Anschließend fuhr das Kaiserpaar im offenen Wagen durch Tokio um die Glückwünsche der Bürger entgegenzunehmen. In der Nacht vom 22. auf den 23. November unterzog sich Akihito dem shintoistischen Opfergaben-Ritual, das den religiösen Höhepunkt der Feierlichkeiten bildete. Die Prozedur, deren genauer Ablauf geheimgehalten wird, dauerte insgesamt 6 Stunden. In der Öffentlichkeit wurde vor allem die Übernahme der Kosten für die religiöse Zeremonie durch den Staat kritisiert: Viele sahen darin eine Verletzung der in der Verfassung festgelegten 233 VON 300 Trennung von Kirche und Staat. Die gesamte Zeremonie stand im Zeichen strenger Sicherheit, da Anschläge angekündigt waren. 19.11.90 Ende des Kalten Krieges Die Staats- und Regierungschefs Europas, der USA und Kanadas erklären ein Jahr nach dem epochalen Umbruch im Osten mit der "Charta von Paris" den Kalten Krieg hochoffiziell für beendet. Wenig später löste sich der Warschauer Pakt auf, während die NATO um Anpassung an die neue Situation rang. Die "Partnerschaft für den Frieden" erscheint den meisten Ländern Osteuropas nicht ausreichend. Sie drängen - sehr zum Mißfallen Rußlands - auf eine Vollmitgliedschaft in der NATO. Die Charta von Paris 34 Staats- und Regierungschefs treffen sich in der französischen Hauptstadt Paris, um nach den dramatischen politischen Entwicklungen in Osteuropa den Grundstein für ein neues Europa zu legen. Auf der Grundlage der Beschlüsse der letzten KSZE-Folgekonferenz von 1989 wurde nach dreitägigen Gesprächen die künftige, gemeinsame Politik festgelegt. Die Unterschrift unter den bereits in Wien ausgehandelten "Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa" (VKSE) schrieb erstmalig europaweit detaillierte Abrüstungsschritte fest. Die "Charta für ein neues Europa" steckte den ideologischen Rahmen für das künftige Miteinander der Länder ab, indem sie die Ära des Kalten Krieges endgültig für beendet erklärte. Der Prozeß der deutschen Einheit fand in dem Dokument besondere Erwähnung. Für die Bundesrepublik hatte Kanzler Helmut Kohl fünf feierliche Zusagen gegeben, um die Skepsis einiger Partnerländer hinsichtlich einer deutschen Vormachtstellung in Europa zu beschwichtigen. Die osteuropäischen Politiker wiesen auf die Gefahr einer neuen Teilung Europas hin. Vor dem Hintergrund der sozialen Notlage vieler osteuropäischer Staaten warnte der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki (l.) die reichen Länder des Westens vor einer Unterschätzung der Gefahren des Wiederauflebens alter Konflikte in Osteuropa. Die Unterzeichner verständigten sich außerdem auf jährlich stattfindende Außenministertreffen, sowie die Einrichtung eines ständigen Sekretariats in Prag und eines Zentrums zur Konfliktprävention in Wien. 22.11.90 Die "Eiserne Lady" tritt ab Die britische Premierministerin Magaret Thatcher gibt nach elfjähriger Amtszeit ihren Rücktritt bekannt. Sie zieht damit die Konsequenzen aus innenpolitischen Streitigkeiten, die zuletzt auch ihre eigene Partei erfaßt hatten. Vor allem seit den gewalttätigen Krawallen wegen der Ankündigung der sogenannten "PollTax" im März, die größten Unruhen seit Kriegsende, war die Kritik auch in den Reihen der konservativen Abgeordneten lauter geworden. Die Poll-Tax, eine zusätzliche Kopfsteuer hätte jeden volljährigen Briten – unabhängig von der Höhe seines Einkommens – jährlich etwa 1.000 Mark zusätzliche Steuern gekostet. Auch wegen ihrer Europapolitik wurde zunehmend Kritik auch aus der eigenen Partei laut. Schon am 1. November war deswegen der Vizepremier, Geoffrey Howe, zurückgetreten. Auf einem Parteitag der Tories kandidierte schließlich Michael Heseltine als Vertreter des liberalen Flügels gegen die "Eiserne Lady". Bei der Abstimmung am 20. November erreichte er zwar nur 152 Stimmen gegenüber 204 für Thatcher, die Premierministerin hatte jedoch den notwendigen Vorsprung von 15 Prozent aller Stimmen nicht erreicht. Zwei Tage später kündigte sie ihren Rücktritt an. 234 VON 300 Bei der Wahl ihres Nachfolgers setzte sich der 47jährige John Major mit 185 Stimmen gegen Michel Heseltine (137) und Douglas Hurd (56) durch. Er wurde der jüngste britische Premierminister dieses Jahrhunderts und kündigte innenpolitische Reformen an. Auch europapolitisch brach er mit der zurückhaltenen Linie seiner Vorgängerin, die in dieser Hinsicht deutlich mehr Rücksicht auf die Befindlichkeiten ihrer britischen Landsleute genommen hatte. 02.12.90 Erstes gesamtdeutsches Parlament gewählt Erstmals seit 58 Jahren bestimmen die Deutschen wieder über ein frei gewähltes gesamtdeutsches Parlament. Dabei geht die Bonner Regierungskoalition von Bundeskanzler Kohl als eindeutiger Sieger hervor. CDU/CSU erzielten 43,8 Prozent der Stimmen (im Osten 41,8), die FDP 11,0 Prozent. Die SPD mit Oskar Lafontaine an der Spitze mußte eine deutliche Niederlage einstecken und verbuchte mit 33,5 Prozent (im Osten nur 24,3) ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1957. Die westdeutschen Grünen flogen mit 3,9 Prozent aus dem Bundestag, was auf ihre skeptische Haltung zur deutschen Einheit zurückgeführt wurde. Dagegen zogen wegen der in beiden Teilen getrennt geltenden Fünf-Prozent-Klausel die Listenverbindung Grüne/ Bündnis 90 mit acht Mandaten in den Bundestag ein. Die PDS errang 17 Mandate und ein Direktmandat für Gregor Gysi. Zum Schwerpunktthema im Wahlkampf war die Finanzierung der Einheit geworden. Die Skepsis der SPD gegenüber den Beteuerungen des Kanzlers, die Einheit werde sich ohne Steuererhöhungen finanzieren lassen, wurde von den Wählern nicht geteilt und führte zu dem schlechten Wahlergebnis. Am 18. Januar 1991 wurde die auf 19 Ministerposten erweiterte Bundesregierung vereidigt. Helmut Kohl war einen Tag zuvor vom neuen Parlament als Kanzler bestätigt worden und begann nunmehr seine dritte Amtszeit. 01.01.91 UNO richtet Flüchtlingshilfswerk ein Das UNHCR wurde 1950 von der UN-Vollversammlung ins Leben gerufen und nahm mit dem Jahresbeginn 1951 seine Arbeit auf. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen leistet Rechtsschutz und humanitäre Hilfe für Flüchtlinge in aller Welt. Die Hauptaufgabe des UNHCR mit Hauptsitz in Genf war es zunächst, etwa den 1,2 Millionen europäischen Flüchtlingen, die nach dem 2. Weltkrieg heimatlos geworden waren Unterstützung zu gewähren. Das UN-Flüchtlingshilfswerk erhielt dafür ursprünglich nur ein auf drei Jahre befristetes Mandat. Doch hat die weltweite Zunahme der Flüchlingsströme eine Weiterführung der Arbeit nahegelegt. Heute sind mehr als 26 Millionen Menschen aus über 140 Ländern in der UNHCR-Statistik erfaßt. Hauptproblemfälle sind Afghanistan, Liberia und das ehemalige Jugoslawien. UNHCR ist zu einer der größten humanitären Organisationen der Welt geworden und unterhält Büros in über 123 Ländern. Die meisten der mehr als 5.000 Mitarbeiter arbeiten direkt vor Ort, oftmals in entlegenen Gegenden unter sehr schwierigen Bedingungen. Das UNHCR wurde zweimal für seine Arbeit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Derzeitige Hochkommissarin für Flüchtlinge ist seit dem 1. Januar 1991 die japanische Politikwissenschaftlerin und ehemalige Diplomatin Sadako Ogata. 11.01.91 Sowjets besetzen strategische Punkte in Litauen Das erst während des Zweiten Weltkrieges der Sowjetunion einverleibte Baltikum will seine Unabhängigkeit zurück. Nach längerem Zögern greift Moskau zu militärischen Mitteln. Nachdem die baltische Republik Litauen am 11. März 1990 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt hatte, hatte die Union zunächst mit einer Wirtschaftsblockade gegen den Baltenstaat reagiert. Als sich abzeichnete, daß Litauen trotz des Boykotts nicht mehr in den Schoß der Sowjetunion heimkehren würde, besetzten am 11. Januar 1991 sowjetische 235 VON 300 Fallschirmspringer strategische Positionen in Wilna, der litauischen Hauptstadt, und anderen großen Städten. Zwei Tage später besetzten die Truppen auch das Fernsehzentrum der litauischen Hauptstadt. Dabei kamen 15 Menschen ums Leben, über 160 wurden verletzt. Die Militäraktionen wurden nicht nur im westlichen Ausland, sondern auch in der UdSSR scharf kritisiert. Es folgte eine Staatskrise, als Präsident Gorbatschow bekannt gab, die Militäraktionen nicht angeordnet zu haben. Bald wurde klar, daß Gorbatschow längst nicht mehr alle Fäden der Macht in der Hand hielt. Es schien nur noch eine Zeitfrage, bis es zum Staatsstreich kommen würde, der dann möglicherweise das definitive Ende der Sowjetunion bedeuten könnte. 17.01.91 Alliierte bombardieren Bagdad Mit der Bombardierung der irakischen Hauptstadt Bagdad sowie strategischer Ziele, wie Waffenfabriken und Raketenstellungen, beginnt am frühen Morgen des 17. Januar die "Operation Wüstensturm" und damit der zweite Golfkrieg. Die Allianz gegen den Irak bildeten 26 Staaten, darunter Saudi-Arabien, Ägypten, Großbritannien und Frankreich. Israel griff trotz Beschuß durch Raketen nicht direkt in den Krieg ein. Mehr als eine 500.000 alliierte Soldaten waren im Einsatz, der Großteil von ihnen Amerikaner. Das Kommando führte US-General Schwarzkopf (u.l.). Innenpolitisch war es für Bush wichtig, daß die Aktion möglichst schnell und mit geringen amerikanischen Opfern erfolgte. Der Irak sollte kein zweites Vietnam werden. Eine weitere Konsequenz aus Vietnam war, die Öffentlichkeit nicht mit schockierenden Bildern zu konfrontieren. Das US-Verteidigungsministerium verhängte eine strenge Zensur über die gesamte Kriegsberichterstattung. Journalisten durften nur unter Aufsicht und ausschließlich über ausgewählte Ereignisse berichten. Die Aufnahmen von der Zerstörung militärischer Einrichtungen des Irak vermittelten den Eindruck eines sauberen Krieges, der die Zivilbevölkerung verschont. Der Einsatz einer Vielzahl der modernsten Waffensysteme machte den Krieg zu einem gigantischen High-Tech-Spektakel. Der Tod tausender irakischer Zivilisten und die weitgehende Zerstörung der irakischen Infrastruktur wurden erst später bekannt. Am 24. Februar begann die Bodenoffensive der Alliierten, die schließlich den Krieg entschied. 26.01.91 Somalischer Diktator gestürzt Nach drei Jahren Bürgerkrieg stürzt der somalische Diktator Siad Barre. Die Allianz der Widerstandsbewegungen zerbricht daraufhin und die Spirale der Gewalt tritt in eine neue Phase. Barre gelang mit einem Panzer die Flucht aus der Hauptstadt Mogadischu, bevor die Truppen des "Vereinigten Somalischen Kongresses" (USC) die Stadt einnahmen. Die brutale Diktatur Barres, der 1969 durch einen Militärputsch an die Macht gekommen war, wurde damit beendet. Am folgenden Tag wurde Ali Mahdi Mohammed zum Interimspräsidenten ausgerufen. Dies traf jedoch bei den anderen großen Bewegungen, "Patriotische Bewegung Somalias" (SPM) und "Somalische Nationalbewegung" (SNM), auf heftigen Widerstand. Auch USCGeneral Mohammed Farah Aidid lehnte Ali Mahdi ab. Der Konflikt zwischen den Widerstandsbewegungen basierte auf dem Mißtrauen zwischen den einzelnen Clans Somalias. Alle drei Gruppen rekrutierten sich aus verschiedenen Clans, doch gab es nach dem Verlust des gemeinsamen Feindes Siad Barre auch innerhalb der Clans schwerwiegende Differenzen. Im Mai 1991 rief die SNM unter Abd ur-Rahman Ahmed Ali im Norden die unabhängige "Republik Somaliland" aus. Gleichzeitig zerfiel der USC in mehrere Fraktionen. Die Regierung Ali Mahdis verlor zunehmend ihre Basis. Der Bürgerkrieg wurde zwischen den rivalisierenden Clans fortgesetzt. 236 VON 300 09.02.91 Choleraepidemie in Südamerika Die peruanische Regierung unter Präsident Fujimori in Lima sieht sich dazu gezwungen, den nationalen Notstand auszurufen, als nach mehr als 100 Jahren die Cholera nach Südamerika zurückkehrt. Neben Peru sind auch Ecuador, Chile, Kolumbien und Brasilien von der Epidemie betroffen. Die Seuche breitete sich sogar in den Süden der USA aus. Insgesamt wurden bei der Epidemie 200.000 Menschen infiziert, es kam zu fast 2.000 Todesfällen. Cholera wird durch Bakterien übertragen, die, durch den Stuhl wieder ausgeschieden, weiterverbreitet wird. Sie beginnt in der Regel mit schweren Durchfällen und Erbrechen und führt sehr bald zu Auszehrung durch starken Flüssigkeitsverlust. Kreislauf- und Nierenversagen sind die Folge. Es war überraschend, daß Peru 100 Jahre lang von der Cholera verschont worden war: Die Krankheit, die insbesondere durch verseuchtes Trinkwasser und magelhafte hygienische Bedingungen verbreitet wird, findet wegen der mangelhaften Wasser- und Abwasserversorgung in Peru ideale Verbreitungsmöglichkeiten. Cholera scheint eine Seuche der Slums und des Massenelends zu sein. Mitteleuropa war zuletzt in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts von der Cholera heimgesucht worden. 28.02.91 Kuwait wird befreit Nach sechs Wochen endet der Krieg um Kuwait mit einem vollständigen Sieg der Alliierten. Um 9 Uhr morgens, genau 100 Stunden nach Beginn des Bodenkriegs, beenden sie die Offensive. Am 24. Februar war die alliierte Streitmacht in sechs Keilen vorgestoßen, wobei die Hauptmasse von Saudi-Arabien aus in den Südirak einmarschierte und erst dann in Richtung Kuwait abschwenkte. Nördlich Kuwaits kam es zur größten Panzerschlacht seit dem Zweiten Weltkrieg, mit mehr als insgesamt 500 Panzern auf beiden Seiten. Mit gezielten Falschinformationen war es dem alliierten Kommandeur, US-General Norman Schwarzkopf, gelungen, den Irak über die wahren Aufmarschpläne zu täuschen. Der irakische Diktator Saddam Hussein hatte die saudi-arabische Grenze mit dem Irak weitestgehend vernachlässigt, um den Süden Kuwaits zu sichern. Bereits einen Tag nach dem Vormarsch zog sich ein Großteil der irakischen Armee in ungeordneter Flucht zurück. Nach dem sechswöchigen schweren Bombardement hatten die Iraker keine Motivation mehr. Die US-Luftwaffe hatte 110.000 Einsätze geflogen. Der Krieg kostete rund 100.000 irakischen Soldaten und 10.000 irakischen Zivilisten das Leben. Auf alliierter Seite waren es 343 tote Soldaten. Bei ihrem Rückzug richteten die Iraker ein ökologisches Desaster an: 727 Ölbohrlöcher wurden in Brand gesteckt und 500 Millionen Liter Öl in den Persischen Golf geleitet. Durch das brennende Öl wurde die Luft in Kuwait-Stadt in hohem Maße vergiftet. 13.03.91 Honecker nach Moskau ausgeflogen Eine sowjetische Militärmaschine fliegt am 13. März 1991 den früheren Staats- und Parteichef der DDR, Erich Honecker, zusammen mit seiner Frau Margot nach Moskau, wo er in ein Militärkrankenhaus eingeliefert wird. Wegen "akuter gesundheitlicher Komplikationen" weilte Honecker bereits seit April 1990 im sowjetischen Militärhospital Beelitz in der Nähe von Potsdam. Das Amtsgericht Berlin Tiergarten hatte zwar schon am 30. November 1990 wegen des Schießbefehls an der Mauer Haftbefehl gegen Honecker erlassen, der Politiker blieb aber wegen der ungeklärten Rechtslage und seines schlechten Gesundheitszustandes weiter auf freiem Fuß. Nach der Ausreise Honeckers nach Moskau ließ die Bundesregierung erklären, dieser Schritt verstoße gegen das Völkerrecht und den deutsch-sowjetischen Vertrag über den Truppenabzug. Ihr Protest begann jedoch erst nach der Niederschlagung des Putsches gegen Gorbatschow vom 19. August 1991 einen gewissen Erfolg zu zeitigen. Um der 237 VON 300 drohenden Ausweisung zu entgehen, suchte Honecker am 11. Dezember 1991 Zuflucht in der chilenischen Botschaft in Moskau. Das diplomatische Hin und Her um sein weiteres Schicksal dauerte Monate. Am 29. Juli 1992 verließ Honecker schließlich auf Druck der Regierungen Rußlands und Chiles die Botschaft und kehrte in die Bundesrepublik zurück. Bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Tegel wurde er verhaftet und in die Haftanstalt Moabit überstellt. 16.04.91 USA garantieren Schutzzonen für Kurden Präsident Bush verkündet, daß das US-Militär im Norden des Irak eine Schutzzone für Kurden einrichten werde. Nördlich des 36. Breitengrades würden fortan die USA die Sicherheit der Kurden vor Angriffen der irakischen Regierungstruppen garantieren. Nach der Niederlage Saddam Husseins im Zweiten Golfkrieg versuchten kurdische und schiitische Milizionäre den Diktator zu stürzen. Nach anfänglichen Erfolgen wurden sie zurückgeschlagen. Die Kurden flohen in Richtung der türkischen und iranischen Grenze, wurden jedoch weiterhin durch die irakische Luftwaffe bombardiert. Dabei kamen auch Giftgasbomben zum Einsatz. Die humanitäre Lage der Flüchtlinge verschlechterte sich katastrophal, als die türkische Regierung Yildirim Akbulut die Grenze zum Irak schließen ließ. Rund zwei Millionen Kurden befanden sich im türkisch-irakischen Grenzgebiet ohne ausreichende Versorgung. Wegen der ständigen Angriffe der irakischen Armee konnte keine wirksame Hilfsoperation gestartet werden. International wurde die Politik Bushs schwer kritisiert, als er sich wochenlang gegen ein Eingreifen der USA sperrte. Man warf ihm vor, für die Befreiung Kuwaits eine ungeheure Streitmacht aufgeboten zu haben, den Massakern an den Kurden jedoch tatenlos zuzusehen. Bush wollte in die Kurdenproblematik nicht eingreifen, um die USA nicht in einen Bürgerkrieg hineinzuziehen. Fünf Tage später wurde die Sicherheitszone eingerichtet. Der Irak respektierte weitestgehend die Einschränkung seiner Souveränitätsrechte und beließ es bei verbalen Attacken gegen den "US-Imperialismus". 12.06.91 Jelzin zum Präsidenten gewählt Erstmals dürfen die Russen in freien und allgemeinen Wahlen ihren Präsidenten selbst bestimmen. 45,55 Millionen russische Wähler sind zum Urnengang aufgerufen, aus dem Boris Jelzin als eindeutiger Sieger hervorgeht. Die Wahlbeteiligung liegt bei 74 Prozent. Das amtliche Endergebnis wurde erst am 19. Juni 1991 bekanntgegeben. Bereits im ersten Wahlgang hatte er mit 57 Prozent eine deutliche absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können. Damit hatte Jelzin weitaus besser abgeschnitten, als die Meinungsumfragen nahegelegt hatten. Der Erfolg Jelzins war in den Städten am größten: In Moskau und Leningrad hatte er rund 65 Prozent der Stimmen erhalten. Für den Hauptgegner Jelzins, Nikolaj Ryschkow, hatten sich nur knapp 17 Prozent der Wähler entschieden. Dies war eine empfindliche Schlappe für die noch staatstragende KPdSU, die Ryschkow gegen Jelzin, der aus der kommunistischen Partei ausgetreten war, unterstützt hatte. Für Überraschung sorgte das gute Abschneiden des als Außenseiter angetretenen Vorsitzenden der Liberaldemokraten, Wladimir Schirinowskij. Der extremistische Demagoge hatte knapp 8 Prozent der Stimmen gewinnen können und war damit auf Platz drei gelandet. 25.06.91 Jugoslawien zerfällt Sarajevo seit 1992 belagert, ein gebrochener Waffenstillstand nach dem anderen, Mißachtung der Schutzzonen, UN-Personal als Geiseln der Serben - die NATO greift militärisch in Bosnien ein. Das Maß war voll: Im August eröffnete die NATO eine zweiwöchige Luftoffensive gegen serbische Stellungen, als sich Berichte über grausame Massaker bei Srebrenica verdichteten. Als die Waffen schwiegen, wurden die Kontrahenten an einen Tisch 238 VON 300 gezwungen: Das Ergebnis war der brüchige Vertrag von Dayton. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ging weiter. In Jugoslawien herrscht Bürgerkrieg Mit überwältigender Mehrheit beschließen die Parlamente Sloweniens und Kroatiens die Souveränität und Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Teilrepubliken. Die jugoslawische Zentrale in Belgrad ist nicht bereit, dies hinnehmen. Beide Parlamentsbeschlüsse gründeten sich auf Volksbefragungen, bei denen sich jeweils rund 90 Prozent für die Selbständigkeit ausgesprochen hatten. Der Ministerpräsident Jugoslawiens, Ante Markovic, erklärte die Unabhängigkeitsdeklarationen am 25. Juni 1991 für ungültig und befahl der jugoslawischen Bundesarmee, gegen diese Bestrebungen vorzugehen: die Truppen griffen die slowenische Hauptstadt Ljubljana mit Flugzeugen und Panzern an. Es kam zu erbitterten Kämpfen. Die Bundesarmee besetzte alle Grenzübergänge. Die EG vermittelte daraufhin am 1. Juli 1991 einen Schlichtungsplan zwischen den Konfliktparteien. Das "Abkommen von Brioni" sah eine Deeskalation in drei Schritten vor: Der Kroate Stipe Mesic sollte turnusgemäß Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Truppen werden. Die Truppen der jugoslawischen Bundesarmee verpflichteten sich im Gegenzug, sich in ihre Kasernen zurückzuziehen. Die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens sollte für drei Monate suspendiert werden. Trotz anfänglicher Erfolge hielt der Friede nicht lange. Schon bald brachen die Kämpfe erneut aus. Trotz aller Vermittlungsversuche und ungeachtet aller weiterer Waffenstillstände befand sich Jugoslawien mitten in einem Bürgerkrieg. EG erkennt Kroatien und Slowenien an Die Europäische Gemeinschaft erkennt formell die ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien völkerrechtlich an. Auf diese Weise, so hofft die Staatengemeinschaft, ließen sich die im Juni 1991 ausgebrochenen Kämpfe zwischen den serbischen Truppen und der kroatischen Armee beenden. Ein Anfang Januar von der UNO vermittelter Waffenstillstand war bereits mehrfach gebrochen worden, die Friedensbemühungen von EG und UN gingen jedoch selbst nach dem Abschuß eines EG-Hubschraubers am 7. Januar weiter. Einzelne europäische Staaten hatten die beiden Republiken bereits im Vorfeld anerkannt, die Bundesrepublik auf Betreiben Hans-Dietrich Genschers schon am 23. Dezember 1991. Trotz des Waffenstillstands und der Entsendung von UN-Blauhelmen (UNPROFOR) gingen die Feindseligkeiten weiter. Erst im Verlauf der nächsten Wochen flauten die Kämpfe ab. Die serbischen Aggressoren nahmen allmählich Abstand von einer weiteren Provokation der Staatengemeinschaften und richteten ihr Augenmerk mehr und mehr auf das benachbarte Bosnien-Herzegowina. Der Konflikt in Kroatien hatte bereits bis Juni 1991 annähernd 4.000 Menschenleben gekostet, etwa 20.000 weitere waren verletzt worden. 01.07.91 Auflösung des Warschauer Pakts Die sechs Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts unterzeichnen im März 1991 in Moskau ein Protokoll zur Auflösung der militärischen Strukturen des Bündnisses. Am 26. Juni 1991 stimmt der Oberste Sowjet in Moskau der Auflösung zu. Am 1. Juli 1991 kamen die Mitgliedsstaaten in Prag erneut zusammen und einigten sich darauf, die Wirksamkeit des Warschauer Vertrages insgesamt zu beenden. Damit lösten sie auch die politischen Strukturen des Bündnisses auf. 239 VON 300 Die Auflösung des Warschauer Pakts im Jahre 1991 lag in der Konsequenz der von Michael Gorbatschow begonnenen Reform der sowjetischen Innen- und Außenpolitik. Seine Absage an die Breschnew-Doktrin bereitete der Demokratisierung in den Staaten des Ostblocks den Weg. Als die kommunistische Herrschaft in den ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten zusammengebrochen war, suchten sich diese möglichst schnell aus der sowjetischen Umklammerung zu lösen. Das Verschwinden des einen der beiden großen Militärbündnisse veränderte das strategische Gleichgewicht in Europa zugunsten der NATO, ließ aber gleichzeitig ein gefährliches Vakuum entstehen. Die NATO begann nach dem Wegfall der direkten militärischen Konfrontation in Europa über eine neue Strategie der Kooperation mit den ehemaligen Ostblockstaaten nachzudenken. Warschauer Pakt Der Warschauer Pakt war das militärisch-politische Bündnissystem der UdSSR in Europa. Er wurde am 14. Mai 1955 in Warschau mit dem Abschluß eines Vertrages über "Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand" aus der Taufe gehoben. Die Unterzeichnerstaaten waren die UdSSR, Polen, die Tschechoslowakei, die DDR, Rumänien, Ungarn, Bulgarien und Albanien. Den letzten Anstoß für die Gründung des Warschauer Paktes hatte der Abschluß der Pariser Verträge vom 23. November 1954 und der NATO-Beitritt der Bundesrepublik gegeben. Auf westlicher Seite war damit die Blockbildung vollendet, die durch den Ausbruch des Kalten Krieges in Gang gekommen war. Der dem Warschauer Pakt zugrundeliegende Vertrag ging von der Gleichberechtigung der Mitgliedsstaaten und dem Prinzip der Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten aus. Der Beitritt zu einem anderen Bündnissystem war generell ausgeschlossen. Falls der Vertrag nach Ablauf seiner zwanzigjährigen Geltungsdauer nicht gekündigt wurde, sollte er automatisch um je 10 Jahre verlängert werden. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich zu politischen Konsultationen im Falle internationaler Krisen, zum militärischen Beistand für ein angegriffenes Partnerland. Ein gemeinsames Oberkommando und ein Beratender Politischer Ausschuß sollten gebildet werden. Das Oberkommando nahm seinen Sitz in Moskau und unterstand dem sowjetischen Verteidigungsministerium. Die im Vertrag vorgesehenen politischen Konsultationsmechanismen gewannen keinen Einfluß, der Beratende Politische Ausschuß tagte nur in unregelmäßigen Abständen. Wichtiger für die eigentliche militärische Kooperation waren die bilateralen Abkommen, welche die UdSSR in den Jahren 1944 bis 1947 mit den Staaten des Ostblocks geschlossen und in den 1960er erneuert hatte. In der Ära Breschnew, als sich deutliche Anzeichen der Differenzierung des sozialistischen Lagers zeigten, entwickelte sich der Warschauer Pakt zu einem wirksamen Instrument der Disziplinierung der Mitglieder. Die UdSSR legte die Bündniszugehörigkeit zunehmend als Einschränkung der Souveränität der Mitglieder aus (z.B. Einmarsch in die Tschechoslowakei zur Beendigung des Prager Frühling). Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Osteuropa verlor der Warschauer Pakt seine Existenzberechtigung. Die sechs noch verbliebenen Mitgliedstaaten kamen am 31. März 1991 überein, zunächst die militärischen Strukturen abzuschaffen und am 1. Juli 1991 auch die noch übriggebliebenen politischen Strukturen aufzulösen. Die sowjetische Politik benutzte den Warschauer Pakt als eine weitere zwischenstaatliche Klammer, die neben dem RGW (Comecon) und der Kominform die Staaten des Ostblocks miteinander verknüpfen und die Vormachtstellung der Sowjetunion sichern sollte. 240 VON 300 31.07.91 START-Vertrag unterzeichnet Die Einigung zur Beschränkung der Interkontinentalraketen ist perfekt: George Bush und Michail Gorbatschow setzen ihre Unterschriften unter den START-Vertrag. Mit der Vertragsunterzeichnung in Moskau verpflichteten sich beide Länder erstmalig zur Verringerung ihres Waffenpotentials. Betroffen waren land- und seegestützte Langstreckenwaffen mit einer Reichweite von mehr als 5.500 km. Das 700 Seiten starke Vertragswerk enthielt allerdings keinen Zwang zur Verschrottung, sondern sah lediglich die Reduzierung stationierter Waffensysteme vor. Übereinstimmend bewerteten Bush und Gorbatschow den Vertragsabschluß als wichtigen Schritt zum Abbau des Kriegsrisikos und des in Jahrzehnten gewachsenen Mißtrauens. Vor dem Hintergrund des gescheiterten Putsches in Moskau und dem Ende des Warschauer Pakts zeichneten sich neue Risiken und Chancen ab, auf die die USA mit neuen Abrüstungsangeboten reagierte. Im Etat der US-Regierung stand ein Posten in Höhe von 1,2 Mrd. Dollar für den Abbau der GUS-Atomwaffen und den Umbau ehemaliger sowjetischer Rüstungsbetriebe in zivile Einrichtungen bereit. Schon kurz nach dem Putschversuch in Moskau kündigte Bush im September 1991 weitere Maßnahmen an. Die Abrüstungsschritte führten schon bald zu neuen Verhandlungen, die START II-Gespräche wurden aufgenommen. 08.08.91 Flüchtlingsdrama in Italien Das bisher hermetisch abgeriegelte Albanien macht plötzlich Schlagzeilen, als süditalienische Hafenstädte zum Schauplatz eines gewaltigen Flüchtlingsdramas werden. Zehntausende von Albanern hatten auf hoffnungslos überfüllten Schiffen die Adria überquert und waren in Bari und anderen Küstenstädten gelandet. Die verzweifelten Menschen wurden von den völlig überforderten Sicherheitsbehörden in einem Fußballstadion untergebracht. Internationale Hilfsorganisationen übernahmen ihre Verpflegung. Immer wieder kam es zu Gewaltausbrüchen zwischen Albanern und italienischer Polizei, da die Flüchtlinge versuchten, die Stahltore des Stadions mit Eisenstangen aufzubrechen, um aus der überfüllten Arena zu entkommen. In Albanien hatte 1985 mit dem Tod Enver Hodschas (l.) eine vorsichtige Öffnung nach Westen eingesetzt. Die Hoffnungen der Albaner auf eine spürbare Verbesserung ihrer Lebenssituation erfüllten sich jedoch nicht. Als nach den Wahlen im März erneut die KP als stärkste Kraft im Parlament hervorging, entschlossen sich viele der Verzweifelten angesichts von Arbeitslosigkeit, Energiekrise und Lebensmittelknappheit zur Flucht. Für die Überfahrt auf völlig überalteten und seeuntüchtigen Schiffen mußten viele von ihnen ihre letzten Ersparnisse opfern. Immer wieder gab es Meldungen über Todesfälle während der strapaziösen Überfahrt. 19.08.91 Putsch im Kreml Ein Putschversuch bringt die UdSSR an den Rand des Bürgerkrieges. Einen Tag vor der geplanten Unterzeichnung des Unionsvertrages durch Rußland, Kasachstan und Usbekistan übernimmt ein "Komitee für den Ausnahmezustand" die Regierungsgeschäfte und erklärt, wegen des schlechten Gesundheitszustandes von Präsident Gorbatschow seien alle Vollmachten an Gennadij Janajew übergegangen. Tatsächlich war Gorbatschow am Nachmittag des 18. August 1991 in seinem Feriendomizil auf der Krim unter Hausarrest gestellt worden, nachdem er sich der Forderung der Putschisten verweigert hatte, den Ausnahmezustand zu erklären. Bei den Putschisten handelte es sich um orthodoxe Kommunisten in der Führungsspitze, etwa Innenminister Boris Pugo, Verteidigungsminister Dimitrij Jasow und KGB-Chef Wladimir Kriutschkow. Sie 241 VON 300 veröffentlichten einen Aufruf an das Volk, worin sie ihr Tun als den einzigen Weg aus der "tödlichen Gefahr" rechtfertigten, in welche die Reformpolitik Gorbatschows die UdSSR gebracht habe. Sie zeichneten ein trübes Bild von der allgemeinen Lage: Extremistische Kräfte mißbrauchten die neue Freiheit und arbeiteten auf den Zerfall des Staates hin. Wirtschaftliches Chaos, Kriminalität und Sittenzerfall griffen um sich. Die Putschisten ließen im Zentrum Moskaus Hunderte von Panzern auffahren. Alle Massenmedien wurden unter Zensur gestellt und ein Ausgangsverbot verhängt. In der Moskauer Bevölkerung regte sich jedoch sofort Widerstand. Die Menschen gingen auf die Straßen und begannen Barrikaden zu errichten. Der russische Präsident Boris Jelzin stieg vor dem russischen Parlament auf einen Schützenpanzer und erklärte, bei der Ablösung Gorbatschows handle es sich um einen reaktionären Staatsstreich. Er stellte alle Staatsorgane in Rußland unter seinen eigenen Befehl und annullierte die Dekrete der Putschisten. 21.08.91 Moskauer Putsch gescheitert In der Nacht zum 21. August 1991 entscheidet sich das Schicksal der Putschisten in Moskau. Bereits am Tag zuvor hatte sich gezeigt, daß sie weder im Inland noch im Ausland mit Unterstützung rechnen konnten. Alle führenden westlichen Politiker forderten die Rückkehr Gorbatschows an die Macht sowie die Wiedereinsetzung der gewählten Staatsorgane. In der UdSSR selbst verweigerten immer mehr Truppenteile den Putschisten ihre Unterstützung. Am Abend des 20. August 1991 spitzte sich die Lage in Moskau zu. Panzerkolonnen versuchten zum "Weißen Haus", dem russischen Parlamentsgebäude, vorzustoßen. Die Bevölkerung mißachtete jedoch die vom Stadtkommandanten verhängte Ausgangssperre und stellte sich den anrollenden Panzern entgegen. Es kam zu dramatischen Szenen. Drei Demonstranten starben, mehrere Fahrzeuge brannten aus. Dann gab der Chef des KGB den Befehl zum Rückzug. Da andere Eliteeinheiten sich ebenfalls weigerten, gegen die Demonstranten vorzugehen, gab das Notstandskomitee am 21. August 1991 auf und verließ Moskau fluchtartig. Der Putsch war damit endgültig gescheitert. Das Präsidium des sowjetischen Parlaments hob alle Erlasse der Putschisten umgehend auf und setzte Gorbatschow wieder in das Präsidentenamt ein. Der Putsch bewirkte genau das Gegenteil von dem, was er bezwecken sollte. Der Zerfall der UdSSR beschleunigte sich, und in Rußland ging die Fraktion der radikalen Reformer um Boris Jelzin aus den Ereignissen gestärkt hervor. 30.10.91 Nahostfriedenskonferenz tagt in Madrid Unter der Schirmherrschaft der Staatsoberhäupter der USA, der UdSSR und des Gastgeberlandes Spanien treffen in Madrid erstmalig alle am Nahostkonflikt beteiligten Parteien zu Gesprächen über eine Lösung des seit mehr als 40 Jahren andauernden Konfliktes zusammen. Die Gespräche wurden nach fünf Tagen mit der Zusage beendet, den Prozeß fortzusetzen. Angesichts der Fülle der Probleme wurde dies bereits als Erfolg gewertet. George Bush und Michail Gorbatschow hatten ihre Verbündeten in der Region zu Verhandlungen über die Beilegung des mörderischen Konfliktes gedrängt. Besonders die Außenminister des Libanons, Syriens und Jordaniens und der israelische Ministerpräsident Yitzhak Schamir begegneten sich mit gegenseitigem Mißtrauen und Skepsis. Israel hatte massive Vorbehalte gegen die Teilnahme der Palästinenser geäußert, die schließlich als Teilnehmer der jordanischen Delegation auftraten. Der Fortgang der Gespräche verlief zunächst schleppend. Eine unverhoffte Beschleunigung brachte dann aber der Regierungswechsel in Israel im Sommer 1992. Der neue, Ministerpräsident Yitzhak Rabin und sein Außenminister Shimon Perez suchten das direkte Gespräch mit PLO-Chef Yassir Arafat und erreichten binnen Jahresfrist die 242 VON 300 Unterzeichnung eines Autonomieabkommens für die Palästinenser in den besetzten Gebieten. 14.11.91 Stasiunterlagengesetz verabschiedet Der Bundestag einigt sich auf die Verabschiedung des sogenannten Stasiunterlagengesetzes. Mit Beginn des Jahres 1992 kann nun jeder Deutsche die ihn betreffenden Unterlagen, Akten und Aufzeichnungen des "Amtes für Staatssicherheit" bei der von Joachim Gauck geleiteten Behörde einsehen. Der Besitz von Originaldokumenten und das Zitieren daraus wurde zwar ausdrücklich verboten, doch war nun der Weg zur Öffnung der Stasi-Akten frei. Die Öffnung dieser Archive brachte für die betroffenen Bürger erst das wirkliche Ausmaß der Bespitzelung durch die Stasi und deren inoffizielle Mitarbeiter, den IMs, zu Tage. Viele DDR-Bürger mußten nun im Nachhinein erkennen, daß sie auch in vertraulichen Gesprächen mit Ärzten, Nachbarn, Freunden oder gar im Familienkreis unter der Beobachtung der IMs gestanden hatten und niemand wirklich sicher gewesen war. Für viele brach beim Lesen ihrer Akten eine Welt zusammen. Umgekehrt brachte die Suche nach den Tätern, den IMs, aber auch unwahre oder nur auf vagen Verdachtsmomenten basierende Beschuldigungen mit sich. 09.12.91 EG-Gipfeltreffen in Maastricht Vom 9. bis zum 11. Dezember 1991 tagen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft im niederländischen Maastricht. Ihr Ziel ist die Gründung einer Europäischen Union. Nach dem dreitägigen Verhandlungsmarathon präsentieren die Teilnehmer ein 230 Seiten starkes Vertragswerk, das die bisher umfangreichste Reform der EG auf den Weg bringen soll. Neben der für 1999 vorgesehenen Schaffung eines einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraumes sollte durch den Vertrag von Maastricht auch ein erster Schritt in Richtung auf eine politische Union der Staaten getan werden. Der Vertrag enthielt in Grundzügen die Richtlinien einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Wie schon in den Römischen Verträgen, die 1957 die Gründung der EWG festgeschrieben hatten, formulierten die Verfasser des Maastrichter Vertrages als Ziel "eine immer engere Union unter den Völkern Europas". Die ursprünglich vorgesehene Gründung eines föderativen Staates nach dem Vorbild der USA scheiterte ebenso am Einspruch der Briten wie die französische Forderung nach weiterreichenden Reformen. Der Vertrag von Maastricht wurde am 7. Februar 1992 feierlich unterzeichnet, zum 1. November 1993 trat die Europäische Union in Kraft. 21.12.91 Die Sowjetunion löst sich auf In den letzten Monaten des Jahres 1991 tritt der Auflösungsprozeß der UdSSR in seine letzte Phase. Er gipfelt in der Gründung der "Gemeinschaft unabhängiger Staaten" (GUS). Der Kongreß der Volksdeputierten hatte am 5. September mit überwältigender Mehrheit für die Umwandlung der stark zentralistisch geprägten UdSSR in einen föderalistischen "Bund unabhängiger Republiken" gestimmt. Hierfür sollten neue Staatsorgane geschaffen werden: Ein Oberster Sowjet als parlamentarisches Organ, ein Rat der Republiken und ein gemeinsamer Staatsrat. Am 8. Dezember 1991 beschlossen Rußland, die Ukraine und Weißrußland die Gründung der GUS und riefen die übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken zum Beitritt auf. Bis zum 13. Dezember 1991 folgten die fünf zentralasiatischen Republiken Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan dem Aufruf. Damit umfaßte die zukünftige GUS bereits 98 Prozent des Territoriums der UdSSR. Wenige Tage später, am 12. Dezember 1991, kündigte das russische Parlament den Vertrag über die Gründung der UdSSR aus dem Jahre 1922 und billigte gleichzeitig die Vereinbarung der drei Republiken. Am 21. 243 VON 300 Dezember 1991 schlossen sich dann 11 der ehemals 15 Sowjetrepubliken (zu den drei slawischen und den fünf innerasiatischen Republiken stießen noch Armenien, Kasachstan und Moldawien) in Alma Ata in Kasachstan formell zur GUS zusammen. Sie enthoben gleichzeitig Präsident Michail Gorbatschow seiner Ämter, der seinerseits am 25. Dezember 1991 seinen Rücktritt erklärte. Mit dem Ende des Jahres 1991 hörte die UdSSR auf zu existieren. Bereits am 31. Dezember erkannten erste westliche Staaten die GUS an. 01.01.92 UdSSR existiert nicht mehr Für drei Tage hält die Welt den Atem an: Reaktionäre Kräfte haben sich in Moskau zusammengefunden, um gegen Präsident Gorbatschow zu putschen. Nach bürgerkriegsartigen Tumulten brach der Staatsstreich in sich zusammen und leitete die letzte Phase des Auflösungsprozesses der UdSSR ein. Mit der Gründung der "Gemeinschaft unabhängiger Staaten" (GUS) verschwand die Sowjetunion von der Landkarte. 03.01.92 Der Krieg erfaßt Bosnien-Herzegowina Aufgrund der Ergebnisse eines Referendums erklärt die Regierung Izetbegovic die staatliche Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas, die von den EG-Staaten am 7. April 1992 anerkannt wird. Am Tag darauf eskaliert die Lage. Binnen weniger Tage befindet sich Bosnien im offenen Bürgerkrieg. Die jugoslawische Bundesarmee griff auf Seiten der bosnischen Serben ein, die unter der Führung des Psychiaters Radovan Karadzic eine eigene serbische Republik ausgerufen hatten. Der Krieg wurde mit noch brutalerer Härte geführt als der Krieg um Kroatien. Zigtausende Menschen starben in den Kämpfen oder wurden vor allem in den ersten Kriegswochen in einem regelrechten Völkermord hingeschlachtet. Hunderttausende wurden im Zuge dieser sogenannten "ethnischen Säuberungen" aus ihren Dörfern vertrieben. Massenhafte Vergewaltigungen dienten der Terrorisierung der hilflosen Zivilbevölkerung. EG und UNO bemühten sich sofort Waffenstillstände zu schließen, die gleich darauf wieder gebrochen wurden. Seit Mitte Mai intensivierte sich der Beschuß der bosnischen Hauptstadt Sarajevo durch serbische Stellungen auf den umliegenden Hügeln. Die Lage der rund 300.000 Menschen in der belagerten Stadt verschlechterte sich ständig. De facto kontrollierten die Serben seit Mitte 1992 rund 70 Prozent des Territoriums. 11.01.92 Innenpolitische Unruhen in Algerien Die algerische Militärspitze setzt eine Annullierung der laufenden Parlamentswahlen durch. Staatspräsident Chadli Bendjedid erklärt daraufhin seinen Rücktritt, die Heilsfront geht in den Untergrund. Beim ersten Wahlgang am 26. Dezember 1991 hatte die "Islamische Heilsfront" (FIS) mit 47,5% der Stimmen 188 der 231 Mandate aufgrund des Mehrheitswahlrechts errungen. Beim zweiten Wahlgang am 16. Januar 1992, bei dem die restlichen 199 Mandate vergeben werden sollten, wurde ein ähnliches Ergebnis erwartet. Das Militär befürchtete, durch die Islamisten unter der Führung des Scheichs Abassi Madani und des Imams Ali Belhadj seinen Einfluß auf den Staat zu verlieren. Die seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1962 im bis 1991 bestehenden Einparteiensystem allein regierende "Nationale Befreiungsfront" (FLN) war bei diesen ersten freien Wahlen mit 15 Mandaten nur dritte politische Kraft geworden. Die fundamentalistische FIS, die die Errichtung eines modernen islamischen Staates propagierte, hatte sehr von der Wirtschaftskrise in Algerien profitiert. Die Arbeitslosigkeit lag bei etwa 30 Prozent. Nach der 1988 eingeführten Wirtschaftsliberalisierung hatte die Teuerungsrate zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt. Das Militär richtete einen "Hohen Sicherheitsrat" unter Vorsitz des Ex-Freiheitskämpfers Mohammed Boudiaf (u.l.) ein. Im Februar wurde wegen anhaltender Unruhen der 244 VON 300 Ausnahmezustand verhängt und im März die FIS wegen Subversivität verboten. Nach FISAngaben kamen allein im Februar 150 Menschen bei den Auseinandersetzungen ums Leben und 30.000 FIS-Anhänger wurden verhaftet. 15.01.92 EG erkennt Kroatien und Slowenien an Die Europäische Gemeinschaft erkennt formell die ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien völkerrechtlich an. Auf diese Weise, so hofft die Staatengemeinschaft, ließen sich die im Juni 1991 ausgebrochenen Kämpfe zwischen den serbischen Truppen und der kroatischen Armee beenden. Ein Anfang Januar von der UNO vermittelter Waffenstillstand war bereits mehrfach gebrochen worden, die Friedensbemühungen von EG und UN gingen jedoch selbst nach dem Abschuß eines EG-Hubschraubers am 7. Januar weiter. Einzelne europäische Staaten hatten die beiden Republiken bereits im Vorfeld anerkannt, die Bundesrepublik auf Betreiben Hans-Dietrich Genschers schon am 23. Dezember 1991. Trotz des Waffenstillstands und der Entsendung von UN-Blauhelmen (UNPROFOR) gingen die Feindseligkeiten weiter. Erst im Verlauf der nächsten Wochen flauten die Kämpfe ab. Die serbischen Aggressoren nahmen allmählich Abstand von einer weiteren Provokation der Staatengemeinschaften und richteten ihr Augenmerk mehr und mehr auf das benachbarte Bosnien-Herzegowina. Der Konflikt in Kroatien hatte bereits bis Juni 1991 annähernd 4.000 Menschenleben gekostet, etwa 20.000 weitere waren verletzt worden. 07.02.92 Vertrag von Maastricht Die Einheit Europas nimmt Gestalt an. In Maastricht legen sich die Staaten der Europäischen Gemeinschaft auf den Ausbau der EG zu einer politischen Union fest. Kern des Vertrags von Maastricht ist die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Von 1999 an soll in fast allen Mitgliedstaaten eine einheitliche Währung gelten: der EURO (€). Und nach dem Beitritt Schwedens, Österreichs und Finnlands steht die Erweiterung der EU um die Staaten des ehemaligen Ostblocks auf der Tagesordnung. Vertragstext ??? 12.02.92 Kinder ermorden Kleinkind Europaweites Entsetzen nach dem Mord am zweijährigen Terry Bulger in Liverpool: er war von zwei etwa 10jährigen Jungen auf offener Straße mitgenommen worden. Die beiden Entführer treiben das Kleinkind, das nach Zeugenaussagen ständig weint, quer durch Liverpool, quälen und töten es schließlich. Die Überwachungskameras des Einkaufszentrum, aus dem der kleine Junge verschwand, hatten die Entführung aufgezeichnet. Anhand der Videos konnten die Täter schnell geschnappt werden. Die Motive für die Entführung und den Mord blieben im Dunkeln. Offenbar hatten die Kinder daheim Horrorvideos gesehen und wollten die Szenen im wirklichen Leben nachvollziehen. Sie wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. In Großbritannien können Straftäter bereits von einem Alter von zehn Jahren an zur Rechenschaft gezogen werden. Die Täter werden wenigstens 15 Jahre in Erziehungsanstalten und Gefängnissen verbringen. 27.02.91 Deutsch-tschechischer Nachbarschaftsvertrag Schwierige Aussöhnung mit dem östlichen Nachbarn: Nach langen und von beiden Seiten heftig geführten Debatten unterzeichnen der tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel (u.l.) und Bundeskanzler Kohl am 27. Februar 1992 in Prag den deutschtschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag. 245 VON 300 Die Parlamente beider Staaten ratifizierten das Abkommen im April 1992. Es sollte den Weg für eine enge politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit eröffnen. Unter anderem verurteilte die Tschechoslowakei die Vertreibung der Sudetendeutschen und sicherte der deutschen Minderheit weitgehende Rechte zu. Ausgeklammert blieb jedoch die Frage der Wiedergutmachung, und zwar für beide Seiten, für die vertriebenen Sudetendeutschen und die ehemaligen tschechischen Zwangsarbeiter. Dieses Problem sollte auch nach der Auflösung der Tschechoslowakei das Verhältnis zwischen der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland belasten. Dennoch machte sich Anfang der 90er Jahre im deutsch-tschechoslowakischen Verhältnis eine deutliche Entspannung bemerkbar. Präsident Vaclav Havel setzte ein Zeichen und bedauerte als erster tschechoslowakischer Politiker die Vertreibung der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 17.03.92 Referendum bestätigt Reformkurs Eine überraschend große Mehrheit der Weißen in Südafrika bestätigte den Reformkurs des Staatspräsidenten de Klerk. 68,73 Prozent der weißen Bevölkerung stimmen in einem Referendum für die 1990 eingeleitete Politik zur Abschaffung der Apartheid. Frederick de Klerk erklärte nach der Stimmenauszählung: "Das Buch der Apartheid ist endgültig geschlossen." Bereits am 6. Februar hatte ein Konvent aus 19 Parteien (CODESA) mit der Ausarbeitung von Vorschlägen für eine Interimsregierung mit schwarzer Beteiligung und einer verfassungsgebenden Versammlung begonnen. Dennoch stellte der ANC im Sommer desselben Jahres die Gespräche mit der Regierung ein, nachdem sechs Tage zuvor in Boipatong die Inkatha-Bewegung unter Mangosutu Buthelezi 48 Xhosas ermordet hatte, ohne daß die Polizei eingegriffen hätte. Je mehr die Beteiligung der schwarzen Mehrheit in greifbare Nähe rückte, desto mehr eskalierte die Gewalt zwischen der Inkatha, die die Zulus repräsentierte, und dem ANC Nelson Mandelas, dem vornehmlich Xhosas angehörten. Während des Wahlkampfes für das Referendum starben in den Townships rund 300 Schwarze durch Gewaltakte. Der ANC beschuldigte die Regierung der Beihilfe zum Mord und organisierte Massendemonstrationen. 50.000 Menschen beteiligten sich an einem Marsch nach Pretoria. Erst im September wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen. 13.04.92 Erdbeben am Niederrhein Immer wieder spenden Bundesbürger große Beträge für Erdbebenopfer in aller Welt. Sie selber bleiben auf Grund der geographischen Lage Deutschlands von solch schweren Katastrophen weitgehend verschont. Doch am 13. April 1992 war es wieder einmal soweit: 236 Jahre nach dem letzten Erdbeben am Niederrhein wurde die Grenzregion zu Holland von mittelschweren Erdstößen erschüttert. Das Epizentrum des Bebens, das eine Stärke von 5,8 auf der Richter-Skala erreichte, lag jenseits der Grenze in Roermond. In Deutschland entstanden die schwersten Schäden in der Stadt Heinsberg, wo etwa 150 Häuser zum Teil erheblich beschädigt wurden (li.: Passanten vor dem herabgestürzten Kreuz einer Kirche). Allein hier wurden 21 Personen zumeist leicht verletzt, in der gesamten betroffenen Region wurde ein Mensch getötet, und mehr als 40 verletzt. Der Sachschaden belief sich auf etwa 100 Millionen Mark. Die Ausläufer des Bebens waren bis nach Niedersachsen, Hessen, Thüringen und in die Niederlande zu spüren. 29.04.92 Rassenunruhen erschüttern Los Angeles In Los Angeles brechen die schwersten Rassenunruhen in den USA seit den 60er Jahren aus: Tausende aufgebrachte Schwarze ziehen plündernd und brandschatzend durch die Straßen. Der Aufruhr kann erst drei Tage später durch massiven Einsatz von Militär und Sicherheitsbeamten beendet werden. 246 VON 300 Unmittelbarer Anlaß für die Unruhen war der Freispruch von vier weißen Polizisten vom Vorwurf der Körperverletzung an dem Schwarzen Rodney G. King. Obwohl ein Amateurvideo die schweren Mißhandlungen dokumentiert hatte, sprachen die Geschworenen, darunter zehn Weiße, aber kein Schwarzer, die Polizisten frei. Das Urteil wurde in den USA allgemein kritisiert. Die tieferliegende Ursache des Aufruhrs war die schlechte soziale Situation der Schwarzen. Während der Präsidentschaft Ronald Reagans und unter seinem Nachfolger George Bush hatte ein massiver Sozialabbau stattgefunden, der zu Lasten der sozial Schwachen gegangen war. Die Ausschreitungen griffen auch auf andere amerikanische Städte über. Nach den dreitägigen Unruhen hatten 58 Menschen das Leben verloren, 2.300 waren verletzt und 11.400 verhaftet worden. 5.273 Gebäude in der Region Los Angeles waren durch Brände zerstört oder beschädigt worden. Der Sachschaden belief sich auf eine Milliarde US-Dollar. Zur Beendigung des Aufruhrs waren 4.000 Soldaten, 3.000 Nationalgardisten und 20.000 Sicherheitsbeamte eingesetzt worden. Die Ära Reagan Der Republikaner und frühere Schauspieler Ronald Reagan gewann die USPräsidentschaftswahlen 1980 gegen den Demokraten Jimmy Carter. In der Außenund Wirtschaftspolitik setzte er sich völlig von seinem Amtsvorgänger Jimmy Carter ab. Gestützt auf die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses konnte er mühelos sein Wirtschaftsprogramm "Reagonomics" einleiten. Sein Konzept sah im wesentlichen die Senkung der Regierungsausgaben, der Einkommens- und Körperschaftssteuer, der Wachstumsrate des Geldumlaufs, sowie den Abbau von Industrieverordnungen und -beschränkungen vor. Zugleich steigerte er die Rüstungsausgaben enorm, was mit einer Kürzung des Sozialhaushaltes und einer stark ansteigenden Staatsverschuldung ausgeglichen wurde. Doch die Erfolge blieben zunächst aus. 1982 stieg die Arbeitslosenrate auf die Rekordhöhe nach dem Zweiten Weltkrieg von 10,8 Prozent. Die Wirtschaftsgewinne verringerten sich um 20 Prozent und die Industrieproduktion nahm um 8,7 Prozent ab. Erst danach erlebten die USA einen neuen Konjunkturaufschwung. Allerdings mußte die Strategie gedämpft werden, nachdem bei Kongreßnachwahlen 1982 die Republikaner Einbußen erlitten hatten. Außenpolitisch setzte Reagan auf Konfrontation mit der UdSSR. Er wendete sich gegen SALT II und kurbelte die Rüstung in für Friedenszeiten nie dagewesenem Maße an. Die nukleare Nachrüstung Europas fand aber auch Kritik der westlichen Verbündeten. Mit der Ankündigung des SDI-Programms 1983 begann das nationale Selbstbewußtsein der USA, gestützt auf den Glauben an die überlegene US-Technik, wieder zu wachsen. Es war im Vietnamkrieg schwer erschüttert worden. In der Mittelamerikapolitik ging Reagan offensiv gegen linke Bewegungen vor. Die Contras in Nicaragua unterstützte er gegen die sandinistische Regierung ebenso, wie er mit der Invasion Grenadas 1983 die dortige kommunistische Bewegung zerschlug. Im Nahen Osten beendete er dagegen das US-Militärengagement. 1986 zogen die USTruppen aus dem Libanon ab. Im Konflikt mit dem libyschen Terrorismus wandte Reagan weltweit umstrittene Härte an: Der US-Luftangriff auf Tripolis 1986 war eine eklatante Verletzung der UN-Charta. Reagans Politik wurde durch seinen Nachfolger George Bush fortgesetzt. Er hinterließ Bush eine Supermacht, die eindeutig wieder allein den ersten Rang einnahm. Allerdings war dies mit einem hohen Außenhandelsdefizit – 1988 155 Milliarden Dollar – und einem ungeheuren Haushaltsdefizit – 1988 164 Milliarden Dollar – erkauft worden. 13.06.92 247 VON 300 Umweltgipfel der Vereinten Nationen in Rio Mammutkonferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro: Auf der "Konferenz über Umwelt und Entwicklung" (UNCED) diskutieren rund 120 Staats- und Regierungschefs und über 3.000 Delegierte aus über 170 Ländern die weltweit dringendsten Umweltprobleme. Die konkreten Ergebnisse bleiben jedoch mager. Wichtigste Ergebnisse waren die Konventionen über Klima-, Arten- und Waldschutz, sowie die "Agenda 21", eine Absichtserklärung, die Probleme der Umwelt-, Luft-, Gewässerverschmutzung und vieles andere mehr, wirkungsvoll anzugehen. US-Präsident George Bush wurde international massiv kritisiert, als er sich weigerte, das Artenschutzabkommen zu unterschreiben, was er mit der Sicherung von amerikanischen Arbeitsplätzen begründete. Ursprünglich hatte er sich auch gegen die Klimaschutzkonvention, die eine deutliche Reduzierung der Kohlendioxid- und FCKWEmissionen vorsah, gesperrt. Nachdem jedoch die NASA eine Ausbreitung des Ozonlochs über Nordostamerika festgestellt hatte, gab er den Widerstand auf. Obwohl dieser dritte UN-Umweltgipfel nicht mehr unter den Vorzeichen des Ost-WestKonflikts stand, was UN-Generalsekretär Butros Butros-Ghali besonders hervorhob, erfüllte er die Erwartungen von Umweltschützern nicht. Unter anderem wurde bemängelt, daß die Konventionen keinen genauen Zeitplan enthielten. In Rio de Janeiro fand zur gleichen Zeit ein Gegengipfel von 600 Umweltorganisationen statt. 06.07.92 Erstmals Gespräche über Nordirlandfrage Erstmals seit der Teilung Irlands 1922 treffen sich in London Politiker der Irischen Republik und des britisch besetzten Nordteils der Insel, um gemeinsam eine friedliche Lösung zu suchen. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges 1969 waren bei teilweise heftigen Kämpfen, Attentaten und politischen Morden annähernd 3.000 Menschen getötet worden. Versuche, auf friedlichem Wege eine Lösung herbeizuführen, stießen zwar auf Wohlwollen der Weltöffentlichkeit, der Terror in Ulster ging jedoch weiter. Mittlerweile wurden die Kämpfe in Nordirland nicht mehr nur zwischen I.R.A. und nordirisch-britischen Truppen und Terroristen der Ulster Defense Association (U.D.A.) geführt, mehr und mehr erhob sich auch in der Provinz der Ruf nach mehr Unabhängigkeit von London. Die Gespräche unter der Leitung des britischen Nordirland-Ministers Patrick Mayhews wurden zwar ergebnislos abgebrochen, jedoch wurde eine Fortsetzung des Dialogs verabredet. Seit dem Machtwechsel an der Spitze der Britischen Konservativen zeigte sich die Partei unter John Major in der Nordirlandfrage deutlich kompromißbereiter als noch zu Zeiten Margaret Thatchers. 04.10.92 Israelischer Jumbo stürzt auf Amsterdam Beim Absturz einer Frachtmaschine der israelischen Fluggesellschaft El-Al auf zwei Wohnhäuser eines Vorortes von Amsterdam werden am 4. Oktober 1992 74 Menschen getötet. Die vier Insassen der Boeing 747 sowie 70 Anwohner der beiden Wohnhäuser hatten keine Chance, dem Inferno zu entkommen. Die Untersuchung des Unglücksfalls ergab, daß eine der Triebwerkhalterungen infolge von Materialermüdung gebrochen war. Dadurch hatte sich das Triebwerk gelöst und ein weiteres Triebwerk beschädigt. Nach dem Unglück wurde bekannt, daß dieser Fehler bei einer Boeing 747 nicht zum ersten Mal aufgetaucht war: Bereits 15 Mal war es zu Beschädigungen der Triebwerkhalterungen bei Maschinen desselben Typs gekommen, ohne daß Boeing eine entsprechende Empfehlung zur Überprüfung an die Fluggesellschaften weitergegeben hatte. 03.11.92 Clinton sorgt für Abwahl der Republikaner 248 VON 300 Rückkehr der Demokraten ins Oval Office: Mit einem gezielt innenpolitisch ausgerichteten Wahlkampf setzt sich Bill Clinton bei den US-Präsidentschaftswahlen gegen Golfkriegsgewinner George Bush durch. Auf Clinton entfielen 43 Prozent der Stimmen und 370 Sitze aus 33 Staaten im Wahlmännergremium. Der amtierende Präsident George Bush erzielte 38 Prozent der Stimmen, vereinigte aber wegen des Mehrheitswahlrechts nur 168 Mandate im Wahlgremium auf sich. Ungewöhnlich hoch war bei dieser Wahl der Prozentsatz des unabhängigen Kandidaten Ross Perot, der 19 Prozent der Stimmen aber keinen Wahlmann erhielt. Clinton hatte im Wahlkampf die Bekämpfung der Wirtschaftsflaute und eine verbesserte Sozialpolitik angekündigt. Daneben versprach er, das ungeheure Haushaltsloch der Ära Reagan und Bush zu stopfen: die massive Überrüstung hatte zu einem enormen Etatdefizit und zu sozialen Spannungen geführt, die sich unter anderem in Los Angeles im April entladen hatten. Bush, der in der Wirtschaft - abgesehen von der umstrittenen NAFTAGründung - wenig vorweisen konnte, hatte seinen Wahlkampf auf außenpolitische Themen ausgerichtet und Clinton bezichtigt, "weniger von Außenpolitik zu verstehen als sein Haushund Millie". Der fast zwei Jahre alte Sieg im Golfkrieg, der den Ruf der US-Armee nach dem Vietnamkrieg wiederhergestellte, mobilisierte jedoch offenbar nicht genügend Wähler für die Republikaner. 09.12.92 Restore Hope in Somalia Der erste UN-Militäreinsatz zur Durchführung humanitärer Ziele überhaupt beginnt als "Operation Neue Hoffnung" unter der Führung der USA in Somalia. Die Hungerkatastrophe infolge des Bürgerkriegs soll entschärft werden. Das UN-Mandat sah allerdings auch die Entwaffnung der Rebellen vor. Mehr und mehr wurden daher die UN-Truppen in die fortgesetzten Kämpfe verwickelt. Es gelang nicht, das Land dauerhaft zu befrieden, die Weltgemeinschaft hatte versagt. UN-Truppen landen in Somalia Mit der Landung der ersten US-Verbände bei Mogadischu beginnt in Somalia die "Operation Restore Hope", zu deutsch etwa "Neue Hoffnung". Es folgt die erste UNMilitärintervention zur Durchsetzung humanitärer Ziele. Seit dem Sturz des Diktators Siad Barre bekämpften rivalisierende Clans, während die Bevölkerung verhungerte. Weder die eingerichtete UN-Luftbrücke noch die rund 500 UN-Soldaten (UNOSOM), erwiesen sich in der Lage, die Hilfslieferungen abzusichern. Weiterhin verhungerten täglich die Menschen. Der UN-Sicherheitsrat reagierte darauf mit der Entsendung von 30.000 Soldaten aus 20 Staaten unter der Führung von 21.000 US-Marines. Kanada, Frankreich, Großbritannien, Italien, Australien und Pakistan stellten weitere Kontingent, um die Hilfsleistungen absichern. In die Kritik gerieten auch die internationalen Medien, die die landenden Soldaten am Strand erwartet hatten und auf Schritt und Tritt verfolgten. Der UNITAFOberkommandierende, US-General Robert B. Johnston, beklagte, daß die Landung wegen des Blitzlichtgewitters nicht mehr sicher gewesen war und die Einheiten behindert worden seien. Ohne auf Widerstand zu stoßen, besetzten die UNITAFEinheiten unter dem Jubel der Bevölkerung den Flughafen von Mogadischu. Danach brachen sie ins Landesinnere auf. Eines der ersten Ziele war die Stadt Baidoba, in der die humanitäre Lage am prekärsten war. 12.12.92 Naturkatastrophe erschüttert Indonesien Die kleinen Sundainseln Bali und Flores im Südosten Indonesien werden am 12. Dezember Schauplatz eines verheerenden Erdbebens. Das Beben, das eine Stärke von 6,8 auf der Richter-Skala erreichte, löste eine 25 Meter hohe Flutwelle aus. Dabei starben etwa 25.000 Menschen. 249 VON 300 Das indonesische Archipel ist einer starken Erdbebentätigkeit ausgesetzt, weil sich Indonesien über der Grenze der indisch-australischen und der Philippinenplatte der Erdkruste erhebt. Dazu kommt starke Vulkantätigkeit. Berühmtestes Beispiel des Vulkanismus auf Indonesien ist die Explosion der Insel Krakatau zwischen Sumatra und Java nach dem Ausbruch des Vulkans Perbuatan am 26. August 1883. Damals waren bei dem "Vulkanausbruch des Jahrhunderts" 36.000 Menschen ums Leben gekommen, als bei der Vulkanexplosion ein Großteil der zwischen Java und Sumatra liegenden Insel zerstört wurden und der Nordteil der Insel Perbuatan im Meer versank. 31.12.92 Europäischer Binnenmarkt in Kraft Seit der europäischen Zollunion, die 1968 in Kraft trat, streben die Länder Europas verstärkt einen gemeinsamen Binnenmarkt ohne Grenzen für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital an. Als "offizieller Termin" zum Einstieg in den Binnenmarkt gilt der 31. Dezember 1992. Die unterschiedlichen Interessen und Gesetze verzögerten das Inkrafttreten des grenzfreien Wirtschaftsraum Europa noch bis 1995. Erst nach der weitreichenden Angleichung aller Gesetze, Steuern und Richtlinien der einzelnen europäischen Staaten zur Durchsetzung eines wirklich freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der Europäischen Union, wird man vom europäischen Binnenmarkt sprechen können. Gleiche Bedingungen für den Personen,- Kapital-, Dienstleistungs- und Warenverkehr gelten als die vier Grundfreiheiten eines Binnenmarktes. Dem Integrations- und Einigungsprozeß stehen derzeit vor allem nationale Wirtschafts- und Finanzinteressen, aber auch sprachliche und kulturelle Unterschiede als schwer überwindbare Barrieren entgegen. Anfang der 80er Jahre trat ein relativer Stillstand der Integrationsbemühungen ein. Um ihm zu begegnen legte die europäische Kommission im Juni 1985 das sogenannte "Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes" mit einem detaillierten Arbeitsprogramm zur Schaffung eines europäischen Marktes ohne Binnengrenzen vor. Es enthielt rund 300 Rechtsakte, deren Umsetzung zur völligen Beseitigung der noch bestehenden materiellen, technischen und steuerlichen Schranken führen sollte. Abgelöst wurde dieses "Weißbuch" im Mai 1995 durch das sogenannte "Grünbuch". Hier werden in noch konkreterer Form Richtlinien zum freien Binnenmarkte festgeschrieben. 01.01.93 Die Tschechoslowakei spaltet sich Die Mehrheit der Slowaken votierte für einen Austritt aus dem in ihren Augen von Tschechen dominierten Staatsverband. Anders als in Jugoslawien geht die Spaltung jedoch mit völlig friedlichen Mitteln über die Bühne. Am 1. Januar 1993 gingen alle Kompetenzen auf die beiden neuen Parlamente der Tschechischen Republik einerseits und der Slowakischen Republik andererseits über, nachdem am 17. Dezember 1992 die beiden Kammern des tschechoslowakischen Parlaments ein letztes Mal in Prag getagt hatten. Beide Republiken galten als unabhängige Nachfolgestaaten der seit 1990 unter diesem Namen existierenden "Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik" (CSFR) und erhielten einen Sitz in der UNO. Das Ergebnis der Parlamentswahlen vom 5. und 6. Juni 1992 hatte die Trennung unvermeidlich werden lassen. Am 17. Juli 1992 hatte das slowakische Parlament eine Souveränitätserklärung verabschiedet und damit den ersten konkreten Schritt zur Schaffung einer unabhängigen Slowakei vollzogen. Am 27. August 1992 einigten sich schließlich die Ministerpräsidenten des slowakischen und des tschechischen Teilstaats, Vladimir Meciar und Vaclav Klaus, auf einen Zeitplan zur Auflösung der Tschechoslowakei bis zum 1. Januar 1993. Zur Regelung der Modalitäten schlossen beide Seiten eine Reihe von Verträgen. Zwischen den beiden neuen Staaten sollte aber eine Zoll- und Wirtschaftsunion bestehen bleiben. 250 VON 300 26.02.93 Bombenattentat auf World Trade Center Der islamische Terror erreicht auch Amerika. Eine Explosion im Parkgeschoß des World Trade Center in New York erschüttert das Selbstverständnis der gesamten Nation. Fünf Menschen kamen bei diesem Anschlag ums Leben, über 1.000 erlitten Verletzungen. Viele von ihnen hatten durch die Erschütterung und das anschließend ausbrechende Feuer Brandverletzungen und Rauchvergiftungen erlitten. Der Anschlag auf eines der höchsten Gebäude der Welt offenbarte die trügerische Sicherheit, in der sich die amerikanische Bevölkerung wähnte. Bislang hatte man geglaubt, vor internationalem Terrorismus gut abgeschottet zu sein. Zunächst wurde vermutet, daß der Anschlag im Zusammenhang mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien stünde. Schnell verdichteten sich jedoch Gerüchte, daß moslemische Fundamentalisten die Urheber des Anschlags sein könnten. Nach wenigen Tagen konnten Angehörige einer Fundamentalistengruppe als mutmaßliche Täter festgenommen werden. Die Gruppe hatte mit dem World Trade Center ein Symbol der nach ständiger Ausdehnung trachtenden amerikanischen Wirtschaft ausgewählt. Mit Blick auf die energische amerikanische Strategie im Kampf gegen islamische Regierungen in Libyen und Nahost wollten sie den Gegner im Nervenzentrum seiner Wirtschaftskraft treffen. 02.04.93 Regierungskrise um AWACS-Einsatz Der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit 1945 droht die Regierungskoalition zu sprengen. Die FDP-Minister wollen das Bundesverfassungsgericht über die Beteiligung der Bundeswehr an der Überwachung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina entscheiden lassen. Die Resolution des UN-Sicherheitsrat zur militärischen Durchsetzung des Flugverbots über Bosnien brachte die Bundesregierung in die Bredouille. Nachdem die Entsendung deutscher Schiffe in die Adria als reine Beobachtermission noch unumstritten war, war der geplante Einsatz deutscher Feuerleitoffiziere in den AWACS-Aufklärungsflugzeugen der NATO eindeutig als militärischer Einsatz zu werten - der erste nach 1945. Während die CDU einen derartigen Einsatz außerhalb des NATO-Gebiets als vom Grundgesetz gedeckt betrachtete, sprachen sich die FDP-Minister (li. Außenminister Kinkel) unter Hinweis auf verfassungsrechtliche Gründe gegen die Teilnahme aus. Am 2. April 1993 billigte das Kabinett die deutsche Beteiligung an den AWACS-Flügen gegen die Stimmen der FDP-Minister. Die FDP drohte daraufhin mit einer Aufkündigung der Koalition und reichte eine Eilklage beim Bundesverfassungsgericht ein, der sich die Sozialdemokraten mit einer weiteren Klage anschlossen. Nachdem das BVG in einem Eilentscheid die Teilnahme an dem AWACS-Einsatz für zulässig erklärt hatte, nahmen 162 Bundeswehrsoldaten ihren Dienst an Bord der 18 NATO-Aufklärer auf. 03.04.93 Treffen zwischen Clinton und Jelzin Gipfel zwischen den Präsidenten der USA und Rußlands, Bill Clinton und Boris Jelzin, in Vancouver: Hauptthema bildet die amerikanische Unterstützung für die russischen Reformen in Politik und Wirtschaft. Die beiden Politiker vereinbarten ein Soforthilfe-Paket für Rußland im Umfang von 1,6 Mrd. Dollar. 700 Mio. waren als Nahrungs- und Arzneimittelhilfe sowie als Kredite für die Landwirtschaft vorgesehen. Weitere Gelder sollten zur Unterstützung der Privatwirtschaft, zur Ankurbelung von Handel und Investitionen und zur Förderung der Rüstungskonversion aufgewendet werden. Die Gespräche ergaben auch strittige Punkte wie etwa die Patrouillen von US-U-Booten vor russischen Küsten oder die US-Handelsbeschränkungen bei der Hochtechnologie, insgesamt verlief der Gipfel aber in harmonischer Atmosphäre. Clinton und Jelzin zeigten sich zuversichtlich, daß in Vancouver das "Fundament für eine neue demokratische 251 VON 300 Partnerschaft" gelegt worden sei. Erstmals in der Geschichte sei beim Gipfel nicht über den Abbau bestehender Strukturen geredet worden, sondern über den Aufbau von grundlegend Neuem. Zum Abschluß veröffentlichten beide Präsidenten die "Deklaration von Vancouver" zu den Zielen der künftigen Zusammenarbeit: Förderung von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft sowie Zusammenarbeit in allen Bereichen der Sicherheitspolitik. 14.05.93 Bundeswehr im UN-Einsatz Deutsche Blauhelm-Soldaten in Somalia und in Bosnien. Das wiedervereinte Deutschland übernimmt im Auftrag der UNO größere Verantwortung in der Welt. Innenpolitisch waren die Bundeswehreinsätze außerhalb des NATO-Gebiets stark umstritten. Verfassungsrechtliche Bedenken wurden aber durch ein Grundsatzurteil des Verfassungsgerichs ausgeräumt. Angesichts der Brutalität des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien wuchs auch in der Opposition die Zustimmung für einen Militärbeitrag zur Friedenssicherung. Deutsche Soldaten in Belet Uen Am 14. Mai 1993 landen die ersten deutschen Soldaten im Rahmen der UNFriedensmission UNOSOM II in Somalia. Das deutsche Kontingent soll in einer befriedeten Region des vom Bürgerkrieg zerrissenen Landes die Friedenstruppen der Vereinten Nationen unterstützen. Das 145köpfige Vorauskommando unter dem Befehl Generalmajor Georg Bernhardts hatte den Auftrag, die Ankunft von weiteren 1.495 Bundeswehrsoldaten im Einsatzgebiet Belet Uen, rund 300 km nördlich von Mogadischu, vorzubereiten. Die Entscheidung dazu hatte am 21. April das Bundeskabinett auf Ersuchen des UNGeneralsekretärs Butros Butros-Ghali gefällt. Über den Somalia-Einsatz war es im Bundestag zwischen der Regierung Helmut Kohl und der SPD-Opposition unter dem Fraktionsvorsitzenden Hans-Ulrich Klose zu einer heftigen Kontroverse gekommen. Die SPD hielt den Einsatz für verfassungswidrig, auch wenn sie die Beteiligung der Bundeswehr an der humanitären UNOSOM II "im Grundsatz" unterstützte. Nachdem jedoch am 5. Juni 23 pakistanische UN-Soldaten von einer Bande des somalischen Generals Mohammed Aidid erschossen worden waren, bemühte sich die SPD um eine einstweilige Verfügung des Bundesverfassungsgerichts gegen den Einsatz, die aber abschlägig behandelt wurde. Das deutsche Bataillon nahm im August die Arbeit auf und beteiligte sich an Versorgungsaufgaben und am Wiederaufbau der Infrastruktur. 26.05.93 Das Grundrecht auf Asyl wird geändert Am 26. Mai 1993 verabschiedet der Deutsche Bundestag mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit eine Grundgesetzänderung, durch die das Asylrecht entscheidend eingeschränkt wird. Durch die Änderung des Grundgesetzartikels 16 haben Flüchtlinge nunmehr kein Anrecht auf ein Asylverfahren, wenn sie aus einem EG-Land oder einem der Nachbarstaaten Deutschlands einreisen, die als sichere Drittländer gelten. Mehr als 10.000 Demonstranten versuchten am sogenannten Tag X in Bonn, den Abgeordneten den Zugang zum Parlament zu verwehren, um dadurch die Abstimmung zu verhindern. Viele Politiker mußten deshalb per Hubschrauber oder per Schiff zum Bundestag gebracht werden. Erst durch den Schwenk der SPD unter ihrem Vorsitzenden Björn Engholm (li.) in der Asylrechtsfrage wurde die Grundgesetzänderung letztendlich möglich. Nach heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen stimmten die Sozialdemokraten auf ihrem Sonderparteitag im November 1992 einer Asylrechtsänderung zu. Bereits im Dezember des Jahres hatten die großen Parteien der Bundesrepublik dann den Asylkompromiß vereinbart, der die Grundlage für den neuen Artikel 16a GG bildete. 252 VON 300 Schon im Vorfeld der Grundgesetzänderung hatte die Asyldebatte Politik und Medien polarisiert. Während die einen das Schreckensbild einer "Asylantenflut", die Deutschland überschwemme und deshalb gestoppt werden müsse, skizzierten, sahen die anderen in der Asylrechtsänderung die Demontage eines Grundrechtes, die einen Rechtsruck von Politik und Gesellschaft symbolisiere. 27.05.93 Rechte Gewalt Ausländerfeindlichkeit wird zum Dauerthema im wiedervereinten Deutschland. Zunächst zu einem ostdeutschen Phänomen heruntergespielt, eskaliert die Situation schließlich auch im Westen: Die Bundesregierung findet nur eine schwache Lösung. Hoyerswerda, Rostock, Solingen, Mölln, Lübeck: Namen, die in den 90er Jahren eine neue Bedeutung erfuhren. Erinnerungen an die dunkelste Epoche deutscher Geschichte wurden wach: Erneut Menschen wegen ihrer Hautfarbe ums Leben. Und erneut vermissen viele ein entschiedenes, mutiges Zeichen von offizieller Seite. Fünf Tote nach Brandanschlag in Solingen Erneut zünden Rechtsradikale das Haus einer türkischen Familie an. Bei dem bisher folgenschwersten ausländerfeindlichen Anschlag in Deutschland sterben am 27. Mai 1993 in Solingen fünf Menschen, darunter drei Kinder. Neonazis hatten in der Nacht auf Pfingstsamstag einen Brandsatz in das Wohnhaus der seit 23 Jahren in Deutschland lebenden türkischen Familie Genc geworfen. In den Flammen starben zwei Töchter, zwei Enkel und eine Nichte der Familie, ein fünfzehnjähriger Sohn überlebte mit schweren Verbrennungen. Die Polizei verhaftete kurze Zeit später vier junge Neonazis im Alter von 16, 17, 19 und 23 Jahren als mutmaßliche Täter. Bei einem der Festgenommenen wurden Pamphlete der "Nationalsozialistischen Front" entdeckt. Im Oktober 1995 wurden die Attentäter zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Anders als nach vorangegangenen Anschlägen reagierten diesmal zahlreiche junge Türken mit massiver Gegengewalt auf die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. In Solingen, aber auch in anderen Städten, kam es zu Krawallen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. 13.09.93 Autonomie für Palästinenser Kein Friede in Nahost ohne eine Regelung des Palästinenser-Problems. Nach schwierigen Verhandlungen einigen sich Arafat und Rabin in Washington im Grundsatz auf eine Selbstverwaltung der Palästinenser in Israel. Geheimverhandlungen der neuen israelischen Regierung Rabin mit der PLO hatten diese Abmachung unter der Schirmherrschaft Clintons möglich gemacht. Brutale Attentate beider Seiten, die Ermordung Rabins sowie der Wahlsieg Netanjahus brachten den Friedensprozeß jedoch in eine ernsthafte Krise. Autonomieabkommen unterzeichnet In Washington wird die israelisch-palästinensische Grundsatzerklärung über die vorübergehende palästinensische Selbstverwaltung in Gaza und Jericho in Anwesenheit des PLO-Chefs Yassir Arafat und des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin unterzeichnet. Schirmherr der Vereinbarung war der neugewählte US-Präsident Bill Clinton. Die Erklärung beinhaltete unter anderem den Zeitplan für den Abzug israelischer Truppen aus Gaza und Jericho sowie die Übereinkunft, Verhandlungen über die 253 VON 300 palästinensische Selbstverwaltung im Gaza-Streifen und im Westjordanland zu führen. Im Anschluß an die Nahost-Friedenskonferenz in Madrid 1991 hatten Verhandlungen begonnen, die aber weitgehend ergebnislos geblieben waren. Nach der Regierungsübernahme durch den Sozialisten Rabin in Israel war es seit Anfang des Jahres 1993 zu Geheimverhandlungen zwischen Israelis und der PLO in Norwegen gekommen. Die Knesset hatte erst am 19. Januar 1993 das seit 1986 geltende Verbot aller Kontakte zu PLO-Mitgliedern aufgehoben. Durch einen Briefwechsel zwischen Rabin und Arafat Anfang September 1993 anerkannten der Staat Israel und die PLO sich gegenseitig. Im Mai 1994 konnten Arafat und Rabin das Autonomieabkommen über Gaza und Jericho in Kairo unterzeichnen. Ein erweitertes Autonomieabkommen über das Westjordanland folgte im September 1995. 15.09.93 In Georgien herrscht Ausnahmezustand Georgien kommt auch nach dem Sturz Gamsachurdias nicht zur Ruhe. Präsident Eduard Schewardnadse (u.l.) läßt sich von den Abgeordneten des Parlaments in Tiflis weitgehende Sondervollmachten erteilen. Das Votum fiel mit 150 gegen sechs Stimmen eindeutig aus. Die Abgeordneten stimmten damit der Verhängung eines zweimonatigen Ausnahmezustandes zu. Sie ermächtigten Schewardnadse, für diese Zeit ohne parlamentarische Kontrolle mit Hilfe von Dekreten zu regieren. Schewardnadse verfügte bereits seit dem 2. Juli über erweiterte Vollmachten. Der Hintergrund dieser Entscheidung war, daß am 28. August zusätzlich zum Abchasienkrieg ein weiterer Konfliktherd entstanden war. Anhänger des ehemaligen georgischen Präsidenten Swiad Gamsachurdia hatten eine Offensive im Norden des Landes begonnen und innerhalb weniger Tage drei Städte erobert. Sie schnitten überdies die Transportverbindungen Zentralgeorgiens zum Schwarzen Meer ab. Die nationalistischen Anhänger Gamsachurdias protestierten damit gegen den Waffenstillstand vom 27. Juli 1993 mit den Abchasen. Sie warfen Schewardnadse vor, Abchasien auf russischen Druck preiszugeben. Angesichts des weiteren Vordringens der Rebellen gab Schewardnadse am 15. September 1993 den Befehl zum Gegenangriff. Seine Truppen konnten jedoch keine schnellen Erfolge erzielen, zumal am 16. September 1993 die Abchasen den erst zwei Monate zuvor abgeschlossenen Waffenstillstand aufkündigten und in Suchumi einmarschierten. 03.10.93 Aufstand in Moskau niedergeschlagen Offener Widerstand gegen die Auflösung des russischen Parlaments durch Boris Jelzin. Bewaffnete Gruppen verschanzen sich im Parlamentsgebäude und im Moskauer Fernsehsender. Schüsse fallen und es gibt mehrere Tote. Jelzin reagiert entschlossen. Am nächsten Morgen begannen Regierungstruppen mit dem Angriff. Die Gefechte dauerten mehr als zehn Stunden, Teile des Gebäudes gingen in Flammen auf. Mehr als hundert Menschen starben. Bereits seit dem 21. September hatten bewaffnete Anhänger des Parlamentspräsidenten Chasbulatow und des Vize-Präsidenten Ruzkoj vor dem russischem "Weißen Haus" in Moskau patroulliert. Am 24. September versuchten etwa 60 Bewaffnete erfolglos, das Hauptquartier der GUS-Streitkräfte zu stürmen. Als Reaktion ordnete Boris Jelzin die Entwaffnung aller im Parlament befindlichen Personen an. Teile der dem Innenministerium unterstellten Anti-Terror-Einheit OMON sperrten die Zugänge zum "Weißen Haus". Die öffentliche Meinung war gespalten, es kam zu Demonstrationen für und gegen Jelzin. Die Spannung wuchs. Erst mit der Erstürmung des Parlamentsgebäudes brach der Widerstand zusammen. Die Hauptverantwortlichen, Ruzkoj und Chasbulatow, wurden verhaftet. 12.01.94 "Partnerschaft für den Frieden" 254 VON 300 In Brüssel treffen sich die Staats- und Regierungschefs der NATO, um über das künftige Verhältnis des Verteidigungsbündnisses zu den ehemaligen Ostblockstaaten zu diskutieren. Sie unterzeichnen ein Dokument mit dem programmatischen Titel "Partnerschaft für den Frieden". Das Angebot der NATO bot allen Staaten Mittel- und Osteuropas militärische Kooperation und die Perspektive eines späteren NATO-Beitritts an. Die Regierungen der betroffenen Staaten reagierten unterschiedlich. Die unnachgiebige Politik der russischen Regierung gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Teilrepubliken hatte vor allem in den baltischen Staaten die Angst vor neuem russischen Expansionsstreben geschürt. Auch Polen und die Tschechische Republik drängten auf eine schnelle Aufnahme in die NATO und in die EU. In vielen NATO-Staaten wurden diese Befürchtungen geteilt, und der russische Außenminister Kosyrew (u.l.) warnte weiter vor einer vorschnellen Osterweiterung der NATO. Viele Russen empfanden die Vorstellung der gleichberechtigen Eingliederung der Großmacht in die NATO als Greuel. Nach russischer Vorstellung kam eine Aufwertung des Nordatlantischen Kooperationsrats (das Gesprächsforum für sicherheitspolitische Fragen zwischen NATO und Warschauer Pakt) der anvisierten Rolle des Landes innerhalb des Sicherheitsbündnisses näher. Die NATO kam diesen Vorstellungen entgegen, indem sie zusagte, einen Informationsaustausch über militärische Planungen einzurichten. 06.04.94 Beginn des Genozids in Ruanda Der Tod von Staatspräsident Juvénal Habyarimana (l.) ist das Fanal für radikale Hutus zum Losschlagen: Mehr als eine halbe Million Menschen, vornehmlich Tutsis, werden bestialisch ermordet. Seit 1990 herrschte im Nordosten Ruandas Bürgerkrieg. Tutsis, die nach der Unabhängigkeit Anfang der 60er ins Exil nach Uganda geflohen waren, versuchten gewaltsam ihre Rückkehr zu erwirken sowie die Hutu-Dominanz im Einheitsstaat zu brechen. Seit 1993 wurden die Friedensverhandlungen mit einiger Aussicht auf Erfolg geführt, doch bereiteten sich radikale Hutus auf den finalen Gegenschlag vor: Todeslisten wurden erstellt und massenhaft Waffen an eilig rekrutierte paramilitärische Hutu-Milizen ausgegeben. Präsident Habyarimana befand sich zusammen mit Burundis Präsident auf dem Rückflug von Verhandlungen, als sein Flugzeug vor der Hauptstadt Kigali abgeschossen wurde. Schon Stunden später begannen die Hutu-Milizen mit dem Morden, dem zuerst die Premierministerin und nahezu die gesamte Hutu-Opposition zum Opfer fiel. Dann ging es gegen die etwa 1 Million Tutsis in Land. Zu Tausenden starben die Menschen vor allem in Kirchen, in denen sie Schutz suchten, durch Kugeln und Machetenhieben. Unterdessen verzeichneten die Tutsi-Rebellen schnelle militärische Erfolge. Frankreichs zweifelhafte Intervention beendete nicht das Morden, sondern deckte eher den Rückzug der HutuHorden ab. Etwa 2 Millionen Menschen setzten sich vor den vorrückenden Tutsis nach Zaire und Tansania ab. 29.04.94 Ende der Apartheid Nelson Mandela wird der erste schwarze Präsident Südafrikas. Die menschenverachtende Politik der Apartheid gehört damit endgültig der Vergangenheit an. Es war die erste Wahl, bei der alle Bürger des Landes, gleich welcher Rasse und Hautfarbe, ihr Votum abgeben durften. Sie war möglich geworden, weil Frederick de Klerk von der Politik seiner Vorgänger abrückte und nach Mandelas Freilassung gemeinsam mit ihm einen Ausgleich zwischen Schwarz und Weiß suchte. 255 VON 300 Nelson Mandela gewinnt Präsidentschaftswahl Die ersten Wahlen Südafrikas, bei denen alle Bürger, gleich welcher Rasse und Hautfarbe, ihr Votum abgeben dürfen, bringen den ANC an die Macht. Spitzenkandidat Nelson Mandela wird der erste farbige Präsident des Landes. Mit 62,65 Prozent und 252 von 400 Mandaten verpaßte der ANC nur knapp die Zweidrittelmehrheit. Zweitstärkste Kraft wurde die "National Party" (NP) des amtierenden Staatspräsidenten Frederick Willem de Klerk mit 82 Parlamentssitzen. Die "Inkatha Freedom Party" (IFP) mit Mangosuthu Buthelezi an der Spitze errang nur den dritten Platz mit 43 Mandaten. Glückwunschtelegramme von vielen Regierungen aus der ganzen Welt erreichten Mandela in Pretoria. Der lange Kampf gegen die Apartheid war gewonnen. Während des Wahlkampfes war es zu einer Reihe von Attentaten und blutigen Auseinandersetzungen gekommen. Weiße Extremisten und die Zulu-Vertretung IFP lehnten die Wahlen ab und versuchten sie durch gewaltsame Ausschreitungen zu verhindern. Die Zulus befürchteten, im neuen Südafrika gegenüber den Xhosas, die dem ANC anhingen, nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Alte Stammesrivalitäten flammten wieder auf. Im nominell unabhängigen "Homeland" KwaZulu proklamierte König Zwelthini am 16. März 1994 die Souveränität des "Königreiches der Zulus". De Klerk verhängte daraufhin den Ausnahmezustand über das "Homeland". Über 1.000 Menschen fielen der Welle der Gewalt bis zur Wahl zum Opfer. 22.06.94 Mildes Urteil gegen NPD-Chef Am 22. Juni 1994 verurteilt ein Richter am Landgericht Mannheim den NPD-Chef Günter Deckert wegen Verbreitung der "Auschwitzlüge", Volksverhetzung, übler Nachrede, Verunglimpfung des Ansehens Verstorbener und Aufstachelung zum Rassenhaß zu einem Jahr Haft auf Bewährung und zur Zahlung von 10.000 Mark. Damit wird ein Urteilsspruch vom November 1992 bestätigt, gegen den Deckert Revision eingelegt hatte. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hatte im März 1994 das Urteil aus der ersten Instanz aufgehoben und an das Landgericht Mannheim zurückverwiesen. Hintergrund des Verfahrens waren Übersetzung und Kommentare des NPD-Chefs zu einem Vortrag des Amerikaners Fred Leuchter sowie die Verbreitung eines entsprechenden Videos gewesen. Leuchter bestritt darin die Judenvernichtungen während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland. Die Bestätigung des ersten Urteilsspruches löste in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung aus, wobei insbesondere einige Formulierungen in der Urteilsbegründung die Gemüter erhitzten. Dem zuständigen Richter Rainer Orlet (links) wurde in der Folge Rechtslastigkeit nachgewiesen, daher mußte der "Fall Deckert" erneut verhandelt werden. 31.08.94 I.R.A. erklärt einseitigen Waffenstillstand Überraschend erklärt die katholische Untergrundbewegung I.R.A. einen unbefristeten und vollständigen Gewaltverzicht. Die I.R.A.-Führung kam damit der Aufforderung der "Downing Street Declaration" vom 15. Dezember 1993 nach, in der nach den seit Sommer 1992 geführten Vorverhandlungen alle friedensbereiten Parteien zu Gesprächen eingeladen worden waren. Die Erklärung war zwischen dem britischen Premierminster John Major und dem irischen Ministerpräsidenten Albert Reynolds geschlossen worden. Voraussetzung für eine Teilnahme der irischen Sinn Fein war ein Gewaltverzicht ihres militärischen Arms, der I.R.A., für mindestens drei Monate. Die beiden wichtigsten protestantischen nordirischen Parteien, die "Ulster Unionists" und die "Democratic Unionists" lehnten die "Downing Street Declaration" ab, da in ihr die Möglichkeit einer Wiedervereinigung Ulsters mit der Republik Irland nicht ausdrücklich ausgeschlossen war. 256 VON 300 Trotz des allgemein positiven Echos auf den einseitigen Gewaltverzicht der I.R.A., kritisierte Major das Fehlen eines zeitlichen Limits. Nachdem sich allmählich herausstellte, daß es der Untergrundorganisation mit ihrer Erklärung durchaus ernst war, erklärten sich am 14. Oktober 1994 auch die nordirische Untergrundorganisation "Ulster Defense Association" (U.D.A.) und die illegal agierende "Ulster Volunteer Force" (U.V.F.) zu einem unbefristeten Waffenstillstand bereit. Für anderthalb Jahre erhielten die Menschen auf den beiden Inseln Grund zur Hoffnung auf dauernden Frieden. Im Februar 1996 erklärte – wiederum überraschend – die I.R.A. das Ende des Gewaltverzichts. Wenig später starben zwei Menschen bei einem Sprengstoffanschlag in London. 18.09.94 Pestfälle in Indien Meldungen über eine Pestepidemie in Indien schrecken die Weltöffentlichkeit auf. Die Seuche gilt längst als ausgerottet. In den betroffenen Gebieten kommt es zu einer Massenflucht. Die ersten Pestfälle wurden am 18. September in der Hafenstadt Surat im Bundesstaat Gurajat bekannt. Durch eine Überschwemmung im Sommer waren Müll und Tierkadaver aus den Slums fast über die ganze Zwei-Millionen-Stadt verteilt worden. Die katastrophalen hygienischen Bedingungen führten zu einer sprunghaften Vermehrung von Ratten, die als Überträger der Erreger für eine rapide Ausbreitung der Seuche sorgten. Nach Bekanntwerden der ersten Krankheitsfälle verließen Hunderttausende fluchtartig die Stadt. Die Behörden waren hoffnungslos überfordert. Die Fluchtbewegung beschleunigte jedochein weiteres Ausgreifen der Epidemie auf andere Regionen. So traten etwa Pestfälle auch in Neu Delhi auf. Nahezu alle Ausländer verließen Indien. Bereits Anfang Oktober beruhigte sich die Lage unerwartet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählte entgegen früheren Presseberichten nur 6.344 Infizierte, wovon 55 bereits gestorben waren. In den Medien war zuvor von Hunderttausenden von Infizierten die Rede gewesen, was nicht zuletzt die Massenpanik ausgelöst hatte. Bis Ende des Jahres konnte die Epidemie entscheidend eingedämmt werden. 28.09.94 Estnische Fähre versinkt in der Ostsee In der stürmischen Ostsee sterben im September 1994 914 Menschen, als die estnische Fähre "Estonia" auf dem Weg nach Schweden versinkt. Eine abgerissene Bugklappe wird später als Unglücksursache ermittelt. Nach dem Abriß der Bugklappe war Wasser in die Autodecks eingedrungen und hatte das Schiff innerhalb einer halben Stunde sinken lassen. Zwar waren Rettungsteams nach relativ kurzer Zeit vor Ort, die Bergungsarbeiten gestalteten sich in der stürmischen Nacht allerdings enorm schwierig, nur 137 Passagiere konnten gerettet werden. Die Estonia war wie auch die 1987 gesunkene "Herald of Free Enterprise" (l.) eine sogenannte "Roll-on/Roll -off"-Fähre. Da solche Fähren keine Querschotten besitzen, kann das Wasser ungehindert in die Fähre eindringen. In der Öffentlichkeit setzte eine Diskussion um die Sicherheit dieser Fähren ein, da die Gefahren des "Roll-on/Roll-off"Konzepts bereits seit längerem bekannt waren. Einige Monate nach dem Unglück beschlossen die schwedische und die finnische Regierung, das Wrack der Estonia mit einem Betonmantel zu umgießen, um das Schiff vor "Tauchtouristen" zu schützen, und den immer noch an Bord befindlichen nicht geborgenen Toten auf diese Weise eine angemessene letzte Ruhestätte zu geben. (Später – Jan. 2000 - Verdacht auf Sprengstoffanschlag!) 16.10.94 Bundestagswahlen krönen das Superwahljahr 257 VON 300 Zum Abschluß des Superwahljahres 1994 erringt die regierende christlich-liberale Koalition in der Bundestagswahl am 16. Oktober einen denkbar knappen Sieg. Trotz Verlusten von 6,4 Prozentpunkten bleibt die Regierung Kohl im Amt. Ausschlaggebend für den Sieg der Koalition war der Wiedereinzug der FDP in den Bundestag. Nur durch sogenannte Leihstimmen aus dem Unionslager schafften die Liberalen den Sprung über die Fünfprozenthürde und verloren im Vergleich zur Bundestagswahl 1990 32 Sitze. Die Mehrheit der Regierungskoalition schrumpfte auf zehn Sitze, acht davon waren Überhangmandate. Trotz 2,3 Prozentpunkten Zuwachs verfehlte die SPD ihr Wahlziel, Kohl abzulösen. Mit Rudolf Scharping scheiterte der vierte sozialdemokratische Herausforderer in Folge an Helmut Kohl. Zufrieden mit ihrem Wahlergebnis konnten die Bündnisgrünen sein, die mit respektablen 7,3 Prozent drittstärkste politische Kraft wurden und mit ihrem Zugpferd Joschka Fischer an der Spitze den Wiedereinzug in den Bundestag feierten. Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl vier Jahre zuvor waren sie im Wahlgebiet West an der Fünfprozenthürde gescheitert. Auch der PDS gelang trotz eines Stimmenanteils von unter fünf Prozent mit vier Direktmandaten der Sprung ins Parlament. 26.10.94 Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien Mit einem großartig inszenierten Festakt in Araba an der israelisch-jordanischen Grenze unterzeichnen der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin und sein jordanischer Amtskollege, Abdel Salam ed Maschali, am 26. Oktober 1994 den Friedensvertrag zwischen ihren beiden Staaten. Der Vertrag bestätigte vor den Augen tausender Ehrengäste das am 25. Juli 1994 vereinbarte Ende des seit der israelischen Staatsgründung 1948 herrschenden Kriegszustandes. Jordanien wurde damit – nach Ägypten – zum zweiten arabischen Land, das mit Israel einen Friedensvertrag abschloß. Der Vertrag sah unter anderem eine Regelung für die strittigen Teile der israelisch-jordanischen Grenze vor, sowie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die gemeinsame Bekämpfung des Terrorismus. Israel anerkannte außerdem die Vorrangstellung Jordaniens bei der Klärung des endgültigen Status Jerusalems. Damit gerieten die Vertragspartner in Widerspruch mit Yassir Arafat, dessen PLO Ost-Jerusalem als Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates für sich beanspruchte. 11.12.94 Kämpfe russischer Truppen in Tschetschenien Rußland duldet keinen Separatismus an seiner Südgrenze. Im Dezember 1994 marschieren russische Truppen und Einheiten des Innenministeriums in Tschetschenien ein. Die etwa 40.000 Mann starke Invasionsarmee rückt mit schweren Waffen auf Grosny vor. Die Truppen lagerten vor der Hauptstadt und begannen am 18. Dezember 1994 mit dem Bombardement der Stadt. Zehn Tage feuerte die russische Armee ohne jegliche Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in die Stadt hinein. Ab dem 28. Dezember 1994 wagten sich Bodentruppen in das Zentrum vor. Tschetschenien hatte seine Unabhängigkeit von Rußland bereits am 1. November 1991 erklärt und auch den Föderationsvertrag mit Moskau vom 31. März 1992 nicht unterzeichnet. Präsident Dschochar Dudajew beharrte trotz der russischen Vorhaltungen und des Widerstandes im eigenen Lande auf seinem strikten Unabhängkeitskurs. In der Folge kam es zu bürgerkriegsähnlichen Straßenkämpfen mit der moskaufreundlichen Opposition. Ab September 1994 gab der russische Präsident Boris Jelzin dann seine Zurückhaltung auf und unterstützte die Opposition gegen Dudajew immer offener. Als auch dies nicht half, entschloß er sich zur Invasion. (Später erneuter Krieg. Entscheidungsschlacht Anfang 2000) 01.01.95 258 VON 300 Dreimal "Ja" und einmal "Nein" zur EU Zum Jahreswechsel erhält die Europäische Union drei neue Mitglieder: Wie im März zuvor beschlossen, treten Österreich, Schweden und Finnland der Gemeinschaft bei. Die größten Probleme auf den Sektoren Landwirtschaft und – im Falle Österreichs – Alpentransit waren nach langwierigen Diskussionen mittels Subventionszusagen und der Beschränkung des LKW-Transits durch Österreich im Laufe der letzten Monate beseitigt worden. Nach der Klärung der Fischereiquoten hatte auch die norwegische Regierung am 16. März den Beitritt zur Gemeinschaft beschlossen. In allen vier Ländern mußten noch Volksbefragungen durchgeführt und die Zustimmung des Parlaments eingeholt werden. Der norwegische Beitritt scheiterte allerdings am Votum der Wähler, die mit 52 Prozent dagegen stimmten. Für Regierungschefin Gro Harlem Brundtland (u.l.), die sich intensiv um den Beitritt bemüht hatte, war das Abstimmungsergebnis eine bittere Niederlage. Sogar die eigene Partei hatte in der Frage des EU-Beitritts nicht geschlossen hinter ihr gestanden. Die EU-Gegner hatten sich mit ihrer Argumentation gegen die zu erwartende Beschränkung der nationalen Selbstbestimmung durch die EU-Bürokratie durchgesetzt. 03.03.95 "Operation Neue Hoffnung" endet erfolglos Mit dem Abzug der letzten 2.400 UN-Blauhelme wird die UN-Mission "Operation Neue Hoffnung" (UNOSOM) erfolglos beendet. Der Mission war es in 27 Monaten nicht gelungen, Somalia zu befrieden. 132 UN-Soldaten waren gefallen und die Kosten beliefen sich auf 1,66 Milliarden US-Dollar. Nach dem Abzug der amerikanischen Soldaten, denen die deutschen in Belet Uen gefolgt waren, bestand die UN-Friedenstruppe nur noch aus pakistanischen und bengalischen Soldaten. Hilflos hatten sich diese zuletzt in ihre Stützpunkte zurückziehen müssen. In Mogadischu waren die Kämpfe am 26. Februar wieder aufgeflammt. Wie bereits vor dem UN-Einsatz verfügten die verfeindeten Milizen wieder über schwere Waffen. Der Abzug der UN-Soldaten wurde von US-amerikanischen und italienischen Soldaten geschützt. Es kam zu Feuergefechten mit somalischen Milizionären. Unmittelbar nach dem Abzug stürmten mehrere hundert Somalier den Flughafen von Mogadischu und plünderten die Einrichtungsgegenstände. Immerhin war es der UNOSOM gelungen, die Hungersnot zu besiegen. Die Ernte 1995 erreichte 80 Prozent des Vorkriegswertes und auf medizinischem Sektor wurden Erfolge verbucht. Obwohl die großen Milizenführer Mohammed Aidid und Ali Mahdi Mohammed am 21. Februar einen erneuten Waffenstillstand schlossen, bestand kaum Hoffnung, daß in dem Land bald Frieden einkehren könnte. Kleinere Milizen bekämpften Aidid und Ali Mahdi. Auch hatten beide getrennte "Nationalkonferenzen" einberufen. Es wurde erwartet, daß sich beide zum Staatspräsident ausrufen und den Kampf gegeneinander wieder aufnehmen werden. 20.03.95 Giftgasanschlag in der U-Bahn von Tokio Ein unheimlicher Terroranschlag in der vollbesetzten Tokioter U-Bahn entsetzt die Welt: In sechs Waggons strömt gleichzeitig das Nervengas Sarin aus. Bald stellt sich heraus: Der Anschlag, bei dem 12 Menschen sterben, und mehr als 5.000 verletzt werden, geht auf das Konto der AUM-Sekte, deren Guru Shoko Asahara für 1997 den Weltuntergang prophezeit hat. Nachdem die Sekte "AUM Shinrykio" ("Höchste Wahrheit"), in Verdacht geraten war, für den Terroranschlag verantwortlich zu sein, untersuchte die Polizei wochenlang die verschiedenen Gebäude der Sekte. Sie entdeckte dabei riesige Chemikalienlager und ganze Chemiefabriken, in denen unter anderem auch der chemische Kampfstoff Sarin produziert werden konnte. Nach der Festnahme des Sektenchemikers Masami Tsuchiya erhärtete sich der Verdacht gegen AUM, der man auch vorwarf, für den Giftgasanschlag 259 VON 300 vom 27. Juni 1994 in Matsumoto verantwortlich zu sein, bei dem sieben Menschen getötet und 58 verletzt wurden. Zwei Monate später konnten die Drahtzieher, AUM-Geheimdienstchef Yoshihiro Inoue und Sektenführer Asahara, verhaftet werden. Führende Sektenmitglieder sagten im Mai schließlich aus, daß der Giftgasanschlag einen Staatsstreich vorbereiten sollte. 26.03.95 Das Schengener Abkommen tritt in Kraft Europa rückt näher zusammen und schottet sich nach Außen ab: Mit Inkrafttreten von "Schengen II" entfallen weitgehend die Grenzkontrollen zwischen 13 europäischen Staaten. Gleichzeitig werden die Kontrollen an den Außengrenzen verstärkt, um den unkontrollierten Zuzug von Nichteuropäern einzudämmen. Ungehindert floß der Grenzverkehr zunächst zwischen den Beneluxstaaten, der Bundesrepublik, Frankreich, Spanien sowie Portugal. Italien und Griechenland blieben, ebenso wie das erst am 28. April 1995 unterzeichnende Österreich wegen fehlender gesetzlicher Voraussetzungen, vorerst ausgeschlossen. Österreich verzichtete erst im April 1998 auf routinemäßige Grenzkontrollen. Ursprünglich hätte das Abkommen, daß in einer ersten Version (Schengen I.) nach fünfjährigen Verhandlungen 1990 abgeschlossen wurde, bereits 1992 in Kraft treten sollen. Wegen anhaltender Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Sicherung der Außengrenzen wurde die Inkraftsetzung jedoch verschoben. Zu diesem Zweck wurde das sogenannte "Schengener Informationssystem" (SIS) eingerichtet, ein Zentralcomputer in Straßburg, durch den die Fahndungssysteme der Mitgliedsstaaten zusammengeschlossen und koordiniert werden können. Ein besonderes Augenmerk bei der Kriminalitätsbekämpfung gilt der illegalen Einreise, dem organisierten Verbrechen und der Drogenkriminalität. 19.04.95 Sprengstoffanschlag fordert 167 Todesopfer Ein katastrophales Sprengstoffattentat in Oklahoma schreckt die amerikanische Öffentlichkeit auf. Rechtsextremisten haben vor einem neunstöckigen Bürogebäude eine Autobombe gezündet, deren Detonation das Haus völlig zerstört. 167 Menschen kamen bei dem Attentat ums Leben, weitere 400 wurden teilweise schwer verletzt. Neben Büros der Bundesverwaltung Oklahomas war in dem Gebäude auch eine Kindertagesstätte untergebracht, so daß unter den Toten auch zahlreiche Kinder waren. Während der folgenden Tagen durchsuchten Hunderte von Rettungssanitätern und Freiwilligen das Gebäude nach Überlebenden. Präsident Bill Clinton erklärte Oklahoma zum Notstandsgebiet und versprach, die Täter dieses bösartigen "Akts der Feigheit" baldmöglichst zu finden und zu bestrafen. Die Bundespolizei nahm wenige Tage später drei mutmaßliche Täter der rechtsradikalen "Arizona-Patrioten" fest. Der Hauptverdächtige, ein 27jähriger rechtsextremistischer Golfkriegsveteran, der die Tat als "Rache für Waco" bezeichnete, wurde im Frühjahr 1997 zum Tode verurteilt. In Waco hatte die amerikanische Bundespolizei zwei Jahre vor dem Anschlag die Ranch der Davidianer-Sekte gestürmt, deren Mitglieder im Verlauf der Belagerung das Gebäude in Brand gesetzt hatten. 85 Menschen waren dabei ums Leben gekommen. 25.04.95 Der Castor rollt trotz Protesten Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen trifft der erste Castor-Spezialcontainer mit Atommüll aus dem badischen Kernkraftwerk Phillipsburg am 25. April 1995 im Zwischenlager Gorleben ein. Der Protest Tausender Atomkraftgegner und des niedersächsischen Umweltministeriums hatte den 55 Millionen Mark teuren Transport nicht verhindern können. 260 VON 300 Mehr als zehn Jahren dauerte der Streit um die erste Einlieferung von hochradioaktivem Müll in das niedersächsische Zwischenlager. Atomkraftgegner versuchten mehrfach, auf dem Klageweg die Einlagerung des strahlenden Materials in die Deponie zu verhindern. Auch Niedersachsens Umweltministerin Monika Griefahn kämpfte gegen den Transport. Eine Weisung von Bundesumweltminister Töpfer vom November 1994 machte den Weg für den "Castor" schließlich frei. Obwohl es zu Beginn des Jahres 1995 Versuche zu einer Kompromißlösung in der Atomfrage gab, schickte Töpfers Nachfolgerin Angela Merkel den Spezialcontainer am 24. April 1995 auf die Reise. Unterwegs kam es immer wieder zu Zwischenfällen zwischen Kernkraftgegnern und der Polizei; dennoch traf der 126 Tonnen schwere Behälter am 25. April um 10 Uhr 30 in Gorleben ein. Die Castor-Transporte blieben aber weiter umstritten: 1997 sorgte der bisher größte Transport für den teuersten Polizeieinsatz aller Zeiten in Deutschland. 11.05.95 Ausbruch der Ebola-Seuche in Zaïre Im Mai 1995 bricht in der zaïrischen Stadt Kikwit eine der gefürchtetsten Epidemien aus: die Ebola-Seuche. Innerhalb weniger Tage sterben über 150 Menschen an der grausamen Krankheit. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 11. Mai bestätigt hatte, daß es sich bei dem Krankheitsauslöser um das Ebola-Virus handelt, stellte die zaïrische Regierung unter Staatspräsident Sese Seko Mobutu die 600.000 Einwohner zählende Stadt unter Quarantäne, um die Ausbreitung zu verhindern. Dennoch traten einzelne Fälle außerhalb des Quarantänegebietes auf. Das Ebola-Virus war 1976 entdeckt worden, als die Seuche in Zaïre und im Sudan über 500 Todesopfer forderte. Gegen das Virus gibt es bis heute kein Gegenmittel. Haut, Lunge, Leber, Nieren, Magen und Darm lösen sich auf. Der Patient blutet am ganzen Körper und stirbt qualvoll binnen weniger Tage. Nur wenige Opfer überlebten bisher die Krankheit. Eine medizinische Erklärung dafür gibt es nicht. Der Seuche in Kikwit fielen auch Ärzte und Krankenschwestern, sowie vier italienische Nonnen, die die Kranken pflegten, zum Opfer. Mangelhafte Hygiene wurde dafür verantwortlich gemacht. Das Virus überträgt sich über Speichel, Blut und Luft. Einweghandschuhe, in Kikwit rar, wurden mehrmals getragen. Anfang Juni wurden keine Neuinfizierten mehr gezählt. Eine Ausbreitung auf andere Länder, die wegen des Flugverkehrs befürchtet wurde, blieb aus. 20.06.95 Greenpeace gegen Shell David gegen Goliath: Durch internationale Boykottaufrufe gelingt es den Öko-Aktivisten von Greenpeace, den Ölgiganten Shell in die Knie zu zwingen - die Ölplattform "Brent Spar" wird nicht im Meer versenkt. Immer mehr Organisationen engagierten sich seit den späten siebziger Jahren für den Umweltschutz und machten ihn weltweit zum Thema. Die immer unübersehbareren Umweltschäden, wie das wachsende Ozonloch oder die Verschmutzung von Luft und Gewässern, taten ihren Teil dazu, um die Regierungen zum Handeln zu bewegen. Greenpeace verhindert "Brent-Spar"-Versenkung Ein Greenpeace-Sprecher gibt in London bekannt, daß der Shell-Konzern auf sein Vorhaben, die Ölplattform "Brent Spar" im Nordatlantik zu versenken, verzichten werde. Die Umweltorganisation hatte den Multi tatsächlich in die Knie gezwungen. Vorausgegangen waren wochenlange spannende Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten der Umweltorganisation und Vertretern des Ölmultis. Am heftigsten waren die Kämpfe um die Plattform selbst. Ende April wurden vier Greenpeace-Aktivisten von Hubschraubern auf der Brent Spar abgesetzt, bevor sie von der Polizei wieder von der Plattform gejagt wurden. In vielen europäischen Ländern, allen voran der Bundesrepublik Deutschland, startete Greenpeace Boykottaufrufe. Die Kampagne war generalstabsmäßig geplant und 261 VON 300 wurde ein großer Erfolg. Repräsentanten fast aller gesellschaftlichen Gruppen und Schichten forderten Shell auf, den 14.500 Tonnen schweren Stahlkoloß nicht zu versenken, sondern an Land zu entsorgen. Nach Konzernangaben war dieser Weg der Entsorgung der ökologisch riskantere, Greenpeace wollte aber in jedem Fall die Sprengung auf offener See vermeiden, da zu befürchten stand, daß die meisten der anderen, mittlerweile ebenfalls schrottreifen Bohrinseln auf dieselbe Art "entsorgt" werden würden. In der BRD folgten zahlreiche Autofahrer dem Aufruf der Umweltschützer und boykottierten die Tankstellen des Konzerns, dessen Umsätze in diesen Wochen um über 20 Prozent zurückgingen. Als die Boykottmaßnahmen sich nun auch auf die Niederlande, Belgien und Großbritannien auszudehnen begannen, beschloß die Konzernleitung aufzugeben und ordnete den Rücktransport der "Brent Spar" in einen norwegischen Fjord an, wo die Maßnahmen zur risikoreichen Entsorgung an Land anliefen. Geschmälert wurde der Erfolg von Greenpeace im Nachhinein, als bekannt wurde, daß die Organisation mit weit übertriebenen Daten gearbeitet hatte. 29.06.95 Bundestag beschließt neues Abtreibungsrecht Mit überwältigender Mehrheit billigt der Bundestag eine Neufassung des Paragraphen 218. Damit gelingt im dritten Anlauf die im Einigungsvertrag vorgeschriebene gesamtdeutsche Regelung des Abtreibungsrechts. Entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ist eine Fristenregelung mit Beratungspflicht vorgesehen. Grundsätzlich blieb der Schwangerschaftsabbruch weiterhin rechtswidrig. Straffrei bleiben Abtreibungen innerhalb der ersten zwölf Wochen, wenn die Schwangere eine vorschriftsmäßige Beratung bei einer offiziellen Beratungsstelle absolviert hat, die sie durch einen "Beratungsschein" nachweisen muß. Die Beratung muß von dem Bemühen geleitet sein, "die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen". Nach anhaltenden Kontroversen in Parlament und Öffentlichkeit schien mit dem Bonner Allparteienkompromiß schließlich eine allen Seiten gerecht werdende Lösung gefunden. Für neuen Konfliktstoff sorgte jedoch bereits ein gutes Jahr später Papst Johannes Paul II., der die deutschen Bischöfe zum Rückzug aus der staatlichen Schwangerenberatung aufforderte. 30.06.95 Ja zum Kampfeinsatz der Bundeswehr Mit 386 gegen 258 Stimmen stimmt der Bundestag einem Antrag der Bundesregierung zu, bewaffnete Streitkräfte der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien einzusetzen. Rund 1.500 Bundeswehrsoldaten werden zur Unterstützung des Schnellen Eingreifverbandes, der den Schutz der UN-Truppen in Bosnien und Kroatien übernimmt, in die Krisenregion verlegt. Umstritten war vor allem der von der Regierung geplante Einsatz von TornadoKampfflugzeugen. Vergeblich forderte die SPD-Fraktion, sich auf medizinische und logistische Hilfe zu beschränken. Bündnis 90/Die Grünen und PDS lehnten es grundsätzlich ab, deutsche Soldaten in das ehemalige Jugoslawien zu schicken. In Ausführung des Bundestagsbeschlusses wurden etwas mehr als 500 Sanitätssoldaten nach Trogir in der Nähe der kroatischen Hafenstadt Split geschickt, um dort gemeinsam mit französischen Einheiten ein Feldlazarett aufzubauen. Die Luftwaffe verlegte 2 Fernaufklärer, 12 Transall-Transporter und 14 Tornado-Kampfflugzeuge ins italienische Piacenza. Am 1. September flogen die Tornados der Luftwaffe ihren ersten offiziellen Einsatz über Bosnien. 13.08.95 Touristen als Geiseln im Kaschmirkonflikt 262 VON 300 Auf brutale Weise wird ein 27jähriger norwegischer Tourist im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir ermordet. Der Konflikt in der Kaschmirregion tritt damit in eine neue Phase. Der Norweger Hans Christian Ostro war am 4. Juli zusammen mit einem Deutschen, zwei Briten und einem US-Amerikaner entführt worden. Zur Tat bekannte sich die bis dahin unbekannte Gruppe "Al-Faran", die die Sezession Kaschmirs von Indien als politisches Ziel angab. Die Entführer forderten die Freilassung von 15 inhaftierten Separatisten und drohten mit der Ermordung der Geiseln. Die indische Regierung unter Venkata Narasimha Rao weigerte sich, auf die Forderung einzugehen und wurde von US-Präsident Bill Clinton darin unterstützt. Nachdem Al-Faran mehrere Ultimaten gestellt hatte, die allesamt verstrichen waren, enthaupteten sie den Norweger als erste Geisel. Daraufhin ließ die indische Regierung 24 inhaftierte Separatisten frei, nicht aber diejenigen, die von den Entführern genannt worden waren. Die anderen Touristen kamen dennoch nicht frei, über ihr Schicksal gab es auch 1997 noch keine zuverlässigen Hinweise. In der Kaschmirregion eskalierte die Lage weiter: Am 16. August beteiligten sich weite Bevölkerungsteile an einem Generalstreik, um den Unabhängigkeitswillen der Region zu unterstreichen. Der Konflikt hatte bereits 40.000 Menschenleben gekostet, 500.000 indische Sicherheitskräfte waren im Kaschmir stationiert worden. 30.08.95 NATO-Luftoffensive gegen serbische Stellungen Scharmützel hatte es vereinzelt gegeben. Ende August 1995 eröffnet die NATO jedoch eine Luftoffensive gegen serbische Stellungen, die Karadzic und Mladic endgültig die Mittel zur offensiven Kriegsführung aus der Hand nehmen. Ziele waren der Belagerungsring um Sarajevo, die noch verbliebenen Muslim-Enklaven Tuzla und Gorazde sowie die Serben-Zentrale Pale. Die Forderung nach massiven Luftschlägen der NATO war seit längerem im Raum gestanden. Es hatte jedoch Bedenken gegeben, die auch im serbischen Machtbereich stationierten Blauhelm-Soldaten könnten Opfer von Vergeltungsaktionen werden. Zudem verhielt sich Washington während des gesamten Bosnienkrieges eher zurückhaltend, die öffentliche Meinung stand einem stärkeren Engagement lange entgegen. Mitte 1995 kam der Umschwung: UNO-Soldaten waren als Geiseln genommen worden, die "Schutzzonen" Zepa und Srebrenica waren von den Serben gestürmt worden und es verdichteten sich die Hinweise, daß alle Männer Srebrenicas, die den Serben in die Hände fielen, ermordet worden waren. Ein verheerender Granatenangriff auf Sarajevo wurde zum letzten Auslöser für den Einsatzbefehl an 60 NATO-Flugzeuge. Die Luftoffensive dauerte zwei Wochen, dann signalisierten die Serben ein Einlenken auf den westlichen Kurs, der schließlich im November in den Vertrag von Dayton einmündete. 05.09.95 Atombombenversuch trotz weltweiter Proteste Es hagelt wütende internationale Proteste, als der neue französische Staatspräsident Chirac auf dem Mururoa-Atoll im Südpazifik die erste Atombombe einer ganzen Testreihe zünden läßt. Chirac hielt an seinem Plan fest, versuchte ihn fünf Tage später nochmals mit der angeblichen Bedrohung Frankreichs durch einige Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu rechtfertigen. Auch als Antwort auf zwei chinesische Atomtests seit der Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages im Mai 1995 sei, so Chirac, das französische Vorgehen zu vertreten. Die Explosion bewirkte eine weltweite Reaktion ohne Beispiel. In der Hauptstadt von Französisch-Polynesien, Papeete, zündete eine aufgebrachte Menge den Flughafen und andere Gebäude an, vor den französischen Botschaften in Australien und Neuseeland kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. In Deutschland strichen viele Restaurants französische Gerichte und Weine von den Speisekarten. Die Schiffe der Umweltschutzorganisation Greenpeace, die eine Sternfahrt zum Mururoa-Atoll organisiert 263 VON 300 hatten, wurden von der französischen Marine gekapert. Mit stoischer Ruhe und Arroganz reagierte Chirac auf die weltweite Entrüstung, der sich auch zahlreiche Politiker aus den verbündeten europäischen Staaten anschlossen. Eine zweite, fünf Mal stärkere Explosion erschütterte am 2. Oktober das Fangataufa-Atoll, ein dritte folgte erneut auf Mururoa am 27. Oktober. Die Testserie wurde bis Januar 1996 fortgesetzt. 22.10.95 Die Vereinten Nationen feiern Geburtstag Zwischen dem 22. und 24. Oktober 1995 findet in New York anläßlich des 50jährigen Bestehens der Vereinten Nationen im Rahmen der UN-Vollversammlung ein Gipfel von rund 150 Staats- und Regierungschefs statt. Es gilt, ein Resümee der Arbeit seit 1945 zu ziehen. Die 185 Mitgliedstaaten gestanden Fehlentwicklungen ein und verabschiedeten eine Resolution zur umfassenden Reorganisation der UNO. Der UN-Sicherheitsrat sollte erweitert werden, der Wirtschafts- und Sozialrat mehr Kompetenzen erhalten und der Vollversammlung ein stärkeres Gewicht beigemessen werden. Besonders die schlechte Zahlungsmoral vieler Mitgliedsstaaten wurde angeprangert. Nur 67 Staaten hatten alle Beiträge bezahlt. Größter Schuldner waren die USA mit 1,2 Milliarden US Dollar, gefolgt von Rußland mit 540 Millionen US-Dollar. UN-Generalsekretär Butros Butros-Ghali beklagte das allgemein geringe Budget der UNO in Höhe von 800 Millionen Dollar. Allein die Polizei von New York verfügte dagegen über einen Jahresetat von 1,2 Milliarden Dollar. Befremden löste die Absage von Bundeskanzler Helmut Kohl aus. Mit dem Hinweis, daß jedem Redner nur fünf Minuten zur Verfügung stünden, blieb er dem Gipfel fern und feierte lieber das 50jährige Bestehen der CSU. Die SPD-Opposition warf Kohl vor, der Bundesrepublik schweren Schaden zugefügt zu haben. Durch das Verhalten Kohls würden nun die Aussichten Deutschlands auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verringert. Kubas Staatschef Fidel Castro betrat zum ersten Mal seit 1979 US-amerikanischen Boden, um am Gipfel teilzunehmen. 20.11.95 Vertrag von Dayton Erst auf massiven Druck der US-Regierung lenken die Präsidenten von Bosnien, Serbien und Kroatien, Izetbegovic, Milosevic und Tudjman, ein. Nach dreiwöchigen Verhandlungen im US-Stützpunkt Dayton/Ohio kommt ein Friedensvertrag für Bosnien-Herzegowina zustande. Bis zum letzten Augenblick schienen die Gespräche zum Scheitern verurteilt. US-Präsident Clinton erklärte, die Verhandlungspartner hätten eine "historische und heldenhafte Wahl" getroffen. Nach fast vier Jahren könne nun der "schlimmste Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa" beendet werden. Ein maßgebliches Verdienst an dem Zustandekommen der Kompromißlösung schrieben Beobachter dem amerikanischen Chefunterhändler Richard Holbrooke (u.l.) zu. Das Abkommen von Dayton sah vor, Bosnien-Herzegowina als international anerkannten Staat in seinen jetzigen Grenzen zu erhalten. Faktisch bestand der Staat jedoch aus zwei Teilen, einer muslimisch-kroatischen Föderation mit 51 Prozent und den serbischkontrollierten Gebieten mit 49 Prozent des Territoriums. Die Zentralregierung sollte für Außen- und Geldpolitik sowie für den Außenhandel zuständig sein. Einige strittige Punkte, wie der Brcko-Korridor, blieben aber ausgespart. Das Abkommen sah weiterhin vor, daß seine Umsetzung von der NATO garantiert wird. Unmittelbar nach Paraphierung des Abkommens begann die NATO mit den Vorbereitungen für die Entsendung einer 60.000 Mann starken Friedenstruppe. 06.12.95 Große Mehrheit für IFOR-Beteiligung Mit großer Mehrheit billigt der Bundestag die Entsendung von 4.000 deutschen Soldaten als Teil der internationalen Friedenstruppe für Bosnien (IFOR). Nachdem die SPD bereits im 264 VON 300 Vorfeld mehrheitlich ihre Zustimmung signalisiert hat, stimmt diesmal auch ein Teil der Grünen-Fraktion für den Militäreinsatz. Vor allem Fraktionssprecher Joschka Fischer hatte in letzter Zeit mehrfach betont, daß ein unbedingtes Festhalten am Pazifismus nicht mehr situationsgerecht sei. Bei der Abstimmung votierte fast die Hälfte der Grünen-Abgeordneten für den Regierungsantrag, obwohl sich erst am 3. Dezember ein Grünen-Parteitag in Bremen eindeutig gegen die Stationierung ausgesprochen hatte, was zu einem parteiinternen Streit zwischen "Realos" und "Pazifisten" führte. Lediglich die PDS stimmte geschlossen gegen einen BundeswehrEinsatz in Ex-Jugoslawien. Wenige Tage später trafen die ersten deutschen Soldaten an ihren Einsatzorten ein. Die Verbände wurden in Kroatien stationiert, der Kern ihres Einsatzes lag bei Transport- und Versorgungsmaßnahmen: Pioniereinsätze dienten der Instandsetzung von Straßen und der Minenräumung, das deutsch-französische Militärhospital bei Split wurde ausgebaut, die Luftwaffe stellte Transportmaschinen und Tornados zur Luftraumkontrolle. 25.01.96 Rußland im Europarat Die parlamentarische Versammlung des Europarates bestätigt Rußlands Aufnahme als 39. Mitglied der Organisation auf. Bis auf die Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist nun das gesamte Europa in dieser einstigen Domäne des Westens vertreten. In der vorangegangenen Debatte hatten die Parlamentarier allerdings scharfe Kritik an den russischen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien geübt und die Abschaffung der Todesstrafe in Rußland gefordert. Außerdem war beschlossen worden, daß ein Sonderausschuß die Grundrechtssituation in Tschetschenien überwachen sollte und Rußland die Menschenrechtskonvention des Europarates zu unterzeichnen habe. Während die Gegner einer Mitgliedschaft Rußlands darauf verwiesen, daß Rußland kein Rechtsstaat sei, argumentierten die Befürworter damit, daß eine Ablehnung die rechtsradikalen und nationalistischen Kräfte in Rußland stärken könnte. Außerdem seien Frieden und Sicherheit in Europa nur gemeinsam mit Rußland zu sichern. Der russische Präsident Boris Jelzin (u.l.), der in einem Appell den Rat vehement vor einer Ablehnung gewarnt hatte, reagierte folglich zufrieden auf das Abstimmungsergebnis. Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch/Helsinki kritisierte dagegen das Straßburger Votum heftig: Der Rat hätte vor seiner Entscheidung die Entwicklung im Tschetschenienkonflikt abwarten sollen. 06.02.96 Deutsche Touristen sterben bei Flugzeugabsturz Mit dem Absturz einer Boeing 757 der türkischen Fluggesellschaft Birgen Air vor der Küste der Dominikanischen Republik erlebt die deutsche Charter-Touristik am 6. Februar 1996 ihre bislang schwerste Katastrophe. Keiner der 189 Passagiere und Crew-Mitglieder, darunter 164 deutsche Urlauber, überlebte das Unglück. Das Flugzeug war wenige Minuten nach dem Start in Puerto Plata aus zunächst ungeklärter Ursache ins Meer gestürzt. Erst nach der Auswertung des Flugschreibers konnten die Gerüchte über einen terroristischen Hintergrund oder eine Explosion widerlegt werden: Als Unglücksursache ermittelten die Behörden Instrumentenfehler und menschliches Versagen. Eigentlich hätte schon der Start wegen unterschiedlicher Anzeigen der Tachometer abgebrochen werden müssen, offensichtlich waren die Piloten jedoch nicht ausreichend auf diesem Flugzeugtyp geschult worden. Wenige Minuten nach dem Start zeigten die Instrumente die normale Fluggeschwindigkeit von 350 Knoten an, doch die Maschine flog tatsächlich nicht einmal halb so schnell. Alle Versuche der Besatzung, den Schub zu erhöhen, waren vergeblich, es kam zu einem Strömungsabriß, die Maschine stürzte ins Meer. Das Jahr 1996 wurde zum schwärzesten Jahr der internationalen Luftfahrt seit einem Jahrzehnt: 40 schwere Unglücke mit mehr als 1.700 Toten. 265 VON 300 03.03.96 Attentate bedrohen den Friedensprozeß Mit mehreren verheerenden Selbstmordattentaten innerhalb weniger Tage versucht die radikal-islamische palästinensische Untergrundbewegung Hamas den Friedensprozeß zu stoppen. Nachdem am 3. März 1996 in Jerusalem durch eine Bombe in einem Linienbus 19 Menschen ums Leben gekommen waren, starben einen Tag später in Tel Aviv 13 Menschen bei einem Bombenanschlag. Bereits am Wochenende zuvor waren bei zwei anderen Hamas-Anschlägen in der israelischen Hauptstadt und in der Mittelmeerstadt Aschkelon 28 Menschen ums Leben gekommen. Israels Premier Shimon Perez erklärte nach den Attentaten der Hamas den Krieg. Die israelische Regierung beschloß, einen zwei Kilometer breiten Sicherheitssreifen entlang der Grenze zum Westjordanland zu errichten und einer eigens ins Leben gerufenen Anti-TerrorEinheit freie Hand im Kampf gegen militante Muslime zu gewähren. Auch der Chef der palästinensischen Autonomiebehörde, Yassir Arafat, forderte zum Kampf gegen den Terrorismus auf. Mehr als 10.000 Palästinenser demonstrierten in Gaza gegen Gewalt. Nach dem Anschlag in Tel Aviv brach die israelische Regierung die jüngste Runde der Friedensgespräche mit Syrien praktisch ab und zog ihre Verhandlungsdelegation aus Washington zurück. In Israel standen vorgezogene Parlamentswahlen vor der Tür. Shimon Perez hatte nach dem Mord an Premierminister Rabin die Wahl gefordert, um ein klares Votum für seine Friedenspolitik zu erhalten. Die neue Terrorwelle war wohl mit ausschlaggebend für den folgenden Wahlsieg der israelischen Rechten unter Benjamin Netanjahu. 12.03.96 Rätselraten um Ende einer Entführung Die beiden auf Costa Rica entführten Touristinnen, die Deutsche Nicola Fleuchhaus und ihre Schweizer Reiseleiterin Regula Siegfried, sind von ihren Entführern freigelassen worden. Die Entführer, eine Gruppe namens "Comando Viviana Gallardo", hatten die Frauen in einem Urwaldhotel überfallen und in den Dschungel verschleppt. Bereits am 2. Januar übermittelten die Entführer der costaricanischen Regierung ihre Forderungen: Sie forderten eine Millionen Dollar Lösegeld, eine 18prozentige Anhebung der Gehälter der Staatsangestellten sowie die Freilassung politischer Gefangener. Die Regierung in San José lehnte die Forderungen ab und versuchte statt dessen – allerdings vergeblich – mit Hilfe von Militär und Polizei die Entführer, die mittlerweile mit ihren Geiseln wahrscheinlich die Grenze nach Nicaragua überschritten hatten, im Urwald aufzuspüren. Erst als Angehörige der Geiseln vor Ort aktiv wurden, kam Bewegung in die Affäre. Anfang März einigten sich Vermittler der Familien und die Kidnapper auf die Zahlung von 200.000 Dollar, von ihren politischen Forderungen hingegen nahmen die Entführer Abstand. Nachdem im April der Kopf der Rebellen, der Nicaraguaner Julio Cesar Vega, festgenommen worden war, geriet der Entführungsfall erneut in die Schlagzeilen: Die Entführungsopfer führten mittlerweile gegeneinander einen Kleinkrieg wegen der Vermarktungsrechte des Falles, während gleichzeitig Photos an die Öffentlichkeit gelangten, die die 25jährige Fleuchhaus in eindeutig intimer Pose mit dem Boß der Kidnapper zeigte. 29.05.96 Konservative gewinnen Wahl in Israel Eine knappe Mehrheit reicht Benjamin Netanjahu, dem Führer des konservativen LikudBündnisses, um den amtierenden Regierungschef Shimon Perez abzulösen. Netanjahu erringt 50,5 Prozent, Perez nur 49,5 Prozent der Stimmen. Nach dem geänderten Wahlgesetz von 1992 hatten die Israelis erstmals die Möglichkeit, mit zwei Stimmen über den Ministerpräsidenten und die Zusammensetzung des israelischen Parlaments, der Knesset, zu entscheiden. Perez' Arbeiterpartei gewann 34 von 120 Sitzen in der Knesset, der Likud-Block folgte mit 32 Sitzen. 266 VON 300 Die Wahl war zugunsten Netanjahus entschieden, nachdem sich 80.000 arabische Bewohner Israels der Stimme enthalten hatten, um gegen den Militärschlag gegen die Hisbollah-Milizen im Libanon zu protestieren, den Perez am 11. April 1996 veranlaßt hatte. Perez beabsichtigte eigentlich, durch die vorgezogenen Wahlen ein breites Mandat für die Fortsetzung der Aussöhnungspolitik mit den Palästinensern zu erlangen. Netanjahu galt hingegen als strikter Gegner der Friedenspolitik. Im September 1996 führte Netanjahus kompromißlose Politik zu erneuten Unruhen in Jerusalem und dem Westjordanland. 04.06.96 Ariane 5 explodiert in 4000 Meter Höhe Empfindlicher Rückschlag für das europäische Raumfahrtprogramm: Die Trägerrakete Ariane 5 explodiert wenige Sekunden nach ihrem Start vom Raumbahnhof Kourou in Französisch-Guyana in einer Höhe von 4.000 Metern. Zu dem Absturz kam es, weil das Steuersystem der 750 Tonnen schweren Rakete eine Fehlfunktion hatte, so daß Teile der Rakete während des Fluges abbrachen. Sie wurde automatisch gesprengt. Bei dem Absturz wurden auch die vier Satelliten zerstört, die die Ariane 5 in eine Umlaufbahn bringen sollte. Insgesamt entstand dabei ein Schaden von mehr als einer Milliarde DM. Die Ariane 5 war das neueste Raketenmodell der europäischen Raumfahrtorganisation ESA. Sie war speziell für den Transport von Satelliten entwickelt worden und sollte ein wirtschaftlicher Stützpfeiler der ESA werden. Seit 1985 hatte die Entwicklung der Trägerrakete etwa 11,6 Milliarden DM verschlungen. Die Bundesrepublik Deutschland war mit mehr als einem Fünftel an den Investitionen beteiligt, darüber hinaus wurden große Teile der Rakete in Deutschland gebaut. 28.06.96 Regierung beschließt "Sparpaket" Innenpolitisches Reizthema Nummer eins des Jahres 1996 ist neben der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit das im April von Bundeskanzler Helmut Kohl (l.) angekündigte "Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung", zu dessen Durchsetzung der Bundestag am 28. Juni das sogenannte "Sparpaket" verabschiedet. Durch drastische Sparmaßnahmen vor allem im Sozialbereich sollten die Etats von Bund und Ländern um etwa 75 Milliarden DM entlastet werden. Zentrale Punkte des Paketes waren die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Lockerungen der tariflichen Bestimmungen zum Kündigungsrecht, die Anhebung des Rentenalters für Frauen, Einschränkungen der Anrechnung von Ausbildungszeiten auf die Rente sowie die Senkung der Arbeitslosenhilfe. Hinzu kamen zahlreiche Neuregelungen im Gesundheitswesen. Bereits im Vorfeld hatte sich in den Reihen der Opposition und der Gewerkschaften starker Widerstand vor allem gegen die Einschnitte in die Tarifautonomie formiert, der Mitte Juni in der größten Gewerkschaftskundgebung der bundesdeutschen Geschichte gipfelte. 350.000 Menschen folgten dem Aufruf der Gewerkschaften und demonstrierten in Bonn gegen das Sparpaket. SPD-Chef Oskar Lafontaine protestierte gegen die soziale Unausgewogenheit der Pläne und stellte die provokative Frage nach dem "Sparpaket für die Vermögenden und Wohlhabenden". 29.06.96 Islamist wird türkischer Regierungschef Neçmettin Erbakan, Chef der islamistisch-fundamentalistischen Wohlfahrtspartei, wird neuer türkischer Ministerpräsident. Bricht die Türkei mit ihrem abendländischen Erbe? Tansu Ciller, Chefin der "Partei des Rechten Weges", deren Regierungskoalition mit der Mutterlandspartei von Mesut Yilmaz auseinandergebrochen war, wurde nun Außenministerin. Allzu nachdrücklich hatte Yilmaz nach dem Verbleib von zehn Mio. Dollar aus einem Geheimfond gefragt und somit die bereits seit längerem kursierenden Korruptionsvorwürfe gegen Ciller angeheizt. Derart in Bedrängnis geraten, ließ die ExRegierungschefin die Koalition platzen und ging mit Exfeind Erbakan ein 267 VON 300 Regierungsbündnis ein. Gemeinsam bewirkten sie die Einstellung parlamentarischer Untersuchungen zu den Korruptionsvorwürfen. Doch der Verdacht blieb bestehen: Angeblich hatte sich das Vermögen der Familie Cillers innerhalb von drei Jahren von 13 auf 70 Millionen Mark vermehrt. Die Koalition stieß vor allen bei den westlichen Bündnispartnern der Türkei auf starke Bedenken, da der Islamist Erbakan Einschränkungen der demokratischen Freiheiten ankündigte. Ein Freundschaftsbesuch bei Libyens Staatschef Gaddafi im Juli bestätigte die Vorwürfe. Binnen weniger Monate gab es zahlreiche Mißtrauensanträge gegen die Regierung, die schließlich im Juni 1997 wieder zerbrach. 30.06.96 Dritter Europameistertitel für Deutschland Die deutsche Fußballnationalmannschaft wird durch einen 2:1-Sieg über das tschechische Nationalteam im historischen Wembley-Stadion in London Fußball-Europameister. Nach 1972 und 1980 ist es bereits der dritte Gewinn dieses Titels für Deutschland. Die Europameisterschaft im "Mutterland des Fußballs" stand im Zeichen einiger regeltechnischer Neuerungen wie dem "Golden-Goal". Für das deutsche Team erwies sich diese Regel als Glücksgriff. Nachdem die Mannschaft von Bundestrainer Berti Vogts in einem vorgezogenen Endspiel im Halbfinale die englischen Gastgeber durch Elfmeterschießen aus dem Rennen geworfen hatte, erzielte im Finale der in der 69. Minute eingewechselte "Joker" Oliver Bierhoff in der vierten Minute der Nachspielzeit das "goldene" Siegtor gegen die Tschechen. Der beim italienischen Erstligisten Udinese Calcio spielende Bierhoff hatte bereits vier Minuten nach seiner Einwechslung per Kopfball die 1:0-Führung der Tschechen aus der 59. Minute egalisiert. Wegen der zahlreichen Elfmeterschießen setzte nach dem Turnier erneut eine heftige Diskussion um Sinn oder Unsinn der Golden-Goal-Regel ein, die allerdings - trotz aller Kritik - für die Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich zunächst einmal beibehalten wurde. 17.07.96 TWA-Jumbo explodiert vor Long Island In der Nacht des 17. Juli 1996 explodiert eine aus New York kommende Boeing 747 auf dem Weg nach Paris über dem Atlantik vor Long Island. Für die 230 Passagiere und Besatzungsmitglieder kommt jede Hilfe zu spät. Zunächst wurde vermutet, daß der Jumbo-Jet durch einen terroristischen Raketenangriff zerstört wurde. Doch weder diese Annahme noch das Vorhandensein einer versteckten Bombe an Bord konnte zweifelsfrei bestätigt werden. Schließlich kam man zu dem Ergebnis, daß sich im nahezu leeren Haupttank des Flugzeugs ein explosives Gasgemisch gebildet hatte, das durch Funken entzündet worden und explodiert war. Die Ursache des Funkenschlags blieb jedoch unklar. Das Unglück war eines der schlimmsten in einer ganzen Reihe von Flugzeugabstürzen in diesem Jahr. Nachdem bereits im Februar 189 Menschen Opfer eines Flugzeugabsturzes geworden war, ereigneten sich auch noch in den letzten Monaten des Jahres zwei folgenschwere Abstürze in Indien und auf den Komoren. 07.08.96 Schlammlawine reißt 71 Urlauber in den Tod Nach tagelangen heftigen Regenfällen verwandelt am Abend des 7. August eine Schlammlawine einen Campingplatz nahe der Ortschaft Biescas in der Nähe der Mündung des Aras in den Pyrenäen innerhalb weniger Minuten in ein Meer aus Wasser und Schlamm. 71 Urlauber werden mit in den Tod gerissen, über 200 Camper erleiden Verletzungen. Oberhalb des Campingplatzes hatten sich in einem Bach Gesträuch und Geröll hinter einer kleinen Brücke gestaut. Als der Druck zu stark wurde, gab die Brücke schließlich nach und die Geröllmassen wälzten sich den Hang hinunter. Autos und Wohnwagen wurden bis zu einem Kilometer weit fort geschwemmt. Die meisten Urlaubsgäste wurden während des 268 VON 300 Abendessens von der Lawine überrascht und hatten kaum eine Chance, sich zu retten. Die Wucht der Lawine riß alles mit sich, Menschen, Tiere, Autos und Wohnwagen. Noch in 15 Kilometer Entfernung wurden in den nächsten Tagen Opfer der Katastrophe geborgen. Geologen hatten schon früher vor der Anlage eines Zeltplatzes in der Nähe dieses Gebirgsbaches gewarnt. Öffentliche Stellen wiesen allerdings jegliche Kritik an etwaigen fehlenden Sicherheitsmaßnahmen zurück. Ganz Spanien reagierte auf die Katastrophe mit Betroffenheit. Ministerpräsident José Maria Aznar und Innenminister Jaime Mayor Oreja eilten in das Katastrophengebiet. Selbst König Juan Carlos (li.) verließ sein Urlaubsdomizil in Palma de Mallorca, um sich vor Ort ein Bild von der Tragödie zu machen. 15.08.96 Skandal um Kinderschänder Die Verhaftung von Marc Dutroux offenbart die skrupellosen Methoden der Internationale der Kinderschänder. Die Folterstätten des belgischen Päderasten erregen europaweites Entsetzen. In regelmäßigen Abständen beherrschen Gewaltverbrechen die Schlagzeilen. Massenmörder wie Jack the Ripper oder Fritz Haarmann beschäftigten die Phantasie der Menschen ebenso wie spektakuläre Entführungsfälle und Geiselnahmen. Kinderschänder Dutroux verhaftet Mit der Verhaftung des pädophilen Marc Dutroux und den Leichenfunden zweier seit über einem Jahr vermißten Mädchen kommt in Belgien ein Kinderschänder-Drama ungeheuren Ausmaßes ans Licht. Selbst hohe Justiz- und Polizeikreise geraten ins Zwielicht. Jahrelang hatte der arbeitslose Elektrotechniker Dutroux unbehelligt kleine Mädchen mißbraucht, obwohl er nach seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft, die er wegen sexuellen Mißbrauchs verbüßte, eigentlich unter Polizeiaufsicht stand. Dutrouxs Kinderporno-Ring flog auf, als Gendarmerie und Staatsanwaltschaft einer kleinen Gemeinde nach dem Verschwinden der 14jährigen Laetitia Delherz sofort ihre Fahnder von Haus zu Haus schickten. Als diese mit Hilfe sachdienlicher Hinweise aus der Bevölkerung auf Dutroux stießen, enthüllten sie eine Horrorgeschichte unvorstellbaren Ausmaßes. Dutroux hatte eigene Verließe gebaut, in denen er die entführten Mädchen brutal quälte, mit Drogen gefügig machte und dann vor laufender Kamera mißbrauchte. Die Pornofilme verkaufte er weltweit für teures Geld. Nach Interpol-Angaben haben organisierte Kinderporno-Ringe eine milliardenschwere Industrie mit weltweitem Vertriebsnetz aufgebaut. Das Entsetzen in Belgien eskalierte, als zwei Tage später die Leichen der seit Juni 1995 vermißten achtjährigen Freundinnen Julie Lejeune und Mélissa Russo auf einem weiteren Grundstück Dutroux’ verscharrt aufgefunden wurden. Die Mädchen waren mißhandelt und anschließend ermordet worden. 24.10.96 Giftmüllskandal der Entsorgungsbetriebe Größte Razzia in der Geschichte der Bundesrepublik: Die Staatsanwaltschaft war auf die Spuren eines Giftmüllskandals ungeahnten Ausmaßes gekommen. 140 Objekte der Sondermüll- und Recycling-Branche in 14 Bundesländern werden durchsucht. Die Bundesstaatsanwaltschaft stellte Berge an Beweismaterial sicher. Acht Beschuldigte wurden festgenommen, gegen sieben lagen bereits Haftbefehle vor. Der Vorwurf gegen die Unternehmen lautete auf illegale Beseitigung von hochgiftigem Sondermüll. Demnach wurden Giftschlämme von den Unternehmen billig entsorgt, indem sie auf dem Papier in harmloses Altöl umdeklariert wurden, das dann anderen Baustoffen untergemischt wurde. Durch diese Praxis erwirtschafteten die Unternehmer Millionengewinne. Den Männern im Alter von 35 bis 53 Jahren wurde Bildung einer kriminellen Vereinigung, schwere 269 VON 300 umweltgefährdende Abfallbeseitigung, Bodenverunreinigung sowie Betrug und Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen vorgeworfen. Nicht nur Privathaushalte- und Büros wurden durchsucht. Die Ermittlungen erstreckten sich auch auf Ämter und Behörden, ohne deren Mithilfe der Betrug nicht funktioniert hätte. Hier lautete der Verdacht auf Korruption und Bestechung. Der Schaden, der durch die Giftschlammschiebereien angerichtet wurde, belief sich auf einen dreistelligen Millionenbetrag. Achtjähriger stirbt nach Giftgaskontakt Die Firma Stoltzenberg in Hamburg hatte verschiedene chemische Gifte, Sprengstoffe und Kampfstoffe hergestellt, bevor sie Mitte der 70er Jahre stillgelegt wurde. Ihr Betriebsgelände in der unmittelbaren Umgebung des Hamburger Volkspark-Stadions wurde weiter zur Lagerung und Entsorgung von Chemiemüll verwendet. Darüber hinaus diente das Areal dem Katastrophenschutz zu Übungen von Chemieunfällen. Die zuständigen Behörden gingen davon aus, daß auf dem Gelände keine gefährlichen Stoffe lagerten. Am 6. September 1979 starb jedoch ein achtjähriger Junge an den Folgen einer Vergiftung, nachdem er auf dem Stoltzenberg-Gelände gespielt und mit gefährlichen Chemikalien in Berührung gekommen war. Bei der Untersuchung des Areals fand man unter anderem Zyankali und Kampfgas, das dort ohne Sicherheitsvorkehrungen abgestellt worden war. Die Bergung der Chemiekalien erforderte die vorsorgliche Evakuierung der umliegenden Wohnungen sowie die Sperrung des VolksparkStadions. 12.11.96 Flugzeuge kollidieren in der Luft Ein Alptraum wird wahr: Erstmals in der Geschichte der Luftfahrt stoßen zwei Maschinen in der Luft zusammen. Bei dem Unglück, etwa 60 Kilometer nördlich von Neu Delhi sterben 349 Menschen. Eine Boeing 747 der saudischen Fluggesellschaft "Saudia" war mit 312 Menschen an Bord in Neu Delhi mit Kurs auf Saudi-Arabien gestartet. Nach sieben Minuten tauchte eine Iljuschin 76 der Kazhak Airways vor ihr auf, deren Piloten offensichtlich die Anweisungen des Towers falsch verstanden hatten und etwa 1.000 Fuß zu hoch flogen. Der Zusammenstoß war unausweichlich: Über 4.000 Meter über der Stadt Chakhi Dadri kollidierten die beiden Maschinen. Die meisten der Opfer waren mohammedanische Pilger auf dem Weg nach Dschidda in Saudi-Arabien. Nach dem Unglück wurden schwere Vorwürfe laut: Schon öfters war in der Vergangenheit die Pilotenausbildung der Staaten der ehemaligen UdSSR kritisiert worden, oft verfügten die Piloten nicht über ausreichende Englischkenntnisse. Doch offensichtlich waren auch im Tower in Neu Delhi Fehler gemacht worden: Offensichtlich war die Entfernung zwischen den beiden Maschinen falsch berechnet worden. Die Auswertung der letzten Sätze zwischen dem Tower und dem Piloten bewiesen, daß die Fluglotsen die saudische Maschinen etwa 20 Kilometer weiter entfernt vermuteten. 18.11.96 Die Telekom geht an die Börse Höhepunkt der Privatisierung von Staatsunternehmen unter der Regierung Helmut Kohls: Das Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost, die "Deutsche Telekom", steigt mit der sogenannten T-Aktie in den internationalen Wertpapierhandel ein. 270 VON 300 Einen Monat vor dem Börsengang hatten das Parkett in New York und Frankfurt absolute Höchstwerte für Aktien gemeldet, der "Dow-Jones-Index" hatte am 14. Oktober erstmals die 6.000-Punkte-Marke erreicht, und auch der deutsche Aktienindex DAX notierte mit fast 2.729 Punkten einen neuen Höchststand. Mit beispiellosem Aufwand hatte die Telekom in den Vormonaten die T-Aktie beworben und eine Vielzahl der ansonsten eher aktienskeptischen Deutschen zum Kauf der Papiere bewogen. Die Emission der Aktie war fünffach überzeichnet, viele Kaufwünsche konnten nicht berücksichtigt werden, und dies, obwohl über den Eröffnungswert der Aktie nichts bekannt geworden war. Bei riesigem Presseandrang wurde schließlich der Wert der Aktie auf DM 28,50 fixiert, einen Tag später lag er bereits bei DM 33,-. Bei über 713 Millionen verkauften Aktien flossen also über 20 Mrd. DM in die Kassen der Telekom. Überaus zufrieden äußerten sich denn auch Telekom-Chef Ron Sommer, Finanzminister Theo Waigel und Postminister Wolfgang Bötsch: Endlich sei den Bundesbürgern der Angst vor der Aktie genommen worden, so Sommer. Die Hoffnungen auf einen weiteren Anstieg des Kurses erfüllten sich allerdings vorerst nicht: Bis Mitte Januar 1997 war der Wert der Aktie wieder auf etwa DM 30,- gesunken. Bereits im Vorfeld hatten Experten vor überzogenen Hoffnungen gewarnt. 23.11.96 Flugzeugentführer verursachen Absturz Nur elf Tage nach der Flugzeugkatastrophe in Indien kommen am 23. November 1996 bei einer Notlandung auf dem Wasser, nur wenige hundert Meter vor einem Badestrand der Komoren-Hauptinsel Gran Comore, 125 Menschen ums Leben. Wenige Minuten nach dem Start in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba waren zwei Luftpiraten ins Cockpit eingedrungen und hatten den Piloten gezwungen, vom ursprünglichen Kurs nach Kenia abzudrehen und nach Australien zu fliegen. Dem Argument, das Flugzeug habe für diese Strecke nicht genügend Flugbenzin getankt, schenkten die Hijacker keinen Glauben und lehnten eine Landung in Moroni auf Gran Comore ab. Die Maschine nahm Kurs auf Australien. Etwa 200 Kilometer östlich der Küste von Tansania ging das Benzin endgültig zu Ende. Der Pilot versuchte noch eine Wasserlandung vor der Nordküste von Gran Comore, das Flugzeug brach dabei jedoch auseinander. Von den insgesamt 175 an Bord befindlichen Personen überlebten 50 die Bruchlandung. Die Luftpiraten kamen bei der Landung ums Leben. 01.12.96 Erster schwarzer UNO-Chef Im Dezember 1996 wird der Ghanaer Kofi Annan zum neuen UNO-Generalsekretär gewählt. Er löste damit den Ägypter Butros Butros-Ghali im Amt ab. Gegen eine nochmalige Kandidatur Butros-Ghalis hatten die USA massiven Widerstand geleistet, da sie dem Ägypter mangelnden Reformwillen vorwarfen. Im Kern ging es jedoch um die gewaltige Summe an Beitragszahlungen der Amerikaner, die bereits seit Jahren ausstanden. In diesem Zusammenhang kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Frankreich, das den Ägypter unterstützte und wo bereits seit längerem die dominierende Rolle der Vereinigten Staaten in den internationalen Organisationen UNO und NATO massiv kritisiert wurde. Tatsächlich drohte das französische Veto zunächst die Wahl Annans zu vereiteln. Dabei ging es weniger um Annan selbst, sondern um die massive Unterstützung die der Ghanaers von den Amerikaner erhielt. Die Franzosen hofften, daß der Sturz des amerikanischen Favoriten die Supermacht hart treffen würde. Doch alle Proteste nutzen wenig: Annan setzte sich durch und wurde der erste schwarze UNO-Generalsekretär. 03.12.96 Bombe explodiert in Vorortbahnhof 271 VON 300 Bereits 1995 werden immer wieder Anschläge auf die Vorortbahn RER verübt, die Paris mit der Banlieue verbindet und täglich 4 Millionen Menschen befördert. Doch zum schwersten Attentat kommt es am 3. Dezember 1996: Im Bahnhof von Port Royal wird eine Bombe gezündet, die vier Menschen tötet und über 90 verletzt. Weil Frankreich bereits durch die Anschläge 1995 vorgewarnt war, gelang es Feuerwehr und Hilfstruppen, in kürzester Zeit zum Unglücksort zu gelangen. Man ging davon aus, daß die 13 Kilogramm schwere Bombe von algerischen Extremisten gezündet worden war. Ähnlich wie bei den im Vorjahr verwendeten Sprengkörpern waren auch bei diesem Exemplar zur Verstärkung der Wirkung Nägel eingesetzt worden. Bei den Anschlägen 1995 hatte es ein Bekennerschreiben einer radikal-islamischen algerischen Gruppe gegeben, die versuchte, in Algerien den Gottesstaat durchzusetzen. Ein ähnliches Schreiben fand sich diesmal nicht. Obwohl Paris nach einem Notfallplan hermetisch abgeriegelt wurde, kam die auch ins Ausland ausgedehnte Fahndung nicht zu konkreten Ergebnissen. 17.12.96 Geiseldrama in Lima Vier Monate dauert das Geiseldrama von Lima: Im Dezember 1996 haben peruanische Guerilleras bei einer Feier zu Ehren des Geburtstags des japanischen Kaisers in der japanische Botschaft 490 hochrangige Gästen als Geiseln genommen. Erst im April können diese befreit werden. Nach viermonatigen Verhandlungen zwischen Regierungsvertretern und Geiselnehmern lenkten die Rebellenführer im Wesentlichen ein. Ihre ehemalige Forderung, die Freilassung von 490 inhaftierten Gesinnungsgenossen, reduzierten sie auf die Entlassung von lediglich 20 kranken Kameraden aus den Gefängnissen. Sie versprachen, Peru zu verlassen und ins kubanische Exil zu gehen. Doch Präsident Fujimori, der fürchtete, durch ein Zugeständnis an die Geiselnehmer sein Gesicht zu verlieren und befahl am 22. April 1997 die gewaltsame Befreiung der Geiseln. Daraufhin gruben peruanische Militärs einen Tunnel zum Botschaftergebäude, zündeten einen Sprengstoff am Fundament der Villa und überwältigten die 14 Guerillas, von denen keiner überlebte. Fast alle Geiseln blieben unversehrt. 26.12.96 Demonstrationen gegen Milosevic Serbiens Präsident Slobodan Milosevic sieht sich im Dezember 1996 einer ungewohnten Opposition gegenüber: Mehr als 60.000 Bürger Belgrads demonstrieren gegen seine Politik und fordern die Einführung demokratischer Reformen. Die zunächst friedlichen Demonstrationen eskalierten am 24. Dezember: Die regierenden Sozialisten hatten über 100.000 Parteigänger in ganz Serbien mobilisiert, die sich mit den Demonstranten Straßenschlachten lieferten, bei denen 60 Menschen verletzt wurden. Die Demonstrationen hatten begonnen, nachdem das oppositionelle Bündnis "Zajedno" bei den Kommunalwahlen am 17. November 15 der 18 größeren Städte erobern konnte, darunter auch Belgrad. Milosevic hatte die Wahlen daraufhin teilweise annullieren lassen und dem Bündnis die Sitze aberkannt. Das Bündnis "Zajedno" ("Gemeinsam") vereinigte drei Gruppierungen aus unterschiedlichen Bereichen des politischen Spektrums: die "Demokratische Partei" (DS), die "Serbische Erneuerungsbewegung" (SPO) und die "Bürgerallianz" (GSS), deren einziges gemeinsames Ziel der Widerstand gegen Milosevic war. 01.02.97 Standort Deutschland Das Wirtschaftswunderland kommt ins Straucheln: Massenarbeitslosigkeit, Bildungsmisere, Haushaltsloch, Sozialabbau. Droht vereinte Deutschland im Globalisierungswettlauf ins Hintertreffen zu geraten? Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bleibt die dringlichste Aufgabe der Bundesregierung. Nach 15 Regierungsjahren war die Regierung Kohl weiter denn je von ihrem Ziel entfernt, 272 VON 300 die Zahl der Erwerbslosen bis zum Jahr 2000 zu halbieren, ob die Nachfolgeregierung der Politik die nötige Neuorientierung geben wird, bleibt abzuwarten. Historischer Höchststand der Arbeitslosigkeit Neue Rekordzahlen aus der Bundesanstalt für Arbeit: Anfang Februar erreicht die Arbeitslosigkeit in Deutschland einen historischen Höchststand. Mehr als 4,6 Millionen Menschen sind in den alten und neuen Bundesländern ohne Arbeit, so viele wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr. Die Zahlen, die der Präsident der BfA, Bernhard Jagoda, bekanntgab, waren keine Überraschung. Dennoch verfielen Politiker, Gewerkschafter und weite Bevölkerungsteile während der nächsten Tage und Wochen in hektische Betriebsamkeit. Eine konzertierte Aktion aller gesellschaftlichen Gruppen sollte organisiert werden. Entscheidende Schritte zur Entlastung des Marktes blieben jedoch zunächst aus, und während die offizielle Arbeitslosenzahl im März sich der 4,7-Millionen-Marke näherte, wurde das Problem vor dem Hintergrund der Debatten über Gesundheits- und Rentenreform förmlich zerredet. Gleichzeitig verschärfte die Regierung mit der Ankündigung von Subventionskürzungen für den Bergbau bis zum Jahr 2005 die Lage weiter: Die IG-Bergbau rief zum Streik auf. Auch der saisonal bedingte Rückgang der Arbeitslosenzahlen im Frühjahr fiel geringer aus als üblich, die Lage verschärfte sich: Im Mai waren 4,3 Millionen ohne Arbeit, mehr als je in diesem Monat. 01.03.97 Hale Bopp meets Planet Earth Im Frühjahr 1997 passiert der Komet Hale-Bopp in rund 200 Millionen Kilometern Entfernung die Erde. An vielen Stellen der Erde ist er tagelang am klaren Nachthimmel gut sichtbar. Nachdem die beiden Forscher Bob Hale (li.) und Thomas Bopp den Kometen am 22. Juli 1995 unabhängig voneinander gesichtet und der Internationalen Astronomischen Union gemeldet hatten, war der Komet auf die Namen seiner Entdecker getauft worden. Die Astronomen waren sich einig: Nie zuvor hatten sie einen derartig hellen und schnellen Kometen im Visier ihrer Teleskope. Sie untersuchten den Himmelskörper und erfuhren so den Grund für seine superlativen Eigenschaften. Das Antriebsgas Kohlenmonoxid brachte ihn auf 160.000 Stundenkilometer. Mit dieser Geschwindigkeit zog er einen 30 Kilometer langen Schweif durchs All. Er zählt so zu den zehn mächtigsten Himmelsboten der letzten 500 Jahre. Grund genug zur Annahme: Hale Bopp ist ein Jahrhundertkomet. Doch die Zeitgenossen sahen den prominenten Gast zum letzen Mal. Sein nächster Besuch steht im Jahre 4375 bevor. 05.03.97 Die Schweiz entschädigt Holocaust-Opfer Die Presse hat mehrfach schwere Vorwürfe gegen die Schweiz wegen des während der Nazizeit in die Schweiz verschleppten Goldes aus jüdischem Besitz erhoben. Nun suchen Vertreter der Berner Regierung und Schweizer Banken im Winter 1997 nach Möglichkeiten, die überlebende Opfer und Familienangehörige zu entschädigen. Größtes Hindernis dabei war das sehr strikte Schweizer Bankgeheimnis. Trotzdem wurde per Internet und in internationalen Aufrufen inzwischen nach denjenigen gesucht, die möglicherweise Ansprüche geltend machen können. Im Februar 1997 wurde von der Schweizer Regierung einen Fond mit einem Grundstock von 100 Millionen Franken für Holocaust-Opfer und deren Nachkommen eingerichtet, dem noch weitere 65 Millionen aus der übrigen Wirtschaft und weitere 100 Millionen aus der Nationalbank zufließen sollen. Zudem ist ein weiterer Solidaritätsfond als dauerhafte Einrichtung geplant, der "Schweizer Stiftung für Solidarität". Je zur Hälfte an das In- und Ausland sollen jährlich 350 Millionen Franken an Opfer von Armut und Katastrophen, von Genoziden und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen verteilt werden. An das 273 VON 300 Kapital dafür gelangt die Schweiz durch einen buchhalterischen Trick, nämlich der Aufwertung der unterbewerteten Goldreserven. Die Hälfte der Aufwertungsdifferenz, 14 Milliarden Franken, wird der Stiftung für Solidarität in Form von rund 400 Tonnen Gold zur Verfügung gestellt. 01.05.97 Sensationeller Labour-Wahlsieg Jähes Debakel für die britischen Konservativen: Nach 18 Jahren Regierungmacht bereitet eine rundweg erneuerte Labour-Partei unter ihrem dynamischen Chef Tony Blair den Tories eine verheerende Niederlage. Mit 43 Prozent der Wählerstimmen gegenüber 31 Prozent für die Tories löste LabourKandidat Tony Blair den amtierenden Premier John Major ab. Major hatte 1990 die "eiserne Lady" Margaret Thatcher als Premier abgelöst, seine Regierung verlor jedoch bereits von 1992 an alle Nachwahlen. Zuletzt führte er eine Minderheitenregierung. So kam der Machtwechsel in Downing Street Nr. 10 zwar nicht überraschend, jedoch war mit einem sehr viel härteren Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Major und seinem Herausforderer Blair gerechnet worden. Blairs Wahlsieg gründete sich auf eine harte parteiinterne Reformierung der Labour-Partei zur sogenannten New Labour, die allerdings auch eine immer stärkere inhaltliche Annäherung an die Konservativen bedeutete. Blair selber ging trotz seines erstaunlichen und allgemein begrüßten Wahlsieges in weiten Kreisen der Ruf persönlicher Indifferenz und opportunistischen Verhaltens voran: Als typischer Vertreter der neuen Politikergeneration der europäischen Linken wurde er von den Medien immer wieder spöttisch der "ToskanaFraktion" zugerechnet. Das Programm von New Labour unterschied sich 1997 kaum noch von dem der Tories – in einer Zeit wirtschaftlicher Umbrüche offenbar die einzig reale Chance zu einem Machtwechsel. Eine der wenigen Differenzen zwischen den beiden Parteien bestand in der Europafrage. 23.05.97 Machtwechsel in Zaïre Die Uhr für Zaïres krebskranken Diktator Mobutu läuft nach 32 Jahren uneingeschränkter Herrschaft ab. Von Osten kommend, treibt Rebellenchef Laurent Desiré Kabila die Regierungstruppen vor sich her und übernimmt nach Einnahme der Hauptstadt Kinshasa die Macht. Zwar hatten Mobutus Soldaten noch versucht, den Rebellen Widerstand entgegenzusetzen, doch die Privatarmee des Diktators konnte das kampferprobte Rebellenheer nicht aufhalten. Zudem waren die Soldaten ohne Führung, denn Mobutu hatte wenige Stunden vor dem Einmarsch des feindlichen Heeres die Flucht ergriffen. Kabila kündigte an, eine Übergangsregierung auf breiter nationaler Basis ins Amt zu setzen, woraufhin er bei seinem Einzug in der Hauptstadt als Befreier gefeiert wurde. Doch Kabila hielt sein Versprechen nicht. Statt dessen riß er Präsidentenamt, das des Regierungschefs und das Verteidigungsministerium an sich. Alle weiteren Ämter besetzte er mit Kämpfern seines Rebellenheeres. Oppositionspolitiker, die bislang versucht hatten, Mobuto auf legalem Weg vom Thron zu stoßen, wurden nicht an der neuen Regierung beteiligt. 25.05.97 Teheran öffnet sich dem Westen Die Präsidentschaftswahl im Iran wird zur Richtungswahl: Der gemäßigte Mohammed Khatami gewinnt mit 68 Prozent der Stimmen vor seinem konservativen Kontrahenten Ali Akbar Nategh. Damit scheint sich eine Öffnung zum Westen hin anzubahnen. 274 VON 300 Ali Akbar Rafsandschani (l.), der das Amt seit 1989 bekleidet hatte, hatte nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren dürfen. Khatami ernannte nun mit der 37jährigen Wissenschaftlerin Massumeh Ebtekar erstmals seit der Islamischen Revolution von 1979 eine Frau zur Vizepräsidentin. Das unerwartet hohe Wahlergebnis Khatamis bei einer Wahlbeteiligung von 90 Prozent begründete sich auf seinen Ruf aus seiner Zeit als Kultusminister von 1982 bis 1992. Damals hatte er die Lockerung der Zensurregeln vorangetrieben, ein Unterfangen, das ihn zwar den Ministerposten kostete, ihm aber auch Vorschußsympathie für die Präsidentschaftswahl einbrachte. Vor allem Intellektuelle, Frauen und Jugendliche wählten ihn, da er versprochen hatte, sich für mehr Freiheit einzusetzen. Doch angesichts des nach wie vor starken Mullahsystems war es zweifelhaft, ob Khatami sein Vorhaben durchsetzen würde. 25.06.97 Vulkanausbruch verwüstet Insel Montserrat In der britischen Kronkolonie Montserrat bricht der Vulkan La Soufrière aus. Viermal innerhalb von zwei Wochen ergießen sich Asche und Lavaströme über die kleine, fruchtbare Karibikinsel und machen sie zu zwei Dritteln unbewohnbar. Die britische Regierung bietet den Einwohnern finanzielle Hilfe für einen Umzug nach Großbritannien oder eine der benachbarten Inseln an. Etwa die Hälfte der knapp 10.000 Einwohner nahmen das Angebot an. Bereits zwei Jahre zuvor war der Vulkan, von dem man geglaubte hatte, er sei erloschen, ausgebrochen. Daraufhin hatten Wissenschaftler den Vulkan mit Meßgeräten verkabelt, um durch dieses elektronische Frühwarnsystem den nächsten Ausbruch rechtzeitig vorhersagen zu können. Als der Vulkan nun tatsächlich wieder ausbrach, erwies sich alle Technik sowie die Vorkehrmaßnahmen der Vulkanologen als sinnlos. Nach erneuten heftigen Eruptionen im Juli und August befürchteten Experten die vollständige Verwüstung der Insel und rieten der Bevölkerung dringend, Montserrat zu verlassen. Gegen diese Bestrebungen demonstrierten die verbliebenen knapp 5.000 Insulaner mit wochenlangen Protesten gegen die in ihren Augen völlig unzureichenden Hilfsangebote der britischen Regierung. 01.07.97 Pol Pot in Schauprozeß verurteilt Volkstribunal im Dschungel Kambodschas: der ehemalige Führer der kommunistischen Roten Khmer, Pol Pot, wird zusammen mit drei seiner Generäle von seinen eigenen ehemaligen Gefolgsleuten zu lebenslanger Haft verurteilt. Pol Pot galt neben Hitler, Stalin und Mao als einer der grausamsten Diktatoren des Jahrhunderts. Bereits im Sommer des Vorjahres waren erste Gerüchte aufgetaucht, daß Pot noch am Leben sei, nachdem seit über 18 Jahren Nachrichten über seinen Tod verbreitet worden waren. Es wurde nun eine Auslieferung des 69jährigen gefordert, um einen der größten Schlächter der Geschichte vor ein internationales Gericht zu stellen. Der ehemalige Führer der revolutionären Roten Khmer ist verantwortlich für den Völkermord an über zwei Millionen Menschen, die während der Terrorherrschaft der maoistischen Guerilla an Hunger, Entkräftung und Krankheiten starben. Pot ließ außerdem weitere 200.000 bis 400.000 angebliche Konterrevolutionäre auf grausame Weise foltern und umbringen. Die tatsächliche Zahl der Opfer des Terrorregimes blieb nicht eindeutig bestimmbar, denn Tausende von Opfern wurden hastig in Massengräbern verscharrt, den "killing fields", die Kambodscha zu trauriger Berühmtheit verhalfen. Die Idee eines internationalen Tribunals, vor dem sich der Ex-Diktator hätte verantworten müssen, galt als umstritten: Denn Thailand, China und die USA hatten die Roten Khmer nicht nur toleriert, sondern aktiv unterstützt. Der Tod Pol Pots im April 1998 kam einem Tribunal jedoch zuvor. Pathfinder landet auf dem Mars 275 VON 300 Der "Pathfinder", eine unbemannte Marssonde, landet auf dem 190 Millionen Kilometer entfernten Planeten Mars. Die Weltöffentlichkeit erlebt die größte Sensation in der Raumfahrtgeschichte seit der Mondlandung von 1969. Die ersten Schritte auf dem Mars machte ein Entdeckungsrobotor, die "Sojourner", der von deutschen Wissenschaftlern des Max-Planck-Institutes für Aeronomie in Lindau entwickelt worden war. Von allen Kontinenten aus wurden die ersten Bilder vom Mars mit größter Spannung verfolgt. Die ersten Photos, die das nur 64 Zentimeter große Elektromobil zur Erde sandte, zeigte einen Wüstenplaneten mit endlosen Stein- und Gerölllandschaften. Die große Sensation für die Wissenschaftler: Anscheinend hat es vor Millionen von Jahren Wasser auf dem Planeten gegeben, denn die zur Erde gesandten Aufnahmen ließen durch die Anordnung der Steine auf gewaltige Überschwemmungen schließen. Auch das Gestein, das Sojourner mittels eines Spürgerätes analysierte und die Daten direkt zur Erde sandte, ähnelt stark dem der Erde. Nun erklärte sich auch die rote Farbe des Mars: Das Gestein ist stark eisenhaltig, der Mars rostet sozusagen vor sich hin. Boomregion Asien? Vertragsgemäß fällt die Weltmetropole Hongkong Mitte 1997 an China zurück. Es gibt rechtsstaatliche Bedenken, doch die Übergabe findet in einem optimistischen Umfeld statt: Man erwartet das heraufziehende "asiatisch-pazifische Jahrhundert". In der zweiten Jahreshälfte 1997 wurden diese Hoffnungen jäh durchbrochen: Zuerst schleichend, dann immer bedrohlicher brach sich die sogenannte "Asienkrise" Bahn. Die ganze Region stürzte in eine schwere Rezession. Kronkolonie Hongkong geht zurück an China Die britische Kronkolonie Hongkong wird nach 154 Jahren britischer Herrschaft an die Volksrepublik China übergeben. Peking übernimmt damit eine der erfolgreichsten Städte der Welt, die künftig den Status einer Sonderverwaltungszone haben soll. Die Modalitäten der Übergabe fanden gemäß des Vertrages von 1984 zwischen Großbritannien und China statt. Hongkong wurde von der chinesischen Führung ein hohes Maß an Autonomie unter der Formel "Ein Land, zwei Systeme" zugesagt, wobei zunächst das britische Rechtssystem beibehalten werden sollte. Trotzdem waren die Konflikte vorprogrammiert: Peking hatte bereits im Vorfeld angekündigt, daß zwar politische Meinungsfreiheit und auch das Demonstrationsrecht gewährt werde, allerdings nur solange die dabei vorgebrachte Kritik ausschließlich Hongkong direkt betreffe. Von chinesischer Seite war befürchtet worden, Hongkong könne sich zu einer Hochburg für antichinesische und separatistische Propaganda entwickeln. Deshalb hatte Peking das demokratisch gewählte Parlament zum 1. Juli für abgesetzt erklärt und durch eine Übergangsregierung mit prochinesischen Parteien ersetzt. Diese sollte auch die Wahlgesetze für die Parlamentswahlen 1998 verabschieden. Welche Auswirkungen dies für die Wirtschaft des prosperierenden Hongkongs haben würde, war im Juli 1997 noch nicht abzusehen. 02.07.97 Krise auf Asiens Devisenmärkten Die "Asienkrise" beginnt unspektakulär: Nur von wenigen beachtet, trennt sich Thailand von der Anbindung der Landeswährung Bath an den Dollar. Doch der Bath bringt auch die übrigen Währungen der Tigerstaaten ins Rutschen. Das Beben erfaßt die gesamte Region. Bis zum unmittelbaren Ausbruch der Asienkrise war es zum Gemeinplatz geworden, vom alsbaldigen Anbruch des asiatisch-pazifischen Jahrhunderts zu sprechen. Die jährlichen Wirtschaftsdaten der ostasiatischen "Tigerstaaten" und in jüngster Zeit auch Chinas waren für westliche Verhältnisse geradezu traumhaft. Der jähe Einbruch wirkte wie ein Schock aus heiterem Himmel: Der freie Fall des thailändischen Baht riß an den Devisenbörsen alsbald auch die Währungen der Nachbarn Malaysia, Philippinen und Indonesien mit in den Abgrund. Wenig später folgten Südkorea 276 VON 300 und Hongkong. Der Währungsverfall wiederum bedingte einen Kollaps in der Bankensysteme, die Wirtschaft schrumpfte, die Arbeitslosigkeit stieg. Der IWF schnürte drei Nothilfepakete: 17 Milliarden Dollar für Thailand, 43 Milliarden für Indonesien, 57 Milliarden für Südkorea. Die Hilfe wurde an die Umsetzung harter Sanierungsmaßnahmen gekoppelt, die schwere Unruhen unter den betroffenen Arbeitern auslösten. Japan, selbst seit Anfang der 90er Jahre in einer nicht enden wollenden Flaute gefangen, konnte kaum unterstützend eingreifen: Die Hoffnungen richten sich nun eher auf China. 28.07.97 Flutkatastrophe an der Oder Der verregnete Sommer 1997 beschert dem deutsch-polnischen Grenzgebiet ein verheerendes Jahrhunderthochwasser. Auf einer Länge von 160 Kilometer drohen die Deiche zu brechen. Am 28. Juli erreicht die Flut ihren Höchststand. Gemeinsam mit zahlreichen Freiwilligen gelang es Bundeswehr, Polizisten, Feuerwehr und Technischem Hilfswerk, zumindest einen Teil der Dämme zu retten. Der Deich bei Brieskow-Finkenheerd war jedoch am 23. Juli gebrochen und hatte die gesamte Ziltendorfer Senke mit 160 Häusern und Gehöften überflutet. Die Bewohner konnten erst nach drei Wochen zurückkehren. Das Gebiet wurde großräumig evakuiert, doch die andere Deiche hielten. Hätten allerdings die schlecht gewarteten polnischen Deiche am Oberlauf der Oder besser gehalten, wären weitaus größere Wassermassen nach Deutschland geströmt und die Katastrophe hätte noch viel größere Ausmaße angenommen. Es entstand insgesamt ein volkswirtschaftlicher Schaden in Milliardenhöhe. Allerdings löste das Hochwasser eine Welle der Hilfsbereitschaft aus: rund 100 Millionen Mark wurde in Deutschland für die Katastrophenopfer und den Wiederaufbau der Region sowie für die Hochwasseropfer in Polen und Tschechien gespendet. 31.08.97 Dianas Tod schockiert die Weltöffentlichkeit Lady Diana Spencer stirbt in Paris an den Folgen eines Autounfalls. Die 36jährige hatte den Abend gemeinsam mit ihrem neuen Freund, dem ägyptischen Milliardärssohn Dodi alFayet, im Ritz verbracht. Als das Paar das Hotel verließ hefteten sich einige der wartenden Reporter an den HotelMercedes. Um die "Paparazzi" abzuschütteln, fuhr der Chauffeur mit hoher Geschwindigkeit in einem Straßentunnel am Seine-Ufer, wo er plötzlich die Kontrolle über die schwere Limousine verlor und gegen einen Tunnelpfeiler prallte. Angeblich sollen Paparazzi auf Motorrädern den Wagen abgedrängt haben. Der Chauffeur und al-Fayed waren auf der Stelle tot, Lady Di starb etwa dreieinhalb Stunden später im Krankenhaus. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, daß der Chauffeur - der stellvertretende Sicherheitschef des Ritz - einen Blutalkoholgehalt von über 1,7 Promille hatte. Der Tod Lady Dianas löste weltweit Trauer und Bestürzung aus. Seit ihrer Trauung mit Prinz Charles 1981 wurde sie rund um Uhr von Sensationsreportern verfolgt. Vor allem ihre wirklichen und angeblichen Liebesaffären nach ihrer Trennung sorgten immer wieder für Schlagzeilen. Häufig - so auch noch wenige Stunden vor ihrem Tod - hatte sie verzweifelt gebeten, man möge sie endlich in Ruhe lassen. Nach ihrem tragischen Tod setzte eine lebhafte Diskussion um die moralische Verantwortung der Paparazzi ein, sieben Journalisten wurden verhaftet. 13.09.97 Kollision über dem Meer Insgesamt 33 Todesopfer fordert der Absturz einer deutschen und einer amerikanischen Militärmaschine vor Namibia. Die dreistrahlige Tupolew 154 der Bundeswehr und die USamerikanische C-141 Starlifter-Transportmaschine waren in etwa 29.000 Fuß Höhe kollidiert. An Bord des deutschen Flugzeugs befanden sich zwölf Marinesoldaten, die auf dem Weg nach Kapstadt waren, sowie zehn Besatzungsmitglieder und zwei Ehefrauen mit an Bord. 277 VON 300 Sie alle kamen bei dem Absturz ums Leben, ebenso wie die neunköpfige Besatzung der amerikanischen Maschine. Die Tupolew sollte nach einem Zwischenstopp in Niamey (Niger) um ca. 18.30 Uhr Windhuk erreichen, kam dort aber nie an. Teile des Wracks wurden in einer Tiefe von ca. 800 Metern im Atlantik geortet; die Unglücksursache blieb zunächst unklar. Angenommen wurde, daß sich die Tupolew entweder auf einer falschen Flughöhe befand oder sich beim Eintritt in den Flugraum Namibias nicht angemeldet hatte. Eventuell wurde auch die Anmeldung der Tupolew durch die Fluglotsen übersehen, da im Bereich des Südatlantiks vor Afrikas Küste nur eine Kommunikationsfrequenz für Verkehrsflugzeuge zur Verfügung steht. In der Öffentlichkeit kam es nach dem Bekanntwerden des Unglücks zu Diskussionen, ob die Flugreise der Soldaten, die einer Einladung zur Teilnahme an einer Regatta im Rahmen der Feierlichkeiten zum 75jährigen Bestehen der südafrikanischen Marine gefolgt waren, nicht überhaupt überflüssig war. 26.09.97 Brandkatastrophe in den Wäldern Indonesiens Monatelange Waldbrände gigantischen Ausmaßes im indonesischen Regenwald führen im Herbst 1997 zu schweren Beeinträchtigungen des Klimas auf der südlichen Erdhalbkugel. Ausgelöst wurde die Katastrophe durch massive Brandrodungen indonesischer Bauern. Sie hatten sich auf das baldige Einsetzen des Monsuns verlassen. Als dieser sich wegen des Klimaphänomens El Niño deutlich verspätete, wucherten die auf dem ausgetrockneten Boden weiterglimmenden Brände trotz des Einsatzes von 10.000 Feuerwehrleuten zum Inferno. Erst im November kamen die Brände infolge des Regens zum Stillstand, flammten aber bereits nach wenigen Wochen erneut auf. Eine Smogwolke legte sich über das gesamte südostasiatische Inselarchipel und die Nachbarstaaten bis nach Australien und Sri Lanka. Insgesamt brannte der Tropenwald auf einer Fläche von über 1 Millionen Hektar. Die Bevölkerung konnte ohne Atemmasken nicht mehr auf die Straßen gehen; der Rauch war so undurchdringlich, daß nur noch Sichtweiten von unter 50 Metern bestanden. Neben den ungeheuren Umweltschäden verursachte die Brandkatastrophe auch eine Vielzahl von Schiffsunglücken und einem Flugzeugabsturz: Ein Airbus A-300 verirrte sich im Brandnebel und zerschellte mit über 200 Passagieren an einem Berg. 02.10.97 Der Gipfel von Amsterdam Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam wird der Prozeß der europäischen Integration einen weiteren wichtigen Schritt vorangetrieben. Der Schengener Vertrag soll nun in erweiterter Form in der gesamten Union gelten. Wichtigstes Kernelement waren die Neuregelungen im Bereich der Justiz- und Innenpolitik. Ziel war die Schaffung einheitlicher Regeln bei gleichzeitiger Gewährleistung der Freizügigkeit und Sicherheit der Bürger. Dazu gehörten die vollständige Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen und parallel dazu eine deutliche Stärkung der inneren Sicherheit durch effektivere gemeinsame Verbrechensbekämpfung und die Festlegung eines gemeinsamen Standards bei den Kontrollen an den Außengrenzen. In deutlich stärkerem Maße als das Schengener Abkommen gab der neue Vertrag präzise Maßgaben zur Bekämpfung der Kriminalität vor. Zu diesem Zweck wurden verbindliche Richtlinien für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geschaffen. Weitere wichtige Änderungen brachte der Amsterdamer Gipfel auch in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung, bei den sogenannten "bürgernahen Themen" sowie im Bereich der Europäischen Institutionen. 01.11.97 Hungersnot in Nordkorea 278 VON 300 Die Menschen hungern im nach Außen völlig abgeriegelten kommunistischen Nordkorea. Es gibt keine verläßlichen Zahlen, doch es gibt untrügliche Indizien: Die verzweifelte Bevölkerung schneidet die Rinde von den Bäumen, um sie zu verzehren. Säuglinge und kleine Kinder verhungerten, die Krankenhäuser füllten sich mit unterernährten Kindern. Die Hungersnot war eine Folge des vollständigen Zusammenbruchs der Wirtschaft der kommunistischen Diktatur. Der seit 1994 als Nachfolger seines Vaters Kim Il Sung herrschende Diktator, Kim Jong Il, hatte dem Land zuvor ein Programm der vollkommenen Autarkie übergestülpt, das rasch zum totalen Kollaps führte. Gleichzeitig wurde das Land von katastrophalen Überschwemmungen und Fehlernten heimgesucht. Dessen ungeachtet wurde Kim Jong Il am 8. Oktober 1997 offiziell zum Generalsekretär der kommunistischen Partei Nordkoreas ernannt. Infolge der Hungersnot mußte Nordkorea schließlich sogar auf Getreidespenden aus dem ebenfalls unter einer Wirtschaftskrise leidenden Erzfeind Südkorea zurückgreifen. Südkorea hatte die Hilfe nur deswegen angeboten hatte, um einen möglicherweise entstehenden Flüchtlingsstrom aus dem Norden zu verhindern. 17.11.97 62 Tote bei Terroranschlag in Luxor Bestialischer Terrorangriff islamischer Fundamentalisten in den Tempelanlagen im ägyptischen Luxor. 58 ausländische Touristen und vier Ägypter werden Opfer des Anschlags, darunter auch vier Deutsche. Mit Maschinenpistolen waren die Mitglieder der islamischen Gruppe "Gamaa Islamija" in Luxor in den Hatschepsut-Tempel eingedrungen und hatten wahllos das Feuer auf die anwesenden Touristen eröffnet. Anschließend wurden die Überlebenden mit Messern abgeschlachtet. Die fundamentalistische Terrorgruppe erhoffte sich mit dem Anschlag eine gezielte Schwächung des Regimes Mubarak, da Ägypten auf ausländische Touristen als Devisenbringer angewiesen ist. Der Staat sollte soweit geschwächt werden, daß ein islamischer Gottesstaat nach iranischem Muster an seine Stelle treten konnte. Dieses Ziel wurde jedoch nicht erreicht. Mubarak reagierte mit einer Verhaftungswelle, Schnellgerichten und einer Vielzahl von Todesurteilen und langen Haftstrafen gegen die Fundamentalisten. Fundamentalistische Terroristen bilden in Ägypten nur eine Splittergruppe. Dennoch wurden durch ihre Anschläge in den Jahren seit 1992 mehr als 1.000 Menschen getötet. 27.11.97 Studentenproteste an deutschen Hochschulen Gibt es in Deutschland eine Bildungsmisere? Über 40.000 Studenten kommen nach Bonn, um gegen überfüllte Hörsäle, mangelhafte Ausbildung und die aktuelle Hochschulpolitik unter Bildungsminister Rüttgers (u.l.) zu protestieren. In den Wochen bis Weihnachten kam es zum ersten Mal seit 30 Jahren in Deutschland wieder zu umfangreichen Protesten an den Universitäten. Die Studenten besetzten die Hochschulen und blockierten die Lehre, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Darüber hinaus kam es an vielen Orten zu Protestaktionen und Demonstrationsmärschen. Im Zuge der allgemeinen Sparpolitik wurden in den vergangenen Jahren vermehrt Stellen gestrichen, viele Veranstaltungen waren völlig überbesucht. Die individuelle Ausbildung der Studenten litt klar unter dieser Situation. Obwohl der Protest der Studenten bis Weihnachten andauerte und die Bevölkerung auf die Lage der Studenten aufmerksam machen konnte, erreichte der Protest keines der unmittelbaren Ziele und flaute zu Beginn des Jahres 1998 wieder völlig ab. Das Scheitern des Protestes wurde auf ein strukturelles Problem zurückgeführt: Durch gegenseitige Schuldzuweisungen der verantwortlichen Stellen an den Hochschulen sowie in Bund und Ländern, fehlte den Demonstranten letztlich eine Adresse, an die sie sich wenden konnten. Und so kam es schließlich zu absurden Konstellationen, als sich Hochschulvertreter und Politiker unter die Demonstranten mischten und gemeinsam mit diesen protestierten. 279 VON 300 03.12.97 Geldspritze für wankenden Tiger Südkorea Die Asienkrise erfaßt Südkorea: der Tigerstaat, dessen Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren sprichwörtlich war, muß vom Internationalen Währungsfonds (IWF) eine Finanzhilfe von 55 Milliarden DM in Anspruch nehmen. Noch 1996 galt Südkorea als die elftstärkste Volkswirtschaft der Welt. Als schlimmstes Beispiel der heranziehenden Finanzkrise Südostasiens war Südkoreas Volkswirtschaft im Verlauf des Jahres 1997 völlig zusammengebrochen, und der Staat galt mittlerweile nicht mehr als kreditwürdig. Es stellte sich heraus, daß das Wirtschaftswachstum des Staats aus Krediten finanziert worden war, deren Deckung man Spekulationen und Hoffnungen überlassen hatte. Der designierte Präsident Kim-Dae Jung muß nun für die Zukunft ein rigides Sparprogramm entwickeln, um den ehemaligen Wirtschaftswunderland Südkorea wieder auf die Beine zu helfen. Bereits am 11. August 1997 war das ebenfalls krisengeschüttelte Thailand mit einer Finanzhilfe von 29 Milliarden DM durch den IWF und mehrere asiatische Staaten unterstützt worden. IWF und Weltbank Die Gründung von IWF und Weltbank geht auf die Konferenz von Bretton Woods im Juli 1944 zurück. Zusammen mit dem Zoll- und Handelsabkommen GATT (seit 1995 WTO) bilden sie die Eckpfeiler einer dem Prinzip des Freihandels verpflichteten Weltwirtschaft. Sowohl der Internationale Währungsfonds als auch die Weltbank sind Teil des UNSystems und haben den Status von Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. Ihr Sitz ist die amerikanische Hauptstadt Washington. Anders als etwa in der UNGeneralversammlung werden jedoch Beschlüsse nicht nach dem Prinzip "Ein Land eine Stimme" sondern proportional zu den gewährten finanziellen Einlagen gefaßt, was vor allem von Seiten der Entwicklungsländer Kritik herausgefordert hat. Die Bundesrepublik Deutschland trat beiden Institutionen 1952 bei. Nach dem Umbruch im Ostblock wurden auch die Länder Osteuropas und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion Mitglieder. Der Internationale Währungsfonds Die Hauptaufgabe des IWF besteht in der Stabilisierung des Weltwährungssystems. Neben der Festlegung allgemeiner Organisationsprinzipien für den internationalen Zahlungsverkehr gewährt der IWF kurzfristige Stabilisierungskredite zum Ausgleich einer unter Druck geratenen Zahlungsbilanz. Die Länder sollen somit vor unvorhergesehenen Ereignissen geschützt werden, die ansonsten einen sprunghaften Verfall ihrer Währungen nach sich ziehen würden. Die Finanzierung der Kredite wird aus den Einlagen der Mitgliedsstaaten geleistet. Die Beiträge bemessen sich nach der Wirtschaftskraft der Länder. Mit der ersten Änderung der Statuten des IWF 1969 wurden die sogenannten "Sonderziehungsrechte" (SZR) eingeführt, die als eine Art Reservewährung dienen. Die SZR sind quasi Anrechtsscheine auf einen fortwährend angepaßten Währungskorb der Hartwährungen US-Dollar, Deutsche Mark, Französischer Franc, Japanischer Yen und Pfund Sterling. Von Zeit zu Zeit werden neue SZR an alle Mitglieder ausgeschüttet. Vor allem während der Hochphase der "Schuldenkrise" der Entwicklungsländer Anfang der 80er Jahre sowie erneut in der "Asienkrise" 1997 spielte der IWF eine entscheidende Rolle bei der Vergabe von Stabilisierungskrediten. Der IWF ist allerdings dazu übergegangen, seine Finanzhilfen eng an Auflagen für die jeweilige nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik zu koppeln. Vor allem die damit verbundenen 280 VON 300 Kürzungen der Staatsausgaben zur Entlastung der öffentlichen Haushalte haben schon mehrmals zu einem schockartigen Anpassungsdruck geführt. In manchen DrittWelt-Ländern waren Hunger- und Armutsrevolten die Folge. Die Weltbankgruppe Die Weltbank besteht formal aus drei eng miteinander verflochtenen Einzelorganisationen (International Bank for Reconstruction and Development; International Development Agency; International Finance Corporation). Diese Institutionen gewähren ihren Mitgliedern bei Bedarf Kredite für produktive Investitionen und Entwicklungsaufgaben. Diese finanzielle Unterstützung ist grundsätzlich festverzinslich und beläuft sich in aller Regel auf einen Zeitraum von 15 Jahren, während der Zinssatz unter dem vergleichbaren freien Marktzins liegt. Die Kredite der Weltbank sind also viel langfristiger als jene des IWF und haben nicht den kurzfristigen Ausgleich von Zahlungsbilanzschwierigkeiten, sondern die dauerhaften Entwicklungsperspektiven der Länder im Visier. Die Weltbank bedient die hierzu notwendigen Eigenmittel aus den Kapitaleinlagen der Mitgliedsstaaten bzw. aus dem Verkauf eigener Obligationen. Die Schuldenkrise der Entwicklungsländer Die Schuldenkrise der 80er Jahre ist nicht denkbar ohne die Internationalisierung des Finanzwesens während der 70er Jahre, die Kapitalbewegungen völlig neuer Größenordnung ermöglicht hatte. Während des erneuten wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Ölkrise von 1973/74 wurde die internationale Überwachung der privaten Kreditvergabe sträflich vernachlässigt. Viele Regierungen der Entwicklungsländer setzten währenddessen auf schnelles fremdfinanziertes Wachstum und ehrgeizige Entwicklungsprogramme. Hohe Haushaltsdefizite und eine galoppierende Inflation wurden jedoch oft stillschweigend hingenommen. Die eigentlichen Vorboten der Krise waren ein Anstieg des weltweiten Zinsniveaus, ausgehend von einer Anhebung der Leitzinsen durch die US-Notenbank Ende 1979 und der zweite Ölpreisschock Anfang der 80er Jahre. Der Anstieg der Realzinsen verteuerte die Bedienung der Kredite, während die energiepreisbedingte Rezession in den Industrieländern die Importe aus Rohstoff und Agrarländern sowie die Investitionen in diesen Ländern drosselte. Die ersten Länder, die um Zahlungsaufschub nachsuchten, waren Polen im März 1981 und Ungarn im März 1982. Man deutete deren Probleme jedoch als Spezifikum Osteuropas und sah noch wenig Anzeichen für eine heraufziehende allgemeine Krise: Der Kreditboom ging unvermindert weiter. Die Länder Lateinamerikas fanden sich jedoch inzwischen in einer Situation wieder, da inländische wie ausländische Anleger das Vertrauen in ihre Währungen verloren. Es grassierte eine dramatische Kapitalflucht bei gleichzeitig künstlich hochgehaltenen Wechselkursen. Im Sommer 1982 ging die Bombe hoch: Erst stellte Mexiko seinen Zahlungsverkehr ein, dann folgten nacheinander die übrigen Schwellenländer Lateinamerikas. Nun gerieten auch amerikanische und europäische Banken in Schwierigkeiten. Die Funktionsweise des gesamten internationalen Bankenmarktes stand in Frage. Als die Krise einmal da war, kam erschwerend hinzu, daß viele Großbanken nun versuchten, ihre Liquidität wiederherzustellen, indem sie ausstehende Kredite nicht erneuerten. Die Abwärtsspirale der betroffenen Länder wurde dadurch nur verstärkt, denn zur Bereinigung der Krise bedurften die Schuldner weiteren "frischen Geldes". Während der Hochphase der Schuldenkrise spielte der Internationale Währungsfonds die zentrale Rolle als Koordinationsinstanz im Krisenmanagement. Im Zusammenspiel mit der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und der Federal Reserve Bank of America wurden weitere Sofortkredite gewährt, Moratorien ausgehandelt und Umschuldungsabkommen vereinbart. Auf diese Weise konnten entgegen ersten Befürchtungen generelle Zahlungseinstellungen verhindert und der Rückzug ganzer Großregionen aus der Weltwirtschaft verhindert werden. 281 VON 300 Für die Schuldnerländer war die Schuldenkrise mit vehementen Anpassungsschocks verbunden, deren Auswirkungen bis in die Jetztzeit hineinreichen. Die 80er Jahre gelten in diesen Ländern gemeinhin als "verlorene Dekade". 06.12.97 Rechtsradikaler spricht vor der Bundeswehr Eine Symbolfigur der Neonazis referiert ganz offiziell bei einer "Offizierweiterbildung" der Bundeswehr. Über die politischen Aktivitäten des einschlägig vorbestraften Manfred Roeder, der auch dem Verfassungsschutz wohlbekannt ist, zeigten sich seine Gastgeber merkwürdig uninformiert. Erst am 6. Dezember 1997 wurde bekannt, daß die Führungsakademie der Streitkräfte der Bundeswehr in Hamburg-Blankenese bereits im Januar 1995 den bekannten Neonazi Manfred Roeder (li.) zu einem Vortrag über die Ansiedlung von Rußland-Deutschen im ehemaligen Ostpreußen eingeladen hatte. Darüber hinaus hatte die Bundeswehr dem Neonazi auch ausgemusterte Bundeswehrfahrzeuge für Reisen nach Ostpreußen zur Verfügung gestellt. Daß Roeder 1982 wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung zu einer 13jährigen Haftstrafe verurteilt worden war, wußte an der Führungsakademie der Bundeswehr offensichtlich niemand. Dieser Skandal beschädigte vor allem das Ansehen des Verteidigungsministers Volker Rühe, der die schonungslose Aufklärung des Sachverhalts versprach. Im Bundestag wurde am 12. Dezember 1997 ein Untersuchungsausschuß einberufen, der die Hintergründe und die mögliche Unterwanderung der Bundeswehr durch Rechtsradikale klären sollte. Flugzeug stürzt auf Wohngebiet Am 6. Dezember 1997 stürzt eine Transportmaschine des Typs Antonow An-124 aus einer Höhe von nur 70 Metern auf eine Wohnsiedlung der sibirischen Stadt Irkutsk. Die sofort explodierenden, völlig gefüllten Kerosintanks des Transporters verwandelten das Wohngebiet bei minus 25 Grad Celsius in eine Flammenhölle, die die ca. 100 Bewohner und Besatzungsmitglieder nicht überlebten. Vor dem Absturz waren die beiden linken Triebwerke der kurz zuvor gestarteten Antonow ausgefallen, die als größtes Transportflugzeug der Welt gilt und eine Reichweite von über 16.000 Kilometern besitzt. Die Antonow An-124, deren maximale Nutzlast über 400 Tonnen beträgt, hatte zwei Kampfjets geladen. Bei dem Absturz streifte die Maschine zunächst ein Hochhaus, bevor sie in einem Hof explodierte. Es war nicht das erste Mal, daß eine Antonow-Transportmaschine über einem Wohngebiet abstürzte: Bereits im Januar 1996 hatte ein Absturz einer solchen Maschine über einem Wohngebiet in Kinshasa (Kongo) fast 300 Menschen das Leben gekostet. 28.01.98 Katholischer Schein-Streit um die Abtreibung Ein Papstschreiben zur kirchlichen Schwangerenberatung stürzt die deutschen Bischöfe in Konflikte - und vergrößert die Kluft zwischen Frauen und Kirche. In seinem Brief verlangte Papst Johannes Paul II., in den katholischen Beratungsstellen künftig keine Scheine mehr auszustellen, die für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch gesetzlich vorgeschrieben sind. Nach seiner Auffassung erschüttere die Ausgabe dieser Scheine die Glaubwürdigkeit der Kirche, da ihnen eine Schlüsselfunktion für die Tötung ungeborenen Lebens zukomme. Einhellig verurteilten Politiker aller Parteien die "eindringliche Bitte" des Papstes und warnten vor einem Bruch zwischen Frauen und Kirche. Ein Ausstieg der katholischen Kirche aus dem staatlichen Beratungssystem hätte zudem den mühsam errungenen Abtreibungskompromiß vom Mai 1995 erneut in Frage gestellt. Die Deutsche Bischofskonferenz erklärte, in der Schwangerenberatung verbleiben zu wollen, auch nachdem Johannes Paul in einem zweiten Brief vom Juni 1999 kategorisch 282 VON 300 verlangte, die Scheine dürften nicht "zur Durchführung straffreier Abtreibungen" verwendet werden. Ein entsprechender Zusatz auf den katholischen Beratungsscheinen soll künftig dem Papstgebot Rechnung tragen, ob mit diesem Formelkompromiß aber eine dauerhafte Lösung gefunden ist, bleibt abzuwarten. 10.02.98 Raumstation "Alpha" wird gebaut Die internationale Raumstation "Alpha" wird gebaut: In Washington unterzeichnen Vertreter von 15 Staaten die Verträge. Für Deutschland setzt Bundesforschungsminister Jürgen Rüttgers seine Unterschrift unter die Papiere. "Alpha", die offiziell ISS (International Space Station) heißt, galt als die größte wissenschaftliche und technische internationale Kooperation und sollte mehr als 50 Milliarden Dollar kosten. Im Juni 1998 montierten Amerikaner und Russen in 400 Kilometern Höhe die ersten Teile der Station, im Jahre 2003 sollte die Station betriebsbereit sein. Die Funktionsdauer der etwa 450 Tonnen schweren und 108 mal 88 Metern großen Station war auf zehn Jahre veranschlagt. Die Bundesregierung versprach sich vom Bau der Station eine internationale Aufwertung der europäischen Weltraumforschung. Deutschland trug mit 41 Prozent den Löwenanteil der Kosten für die elf europäischen Teilnehmerstaaten. Bis zum Jahr 2004 sollte die Bundesrepublik insgesamt etwa zweieinhalb Milliarden Mark investieren. Alpha sollte die russische Raumstation "Mir" ablösen, die zuletzt mit zahlreichen Pannen für Schlagzeilen sorgte. Bis August 1999 sollten die letzten Astronauten die "Mir" verlassen haben und das Projekt endgültig aufgegeben werden. 28.02.98 Bürgerkrieg im Kosovo Die serbische Armee startet eine Großoffensive gegen die Rebellen der Untergrundarmee UCK. Die Repressionen gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo verstärken sich. Der Konflikt im Kosovo reicht in das Jahr 1989 zurück, als Slobodan Milosevic, damals serbischer Premier, dieser Region den Autonomiestatus nahm. In der Folge nahmen die Repressionen gegen die etwa zwei Millionen Menschen zählende albanische Bevölkerungsmehrheit zu: die albanische Universität wurde geschlossen, Albaniern der Weg in den Staatsdienst verwehrt und die aufkeimenden Proteste der Kosovaren wurden blutig niederschlagen. Staatliche Willkür, Festnahmen, Enteignungen und Vertreibungen waren an der Tagesordnung. Das Abkommen von Dayton schien Milosevics Stellung zu stärken, doch der Widerstand im Kosovo nahm nun militantere Formen an. Eine bisher im Ausland kaum wahrgenommene "Befreiungsarmee Kosovo" (UCK) verübte Bombenanschläge auf serbische Einrichtungen. Südlich der Hauptstadt Pristina proklamierte die UCK erste "befreite Gebiete". Doch der serbische Gegenschlag forderte zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung und löste eine erste Fluchtwelle von etwa 50.000 Menschen aus. 13.03.98 Vatikan räumt Mitschuld von Christen ein Die katholische Kirche entschuldigt sich erstmals für mangelnden Widerstand gegen den NS-Massenmord an den Juden Ein "mea culpa" nimmt sie nicht auf sich. Am 17. März 1998 veröffentlichte der Vatikan mit seiner Erklärung "Wir erinnern: Nachdenken über die Shoa" erstmals eine Stellungnahme zur Geschichte der Judenverfolgungen und zum Holocaust-Massenmord durch die Nationalsozialisten. Das Dokument legt nahe, daß die jahrhundertealte, anti-jüdische Haltung von Christen die Verfolgung im Zweiten Weltkrieg "erleichtert" haben könnte. Ausdrücklich hebt die Erklärung den Widerstand einzelner deutscher Kirchenführer hervor und beklagt allein die Schuld einzelner fehlgeleiteter Christen. 283 VON 300 Die Reflexion der Kirche über die Shoa wurde auf Anordnung von Papst Johannes Paul II. erarbeitet, der sich ganz besonders für eine Aussöhnung zwischen Juden und Christen einsetzt. Die "Kommission für religiöse Beziehungen zu den Juden" unter dem Vorsitz des australischen Kardinal Edward Idris Cassidy arbeitete 10 Jahre an der nun veröffentlichten Erklärung, die nicht nur eine Entschuldigung darstellen soll, sondern, wie Cassidy sagte, "einen tiefen Akt der Reue". Die Rolle der katholischen Kirche und des Vatikans im Zweiten Weltkrieg bleibt aber auch nach diesem Dokument umstritten. Israels Oberrabbiner Lau bezeichnete die Erklärung als unzureichend und forderte eine ganz klare Entschuldigung: "Der Vatikan muß sich ganz klar die beschämende Einstellung des Papstes (Pius XII.) entschuldigen". 18.03.98 "Wirtschaftszar" Zhu Rhongji neuer Premier Neue Hoffnung für China und seine Wirtschaft: "Wirtschaftszar" Zhu Rongji ist zum neuen Ministerpräsidenten ernannt worden. In In- und Ausland gilt er als kompetentester Kopf innerhalb der chinesischen Führungsriege und als Hoffnungsträger für einen Politik-Wandel Pekings. Nach der Ernennung Zhus zum Ministerpräsidenten am Vortag durch die KP-Führung, mußte das NVK diese Entscheidung noch billigen. Nur 60 der 2.950 Abgeordneten des chinesischen Nationalen Volkskongresses (NVK) stimmten gegen den "Wirtschaftszaren". Seine Wahl wurde mit spontanem, lang anhaltenden Applaus gewürdigt, und dies obwohl der "Neue Mann" wegen seines energischen Arbeitsstils viele Gegner vor allem in der staatlichen Bürokratie und im Parteiapparat hatte. In der offiziellen Machthierarchie der KP ist der 69jährige gegenwärtig die Nummer drei. Wegen seiner hohen wirtschaftspolitischen Kompetenz galt Zhu vielen Beobachtern als der einzige Politiker von Rang, der die chinesische Wirtschaft fest im Griff hat. Die Wahl dieses Mannes als Nachfolger Li Pengs, der wie kaum ein anderer die sturen, brutalen und unterdrückerischen Seiten der Pekinger Herrschaft symbolisierte, beflügelte die Erwartungen, daß China sich politisch entspannen und wirtschaftlich weiter reformieren könnte. 21.04.98 Die RAF macht Schluß Ein blutiges Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte geht zu Ende: 28 Jahre nach ihrer Gründung gibt die "Rote Armee Fraktion" ihre Auflösung bekannt. Selbstkritisch äußern sich die Verfasser zu ihrer Vergangenheit, finden jedoch kein Wort der Entschuldigung für die Morde. Seit einigen Jahren schon wurde die Auflösung der RAF erwartet, von ehemaligen Mitgliedern sogar gefordert, nun flatterte das Schreiben unverhofft in die Redaktionsräume der Nachrichtenagenturen. Unterzeichnet war das Manuskript mit "Rote Armee Fraktion" und dem obligatorischen fünfzackigen Stern mit einer Maschinenpistole. In ihrem Resümee räumten die Unterzeichner ein, daß die RAF ihr Ziel nicht erreicht hatte und "...keinen Weg zur Befreiung aufzeigen..." konnte. Kaum jemand hatte zu diesem Zeitpunkt noch mit diesem formellen Auflösungsbeschluß gerechnet. In der Sache führte das Schreiben wenig Neues an: Schon im April 1992 hatte die RAF den Verzicht auf weitere Attentate auf Politiker und Wirtschaftskapitäne erklärt und ein Scheitern des bewaffneten Kampfs eingeräumt. Damals hieß die Parole, gemeinsam mit anderen "eine soziale Gegenmacht von unten" aufbauen zu wollen. Der Versuch blieb im Ansatz stecken. 02.05.98 Der EURO kommt Nach intensiven Verhandlungen gibt der Rat der Staats- und Regierungschefs der EU bekannt, daß elf von fünfzehn Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für die Einführung einer 284 VON 300 einheitlichen Währung erfüllen. Gleichzeitig wird die Entscheidung über die Besetzung des Direktoriums der Europäischen Zentralbank verkündet. Großbritannien, Dänemark und Schweden hatten bereits im Vorfeld auf die Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) verzichtet, als einziges der übrigen Länder konnte Griechenland die Konvergenzkriterien nicht erfüllen. Das Europäische Parlament stimmte am 2. Mai mit 474 zu 65 bei 24 Enthaltungen der Empfehlung der Finanzminister zum Teilnehmerkreis zu. Am Abend erging dann der Vorschlag des ECOFIN bezüglich der Besetzung des Direktoriums der Europäischen Zentralbank. Bis zuletzt hatte es in dieser Frage Streit zwischen Frankreich und den meisten der anderen Staaten gegeben, der sogar die Entscheidung über den Teilnehmerkreis an der WWU überschattete. Die schließlich gefundene Lösung wurde in der Presse als "fauler Kompromiß" aufgenommen: Der von den meisten Teilnehmerstaaten gewünschte Kandidat, der Holländer Wim Duisenberg sollte zwar das Amt formell für acht Jahre übernehmen, jedoch nach einiger Zeit "aus Altersgründen" zurücktreten und seinen Sessel dem ChiracWunschkandidaten Claude Trichet überlassen. 21.05.98 Proteste zwingen Suharto zum Rücktritt Wohlstand gegen Unfreiheit - mit diesem Rezept herrschte Präsident Ibrahim Suharto 32 Jahre lang über die 200 Millionen Indonesier. Doch die Wirtschaft Asiens kränkelt, und so können auch Polizeiknüppel den Unmut des Volkes über seinen Autokraten nicht mehr zähmen. Jahrelang erlebte das Land Suhartos einen wirtschaftlichen Aufschwung - das Pro-KopfEinkommen war von 1970 bis 1998 auf das 14fache gestiegen. Doch der Preis war hoch: Als sich Suharto 1966 mit dem Militär an die Macht putschte, starben über 500.000 Menschen; der Präsidenten-Clan beherrschte bald die gesamte Wirtschaft des Landes und bereicherte sich schamlos. Im Sog der Asienkrise nach 1997 verfiel auch die indonesische Wirtschaft. Arbeitslosigkeit, Inflation und Preise stiegen rasant an. Der IWF verband einen Kredit von 43 Mrd. Dollar mit strengen Auflagen: rigide Sparpolitik und politische Reformen. Das Volk sah nun im korrupten Staatschef die Ursache des Übels. Als Soldaten sechs protestierende Studenten erschossen, kochte die Wut vieler Indonesier über. Plündernd und brandschatzend zog der Mob durch die Straßen, während sich die Opposition formierte. Am meisten litt die chinesische Minderheit unter den Krawallen - wirtschaftlich von Suharto bevorzugt, hatte sie den Neid der Massen auf sich gezogen. Schließlich blieb Suharto kein Ausweg mehr: Er übergab am 21. Mai die Macht an seinen Nachfolger Jusuf Habibie. 03.06.98 Fluch der Technik Aus heiterem Himmel, von einer Sekunde auf die andere, bricht die Katastrophe herein. Menschenleben werden ausgelöscht, Familien auseinandergerissen, Existenzen zerstört. Besonders groß war die Betroffenheit stets, wenn ein Unglück in den ganz normalen Arbeitsalltag oder den Freizeitbereich hineinbrach. Vor allem Bergwerks- und Zugunglücke bekamen schnell den Rang einer nationalen Katastrophe. ICE - Katastrophe in Niedersachsen 101 Tote und mehr als 50 zum Teil lebensgefährlich Verletzte sind die Bilanz des schwersten Zugunglücks der deutschen Nachkriegsgeschichte. Auf der Strecke München-Hamburg engleiste nahe dem kleinen Heideörtchen Eschede gegen 11 Uhr der erste Waggon des 410 Meter langen ICE "Walter Conrad Röntgen". Mit Tempo 200 prallte er rund 500 Meter vor dem Bahnhof gegen einen Brückenpfeiler und stellte sich quer. Die nachfolgenden Waggons verkeilten sich vor der eingestürzten Brücke. Den Rettungsarbeitern bot sich ein Bild des Grauens: 285 VON 300 Waggondächer waren abgetrennt, die Schienen verbogen. Rund um die Unglücksstelle lagen Sitze und vereinzelt Gepäckstücke. Mit einer verzweifelten Bergungsaktion unter schwierigsten Bedingungen versuchten Helfer noch in der Nacht, Überlebende der Zugkatastrophe zu retten. Mit fünf Spezialkränen und schwerem Räumgerät mußten die meterhohen Zugtrümmer auseinandergezogen werden. Die Bergung zog sich über mehrere Tage hin. Auch die anschließenden Arbeiten der Untersuchungskommission mußten mehrmals unterbrochen werden, da immer wieder Leichenteile gefunden wurden. Über die Unfallursache wurde lange spekuliert. Schließlich kristallisierte sich heraus, daß der Bruch eines Radreifens die Katastrophe verursacht hatte. Chronik schwerer Zugunglücke Das Zugunglück von Eschede war das bislang schlimmste seiner Art in Deutschland. Doch schon zuvor sind auf der Schiene immer wieder Menschen durch Versagen von Mensch oder Technik getötet oder schwer verletzt worden. Die schwersten Bahnunglücke in Deutschland seit Kriegsende: Juli 1945: Südöstlich von München kommen 102 Soldaten ums Leben, als ein mit Panzern beladener amerikanischer Transportzug auf einen Zug mit deutschen Kriegsgefangenen auffährt. Oktober 1961: In Hamburg kollidiert in einem S-Bahnhof ein Personenzug mit einem Bauzug: Es gibt 28 Tote und 55 Verletzte. Juli 1967: Ein Tanklastzug mit 15.000 Litern Benzin wird bei einem Bahnübergang nahe Magdeburg von einem einfahrenden Zug erfaßt und explodiert. 94 Menschen sterben. Juni 1969: im Bahnhof Hannover-Linden explodiert ein mit Munition beladener Güterwaggon. Das Unglück fordert 12 Tote und 30 Verletzte. Februar 1971: In die Trümmer eines auf der Strecke München-Zürich entgleisten TEE rast im Allgäu ein Schienenbus. Das Unglück fordert 29 Tote. Mai 1971: In Radevormwald stößt ein Schienenbus mit einem Gütertransport zusammen. Insgesamt 45 Menschen - darunter viele Schüler - sterben. Juli 1971: In Rheinweiler bei Freiburg entgleist der D-Zug "Schweiz-Express", 23 Menschen kommen ums Leben, 42 werden verletzt. Oktober 1971: Auf der Strecke zwischen Wuppertal und Radevormwald stößt ein Schienenbus mit einem Güterzug zusammen. Unter den 46 Toten und 25 Verletzten befinden sich vor allem Schüler. Juni 1975: Auf der Strecke zwischen München und Lenggries stoßen zwei Eilzüge zusammen. Der Unfall fordert 41 Tote und 122 Verletzte. Februar 1984: In einem Bahnhof nahe Halle fährt ein D-Zug auf einen stehenden Personenzug auf. Es gibt 11 Tote und 46 Verletzte. Oktober 1985: Auf einem eingleisigen Teilstück stoßen bei Magdeburg zwei Züge frontal zusammen: 13 Tote, 40 Verletzte. Januar 1988: Auf der Strecke Leipzig-Stralsund rammt ein D-Zug einen Panzer, der auf offener Strecke die Gleise überquert. Dabei sterben sechs Menschen, 40 werden verletzt. Februar 1990: Beim einem Zusammenprall zweier S-Bahn-Züge in Rüsselsheim (Hessen) werden17 Menschen getötet, 90 Personen verletzt. November 1992: Im niedersächsischen Northeim rast ein D-Zug in die Waggons eines gerade entgleisten Güterzugs. Elf Menschen kommen ums Leben, 52 werden verletzt. September 1994: In Bad Bramstedt (Schleswig-Holstein) stoßen zwei Triebwagen frontal zusammen. Sechs Menschen werden getötet, 67 Personen verletzt. Juli 1997: Ein Metallrohr durchbohrt in Neustadt (Hessen) einen Regionalexpreß. Sechs Menschen sterben, 13 werden verletzt. Das Rohr hatte sich von einem entgegenkommenden Güterzug gelöst. 286 VON 300 November 1997 explodierten in Elsterwerda (Brandenburg) zwei Wagen eines mit Benzin gefüllten Kesselzuges bei der Einfahrt in den Bahnhof. Zwei Menschen werden getötet, mehrere verletzt. Juni 1998 ereignet sich in Eschede (Hannover) das schwerste Zugunglück der deutschen Nachkriegsgeschichte. 101 Menschen kommen ums Leben, 88 werden verletzt als der Hochgeschwindigkeitszug ICE entgleißt und gegen einen Brückenpfeiler raßt. Februar 1999 bei Immenstadt (Allgäu) stoßen ein Intercity und ein Interregio zusammen, zwei Frauen verlieren das Leben, 33 Fahrgäste werden zu teil schwer verletzt. Serie von Tunnelunglücken Nur wenige Wochen nach dem verheerenden Brand im Montblanc-Tunnel sterben im österreichischen Tauerntunnel erneut 12 Menschen in einem Flammeninferno. Auch hier war das Feuer auf einem LKW ausgebrochen und griff binnen Sekunden auf andere Fahrzeuge über. Ein österreichischer LKW war mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf ein Stauende im Tunnel aufgefahren und hatte vier PKW unter einen Tanklastzug geschoben. Die Fahrzeuge fingen sofort Feuer. Insgesamt wurden 24 Autos durch das Feuer vollständig zerstört. Von den 86 Überlebenden blieben nur 39 unverletzt. Nach diesem zweiten schweren Unglück in einem Alpentunnel binnen weniger Wochen wurde die Diskussion um die Sicherheitsstandards erneut belebt. Ende März waren beim bisher schwersten Unglück dieser Art in den europäischen Alpen 41 Personen im Montblanc-Tunnel zwischen Italien und Frankreich ums Leben gekommen. Auch dort war auf der Ladefläche eines LKW Feuer ausgebrochen und hatte den Tunnel in kürzester Zeit in ein Inferno verwandelt. Kritiker erhoben massive Vorwürfe gegen die Betreiber der Tunnel und die verantwortlichen Politiker. Das ständig wachsende Verkehrsaufkommens erfordere neue Konzepte zur Gewährleistung der Sicherheit. Einige Stimmen forderten ein generelles LKW-Durchfahrverbot in Alpentunneln. 07.08.98 Blutspur der Islamisten Radikale Moslems führen "Krieg" gegen die Supermacht USA: Zeitgleich explodieren zwei Autobomben vor den US-Botschaften in Kenia und Tansania. Über 250 Menschen finden den Tod. Die Neunziger Jahre erleben eine neue Qualität islamischen Terrors. Bombte etwa die PLO noch für die Rückgewinnung Palästinas, so werden heute - einen Koranspruch auf den Lippen - die Lunten für einen "Gottesstaat" angezündet. Die Opfer sind immer häufiger unbeteiligte Zivilisten oder Touristen. Anschlag auf US-Botschaften in Afrika Entsetzen in Washington: im Abstand von wenigen Minuten explodieren Bomben vor den US-Botschaften in Kenia und Tansania. 257 Menschen sterben, unter ihnen 12 US-Bürger. Islamistische Terroristen haben den Erzfeind USA empfindlich getroffen, doch die Antwort der Weltmacht läßt nicht lange auf sich warten. Kurz zuvor hatte die Terrororganisation "Islamischer Heiliger Krieg" zur Rache für die Verhaftung eines ihrer Führer aufgerufen. Der amerikanische Präsident Bill Clinton steckte wegen seiner Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky in einer schweren innenpolitischen Krise, als die Nachricht von den Attentaten in Nairobi und Daressalam alles andere in den Hintergrund drängte. Clinton war gezwungen worden, 287 VON 300 vor der Grand Jury über sein Intimleben auszusagen; tagelang schien der Chef der Supermacht außenpolitisch handlungsunfähig zu sein. Clinton überraschte daher am 20. August die Weltöffentlichkeit, als er verkündete, Cruise Missiles der USA hätten Stützpunkte islamistischer Terroristen in Afghanistan und eine pharmazeutische Fabrik im Sudan angegriffen. Im Fadenkreuz: Der finanzstarke saudi-arabische Islamistenführer Ussama ibn Ladin (u.l.), der schon seit Jahren den weltweiten Kampf gegen die USA organisierte. Weltweiter Terror von rechts und links In den 70er Jahren erlebte der internationale Terrorismus seinen bisherigen Höhepunkt. In Irland und Großbritannien versuchte die I.R.A. seit 1969 wieder verstärkt durch Bombenattentate ihre Forderungen nach Rückzug der Briten und für die staatliche Einheit der Insel durchzusetzen, während die baskische Untergrundorganisation ETA in Spanien für ein unabhängiges und vereintes Baskenland kämpfte. In der BRD versuchte die Regierung, des Terrors der "Rote Armee Fraktion" mittels "Radikalenerlaß" und der Verstärkung polizeilicher Maßnahmen auf nationaler Ebene Herr zu werden. Doch spätestens mit den Selbstmorden führender RAF-Terroristen 1977 im Zusammenhang mit der Geiselbefreiung von Mogadischu offenbarte der Linksterrorismus seinen internationalen Charakter. Ebenso wie die RAF in ihrem Kampf gegen den staatlichen Machtapparat griffen u.a. auch die Brigate Rosse in Italien zu brutalen Mitteln wie Entführung und Mord. Während das Hauptaugenmerk der Terrorismusbekämpfung in diesen Jahren den linken Organisationen galt, hatten sich auf der rechten Seite ebenfalls Terrororganisationen formiert. Da jedoch lange Zeit keine Strukturen erkennbar waren, wurden diese von den Sicherheitsbehörden zunächst unterschätzt. In der Wahl ihrer Mittel schienen die Rechtsterroristen indes mindestens ebenso grausam wie die Linken, und mehr als diese nahmen sie den Tod vieler Unbeteiligter billigend in Kauf. So ging der Terroranschlag von Bologna 1980 auf das Konto der neofaschistischen "Bewaffneten revolutionären Stoßtrupps", der Anschlag auf das Oktoberfest im selben Jahr wurde von einem mutmaßlichen Mitglied der rechtsextremistischen "Wehrsportgruppe Hoffmann" verübt, und in Frankreich organisierte sich 1979 die "Action française" zum Angriff auf staatliche Institutionen. Eine besonders grausame Spielart des Terrorismus stellen die seit Jahrzehnten andauernden Anschläge arabischer Fundamentalisten dar. Das Massaker der Palästinenserorganisation "Schwarzer September" während der Olympischen Spiele 1972, die Flugzeugentführungen von Entebbe und Mogadischu 1977 und die Entführung der Achille Lauro 1985 sind nur Beispiele einer Reihe von spektakulären Aktionen. Der Terror der arabischen Organisationen – der sich in erster Linie gegen den Staat Israel richtete – wurde 1993 mit dem Bombenanschlag auf das World Trade Center in New York zu einer massiven inneren Bedrohung für die USA. Nun wurden auch die Israel unterstützenden Staaten zunehmend zum Ziel arabischer Extremisten. Im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das World Trade Center erwies sich nun auch zunehmend der ungehinderte Verkauf von Waffen in den USA als Bedrohung für die innere Sicherheit. In dem Land selbst existierten etwa 300 militante Gruppen, die sich selbst als Milizen bezeichnen, und zum Teil über umfangreiche Waffenarsenale verfügen. Viele dieser Organisationen sind als rechtsextremistisch und rassistisch einzustufen, andere sind Vereinigungen religiöser Fanatiker oder Sekten. Das Drama von Waco in Texas hielt im März/April 1993 wochenlang die Weltöffentlichkeit in Atem und regte die Diskussion über den ungehinderten Waffenerwerb in den USA erneut an. Der Bombenanschlag von Oklahoma, bei dem ein Jahr später fast 170 Menschen getötet wurde, wurde von den rechtsextremistischen Tätern als "Racheakt für Waco" erklärt. Seit dem Friedensschluß zwischen Israel und den Palästinensern verschärfte sich der Terror der extremistischen Untergruppierungen der ehemals gleichfalls als 288 VON 300 Terrororganisation eingestuften PLO. Vor allem die extremistische "Hamas" setzte den Terror in israelischen Städten noch 1996 mit grausamem Bombenterror fort. Vor dem Hintergrund der Zunahme ausländerfeindlicher Anschläge in der Bundesrepublik erklärte Bundesinnenminister Manfred Kanther 1993 die kurdische Befreiungsorganisation PKK zu einer kriminellen Vereinigung. Seither hat sich die Diskussion um den seit 1925 währenden Kampf der Kurden um einen eigenen Staat wieder verschärft. 15.08.98 Nordirland: Terroranschlag gefährdet Friedensprozeß 28 Tote und weit mehr als 300 Verletzte - das ist die Bilanz der Bombenexplosion von Omagh, dem wohl schwersten Anschlag in der 30jährigen Geschichte des Nordirlandkonfliktes. Am Nachmittag des 15. August explodierte in der nordirischen Stadt eine Autobombe. Ein Anrufer hatte zuerst das Gerichtsgebäude der Stadt als Ort der Bombenexplosion genannt. Die Polizei evakuierte daraufhin die Umgebung und brachte die Bevölkerung zum anderen Ende des Stadtzentrums, dem tatsächlichen Ort der Explosion. Zu dem Bombenanschlag bekannte sich die Splittergruppe "Real I.R.A.". Sie galt als die gefährlichste der drei Miliztruppen, die sich im Herbst 1997 von der Irisch-Republikanischen Armee (I.R.A.) abgespalten hatten. Anlaß für die Abspaltung war der von der I.R.A. Führung verfügte Waffenstillstand, der die Friedensverhandlungen mit der britischen Regierung ermöglichte. Als Anführer der Gruppe galt der frühere Verwalter des I.R.A. Waffenarsenals, Michael McKevitt. Nach der Explosion entschuldigte sich die "Wahre I.R.A." für den Anschlag und kündigte einen sofortigen Waffenstillstand an. Am 7. September folgte schließlich die Ankündigung des endgültigen Gewaltverzichts der "Real I.R.A.". 03.09.98 Swissair-Jet stürzt ins Meer Alle 229 Insassen eines Flugzeuges der Schweizer Fluggesellschaft Swissair kommen ums Leben, als die Maschine vor Kanada ins Meer stürzt. Die Maschine vom Typ MD-11, das Nachfolgemodell der DC-10, war auf dem Weg von New York nach Genf, als der Pilot kurz nach dem Start ein Notsignal sendete und Rauch im Cockpit meldete. Nachdem er zuerst in Boston notlanden wollte, wurde ihm von der Flugkontrolle der sehr viel näher gelegene Flughafen von Halifax auf der Halbinsel Neuschottland empfohlen, den die Maschine innerhalb einer halben Stunde hätte erreichen können. Die Maschine mußte jedoch noch eine Kurve fliegen, um Höhe zu verlieren und Treibstoff abzulassen. Minuten später zerschellte das Flugzeug im Meer. Die Rettungsboote konnten nur noch Trümmer bergen. Die Unglücksursache blieb bis auf weiteres ungeklärt. Vermutet wurde ein technischer Defekt, ein Terroranschlag wurde ausgeschlossen. Eine Analyse des Flugdatenschreibers und des Cockpit-Voicerecorders lieferte nicht die erhofften Ergebnisse, da ein massiver Stromausfall an Bord die Aufzeichnungen sechs Minuten vor dem Crash beendete. Dies hätte zufolge haben können, daß die Piloten in völliger Dunkelheit fliegen mußten und die Maschine nur noch mit Körperkraft steuern konnten. 27.09.98 Rot-Grün regiert in Bonn Nach 16 Jahren wird Helmut Kohl abgewählt. Mit Gerhard Schröder kehren die Sozialdemokraten an die Macht zurück, in der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene. Überraschend deutlich fiel das Wählervotum gegen Kohl und für Schröder aus, hoch sind die Erwartungen an die neue Regierung, die den Reformstau der letzten Jahre überwinden soll. Schröders Mannschaft hatte sich viel vorgenommen: Atomausstieg, Steuerreform und vor allem den Abbau der Arbeitslosigkeit. 289 VON 300 Das Ende der Ära Kohl Machtwechsel in Bonn: Nach 16 Jahren christdemokratischer Regierung muß "Rekordkanzler" Kohl seinem Kontrahenten von der SPD, Gerhard Schröder, das Feld räumen. Er ist damit der erste Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, der abgewählt wurde. Die SPD stellt nun zum dritten Mal nach Willy Brandt und Helmut Schmidt den Bundeskanzler. Bei der Bundestagswahl im September 1998 erlebte die CDU/CSU erdrutschartige Einbrüche: Sie erreichte gerade noch 35,2 Prozent, für die SPD entschieden sich dagegen 40,9 Prozent der Wähler, 4,5 Prozent mehr als noch vor vier Jahren. Bündnis 90/ Die Grünen, FDP und PDS schafften ebenfalls den Sprung in den Bundestag. Dem befürchteten Einzug von rechtsradikalen Parteien wie der DVU erteilten die Wähler eine klare Absage. CDU-Chef und Bundeskanzler Helmut Kohl gestand seine Niederlage uneingeschränkt ein und verkündete zugleich seinen Rücktritt als CDU-Vorsitzender nach 25 Jahren an der Spitze der Partei. Gleichzeitig war in Bayern der Unionspartner der CDU, die CSU, zum ersten Mal seit 45 Jahren unter die 50-Prozent-Marke gerutscht. 16.10.98 Pinochet festgenommen In London wird Augusto Pinochet unter Hausarrest gestellt. Zuvor hatte die spanische Regierung einen Antrag auf Auslieferung des ehemaligen chilenischen Diktators gestellt. Er soll für den Tod oder das ungeklärte Verschwinden von mindestens 3.000 Menschen darunter viele spanischen Staatsbürgern - während seiner 17 Jahre dauernden Diktatur verantwortlich sein. Pinochet hatte sich wegen einer Krebsoperation ins Ausland begeben und war im Krankenhaus in London verhaftet worden. Die chilenische Regierung reagierte mit Protesten auf die Verhaftung und forderte die Regierung Blair auf, die diplomatische Immunität des 82jährigen zu respektieren. Weltweit gingen Gegner und Anhänger des ExDiktators auf die Straße und lieferten sich zum Teil heftige Auseinandersetzungen. Währenddessen zogen sich die Verhandlungen hin. Wenige Tage nachdem der Haftbefehl aufgehoben worden war, stellte Spanien offiziell einen Antrag auf Überstellung des Greises. Ende November schließlich hob das britische Oberhaus die diplomatische Immunität auf. Während sich die britischen Gerichte mit dem Auslieferungsantrag Spaniens befaßten, wurde im Juli 1999 in Italien ein separates Verfahren gegen Pinochet wegen mutmaßlichen Mordes an acht italienischen Staatsbürgern eröffnet. 23.10.98 Einigung beim Nahost-Gipfel in Wye Der Friedensprozeß im Nahen Osten kommt wieder ins Rollen. Zum ersten Mal seit dem Bau neuer jüdischer Siedlungen in Ostjerusalem im März 1997, einigen sich Israel und Palästinenser wieder auf ein Friedensabkommen. Nach zähen Verhandlungen gelang es Bill Clinton und dem jordanischen König Hussein in Wye/ Maryland, erfolgreich zu vermitteln: Yassir Arafat und Benjamin Netanjahu unterzeichneten die sogenannte Wye-Plantation. Mit diesem Abkommen war der Weg frei für einen weiteren israelischen Rückzug aus dem Westjordangebiet: 13 Prozent des Landes fielen unter palästinensische Verwaltung, allerdings nur ein kleiner Teil unter deren völlige Kontrolle. Darüber hinaus sah das Abkommen die Freilassung von 750 in Haft befindlicher Palästinenser vor. Arafat verpflichtete sich, die anti-israelischen Klauseln aus der PLO-Charta zu streichen und gemeinsam mit der israelischen Seite den Kampf gegen die radikalen Gruppen zu verstärken. Internationale Beobachter dämpften allerdings allzu optimistische Erwartungen. Netanjahu, der seit seinem Regierungsantritt als Bremser im Friedensprozeß galt, nutzte auch nun 290 VON 300 bereits den nächsten Terrorakt palästinensischer Extremisten, um das Abkommen erneut in Frage zu stellen. Bis Ende des Jahres 1998 war der Friedensprozeß erneut vollständig blockiert. Nachdem sich auch innerhalb der regierenden Likud-Partei zunehmend Widerstand gegen Netanjahu formierte, kündigte dieser im Dezember Neuwahlen für Mai 1999 an. 27.10.98 Gerhard Schröder neuer Bundeskanzler Der Deutsche Bundestag wählt SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder mit 351 JaStimmen zum siebten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Schröder erhielt damit auch Stimmen aus den Reihen der Opposition. Bei dem knapp eine Stunde dauernden Wahlgang votierten 351 von 666 Abgeordneten für den 54jährigen Sozialdemokraten. Das waren 16 Stimmen über der erforderlichen absoluten Mehrheit und sechs Stimmen über der Zahl der Koalitionsmandate. 287 Parlamentarier stimmten gegen Schröder, 27 enthielten sich, ein Votum war ungültig. Die Ja-Stimmen entsprechen einer Zustimmung von rund 52,7 Prozent. Im Laufe des Nachmittages erhielt Schröder von Bundespräsident Roman Herzog die Ernennungsurkunde, anschließend leistete er seinen Amtseid vor dem Bundestag. Auf die im Grundgesetz als möglich vorgesehene Eidesformel "So wahr mir Gott helfe" vezichtete der Kohl-Nachfolger. Schröder ist nach Willy Brandt und Helmut Schmidt der dritte SPD-Bundeskanzler in der Bundesdeutschen Geschichte nach 1945. Mit dem rot-grünen Regierungsbündnis tragen die Grünen nun zum ersten Mal auf Bundesebene Regierungsverantwortung. Die ersten 100 Tage der Regierung Schröder Am 3. Februar 1999 endeten für die Regierung Schröder die ersten 100 Tage, die traditionelle Testphase für Amtsneulinge. Wenn auch Umfragen der ersten rot-grünen Bundesregierung und besonders ihrem Kanzler nach wie vor eine ungebrochene Popularität bescheinigten, fiel eine erste Bilanz der Regierungstätigkeit eher ernüchternd aus. Und daß die Schonzeit für Rot-Grün abgelaufen war, machte spätestens das Ergebnis der Hessenwahl am 7. Februar deutlich. Die Regierung hatte sich viel vorgenommen, laut Koalitionsvertrag standen ein schneller Atomausstieg, eine umfassende Steuerreform und vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen auf der Agenda. Dabei setzten sich die Koalitionspartner selbst unter Zeitdruck und produzierten "handwerkliche Fehler", wie Bundeskanzler Schröder einräumte. Ein Beispiel ist die gescheiterte Neuregelung des Atomrechts. Mit einem Verbot der Wiederaufarbeitung binnen Jahresfrist wollte Umweltminister Trittin (Grüne) den raschen Einstieg in den Ausstieg aus der Kernenergienutzung festschreiben. Aber sein Entwurf war schlecht mit den übrigen Ressorts abgestimmt und in der rechtlichen Würdigung möglicher Schadenersatzforderungen problematisch. Um die Energiekonsensgespräche mit den Stromkonzernen nicht zu gefährden, setzte sich Schröder über Koalitionsabsprachen hinweg und kassierte kurzerhand die Novelle, der Atomausstieg war einstweilen vertagt. Ins Trudeln geriet auch ein zweites grünes Lieblingsprojekt: die doppelte Staatsbürgerschaft für Ausländer. Offenbar unterschätzte die Regierung den Aufklärungsbedarf bei weiten Teilen der Bevölkerung und erhielt die Quittung dafür bei den hessischen Landtagswahlen, als die Unterschriftenkampagne gegen den "Doppelpaß" der CDU zu einem überraschenden Erfolg verhalf. Die entscheidende Meßlatte für Erfolg oder Mißerfolg der Regierung Schröder ist allerdings die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Immerhin gelang es dem Kanzler, mit dem "Bündnis für Arbeit" den versprochenen Beschäftigungspakt mit Arbeitgebern und Gewerkschaften anzuschieben, der allerdings in der Kürze der Zeit noch keine spürbare Entlastung des Arbeitsmarkts bewirken konnte und sich zunächst auf die Formulierung von Zielen und die Einsetzung von Arbeitsgruppen beschränkte. 291 VON 300 Negativ für die rot-grüne Joboffensive wirkte sich dagegen aus, daß das Wirtschaftswachstum schwächer als erwartet ausfiel. Hinter den Erwartungen zurück blieb auch der Einstieg in die große Steuerreform. Erhofft wurde eine umfassende Reform, die das Steuersystem einfacher und gerechter macht, die Arbeit entlastet und Anreize für Investitionen gibt. Zunächst beeilte sich die neue Regierung, durch Vorschaltgesetze noch vor dem Jahreswechsel einige ihrer Wahlversprechen einzulösen: Das Kindergeld wurde erhöht, der Eingangssatz bei der Einkommenssteuer gesenkt. Sozialpolitische Einschnitte der Regierung Kohl wurden postwendend rückgängig gemacht: die Absenkung des Rentenniveaus, Zuzahlungen zu Arzneimitteln, die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Für das Hauptgesetz hatte die Koalition eine umfangreiche Streichliste für Subventionen und Steuerschlupflöcher aufgestellt, die aber unter dem Ansturm der Interessengruppen rasch zusammenschrumpfte. Das Steuerrecht wurde nicht einfacher, sondern eher noch komplizierter. Die Wirtschaftsverbände beklagten zu geringe Entlastungen für den Mittelstand. Tatsächlich kämpfte die Regierung Schröder mit einem schwelenden Zielkonflikt zwischen Nachfrage- und Angebotsorientierung. Finanzminister Lafontaine wollte Wirtschaft und Beschäftigung im wesentlichen über eine Steigerung der Massenkaufkraft im Inland ankurbeln, Kanzler Schröder setzt im Prinzip auf die Entlastung der Unternehmen und die Verbesserung der Investitionsmöglichkeiten. Steuerpolitisch blieb dieser Konflikt unentschieden, die Regierung versuchte einen Mix aus beiden Instrumenten, wobei ihr Handlungsspielraum zunehmend enger wurde. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur steuerlichen Besserstellung von Familien von Ende Januar zwang dem Finanzminister neue Ausgaben in Milliardenhöhe auf, die erst gegenfinanziert werden müssen. Halbherzig geriet auch der Einstieg in die Ökosteuer, deren erste Stufe - etwas verspätet - am 1. April 1999 in Kraft trat. Öl, Gas und Strom sollten verteuert werden, um die Sozialversicherungsbeiträge zu senken. Mehr als sechs Pfennig Aufschlag auf die Mineralölsteuer wollte "Automann" Schröder seinem grünen Koalitionspartner allerdings nicht zugestehen, energieintensive Betriebe erhielten reduzierte Tarife, mit 0,8 Prozentpunkten fiel die Reduzierung der Rentenbeiträge entsprechend moderat aus. Neu geregelt wurden auch die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ("630Mark-Jobs"): Sie wurden pauschal von der Steuer befreit, dafür müssen Sozialabgaben bezahlt werden. Kritik erntete die Regierung dafür nicht zuletzt von den sozialdemokratischen Länderchefs, die erhebliche Steuerausfälle befürchteten. Als Gerhard Schröder am 1. Januar 1999 die deutsche EU-Ratspräsidentschaft antrat, sah er sich anspruchsvollen Aufgaben gegenüber: die Ausarbeitung eines europäischen Beschäftigungspakts sowie die Finanzreform im Rahmen der "Agenda 2000". Und sehr rasch zeichnete sich ab, daß eine Entlastung Deutschlands bei den EU-Beiträgen, die Schröder beim Wiener Gipfel im Dezember 1998 noch lautstark gefordert hatte, sich keinesfalls in dem erhofften Umfang und Tempo realisieren lassen würde. 03.11.98 Regierungsbeteiligung der PDS Mit der Wahl von Harald Ringstorff (SPD) zum Ministerpräsidenten von MecklenburgVorpommern ist die erste Koalition von SPD und PDS perfekt. Die SED-Nachfolgepartei stellt drei Minister in der neuen Landesregierung, ihre erste Regierungsbeteiligung nach dem Ende des DDR-Regimes. Bei den Wahlen zum Schweriner Landtag war Ringstorffs SPD im Sog der gleichzeitig abgehaltenen Bundestagswahl zur stärksten Partei aufgestiegen. Eine Fortsetzung der Großen Koalition mit der CDU war schnell passé, statt dessen begann Ringstorff mit Billigung aus Bonn Verhandlungen mit der PDS. Nachdem auf Sonderparteitagen auch die jeweilige Parteibasis ihre Zustimmung gegeben hatte, konnte am 2. November der Koalitionsvertrag unterzeichnet werden. Dennoch gab es innerhalb der Mecklenburger SPD 292 VON 300 auch starke Vorbehalte gegen eine Regierungsbeteiligung der PDS, wie bei der Wahl des neuen Ministerpräsidenten deutlich wurde: Obwohl seine Koalition über 47 Mandate verfügte, erhielt Ringstorff (li. mit PDS-Landeschef Holter) nur 39 Stimmen. Die PDS-Führung erhoffte sich von diesem ersten rot-roten Regierungsbündnis - bislang hatte die PDS lediglich durch eine Tolerierung die SPD-Minderheitsregierung in Magdeburg mitgetragen - Signalwirkungen für die übrigen neuen Bundesländer. SPD-Chef Lafontaine stellte sich zwar hinter die Mecklenburger Koalition, erteilte aber ebenso wie Bundeskanzler Schröder einer Zusammenarbeit mit der PDS auf Bundesebene eine klare Absage. 17.11.98 Daimler und Chrysler bilden Megakonzern Daimler Benz und Chrysler beschließen die größte Fusion der Industriegeschichte: Die Automobilhersteller schließen sich zum drittgrößten Autokonzern der Welt zusammen - die neue globale Wirtschaftswelt wird Wirklichkeit. Die erste "Welt-AG" unter deutscher Führung hat einen Wert von 166 Milliarden Mark. Nach dem Willen der beiden Firmenchefs Jürgen Schrempp und Robert Eaton sollte "Daimler-Chrysler" - so der neue Firmenname - die Chancen des globalen Automobilmarktes sowohl in ihrer geographischen Präsenz als auch hinsichtlich ihrer Produktpalette optimal nutzen. Die Partner versprachen sich von der Fusion erhebliche Einsparungen allein für 1999 in Höhe von 2,5 Milliarden Mark, und trotz der Schaffung von Arbeitsplätzen für die folgenden Jahre jährlich etwa fünf Milliarden Mark. Kostenvorteile sah die Konzernführung vor allem durch die gegenseitige Nutzung von Werken, den Austausch von Technik und Entwicklung sowie die Bündelung von Einkauf und Vertrieb. Die Marken Mercedes und Chrysler sollten aber auf Dauer bestehen bleiben. Nachdem die Aktionäre beider Konzerne und die Aufsichtsbehörden der Fusion zugestimmt hatten, wurde die Transaktion in Rekordzeit abgeschlossen. Nach einem Aktientausch von bisher nicht gekanntem Ausmaß trat am 17. November die Daimler-Chrysler AG offiziell auf den Markt. 07.12.98 Bündnis für Arbeit gestartet In Bonn lädt Bundeskanzler Schröder zur ersten Runde im Bündnis für Arbeit. Woran sein Vorgänger Kohl scheiterte, soll unter seiner Moderation zum Erfolgsmodell werden: Gemeinsam wollen Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften Wege aus der Massenarbeitslosigkeit finden. Das hochrangig besetzte Auftaktgespräch sollte in erster Linie Vertrauen zwischen den Bündnispartnern schaffen; umstrittene Fragen wie die Gestaltung der künftigen Tarifpolitik blieben vorerst ausgeklammert. So gab es auch im Streit um die von den Gewerkschaften favorisierte Verkürzung der Lebensarbeitszeit ("Rente ab 60") keine Annäherung. Allerdings bekräftigte Schröder, daß an eine Absenkung des gesetzlichen Rentenalters ebensowenig gedacht sei wie an ein Gesetz zum Abbau von Überstunden. Weiter versprach der Kanzler, die geplante Senkung der Unternehmenssteuer auf 35 Prozent auf das Jahr 2000 vorzuziehen. Die Tarifparteien sicherten ihrerseits zu, das Regierungsprogramm zur Schaffung von 100.000 Lehrstellen zu unterstützen. Alle 15 Teilnehmer zeigten sich zufrieden mit den Ergebnissen des ersten Treffens und sprachen sich in einer gemeinsamen Erklärung für eine dauerhafte Zusammenarbeit aus. Zur Vorbereitung der nächsten Gesprächsrunden wurden acht Arbeitsgruppen gebildet, die unter anderem Vorschläge zur Reform des Steuerrechts, der Arbeitszeit und des sozialen Sicherungssystems erarbeiten sollen. 17.12.98 Neue US-Angriffe verschärfen Lage am Golf Nach langen Querelen mit der Regierung in Bagdad beschießen die USA acht Jahre nach dem Golfkrieg erneut den Irak. Immer wieder hatte Saddam Hussein die Arbeit der UN- 293 VON 300 Rüstungskontrolleure behindert und das Ende der Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen angekündigt, um dann stets in letzter Sekunde wieder einzulenken. Im Zentrum der Kritik Husseins stand der Chef der Kontrollgruppe, Richard Butler, dem Spionage für Israel und die USA vorgeworfen wurde. Tatsächlich stellte sich Anfang Januar 1999 heraus, daß es zum Austausch wichtiger militärischer Informationen zwischen der USRegierung und der Unscom gekommen war. Die Weltöffentlichkeit reagierte mit gemischten Gefühlen auf die Angriffe. Vor dem Hintergrund des anstehenden Impeachment-Verfahrens gegen den US-Präsidenten glaubten viele Beobachter, Clinton wolle durch die Aktion von seinen innenpolitischen Problemen ablenken. Tatsächlich wurden die Angriffe nach vier Tagen zunächst für beendet erklärt, die Situation blieb jedoch weiterhin angespannt. Bagdad provozierte die UNO nun mit der Infragestellung der beiden Flugverbotszonen, die nach dem letzten Krieg im Norden und Süden des Landes eingerichtet worden waren. Dort kam es während der folgenden Monate fast täglich zu Gefechten. Die Waffenkontrollen waren bis Juli 1999 nicht wieder aufgenommen worden. 26.01.99 Atomausstieg vertagt Der Atomausstieg ist vertagt: In der ersten Runde der Konsensgespräche mit der Energiewirtschaft nimmt Kanzler Schröder die umstrittene Jahresfrist zum Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung zurück - und düpiert seinen grünen Koalitionspartner. In einer Neufassung des Atomgesetzes wollte Umweltminister Trittin (Grüne) die Wiederaufarbeitung von Atommüll ab dem 1. Januar 2000 verbieten. Die Kraftwerksbetreiber lehnten dies kategorisch ab und drohten mit einem Ausstieg aus dem Energiekonsens. In der ersten Gesprächsrunde lenkte Schröder ein und kündigte eine Revision der umstrittenen Atomnovelle an. Der Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung solle "so schnell als möglich" erfolgen, aber ohne eine generelle Frist. Über Stilllegungen der 19 deutschen Atommeiler soll in weiteren Gesprächsrunden jeweils einzeln verhandelt werden. Umweltminister Trittin sprach dennoch von einem Teilerfolg. Er begrüßte, daß die Energiekonzerne den Atomausstieg im Grundsatz akzeptiert hätten. Andere GrünenPolitiker äußerten sich skeptischer und bedauerten insbesondere das Abrücken von konkreten Fristen für den Ausstieg. Auch Umweltverbände zeigten sich enttäuscht von den Ergebnissen der ersten Energiekonsensrunde und kündigten Proteste an. 24.02.99 Siebzig Tote in den Alpen Nach heftigen Schneefällen gilt in weiten Teilen der Alpen die höchste Lawinenalarmstufe. Zuerst verwüstet eine Lawine nahe Chamonix ein Dorf und tötet zehn Menschen. Mit dem Abgang ungeheurer Schneemassen im Tiroler Skiort Galtür erreicht der Katastrophenwinter seinen traurigen Höhepunkt: 38 Touristen und Einheimische kommen ums Leben. Insgesamt forderten Lawinen im gesamten Alpenraum allein im Februar mehr als 70 Opfer. Neben den extremen Schnee- und Wetterverhältnissen führte jedoch auch ein ums andere Mal unverantwortlicher Leichtsinn zur Katastrophe. Annähernd 100.000 Touristen saßen zum Teil länger als eine allen in der Schweiz fest und mußten mit Hubschraubern evakuiert werden. Das Dorf Galtür in Österreich galt bislang als lawinensicher. Doch die Sicherheit erwies sich in diesem Winter als trügerisch. Binnen Sekunden wurde ein Großteil des Dorfes von riesigen Schneemassen begraben und völlig zerstört. Unter den Toten befanden sich 21 Deutsche, acht Österreicher und sechs Niederländer. Noch während die Rettungsmaßnahmen anhielten begannen die Bergungskräfte mit der Evakuierung von etwa 5.000 Personen. Im Einsatz waren neben österreichischen auch deutsche, schweizerische und amerikanische Hubschrauber. 11.03.99 294 VON 300 Lafontaines Rücktritt gibt Schröder freie Hand Überraschend gibt SPD-Chef Oskar Lafontaine alle politischen Ämter auf und zieht sich ins Privatleben zurück. In Wirtschaftskreisen herrscht unverhohlene Genugtuung, aber nicht nur dort sieht man im Rücktritt des umstrittenen Finanzministers eine "zweite Chance" für die Regierung Schröder. Zuvor hatte Kanzler Schröder sein Kabinett wegen wirtschaftsfeindlicher Politik gerüffelt und auch Lafontaines Steuerpolitik heftig kritisiert. Tags darauf reichte der Saarländer seine Demission ein und zog sich nach Saarbrücken zurück. Erst drei Tage später machte er in einer Erklärung das "schlechte Mannschaftsspiel" innerhalb der Regierung für seinen Abgang verantwortlich. Die Nachfolge wurde schnell geregelt: Schröder übernahm den Parteivorsitz, zum neuen Finanzminister wurde der abgewählte hessische Ministerpräsident Hans Eichel bestellt. Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft äußerten sich befriedigt über den Rücktritt und hofften auf einen wirtschafts- und steuerpolitischen Neuanfang. Tatsächlich war mit Lafontaines Ausscheiden nicht nur die Machtfrage innerhalb der SPD zugunsten des Kanzlers entschieden, sondern auch der wirtschaftspolitische Richtungsstreit: Gegen die traditionalistische Position Lafontaines, der auf Umverteilung und Steigerung der Massenkaufkraft setzte, und für die unternehmerfreundliche Angebotspolitik des Modernisierers Schröder. 18.03.99 Verhandlungen in Rambouillet gescheitert Im Schloß Rambouillet bei Paris soll der Konflikt im Kosovo am Verhandlungstisch beigelegt werden. Die Serben verweigern sich allerdings dem massiven Druck des Westens und riskieren militärische Schläge gegen ihr Land. Alle Sanktionen waren ins Leere gelaufen, der Schwelbrand im Kosovo dauerte fort. Nun sollte eine Lösung nach dem Modell von Dayton folgen. Drei Wochen lang rangen im Februar Albaner und Serben unter der Vermittlung von Christopher Hill (USA), Wolfgang Petritsch (EU) und Igor Magorski (Rußland) vergeblich um eine Lösung, die den Albanern zwar die Autonomie geben, die serbische Oberhoheit über das Kosovo aber erhalten sollte. Nach Aussetzung der ersten Gesprächsrunde in Rambouillet versuchte der Westen ab 15. März erneut die Unterschriften unter einen Friedensplan zu erzwingen. Diese Mal lenkte die Delegation der Kosovo-Albaner ein, doch die Serben bewegten sich nicht. Insbesondere die Kontrolle der Umsetzung des Abkommens durch die Entsendung von NATO-Soldaten in die Krisenprovinz erklären sie als mit ihrer nationalen Integrität unvereinbar. Die NATO hatte mit Luftschlägen im Falle eines Scheiterns des Verhandlungsmarathons gedroht. Wollte sie nicht ihr Gesicht verlieren, mußte sie nun handeln. 19.03.99 Kompromißlösung im Staatsbürgerrecht Vertreter von SPD und FDP einigen sich auf einen Kompromiß in der Frage des Staatsbürgerschaftsrechts. Danach sollen in Deutschland geborene Ausländerkinder zunächst mit zwei Pässen aufwachsen, sich jedoch spätestens zu ihrem 23. Geburtstag für eine Staatsangehörigkeit entscheiden. Im großen und ganzen entsprach die gefundene Lösung, das sogenannte "Optionsmodell", den Vorschlägen der FDP. Der Kompromiß war nach mehrtägigen Gesprächen von Bundesinnenminister Otto Schily mit Vertretern der sozialliberalen Landesregierung von Rheinland-Pfalz unter der Führung des FDP-Landesvorsitzenden Rainer Brüderle zustande gekommen. Die CDU kündigte auch gegen diesen Kompromiß Widerstand und gegebenenfalls eine Verfassungsklage an. Die rot-grünen Pläne einer doppelten Staatsbürgerschaft, wie sie in zahlreichen anderen Staaten seit langem praktiziert wird, waren gescheitert. Der sogenannte "Doppelpaß" sah die Einbürgerung aller seit mindestens acht Jahren rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländer vor. Nach der auch in den eigenen Reihen umstrittenen Unterschriftenaktion der CDU/CSU gegen doppelte Staatsbürgerschaft hatten die Landtagswahlen in Hessen 295 VON 300 gezeigt, wie tief verwurzelt offensichtlich die diffusen Ängste weiter Teile der Bevölkerung waren. 24.03.99 Erster deutscher Kriegseinsatz seit 1945 Erstmals in ihrer Geschichte beteiligt sich die Bundeswehr aktiv an einem Militäreinsatz gegen ein anderes Land. Nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen von Rambouillet hatte NATO-Oberbefehlshaber Javier Solana die Bombardierung strategischer Ziele in Serbien, Montenegro und im Kosovo angeordnet. Am Abend des 23. März waren vom italienischen NATO-Stützpunkt Piacenza im Rahmen einer ersten Angriffswelle vier Tornado-Maschinen der Luftwaffe aufgestiegen und hatten Ziele in Jugoslawien bombardiert. Ziel der Operation war, den jugoslawischen Präsident Milosevic zur Aufgabe seiner Unterdrückungs- und Verfolgungspolitik im Kosovo zu bewegen und ihn zur Unterschrift des Abkommens von Rambouillet zu bewegen. Der Einsatz deutscher Soldaten stieß zunächst auf weitgehende Zustimmung in Politik und Gesellschaft. Berichte von Massakern serbischer Truppen an der albanischen Bevölkerung im Kosovo schienen den Einsatz zu rechtfertigen. Und als die Serben nach den ersten Bombennächten ihre Bemühungen um eine "ethnische Säuberung" des Kosovo intensivierten und sich Gerüchte über Greueltaten mehrten, hielten Verteidigungsminister Scharping und Außenminister Fischer in Abstimmung mit den anderen NATO-Staaten an der harten Linie fest: Die Militäreinsätze wurden weiter intensiviert. NATO-Luftschläge gegen Jugoslawien Milosevic hatte den Bogen überspannt: Gezielte Luftschläge sollen den Despoten in der Kosovo-Frage zur Räson bringen. Nun brennen serbische Kasernen und Fabriken, während die Albaner zu Hunderttausenden Opfer von Flucht und Vertreibung werden. Nachdem die Verhandlungen in Rambouillet zur friedlichen Beilegung des KosovoKonflikts endgültig fehlgeschlagen waren, flog die NATO am 24. März erste Luftangriffe gegen Serbien und die Nachbarrepublik Montenegro. Die Luftschläge richteten sich primär gegen die militärische Infrastruktur des Landes, doch bald gerieten auch zivile Objekte wie Brücken, Heizkraftwerke und Fabriken ins Visier der NATO-Piloten. Rußland protestierte scharf gegen das Vorgehen der Allianz, die ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates in den Krieg gezogen war. Boris Jelzin kündigte die Zusammenarbeit mit dem Bündnis auf und schloß eigene Militäraktionen nicht aus. Die deutsche Regierung verteidigte dagegen die Luftschläge als unumgänglich. Die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges erfüllte sich nicht. Statt dessen verschärften die serbischen Einheiten ihren Terror gegen die Zivilbevölkerung. Gezielt wurden die Albaner im Kosovo nun enteignet und vertrieben, während die Bevölkerung der Hauptstadt Belgrad Nacht für Nacht in die Luftschutzkeller strömte. 25.03.99 Berliner EU-Gipfel segnet Agenda 2000 ab In einem langen Tauziehen moderiert EU-Ratspräsident Gerhard Schröder einen Kompromiß für das umstrittene Reformpaket Agenda 2000. Die Vorraussetzungen für die Osterweiterung der Europäischen Union sind damit geschaffen. Der Krieg im Kosovo überschattete den Berliner Sondergipfel, im Zentrum der Beratungen stand allerdings der Finanzrahmen der EU bis zum Jahr 2006 - die "Agenda 2000". Zunächst einigten sich die Teilnehmer überraschend schnell auf den Italiener Romano Prodi (li.) als künftigen Präsidenten der Europäischen Kommission. Nach zahlreichen Korruptionsskandalen war die alte EU-Kommission am 16. März geschlossen zurückgetreten. Dagegen standen die Gespräche über den EU-Haushalt, die Ausgleichsfonds und vor allem die Agrarpolitik mehrfach vor dem Scheitern. Erst nach 20 Stunden ununterbrochener Verhandlungen stimmten die 15 Staats- und Regierungschefs einem von Schröder 296 VON 300 erarbeiteten Kompromiß zu: Die Ausgaben wurden durch eine Obergrenze gedeckelt, die Strukturförderung auf die bedürftigsten Regionen beschränkt. Die Briten behielten ihren Sonderrabatt, auf Druck Frankreichs wurden Teile der Agrarreform verschoben. Die Gastgeber hatten sich vor allem eine Senkung ihrer Nettobeiträge erhofft, mußten hier aber deutlich zurückstecken. Dennoch wertete EU-Ratspräsident Schröder den Berliner Gipfel als Erfolg: Eine drohende Krise der Union sei abgewendet, die Basis für die Osterweiterung gelegt worden. 17.05.99 Barak neuer Premier in Israel Neue Hoffnung für den Friedensprozeß: Bei der Wahl des israelischen Ministerpräsidenten am 17. Mai 1999 ist Herausforderer Ehud Barak vom Oppositionsbündnis "Ein Israel" mit rund 56 Prozent der Stimmen klar als Sieger hervorgegangen. Amtsinhaber Benjamin Netanjahu kam auf etwa 44 Prozent. Der Amtswechsel von Likud-Chef Netanjahu zu Barak von der Arbeiterpartei wurde als Zeichen für die baldige Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit den Palästinensern gewertet. Während Netanjahus Regierungszeit war der Friedensprozeß, den die früheren Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin und Schimon Peres angestoßen hatten, ins Stocken geraten. Die Wahl Baraks wurde weltweit positiv aufgenommen. Bereits während des Wahlkampfs hatte sich Barak als Befürworter des Friedensprozesses, im Sinne seines Mentors Rabin, präsentiert. Sein Sieg wurde daher als Zeichen für den breiten Friedenswillen in Israel gewertet. Nachdem Meinungsumfragen im Vorfeld die Tendenz zum Wechsel signalisiert hatten, hatten der arabische Israeli Asmi Bischara und der früheren Verteidigungsminister Yitzhak Mordechai wie auch der nationalistische Politiker Benjamin Begin ihre Kandidatur zugunsten Baraks zurückgezogen. Derart gestärkt ging Barak als klarer Favorit in die Wahl. "Dieser Sieg gehört dem israelischen Volk. Von euch allen höre ich den Ruf nach Wandel", betonte der Chef der Arbeitspartei nach seiner Wahl. 29.05.99 Serie von Tunnelunglücken Nur wenige Wochen nach dem verheerenden Brand im Montblanc-Tunnel sterben im österreichischen Tauerntunnel erneut 12 Menschen in einem Flammeninferno. Auch hier war das Feuer auf einem LKW ausgebrochen und griff binnen Sekunden auf andere Fahrzeuge über. Ein österreichischer LKW war mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf ein Stauende im Tunnel aufgefahren und hatte vier PKW unter einen Tanklastzug geschoben. Die Fahrzeuge fingen sofort Feuer. Insgesamt wurden 24 Autos durch das Feuer vollständig zerstört. Von den 86 Überlebenden blieben nur 39 unverletzt. Nach diesem zweiten schweren Unglück in einem Alpentunnel binnen weniger Wochen wurde die Diskussion um die Sicherheitsstandards erneut belebt. Ende März waren beim bisher schwersten Unglück dieser Art in den europäischen Alpen 41 Personen im Montblanc-Tunnel zwischen Italien und Frankreich ums Leben gekommen. Auch dort war auf der Ladefläche eines LKW Feuer ausgebrochen und hatte den Tunnel in kürzester Zeit in ein Inferno verwandelt. Kritiker erhoben massive Vorwürfe gegen die Betreiber der Tunnel und die verantwortlichen Politiker. Das ständig wachsende Verkehrsaufkommens erfordere neue Konzepte zur Gewährleistung der Sicherheit. Einige Stimmen forderten ein generelles LKWDurchfahrverbot in Alpentunneln. 03.06.99 Bomben auf Belgrad Nach über zehn Wochen währenden Bombardements der NATO endet der Krieg im Kosovo. Ohne Mandat der Vereinten Nationen hatte die internationale Streitmacht die Truppen von Präsident Milosevic aus der Region vertrieben. 297 VON 300 Wochenlang hatte die Weltöffentlichkeit die Bilder der Bombenangriffe und der Flüchtlingstrecks an den Bildschirmen mitverfolgt. Nun stand die internationale Gemeinschaft vor der fast unlösbaren Aufgabe, ein friedliches Miteinander von Serben und Albanern im Kosovo zu organisieren. 13.06.99 KFOR rückt in das Kosovo ein Nach dem überraschend reibungslosen Abzug der serbischen Einheiten besetzen NATOTruppen unter dem Jubel der Albaner das verwüstete Kosovo. Vielerorts stoßen sie auf Spuren grauenvoller Massaker. Über 100 Tage Krieg hatten Slobodan Milosevic offenbar doch mürbe gemacht: Unter der Vermittlung des finnischen Präsidenten Ahtisaari und Rußlands Sonderbotschafter Tschernomyrdin kam am 3. Juni ein Abkommen zustande, das im wesentlichen die Forderungen des Westens erfüllte. Innerhalb weniger Tage erarbeiteten serbische Generäle und hochrangige NATO-Militärs daraufhin einen Rückzugsplan, der den Serben genau 11 Tage Zeit ließ, das Kosovo vollständig zu räumen. Daneben lag dieses Mal eine Resolution des UN-Sicherheitsrats vor. Nun rückten die in Albanien und Mazedonien stationierten NATO-Truppen in das Kosovo ein - gefolgt von Hunderttausenden zurückkehrenden Albanern. Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien und die USA übernahmen jeweils das Oberkommando in den fünf Besatzungszonen. Für diplomatische Verwirrung sorgte das eigenmächtige Vorpreschen einer 300 Mann starken russischen Einheit in die Hauptstadt Prishtina. Erst nach tagelangem Tauziehen einigten sich Russen und Briten auf eine gemeinsame Verwaltung des örtlichen Flughafens. 24.06.99 Eichels Sparpaket passiert Bundestag Als "Programm der Macher gegen die Miesmacher" verteidigt Bundeskanzler Schröder das Spar- und Reformpaket seines Finanzministers. Eichels Pläne zur Sanierung der Staatsfinanzen sehen Einsparungen in allen Ressorts in Höhe von 30 Milliarden Mark vor. Vor dem Parlament bezeichnete Schröder die Sparvorschläge als größtes Reformprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik. Zuvor hatte das Kabinett den "Sparhaushalt 2000" gemeinsam mit den Entwürfen zur Familienentlastung, Ökosteuer sowie den Reformen im Renten- und Gesundheitssystem verabschiedet. Ziel der Maßnahmen sei die Ankurbelung der Konjunktur und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die höchsten Einsparungen sollten im Ressort von Arbeitsminister Riester mit 12,5 Milliarden Mark vorgenommen werden. Heftige Anfeindungen zog sich Eichel von Seiten der Opposition mit seinen Plänen zur Rentenreform zu. Während der nächsten zwei Jahre sollten die Renten lediglich in Höhe der Inflationsrate steigen. CDU/CSU sprachen von Wählertäuschung und kündigten Widerstand an. Angesichts der veränderten demographischen Entwicklung schlug Schröder Gespräche innerhalb des "Bündnis’ für Arbeit" über eine tarifvertragliche Regelung für die Zusatzvorsorge vor. Als weitere Punkte wurden die Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages, die Senkung der Unternehmenssteuer zum 1. Januar 2001 auf einheitlich 25 Prozent, sowie die jährliche Erhöhung der Mineralölsteuer um sechs Pfennig während der nächsten vier Jahre beschlossen. 29.06.99 PKK-Chef zum Tode verurteilt Das türkische Staatssicherheitsgericht verurteilt PKK-Chef Abdullah Öcalan zum Tod durch den Strang. Erwartungsgemäß verhängte das Gericht auf der Gefängnisinsel Imrali die Höchststrafe gegen den Gründer und Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans. Nach Öcalans spektakulärer Verhaftung war der Prozeß unter größten Sicherheitsvorkehrungen vorbereitet worden. Die Anklage lautete auf Hoch- und Landesverrat sowie vielfachen Mord. Begleitet wurde der Prozeß von zahlreichen, zumeist 298 VON 300 friedlichen Demonstrationen von PKK-Gegnern. Einige von ihnen wurden auch zur Gerichtsverhandlung zugelassen, während der sie zur optischen Unterstützung der Anklage Photos ihrer durch PKK-Terror getöteten Verwandten mit sich führten. Die Urteilsverkündung wurde von vielen Türken mit Genugtuung aufgefaßt. Die PKK ihrerseits hielt sich nach den ständigen Beteuerungen Öcalans, sich in Zukunft für ein friedliches Miteinander von Türken und Kurden einzusetzen, auffällig zurück. Der Fall Öcalan wurde nun an das Oberste Berufungsgericht in Ankara weitergeleitet, das das Urteil bestätigen muß, um es anschließend dem Parlament zur endgültigen Vollstreckung zu übergeben. Ob es soweit kommt, blieb ungewiß, nachdem sich zahlreiche Politiker aus der Europäische Union für eine Begnadigung Öcalans ausgesprochen hatten. Öcalan wäre nach 1984 der erste Mensch, der in der Türkei hingerichtet würde. Kurdenkonflikt Das Siedlungsgebiet der etwa 20 Millionen Kurden liegt hauptsächlich im Osten der Türkei (etwa 7 bis 10 Millionen Kurden), im Nordirak (etwa 3 Millionen) und im Westen Irans (etwa 4 bis 5 Millionen). Einige 100.000 Kurden leben auch in Syrien und in Armenien. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches sah der Friedensvertrag von Sèvres 1920 die Bildung eines kurdischen Staates vor. Die Alliierten versicherten aber 1923 dem neu entstandenen Staat Türkei im Vertrag von Lausanne die Anerkennung seiner Souveränität. Damit war die Bildung eines kurdischen Staates hinfällig geworden. Gründe für die Ablehnung der kurdischen Autonomie von seiten der betroffenen Staaten liegen in der strategisch wichtigen Lage kurdischer Siedlungsgebiete sowie im Ölreichtum ihrer Gebiete. Nach mehreren Aufständen im Irak, zuletzt 1945/ 46, nahmen die kurdischen Rebellen unter dem Oberbefehl von Mustafa Barsani 1961 die Kämpfe gegen die irakische Armee auf. Barsani hatte bereits 1946 die Demokratische Partei Kurdistans (DPK) gegründet. Der nach der Niederlage der irakischen Regierung abgeschlossene Friedensvertrag von 1966 wurde nicht erfüllt. Im Jahr 1970 kam es zu einem erneuten kurdisch-irakischen Abkommen, in dem der Weg zur kurdischen Autonomie festgelegt war. Nach dem Streit um die ölreiche Provinz Kirkuk, kam es seit März 1974 wieder zu Kämpfen. Mi