Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Religion, Theologie und Naturwissenschaft/ Religion, Theology, and Natural Science Herausgegeben von Christina Aus der Au, Willem B. Drees, Antje Jackeln und Ted Peters Band 27 Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Günter Rager / Michael von Brück Grundzüge einer modernen Anthropologie Herausgegeben von Tobias Müller und Thomas M. Schmidt Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Mit 7 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-57024-1 ISBN 978-3-647-57024-2 (E-Book) 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Vorwort Im Jahr 2005 gelang es dem Institut für Religionsphilosophische Forschung (IRF) der Goethe-Universität Frankfurt als erster Forschungseinrichtung, die international renommierten Templeton Research Lectures für eine europäische Hochschule einzuwerben. Ziel dieser Vorlesungsreihe und dem dazugehörigen Forschungsprogramm ist die Intensivierung des interdisziplinären Dialogs zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Im letzten Jahr dieser Veranstaltungsreihe wurde der Versuch unternommen, die Perspektiven der drei vorangegangenen Jahre als Grundzüge für eine zeitgemäße Anthropologie unter modernen Verstehensbedingungen zusammenzuführen. Seit Beginn menschlichen Nachdenkens war die Frage, was der Mensch seinem Wesen nach sei und welche Stellung er im Kosmos einnehme, von zentraler Bedeutung, denn schließlich wird in ihr das Selbstverständnis des Menschen grundlegend reflektiert. Dabei wird die Komplexität der Fragestellung deutlich, da auch nur der Versuch, diese zu beantworten, zahlreiche andere Erkenntnisse und Erfahrungsgebiete voraussetzt und somit auch immer von kulturellen Komponenten abhängt. Vor allem zwei Aspekte spielen in der Deutung des Menschen eine entscheidende Rolle: Die modernen Naturwissenschaften erarbeiten zahlreiche Erkenntnisse, die für das Selbstverständnis des Menschen höchst relevant sind. Sie konkurrieren zum Teil mit weiterführenden Sinndeutungen, wie sie etwa in religiösen Systemen durchgeführt werden, die eine alternative anthropologische Grundoption darstellen. Im Ausgang an die radikalisierte Moderne wurde deutlich, dass sowohl die Interpretation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als auch die Akzeptanz religiöser Deutungen an kontingente Voraussetzungen geknüpft sind, die eine Pluralität von anthropologischen Bestimmungen nach sich ziehen. Möchte man diese Vielfalt nicht unverbunden nebeneinander stehen lassen, können diese Bestimmungen im Licht der unumgänglich von allen Menschen zu leistenden Welt- und Lebensorientierung nur in einer philosophischen Analyse vernünftig aufeinander bezogen werden, wodurch mögliche Horizonte und Grenzen des anthropologischen Unternehmens deutlich werden. Für diese Aufgabe konnten mit Günter Rager und Michael von Brück im vierten Jahr der Templeton Research Lectures zwei international renommierte Autoren gewonnen werden, die hier jeweils aus ihrer Perspektive eine interdisziplinäre Grundlegung für eine moderne Anthropologie anbieten. In dem ersten Teil erarbeitet Günter Rager eine naturwissenschaftlichphilosophische Perspektive für eine Grundlegung einer modernen Anthropologie, in der er die in den letzten Jahren zutage geförderten Ergebnisse der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie 6 Vorwort modernen Naturwissenschaften als Ausgangspunkt nimmt, die für das Selbstverständnis des Menschen von großer Tragweite zu sein scheinen. Da es hier um Überlegungen geht, die über die Methoden der empirischen arbeitenden Wissenschaften hinausgehen, und diese Fragen nicht wieder mit einem Experiment beantwortet werden können, sondern die Bedingungen und die Reichweite der empirischen Methoden selbst thematisiert werden, stellt sich hier eine philosophische Aufgabe. Im zweiten Teil dieser Grundlegung erörtert Michael von Brück eine interkulturelle Perspektive für eine Grundlegung zu einer modernen Anthropologie, welche die kulturelle Kontingenz und Geschichtlichkeit unserer Orientierungsbemühungen als ihren Ausgangspunkt nimmt. Dies scheint unumgänglich, denn ein Blick in die Geschichte, einschließlich der Wissenschaftsgeschichte, zeigt, dass Urteile und Systematisierungen, die aus empirischen Daten gewonnen werden, durch historische und kulturelle Faktoren bedingt sind. Zentral ist hier die interkulturelle Begegnung von Asien und Europa/ Amerika, da asiatische Kulturen seit langem einen Einfluss bei der Neugestaltung europäisch-amerikanischer Religionskulturen, ihrer Philosophien und Künste ausüben. Themen wie das Leib-Seele-Problem, eine monistische Interpretation der Wirklichkeit durch Überwindung des Materie-Geist-Dualismus, eine integrative Deutung des Subjekt-Objekt-Dualismus, die Willensfreiheit des Menschen, die Fähigkeit zu Gerechtigkeit und Frieden angesichts des evolutionären Erbes, die Frage nach der Wirklichkeit der Liebe, die Frage nach Zeit und Ewigkeit bzw. Sterben und Tod werden in diesem Rahmen neu gestellt. Das Institut für Religionsphilosophische Forschung dankt der GoetheUniversität für die finanzielle und organisatorische Unterstützung bei der Durchführung der Frankfurt Templeton Research Lectures. Namentlich möchten wir Herrn Prof. Dr. Jürgen Bereiter-Hahn hervorheben, der als damaliger Vize-Präsident der Goethe-Universität und langjähriges Mitglied des Arbeitskreises „Theologie und Naturwissenschaften“ dieses Projekt unermüdlich unterstützt hat. Darüber hinaus gilt unser Dank auf Seiten des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht Herrn Jörg Persch und Frau Silke Hartmann für die hervorragende konzeptionelle und organisatorische Unterstützung in der Betreuung der Publikationen. Frankfurt, im April 2012 Tobias Müller, Thomas M. Schmidt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Inhalt Teil I Naturwissenschaftliche und philosophische Perspektive Günter Rager Vorwort zu Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Bewusstsein, Ich und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Individuum und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Der Embryo als Individuum . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Individuum und Person . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Andere Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Person als sittliches Subjekt . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bewusstsein, Selbst und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Was ist Bewusstsein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Neuronale Korrelate . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Beurteilung der Suche nach neuronalen Korrelaten . 2.3 Ich, Selbst und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Ich und Ich-Bewusstsein in der Philosophie . . . . . 2.3.2 Ich und Ich-Bewusstsein in den Neurowissenschaften 2.3.3 Ich – eine Illusion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Ich und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Über die Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 23 23 28 30 32 36 36 38 46 47 47 48 49 50 52 3. Wissen und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Wahrheit in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Vorsokratiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Albert der Große und Thomas von Aquin . . . . . . 3.1.6 Die kopernikanische Wende bei Kant . . . . . . . . 3.2 Wissen in den Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Affizierung der Sinnesorgane durch die Umwelt am Beispiel des visuellen Systems . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die visuellen Areale des Kortex . . . . . . . . . . . 3.2.3 Neuronale Zellverbände . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Wie entsteht ein visuelles Objekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 56 56 57 59 61 62 64 66 . . . . . . . . . . . . 66 67 68 72 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie 8 Inhalt 3.2.5 Integration der Sinnesmodalitäten und Ort der Objekte im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Vergleich mit der Analyse von Kant . . . . . . . . . . . . 3.3 Vom Wissen zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 74 74 4. Evolution. Die Stellung des Menschen in der Natur . . . . . . . . . 78 4.1 Weltanschauliche Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4.1.1 Vertreter der Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . 78 4.1.2 Vertreter des Kreationismus . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.1.3 Vertreter des Intelligent Design . . . . . . . . . . . . . . 80 4.2 Die Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.2.1 Geschichte und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.2.2 Systemimmanente Probleme der Evolutionstheorie . . . 82 4.2.3 Evolution und Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . 87 4.3 Die Stellung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.3.1 Aus der Sicht einiger Evolutionsbiologen . . . . . . . . . 87 4.3.2 Kritik am „egoistischen Gen“ . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.3.3 Einige Beobachtungen zur Stellung des Menschen in der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4.3.4 Natürliche und kulturelle Evolution . . . . . . . . . . . . 94 4.4 Philosophische und theologische Entwürfe zur Deutung der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.4.1 Sri Aurobindo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.4.2 Teilhard de Chardin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.4.3 Biblisch-christliche Schöpfungstheologie . . . . . . . . . 99 4.5 Evolutionstheorie und Welterfahrung, eine bleibende methodische Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5. Die Freiheit der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Experimentelle Daten der Hirnforschung . . . . . . . . . 5.2 Der reduktionistische Naturalismus . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die Behauptung der Naturalisten: Freiheit ist eine Illusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Gegenargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Philosophie der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Die interpersonale Dimension der Freiheit . . . . 5.3.2 Freiheit und Determinismus . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Epistemische Differenz . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Endliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Freiheit und naturgemäßes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . 102 . . . . 103 . . . . 108 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 109 114 116 116 119 119 122 6. Verantwortung und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 6.1 Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 6.1.1 Verantwortungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie 9 Inhalt 6.1.2 6.1.3 6.2 Liebe 6.2.1 6.2.2 6.2.3 Verantwortung für den Menschen als Person Verantwortung für uns selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebe aus reduktionistischer Sicht . . . . . . Liebe nicht-reduktionistisch gedacht . . . . Die christliche Dimension der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 128 129 129 133 136 7. Sterben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Medizinisch-biologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Morphogenetischer Zelltod . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Altern (Biogerontologie) . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Der Prozess des Sterbens . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5 Klinische Definition des Todes . . . . . . . . . . . 7.2 Lebensweltlich-philosophischer Zugang . . . . . . . . . 7.2.1 Vorbereitung auf Sterben und Tod (Ars moriendi) 7.2.2 Medizin um jeden Preis? . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Beihilfe zum Suizid oder Palliativmedizin? . . . . 7.2.4 Einstimmung in das Sterben . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Tod und Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . 7.2.6 Der christliche Glaube an die Auferstehung . . . . 7.3 Leben und Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 137 137 139 143 145 145 146 147 148 148 149 150 153 153 Teil II Interkulturelle Perspektive Michael von Brück Vorwort zu Teil II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Bewusstsein, Ich und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Allgemeine Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Begriffsklärungen in westlicher und in östlicher Perspektive 2.3 Bewusstsein als Prozess in Relationen wechselseitiger Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Repräsentation von Repräsentationen . . . . . . . . . . . . . 2.5 Achtsamkeit als Grundlage für bewusste Zustände . . . . . 2.5.1 Bewusstseinszustände . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Achtsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Ordnungsebenen und „mystisches Einheitsbewusstsein“ . . 2.6.1 Mystische Einheitserfahrungen . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Thesen zur Interpretation mystischer Erfahrungen . . © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 . . 165 . . 165 . . 172 . . . . . . . . . . . . . . . . 177 183 191 192 199 200 202 207 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie 10 Inhalt 3. Wissen und Wahrheit in asiatischen und europäischen Traditionen . 3.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zum philosophischen Wahrheitsbegriff in der europäischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die religiöse Dimension der Wahrheitsfrage . . . . . . . . . . . 3.4 Das Wahrheitsproblem im Buddhismus – satyadvaya . . . . . . 3.5 Erkenntnis und Wahrheit im Advaita Vedanta – paramarthika und vyavaharika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Wahrheitsfrage und „mystische Erfahrung“ . . . . . . . . . . . 3.6.1. Erfahrung und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Erfahrung und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Erfahrung und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . 210 210 215 218 220 222 225 225 227 233 4. Schöpfungsmythen und Evolutionstheorien in der indischen Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Mythos der Evolution: Geburt, Leben und Vergehen 4.2.1 Der Vishnu-Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Der Shiva-Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der Logos – die abstrahierenden Theoriebildungen . . . 4.3.1 Kashmir-Shaivismus und Shaiva Siddhanta . . . . 4.3.2 Evolution im Samkhya . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Schöpfung im Advaita Vedanta . . . . . . . . . . 4.4 Buddhismus – Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 238 241 241 243 245 245 246 251 265 5. Die Freiheit der Person im Hinduismus und Buddhismus 5.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Karma und Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Karma und die Erkenntnis zur Freiheit . . . . . . . . 5.4 Die Freiheit der Person im Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 269 272 275 277 . . . . . . . . . . 6. Liebe und Verantwortung im Buddhismus, Hinduismus und in interkultureller Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Gegenseitige Abhängigkeit aller Wesen als Grunderfahrung des Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Ethik der Laien und der Ordensmitglieder (Mönche und Nonnen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Ethik im Mahayana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Ethik im Vedanta – das Eine im Konflikt? . . . . . . . . . . . . 6.4 Interkulturelle Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 281 281 281 282 286 288 294 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Inhalt 7. Sterben und Tod (ars moriendi) im europäischen Christentum und in Hinduismus und Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 „Ars moriendi“ im Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Der Sterbeprozess in der tibetisch-buddhistischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Allgemeine Erwägungen zum Buddhismus . . . . . . . . 7.5 Ein offenes Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 301 301 301 307 310 311 317 318 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Literatur zu Teil I: Naturwissenschaftliche und philosophische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Literatur zu Teil II: Interdisziplinäre Perspektive . . . . . . . . . . . . 334 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Teil I Naturwissenschaftliche und philosophische Perspektive Günter Rager © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Vorwort zu Teil I Es war im August 1977. In der alten Zisterzienser Abtei Snanque in Südfrankreich fand ein Internationales Symposium über zerebrale Korrelate der bewussten Erfahrung statt. Unter den Teilnehmern, deren Zahl auf 25 Personen beschränkt war, befanden sich u. a. Konrad Akert, John Eccles, Rolf Hassler, Richard Jung, Hans Kornhuber, Benjamin Libet, Donald MacKay, Brenda Milner, Vernon Mountcastle, Janos Szentagothai und Otto Creutzfeldt, mein Chef am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen. Otto Creutzfeldt schätzte meine philosophische Vorbildung und bewirkte, dass ich als wissenschaftlicher Assistent an diesem erlesenen Kreis teilnehmen durfte. Wir präsentierten gemeinsam einen Beitrag über Hirnmechanismen und die Phänomenologie der bewussten Erfahrung. Dieser Beitrag war nichtreduktionistisch, aber auch nicht dualistisch und sorgte deshalb für engagierte Gespräche. Denn schon damals waren die Meinungen geteilt in eine mehrheitlich monistisch-reduktionistische Position und in eine von der Minderheit vertretene dualistische Auffassung. Am Max-Planck-Institut konnten wir uns voll und ganz auf die Forschung konzentrieren und es gab immer wieder wertvolle Gespräche mit Kollegen und mit Gästen, die zu Vorträgen oder kürzeren Forschungsaufenthalten kamen. Schon zu Beginn meiner Tätigkeit übertrug mir Otto Creutzfeldt die Aufgabe, ein philosophisches Seminar für die Abteilung durchzuführen. Ich wählte Texte von Kant als Diskussionsbasis. Wir entdeckten viele Parallelen zur Neurobiologie, stellten aber zugleich fest, wie schwierig es für Neurowissenschaftler war, die Brücke zum genuin philosophischen Denken zu schlagen. Ein Jahr lang trafen wir uns in vierzehntägiger Folge und mit anhaltendem Interesse. Mit Christoph von der Malsburg verbanden mich viele Gespräche über Modelle zu den Funktionsweisen des Gehirns, über Entwicklungsvorgänge im Nervensystem und über Selbstorganisation. John Eccles war externes Mitglied des Direktoriums und kam häufig, um sich über die wissenschaftlichen Fortschritte der Mitarbeiter der Creutzfeldt-Abteilung zu informieren. Am Rande dieser Arbeitsbesuche konnte ich mit ihm oft über philosophische Aspekte der Neurowissenschaften diskutieren. Auf Spaziergängen durch die Wälder in der Nähe des Instituts versuchte ich ihn davon zu überzeugen, dass der von ihm vertretene Dualismus keine Lösung für das Gehirn-Geist-Problem war. Immerhin ließ John Eccles die Theorie vom „liaison brain“ fallen und versuchte, die Lösung mit den Mitteln der Quantenmechanik und der Wahrscheinlichkeitstheorie zu finden. Meine Antrittsvorlesung an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg war dem Leib-Seele Problem gewidmet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie 16 Rager : Vorwort Damit war der Anfang gemacht für eine anhaltende Kooperation mit Kollegen aus der Philosophischen und Theologischen Fakultät, insbesondere mit Adrian Holderegger. Ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung auf eine moderne Anthropologie war ein Projekt, das ich zusammen mit Ludger Honnefelder durchführen konnte. Wir sahen es angesichts der rasanten technologischen Fortschritte in der Medizin als notwendig an, den Studierenden der Medizin ergänzend zu ihrem Curriculum eine Einführung in die medizinische Ethik und in die Grundlagen des ärztlichen Urteilens und Handelns zu liefern. Unsere Arbeit richtete sich zuerst an Stipendiaten des Begabtenförderungswerks „Cusanuswerk“ in mehreren Ferienakademien (1989 – 1993) und später mit dem Buch „Ärztliches Urteilen und Handeln“ auch an ein breiteres Publikum. Weitere wichtige Etappen waren für mich zwei Sabbaticals. Das erste Sabbatical verbrachte ich 1991 bei Wolf Singer am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Wir experimentierten am visuellen Kortex der Katze, um Probleme zu lösen, die sich aus den faszinierenden Entdeckungen der Oszillationen kortikaler Zellen ergaben. Daneben diskutierten wir über neurophilosophische Fragen, und zwar noch bevor die öffentlichen Debatten über Bewusstsein, Freiheit und Ich losbrachen. Sehr anregend waren auch die Gespräche mit Andreas Engel, Peter König, Thomas Schillen und Heinz Wässle. Für das zweite Sabbatical lud mich Edmund Runggaldier an das Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck ein (Wintersemester 1997/8 und Sommersemester 2000). Dieses Sabbatical war geprägt durch die Begegnung mit der analytischen Philosophie und durch die intensive Zusammenarbeit mit Edmund Runggaldier und Josef Quitterer, aus welcher schließlich das Buch „Unser Selbst“ hervorging. Besonders dankbar bin ich auch für die Gespräche mit Otto Muck. Die Arbeit in den Neurowissenschaften war für mich in erster Linie Forschung an der Entwicklung des Nervensystems, also Neuroembryologie. Von diesem Ansatz her war ich konfrontiert mit der Frage nach dem Status des menschlichen Embryos. Ist der Embryo schon eine Person? Für diese Frage hatte ich eine intensive Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Instituts für Interdisziplinäre Forschung der Görres Gesellschaft, dem ich während acht Jahren vorstehen durfte. Aus diesem Institut entstand unter anderem auch das Buch „Beginn, Personalität und Würde des Menschen“, das eine große Beachtung und weite Verbreitung fand. Überraschend kam schließlich die Einladung von Thomas Schmidt und Tobias Müller, im Wintersemester 2009/10, an der Universität Frankfurt Vorlesungen über Bausteine einer modernen Anthropologie zu halten. Meine Aufgabe war es, diese Bausteine aus naturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive zu präsentieren, während mein Partner Michael von Brück zu denselben Themen aus religionswissenschaftlicher Perspektive sprach, und zwar mit den asiatischen Religionen als Schwerpunkt. Damit ist eine Anthropologie entstanden, die nicht nur die aktuellen Probleme der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Rager : Vorwort 17 Naturwissenschaften aufgreift, sondern auch den interkulturellen Horizont eröffnet. Mit den Vorlesungen war zugleich die Verpflichtung verbunden, das so erarbeitete Wissen in der Form eines Buches niederzulegen. Dieser Pflicht bin ich mit großer Freude nachgekommen. Ich hoffe, den Lesern ein brauchbares Resultat einer jahrzehntelangen Arbeit an einer modernen Anthropologie in die Hände legen zu können. Allen, die ich in diesem Vorwort genannt habe, und den vielen Freunden, Kritikern und Beratern, die ich hier nicht erwähnen konnte, möchte ich von Herzen danken für ihre Hilfe auf dem Weg zu diesem Werk, den ich ohne sie nicht hätte gehen können. Ganz besonders aber danke ich meiner Frau Ute für ihre liebevolle Unterstützung, Edmund Runggaldier, der das ganze Manuskript kritisch gelesen hat, und Wolfgang Wickler für seine Kritik am Kapitel über Evolution. Tobias Müller danke ich für die Wegbereitung zur Veröffentlichung, Frau Hartmann und Herrn Persch für die gute Zusammenarbeit mit dem Verlag. Fribourg, im Februar 2012 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie 1. Einleitung Im Laufe der Geschichte ertönte immer wieder der Ruf nach einem neuen Menschenbild. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Mit jedem neuen philosophischen oder theologischen Ansatz und mit jeder naturwissenschaftlichen Entdeckung, die den Menschen betraf, versuchte man, das so schwer zu ergründende Wesen des Menschen tiefer zu erfassen. In unserer Zeit sind es die großen Entdeckungen der Wissenschaften vom Leben und insbesondere der Neurowissenschaften, die uns hoffen lassen, das Wesen des Menschen besser zu verstehen. Nicht wenige versprechen sich davon, auch für unsere Gesellschaft, unsere Kultur und Rechtsprechung wichtige Schlüsse aus diesem neuen Verständnis ziehen zu können. Deshalb scheint es naheliegend, auch für unsere Zeit wieder einen neuen Versuch zu wagen, eine Anthropologie zu erarbeiten, die dem aktuellen Stand des Wissens gerecht wird. Die gegenwärtige Debatte über das Bild vom Menschen leidet allerdings unter dem Einfluss von Interessen, die dem Weiterkommen in dieser schwierigen Frage wenig dienlich sind. So werden sogar schon wichtige Begriffe ideologisch umgedeutet. Anstatt den embryologisch beschreibenden Begriff Blastomerenstadium zu verwenden, wird immer mehr vom „Zellhaufen“ gesprochen, der in sich schon eine Wertung zum Ausdruck bringt. Anstatt die wohl definierten Begriffe von der menschlichen Ontogenese zu gebrauchen, wird als neuer Begriff das „humangenetische Keimmaterial“ eingeführt, der ebenfalls suggeriert, dass man es nicht mit einem sich entwickelnden Menschen zu tun hat, sondern mit einem Material, aus dem irgendwann ein Mensch entsteht. Das verständliche Interesse, den Menschen wie ein rein naturwissenschaftliches Objekt, gleichsam „more geometrico“ zu verstehen und keine anderen Gesichtspunkte gelten zu lassen, die die Sache komplizieren, führt zum Reduktionismus. Alle geistigen Phänomene, die nicht mehr naturwissenschaftlich beschreibbar sind, sollen auf Hirnmechanismen reduziert werden. Mit der Vereinfachung des Verstehenshorizonts werden die Phänomene zugleich handhabbar, so hofft man. Man könne sie berechnen und zugleich steuern. Unter der Hand entschwindet damit aber das Eigentliche des Menschen. Die so erhoffte Erklärung wird zum Konstrukt. Die Realität des täglichen Lebens zeigt immer wieder und auf vielfältige Weise, dass man damit dem Wesen des Menschen nicht gerecht wird. Ein wirklicher Fortschritt ist deshalb nur möglich, wenn wir über die Methoden nachdenken, mit denen wir Wissen über den Menschen erarbeiten. Dieses Nachdenken könnte zu der Einsicht führen, dass die Naturwissenschaften, denen wir so viel an neuen Erkenntnissen verdanken, von uns mit ganz bestimmten methodischen Regeln ent- © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Rager : Einleitung 19 worfen sind. Sie sind also gleichsam unser Werkzeug, mit dem wir versuchen, die Natur zu begreifen. Kann man nun mit diesem Werkzeug auch den Erfinder dieses Werkzeugs erfassen? Ist es nicht ein Zirkelschluss, wenn wir uns selbst begreifen wollen mit den Werkzeugen, die wir zum Begreifen der Welt der Gegenstände entworfen haben? Wir als die Erklärenden sollen so selbst erklärt werden; das Explanans soll eins werden mit dem Explanandum. Dass dieser Zirkelschluss fehlerhaft ist, leuchtet jedem ein. Und dennoch wird immer wieder versucht, auf diese Weise vorzugehen. Wenn wir der Wirklichkeit in unserem Erkennen gerecht werden wollen, dann müssen wir die Phänomene so anschauen, wie sie es erfordern. Eine Einschränkung unseres Hinblickens auf die naturwissenschaftliche Methode wird nur das naturwissenschaftlich Erfassbare erfassen. Damit bleibt alles Andere verborgen. Es hilft auch nicht weiter, wenn wir, um aus dem Dilemma herauszukommen, festlegen, dass es nichts anderes gibt als das, was mit den Naturwissenschaften erfassbar ist. Diese Form der Reduktion verkürzt die Wirklichkeit. Den Menschen werden wir so nie in seiner Ganzheit verstehen, sondern eben nur so, wie er naturwissenschaftlich zugänglich ist. Für eine Anthropologie ist deshalb zu fordern, dass wir uns die ganze Weite des Zugangs offen halten, also auch unser Alltagswissen, die philosophische Reflexion, die Aussagen des Glaubens und die Erkenntnisse aller jener Wissenschaften zur Geltung bringen, die sich in irgend einer Weise mit dem Menschen beschäftigen. Es gilt, die methodische Differenz zu wahren, welche die naturwissenschaftliche Methode von allen anderen Zugangsweisen unterscheidet. Das bedeutet zugleich einen Verzicht auf die ausschließliche Geltung naturwissenschaftlicher Aussagen, die experimentell geprüft werden können, und das Zulassen von Erkenntnissen, die aus anderen Evidenzen stammen. Nur so lässt sich ein umfassenderes und der Wirklichkeit näheres Bild vom Menschen gewinnen. In der vorliegenden Anthropologie wird versucht, den aktuellen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu den ausgewählten Themen vorzulegen. Die über die wissenschaftliche Erkenntnis hinausgehenden Interpretationen, die schon in den Bereich der Philosophie hineinführen, werden kritisch geprüft. Sodann wird versucht, die Probleme philosophisch anzugehen, und zwar so, dass philosophische und naturwissenschaftliche Aussagen sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Dieses Vorgehen soll uns helfen, ein umfassenderes Bild vom Menschen zu gewinnen. Der ungeheure Zuwachs an Wissen, der sich in den letzten Jahrzehnten ereignet hat, macht es für einen einzelnen Autor unmöglich, eine systematische und vollständige Anthropologie zu schreiben. Ich werde mich deshalb auf einige zentrale Themen beschränken. Im Zentrum einer Anthropologie steht die Frage nach der Person. Was verstehen wir unter Person? Warum dürfen wir uns das Personsein zuschreiben? Entsteht unser Personsein erst im Laufe unserer individuellen Entwicklung oder sind wir Person schon mit dem Beginn unseres individu- © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie 20 Rager : Einleitung ellen Lebens? In welchem Verhältnis stehen Ich und Selbst zur Person? Zu diesen Fragen haben nicht nur die Philosophie, sondern auch die Bio- und die Neurowissenschaften Beiträge zu leisten. Es ist deshalb zu prüfen, wie eine Verständigung zwischen diesen Wissenschaften möglich ist. Für die erwachsene Person ist das Bewusstsein eine auszeichnende Eigenschaft. Was ist Bewusstsein? Wie lässt es sich aus neurowissenschaftlicher und aus philosophischer Sicht verstehen? Grundlage einer jeden Wissenschaft, und deshalb auch einer Anthropologie, ist die Frage nach dem Wissen und der Wahrheit. Wiederum sind es die Neurowissenschaften, welche uns bedeutende Einblicke gewähren in die Prozesse, die das Wahrnehmen, das Erkennen, den Erwerb von Wissen, die Speicherung des Wissens im Gedächtnis, das Abrufen des Wissens und das Assoziieren mit anderen Wissensinhalten ermöglichen. Die Philosophie fragt aber dann weiter nach den Bedingungen der Möglichkeit des Wissens und stellt schließlich die Frage nach der Wahrheit. Was ist Wahrheit im logischen Sinn? Was ist Wahrheit im ontologischen Sinn? Was bedeutet die Erkenntnis der Wahrheit, sofern sie möglich ist, für die Gestaltung unseres Lebens? Ganz besonders betrifft uns heute die Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur. Bei der Beantwortung dieser Frage finden wir wenigstens drei verschiedene Theorien: den Kreationismus, die Lehre vom „Intelligent Design“ und die Evolutionstheorie. Diese Theorien sind nicht nur verschieden, sondern stehen im Konflikt miteinander und führen zu teils heftigen Auseinandersetzungen. Wir prüfen hier die Aussagekraft dieser drei Theorien und kommen zu dem Ergebnis, dass die Evolutionstheorie am besten geeignet ist, um die Entstehung der Arten naturwissenschaftlich zu erklären. Allerdings darf sie sich nicht dogmatisch gegenüber neuen Erkenntnissen und Theorien verschließen, da sie selbst noch etliche Lücken aufweist und für eine Reihe von Phänomenen noch keine schlüssige Antwort hat. Trotz der unbestrittenen Bedeutung der Evolutionstheorie als naturwissenschaftlicher Theorie bleiben noch Fragen nicht-naturwissenschaftlicher Art übrig, die nur von Philosophie und Theologie angehbar sind. Nichts ist in den letzten Jahren so sehr bestritten aber auch verteidigt worden wie die menschliche Freiheit. Für etliche Hirnforscher, die sich über die Neurowissenschaften hinaus zu weltanschaulichen Frage äußern, und für einige Philosophen ist Freiheit eine Illusion. Beide Gruppen berufen sich auf Ergebnisse der Hirnforschung. Erfolgt diese Berufung zu Recht? Was kann die Hirnforschung über Freiheit sagen? Was sagt sie wirklich? Nicht nur die Philosophie, sondern auch unser Alltagswissen zeigt uns, dass wir gar nicht anders handeln können als unter der Idee der Freiheit. So ist denn zu klären, was wir unter Freiheit zu verstehen haben und wie sich die Freiheit und die Notwendigkeit in der Natur zu einander verhalten. Schließlich ist zu zeigen, dass unsere Freiheit nicht absolut, sondern bedingt ist. Ihre Realisierung hängt von unserer leiblichen Verfasstheit ab. Nur freie Menschen können Verantwortung übernehmen. Verantwortung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Rager : Einleitung 21 ist heute angesichts der von uns Menschen verursachten Missstände und Katastrophen mehr denn je gefragt. Doch was ist Verantwortung? Wofür haben wir Verantwortung zu übernehmen in Bezug auf uns selbst, die künftigen Generationen und unsere Welt? Unser Leben und unsere Zukunft könnten besser werden, wenn wir bereit wären, mehr Verantwortung zu übernehmen. Doch schön wird das Leben erst mit der Liebe. Trotzdem wird versucht, auch die Liebe rein natürlichen Mechanismen zu unterwerfen. Liebe, so die Behauptung, wird ausgelöst durch Hormone. Wenn das richtig ist, dann lässt sie sich auch steuern und gefügig machen für das allmächtige Machbarkeitsstreben. Auch hier greift der Reduktionismus zu kurz und verliert das Wesentliche aus den Augen. Deshalb wird hier versucht, Liebe nicht-reduktionistisch zu denken und ihre Perspektiven zu erfassen, die weit über das bloß Naturale hinausreichen. Unser Leben beginnt mit der Befruchtung, entwickelt sich vom Embryo bis zum Erwachsenen und entfaltet Bewusstsein und geistige Fähigkeiten. Doch schon in der Mitte dieses sich entfaltenden Lebens beginnen langsam, aber stetig fortschreitend, die Alterungsprozesse, die uns einem sicheren Ende entgegenführen. Das Altern geht schließlich über in Sterben und endet mit dem Tod. Was geschieht im Alterungsprozess? Wie verläuft das Sterben? Was ist der Tod? Haben wir uns während des Lebens auf dieses Ende vorbereitet oder haben wir solche Gedanken verdrängt? Schon seit Jahrtausenden lehren uns die Philosophen die Kunst des Sterbens, die Ars moriendi. Wie sollen wir mit dem Tod umgehen? Sollen wir ihm zuvorkommen, indem wir freiwillig unserem Leben ein Ende setzen, wenn es uns Mühe macht? Und was geschieht im Tod? Ist der Tod das absolute Ende oder gibt es ein Leben nach dem Tod? Mit der vorliegenden Anthropologie versuchen wir, auf diese vielfältigen Fragen zu antworten. Dabei sollen naturwissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse zusammengeführt werden, jedoch nicht so, dass unversehens verschiedene Begriffe und Methoden vermischt werden. Die methodische Differenz muss gewahrt bleiben. Dennoch kann sich für uns ein zusammenhängendes Bild über die wichtigsten Fragen unseres Menschenbildes daraus ergeben. Diese Anthropologie ist kein Lehrbuch, will also nichts Definitives sein, sondern verlässliche Grundlagen für das eigene Denken und für künftige Entwicklungen liefern. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie 2. Bewusstsein, Ich und Person „Was ist der Mensch?“ Das ist in der Tat die Grundfrage der Anthropologie. Und doch ist die Frage unvollständig. „Was ist der Mensch?“ fragt nach etwas, was in den objektiven Wissenschaften erforscht werden kann. Da Menschen uns aber nicht nur als Objekte begegnen, sondern in erster Linie Personen sind, wird diese Frage der Aufgabe der Anthropologie nur teilweise gerecht. Sie müsste ergänzt werden durch die Frage: „Wer ist der Mensch?“ Erst im Spannungsfeld dieser beiden Fragen erschließt sich der Raum der Anthropologie. „Erkenne Dich selbst“ oder – wie es in der griechischen Sprache heißt – „Gnothi seauton“ war eine grundlegende Aufforderung in der Antike. Sie stand auf einer Säule der Vorhalle des Apollontempels in Delphi und wurde dem Gott Apollon als Urheber zugeschrieben. Nur wenn wir dieser Aufforderung folgen, werden wir erkennen, wer wir sind. Methodisch entfaltet wurde dieser Weg der Selbsterkenntnis zur Philosophie, zur philosophischen Lehre vom Menschen und damit zur philosophischen Anthropologie. Doch auch schon in der griechischen Antike stand dem Weg der Selbsterkenntnis die objektivierende wissenschaftliche Erforschung des Menschen gegenüber. Im Vergleich zur Philosophie kam die objektivierend-wissenschaftliche Sicht aber über die Anfänge nicht hinaus. Erst mit dem Aufschwung von Biologie, Psychologie, Soziologie und Medizin in der Neuzeit wurde sie zu einem starken Pol. Heute ist dieser Pol so mächtig geworden, dass er den philosophischen Zugang fast zu verdrängen scheint. Einige Vertreter dieser Disziplinen gehen sogar so weit zu erklären, man könne auf die philosophischen Aussagen über den Menschen verzichten. Nur noch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seien relevant. Der reduktionistische Naturalismus sei der einzige Weg, der weiter führe.1 Wenn wir uns jetzt bemühen, Grundbausteine einer modernen Anthropologie zu ermitteln, dann sollten wir unbeirrt von Reduktionismen versuchen, das Ganze im Blick zu behalten. Philosophischer und wissenschaftlicher Zugang zum Menschen haben ihren je eigenen Geltungsanspruch, den es zu wahren gilt. Bei dem Versuch, die beiden Zugänge auf einander zuzuordnen und eine Synthese zu erarbeiten, dürfen Begriffe, Methoden und Fakten aus den verschiedenen Wissensbereichen nicht unreflektiert vermischt werden. Vielmehr sollten wir sorgfältig untersuchen, was naturwissenschaftliche Befunde für die philosophische Reflexion bedeuten und umgekehrt. 1 In einem Manifest von Neurophilosophen (Elger et al., Manifest) wird prophezeit, unserem Menschenbild stünden beträchtliche Erschütterungen ins Haus. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Individuum und Person 23 Bewusstsein, Ich und Person gehören zu den Grundbegriffen einer Anthropologie. Da Bewusstsein und das Vermögen, Ich zu sagen, erst im Laufe der Individualentwicklung hervortreten, werde ich versuchen, diese Begriffe in einer Reihenfolge zu explizieren, wie sie sich aus dem Entwicklungsgang jedes Einzelnen von uns ergibt, von der Befruchtung bis zum Tod. In den Anfängen der Entwicklung steht die Frage nach dem Individuum und der Person im Vordergrund. Ihr wird der erste Teil gewidmet sein. Im zweiten Teil werden wir uns mit Bewusstsein und Ich befassen. Im dritten Teil schließlich werden wir den Zusammenhang von Ich, Selbst und Seele thematisieren. 2.1 Individuum und Person Für die Frage nach der Individualität und der Personalität des Menschen ergeben sich wichtige Antworten, wenn wir auf die biologische Entwicklung des Embryos achten.2 Person ist freilich kein Begriff der Embryologie, sondern der Philosophie und der Alltagspsychologie. Wie lassen sich nun embryologische Fakten mit philosophischen Begriffen verbinden? Offensichtlich gelingt es nicht, wenn wir unbesehen philosophische Begriffe innerhalb der Biologie oder biologische Begriffe in der Philosophie gebrauchen. Wir müssen es vielmehr versuchen mit Brückenbegriffen, die sowohl in den biologischen als auch in den philosophischen Wissenschaften vorkommen und in ihrem Kontext jeweils genau definierbar sind. Es müsste Bereiche geben, in welchen die Bedeutungen der Begriffe in beiden Wissenschaften übereinstimmen. Für die Frage nach der Personalität des menschlichen Embryos sei dies versucht mit dem Begriff Individuum. Dieser Begriff ist biologisch definierbar ; philosophisch ist er ein wichtiges Element des Personbegriffs. Um dies klar zu machen, wird in einem ersten Schritt die Frage angegangen, ob wir berechtigt sind, den Embryo als Individuum im biologischen Sinne zu bezeichnen. In einem zweiten Schritt werden wir prüfen, wie sich dieser biologische Begriff zum philosophischen Begriff der Person verhält. 2.1.1 Der Embryo als Individuum Ein Lebewesen ist dann ein Individuum im biologischen Sinn, wenn es wenigstens die folgenden Eigenschaften aufweist: Es bildet erstens eine Einheit in Raum und Zeit. Zweitens organisiert es sich selbst als ein einheitliches System. Drittens bleibt es trotz aller Veränderungen in seinem Erscheinungsbild über die Zeit hinweg mit sich selbst identisch. Dieser Sachverhalt wird als diachrone 2 Zur Darstellung der Entwicklung des menschlichen Embryos siehe O’Rahilly/Müller, Embryology ; Rager, Biologische Entwicklung. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie 24 Rager : Bewusstsein, Ich und Person Identität bezeichnet. Ein menschliches Individuum besitzt ein menschliches Genom und entwickelt sich diesem Genom entsprechend humanspezifisch. Deshalb ist es viertens charakterisiert durch ein menschliches Nervensystem oder ist wenigstens in der Lage, ein solches Nervensystem zu entwickeln. Mit diesen Eigenschaften lässt sich der Begriff eines menschlichen Individuums im biologischen Sinne konstituieren. Die Formulierung dieser Eigenschaften befähigt uns zu prüfen, ob dieser Begriff auf den menschlichen Embryo und darüber hinaus auf den Menschen in allen Phasen seiner Entwicklung angewendet werden kann.3 2.1.1.1 Einheit in Raum und Zeit Einzellige und mehrzellige Organismen zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer Hülle umgeben sind, die sie von allem anderen abgrenzt. Bei einzelnen Zellen ist es die Plasmamembran, bei vielzelligen Organismen die Haut. Dazwischen gibt es noch weitere Formen von Umhüllungen, so z. B. die Zona pellucida in den ersten und der Trophoblast in den späteren Entwicklungsphasen des Embryos. Diese Hüllen haben nicht nur die Funktion der Abgrenzung des Organismus (Selbst) gegen die Umwelt (Nicht-Selbst) und der Aufrechterhaltung des inneren Milieus. Sie sind auch enorm wichtig für die Kommunikation zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Die Kommunikation vollzieht sich auf der Ebene des Stoffaustauschs wie auch der Information. Ohne diese Hüllen könnten biologische Individuen nicht überleben. Die Zygote, obwohl zunächst nur einzellig, ist sogar doppelt umhüllt, nämlich durch die Plasmamembran und die Zona pellucida.4 Die Zona pellucida wird bereits im Stadium der Oozyte gebildet und wird nach der Bildung des Trophoblasten aufgelöst. Sie ist eine extrazelluläre Matrix, die hauptsächlich aus Glykoproteinen besteht. Ihre Struktur verändert sich während der Fertilisation und im Blastomerenstadium. Sie hat vielfältige Funktionen. Bei der Fertilisation bildet sie eine „spezies-spezifische Barriere“5 gegen das Eindringen artfremder Spermien. Nach dem Eindringen des arteigenen Spermiums in die Oozyte kommt es zur Zona-Reaktion, welche eine Strukturänderung der Zona pellucida bewirkt und so das Eindringen weiterer Spermien (Polyspermie) verhindert. Die Zona pellucida dient in vielfacher Weise als Kommunikationsschnittstelle zwischen dem Embryo und dem mütterlichen Organismus. Weil die Zona pellucida zusätzlich zur Plasmamembran die Zygote umhüllt, entstehen bei der ersten Zellteilung nicht zwei neue Individuen. Durch die Zona pellucida bleibt die Einheit des Embryos gewahrt. Im Laufe der weiteren 3 Hier werden die Überlegungen weiterentwickelt, die in Rager, Individuum, und ders., Preimplantation, formuliert wurden. 4 Herrler, Matrices. Die Zona pellucida 5 O’Rahilly/Müller, Embryology, 27. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242 Günter Rager / Michael von Brück, Grundzüge einer modernen Anthropologie Individuum und Person 25 Entwicklung sichert die Zona pellucida den Zusammenhalt einer Vielzahl von Zellen, die durch Teilung aus der Zygote hervorgehen.6 Die Zellen nehmen rasch an Zahl zu, rücken enger zusammen und nützen den begrenzten Raum innerhalb der Zona pellucida optimal (Phase der Kompaktion). Durch unterschiedliche Zellteilungen entstehen äußere und innere Zellen. Die äußeren Zellen bilden den Trophoblasten, die inneren den Embryoblasten. Mit der Entwicklung des Trophoblasten ist eine neue Schutzhülle entstanden. Nach der Bildung des Trophoblasten löst sich die Zona pellucida auf. Der Embryo „schlüpft“ aus ihr und wird zur freien Blastozyste. Der Trophoblast ist nun eine geeignetere Hülle. Er kann sich der zunehmenden Größe des Embryos anpassen, dient als Schnittstelle für die Kommunikation mit dem mütterlichen Organismus und ermöglicht die Einnistung in den Uterus. Zusammen mit seiner Hülle (zuerst die Zona pellucida, später der Trophoblast) nimmt der Embryo von der Zygote an eine bestimmte Stelle in Raum und Zeit ein, grenzt sich von seiner Umgebung ab, steht im Austausch mit dieser Umgebung und bildet eine strukturelle und funktionelle Einheit. 2.1.1.2 Einheitliches, sich selbst organisierendes System Lebende Organismen sind biologische Systeme. Gemeint sind hier ganzheitliche Systeme im Gegensatz zu Teilsystemen (gekoppelte Subsysteme) wie Kreislaufsystem, Immunsystem oder Nervensystem. Die Teilsysteme sind nur innerhalb der Funktionseinheit des ganzen Organismen funktionsfähig. Sie können nur im Zusammenspiel mit den anderen Teilsystemen ihre Funktion ausüben. Systemtheoretisch wird ein System beschrieben „durch eine Menge von Objekten mit Relationen …, die charakterisiert wird durch ihre möglichen Zustände. Ein System ist spezifiziert durch die Gesamtheit der Zustände, in denen es sich befinden kann, und die Dynamik dieser Zustände.“7 Ein System ist dann autonom und dynamisch, wenn „die Änderung des Zustands eines Systems zu einem Zeitpunkt nur vom Verlauf des Zustands selbst abhängt, nicht aber von äußeren Variablen.“8 Diese Definition gilt dann auch für ein biologisches System, „wenn seine Gesetzmäßigkeit bzw. das ihm Charakteristische selbstbestimmt, das heißt eigentlich von äußeren Einflüssen in diesem Sinne unabhängig ist“9. Ein autonomes biologisches System besteht dann, wenn es zwar auf den Stoffaustausch mit der Umwelt angewiesen ist, die Umwelt aber „keinen direkten Einfluss auf die möglichen Langzeitzustände des Systems hat. Autonomie ist in diesem Sinne eng mit Autopoiese verbun6 7 8 9 Blastomeren- und frühes Blastozystenstadium. Jäger, Systemtheoretischer Zugang, 27. Ebd., 29. Ebd., 29. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570241 — ISBN E-Book: 9783647570242