S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 1 1. Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing 1.1. Zur Einstimmung 1.1.1. Der Ursprung: Die betriebliche Leistungsverwertung „Das Bild, das sich uns bietet, ist bunt: Der Vertrieb ist die ungezügelte Grenze der Geschäftswelt: unvorhersehbar, leidenschaftlich, theatralisch, voller exzentrischer Charaktere und gefährlich für Neulinge.“ (Siebel/Malone 1998, S. 10–11) Wirtschaft ist der fortdauernde Prozess einer organisierten Bedürfniserfüllung. Die Betriebswirtschaftslehre befasst sich als Realwissenschaft mit der Beschreibung (Deskription), Erklärung (Explikation) und Gestaltung (Praxeologie) wirtschaftlicher Prozesse der Realität (Empirie). Ihr Erkenntnisobjekt ist der Betrieb. Das idealtypische Modell eines Betriebes lässt sich durch die Prozessfolge von Leistungserstellung und Leistungsverwertung gut beschreiben (vgl. Gutenberg 1984, S. 1): DER BETRIEB NACH DEM FAKTORTHEORETISCHEN ANSATZ VON GUTENBERG Management, Personal, Rechnungswesen, EDV Einkauf, Materialwirtschaft, Logistik Marketing, Vertrieb, Kundendienst Leistungserstellung und Transformation Leistungsverwertung Abb. 1: Das Unternehmensmodell nach Gutenberg In der Sprache von Gutenberg behandelt dieses Buch Strukturen und Prozesse der betrieblichen Leistungsverwertung. Für die unternehmerische Leistungsverwertung wird im folgenden der in der Praxis gängige Begriff Vertrieb verwendet. Folgende knappe Arbeitsdefinition soll die Einführung in dieses Buch erleichtern. Sie wird später erweitert. S. 1-22 Kap.1 2 25.03.03 16:55 Uhr Seite 2 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing ➡ Der Vertrieb umfasst alle Tätigkeiten und organisatorischen Funktionen, Strukturen und Abläufe, Methoden und Systeme zur betrieblichen Leistungsverwertung. ➡ Hinreichendes Kennzeichen für eine Vertriebsfunktion ist eine Kunden(betreuungs)verantwortung. ➡ Hinreichendes Kennzeichen für eine Vertriebsführungsfunktion ist eine Umsatzverantwortung. Nach Witt ist der Vertrieb „die Speerspitze des Marketing“ (Witt 1996, S. 1). Eine Gegenmeinung lautet: Die Marketingkollegen sind die Pioniere des Vertriebs. Wer treibt wen an? Das Bild ist unklar. Man weiß zu wenig über den Vertrieb. Denn das Tätigkeitsfeld Vertrieb/Verkauf, in dem über 5 Mio. deutsche Arbeitnehmer tätig sind, hat in der deutschen Betriebswirtschaftslehre und auch in der Marketingtheorie bislang keinen besonderen Stellenwert erhalten. Es gibt auch keine verbindliche Definition für den Vertrieb. Wenn man sich dem Vertriebsbegriff nähern will, dann sind wegen (1) fachlicher Richtungsdivergenzen an den Hochschulen, (2) Begriffsirritationen zwischen sog. Theorie und sog. Praxis, (3) interkulturell bedingter Begriffsunterschiede (zuweilen unterschiedliche Auslegung des Marketingbegriffs in USA und Deutschland) und (4) unterschiedlichen Begriffsauffassungen in der Großkonzern- und Mittelstandspraxis einige grundlegende Begriffsabgrenzungen ratsam; und zwar vor allem zwischen • • • • • Vertrieb und Distribution (Distributionspolitik), Vertrieb und Marketing, Vertrieb und marktorientierter Unternehmensführung, Vertrieb und Verkauf, Vertrieb und Handel. Zuvor aber sollen die Grundansichten und Stellenwerte des Vertriebs in der Praxis (Wirtschaftsrealität) und in der Hochschulausbildung beleuchtet werden. 1.1.2. Die Theorie: Das amerikanische und das deutsche Marketingkonzept „Dass sich das Studienfach Marketing an den Hochschulen so großer Beliebtheit erfreut und unter den speziellen Betriebswirtschaftslehren besonders häufig gewählt wird, hängt sicherlich auch mit der inhaltlichen Interpretation zusammen. Sie läßt das Stoffgebiet grundlegend, vielseitig und strategisch bedeutsam erscheinen. Die Hochschulabsolventen mit dem Schwerpunkt Marketing müssen sich aber darauf einstellen, dass diese Auffassung keineswegs überall in der Praxis vorherrscht.“ (Köhler/Habann/Hahne, ASW 1/1999, S. 48) Die seit den 60er Jahren von den Hochschulen verkündete Marketinglehre ist am Vertrieb weitgehend vorbeigegangen. Das belegt zum wiederholten Mal die Schrift: 100 Jahre Betriebswirtschaftslehre in Deutschland mit dem Beitrag über die Marketinggeschichte (vgl. Sabel 1999, S. 169–180). Kein Wort über Vertrieb/Verkauf. Noch nicht einmal ein Hinweis im Stichwortverzeichnis. Auch das Handwörterbuch der Betriebswirtschaft widmet dem Vertrieb keine Rubrik (stattdessen: Distribution; Wittmann u.a. (Hrsg.) 1993). Im Handwörterbuch des Marketing werden zwar vertriebliche Einzelthemen behandelt, aber auch hier liegt der Schwerpunkt auf der warenverteilungslastigen Distributionspolitik (vgl. Ahlert 1995, Sp. 783–806). In der Praxis richten die Unternehmen ihre Prozesse gezwungenermaßen konsequent auf den Kunden aus. In den Marketingbüchern dagegen werden dem Vertrieb nur in homöopathischer Dosierung Seiten zur S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 3 Zur Einstimmung 3 Verfügung gestellt (vgl. die Literaturauswertung bei Pepels 2002, S. 4). Aus Sicht der Praxis stößt das auf Unverständnis. Das Credo der Führungskräfte in der Wirtschaft lautet nämlich unbeeindruckt von der Ignoranz der Wissenschaft: „Wir leben vom Verkauf“. Und selbst das Marketing hat es nicht einfach. Zwar zählt die Marketingwissenschaft heute unbestritten zu den anerkannten Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre. Die Betriebswirtschaftslehre trägt allerdings eine Verantwortung, dass die MarketingabsolventInnen der Hochschulen noch vielerorts als „Exoten und Egg-heads“ angesehen werden, die sich in Public Relations und Werbung tummeln, bei Strategie und Planung mitsprechen dürfen und beim Produktmanagement, bei der Verkaufsförderung und in der Marktforschung dem Vertrieb zuarbeiten. Auf einen einfachen Nenner gebracht stehen sich in Theorie und Praxis die zwei Konzeptionen der Abb. 2 gegenüber: (1) Die Ausbildungskonzeption der deutschen Hochschulen, die vom amerikanisch geprägten, ganzheitlichen Marketing ausgeht (Marketing = marktorientierte Unternehmensführung; vgl. stellvertretend Meffert 1991, S. 31–49 sowie die Ausführungen bei Becker 2002, S. 1–5), die dem Marketing das Marketingmix-Instrument Distributionspolitik unterordnet und das Arbeitsgebiet Vertrieb/Verkauf nicht eindeutig zuzuordnen weiß, (2) das Praxisverständnis deutscher Unternehmen, die üblicherweise eine strikte Trennung in Marketing und Vertrieb/Verkauf vornehmen. Im amerikanischen Modell gilt das Primat des Marketing. Alle Unternehmensbereiche haben sich (1) der Maxime (Leitidee, Denkstil, Philosophie) der Markt- und Kundenorientierung, (2) der Wichtigkeit eines Marketinginstrumentariums (Marketing-Mix), das Märkte schaffen, beeinflussen und mittels dauerhafter Wettbewerbsvorteile sichern kann, (3) der Erfordernis zur Anwendung systematischer Marketingmethoden (z.B. in der Marktforschung, im Produktmanagement oder in der Markenführung) zu unterwerfen (vgl. Meffert 1998, S. 4). Definierte Marktbearbeitungsinstrumente werden zum Marketing-Mix gebündelt. Die Abb. 2 folgt diesbezüglich dem Konzept der 4 P’s von McCarthy mit Product (Produktpolitik), Price (Preispolitik), Place (Distributionspolitik) und Promotion (Kommunikationspolitik) (vgl. McCarthy 1960). Der Vertrieb/Verkauf wird „irgendwo“ zwischen Distributions- und Kommunikationspolitik angesiedelt (vgl. die Übersicht über die unterschiedlichen Lehrmeinungen bei Winkelmann 2002, S. 274–278). So oft werden Bücher über Marketing-Management ohne Würdigung des Verkaufs in Gliederung und Stichwortverzeichnis geschrieben! Die Vertriebsthematik wird auf Absatzwegefragen beschränkt (vgl. z.B. bei Meffert 1994, S. 176). In der Theorie der Unternehmensführung ist das Marketing unbestritten Chef im Ring. Nur selten blitzen Zweifel auf, ob die Rolle des Marketing mit dem tradierten Schema der 4 P’s nicht vielleicht „neu zu überdenken und anders zu gestalten“ ist (Fließ/Jacob 1996, S. 33). In der Praxis allerdings hält das Marketing zumeist keine dominierende Stellung auf der Top-Management-Etage inne. Eine Separationsauffassung trennt die in der Abb. 2 dargestellten Spezialistenfunktionen (Stabsfunktionen) des Marketing einerseits von operativen Linienfunktionen des Vertriebs andererseits. Ein Marketing- und ein Verkaufsleiter stehen sich mit ganz spezifischen Aufgabenbereichen gegenüber. Zwei Fragen stellen sich beim Vergleich der beiden Auffassungen bzw. beim Abgleich von Lehrmeinungen und Praxis: (1) Wo liegen in der Praxis tatsächlich die karriereweisenden Arbeitsschwerpunkte für marktorientierte Führungskräfte, eher im Marketing oder eher im Vertrieb/Verkauf? (2) Welche Bedeutung kommt dem Begriff der Distributionspolitik in der Praxis zu, der in der Marketingtheorie weit gebräuchlicher ist als der Begriff Vertrieb? S. 1-22 Kap.1 4 25.03.03 16:55 Uhr Seite 4 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing Abb. 2: Die amerikanische und die deutsche Marketingauffassung 1.1.3. Die Praxis: „Wir leben vom Verkauf“ „Dieser Bereich (Vertrieb/Verkauf – Anm. des Verfassers) wird noch an den Universitäten sträflich verdrängt. Offenbar bestehen Berührungsängste von Professoren, die sich später auf die Studenten übertragen. Eine Karriere zum Top-Management verläuft aber selten über die Aufgaben des Marketing-Service in Unternehmungen und viel häufiger über den aktiven Verkauf oder Vertrieb.“ (Belz, 1996, S. 8) Eine Auswertung von 351 (nach 951 im Vorjahr!) überregionalen Stellenanzeigen für Führungskräfte in der Süddeutschen Zeitung und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Dezember 2001 versucht Antworten auf diese Fragen zu geben (vgl. Winkelmann/Thalhammer, salesBusiness 5/2002, S. 60–61). Abb. 3 erlaubt folgende Kernaussagen: S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 5 Zur Einstimmung 5 (1) Mit 209 Stellenangeboten (Verkaufsführung, Kundenbetreuer, Vertriebsingenieure) beherrschen eindeutig Positionen mit Umsatzverantwortung den Stellenmarkt. Das bedeutet: 59,5 % der Stellen für den Vertrieb, 40,5 % für das Marketing. (2) Am stärksten gesucht werden qualifizierte Kundenbetreuer mit Key Account Betreuungskompetenz (17 %). (3) Marketing und Vertrieb leben in Arbeitsteilung. Marketingleiter und Verkaufsleiter operieren meist auf gleichem Level. Sie sind laut Stellenprofil zur Zusammenarbeit verpflichtet. Verkaufsleiter werden jedoch in weitaus stärkerem Maße gesucht als Marketingchefs. (4) Auch die Techniker sind sich für den Verkauf längst nicht mehr zu schade. Vertriebsingenieure sind mittlerweile anerkannt, hoch kompetent in kaufmännischen Fragen und gehaltlich gut dotiert. Mit 11 % der Stellen liegen sie noch vor den Vertriebsmanagern und Verkaufsprofis. (5) Der Leiter Marketing und Vertrieb gehört zu 52 % (12 von 23 Stellenanzeigen) der Geschäftsführung an. (6) Neue Berufsbezeichnungen wie Customer Relationship Manager oder Leiter Multimedia sind in den Stellenanzeigen nur als Einzelfälle aufgetaucht. Im Stellenmarkt der Printanzeigen für Führungskräfte dominieren konventionelle Positionen. (7) Eine Funktionsbezeichnung oder ein Arbeitsgebiet Distribution(spolitik) ist nicht zu entdecken. Dieser Begriff der Marketingtheorie ist in der Praxis ohne Belang. Die ausgewerteten Stellenanzeigen bezogen sich auf Führungskräfte, d.h. auf „gestandene Praktiker“. Wie aber ist es speziell um die Einstiegschancen für Hochschulabgänger bestellt? Eine Auswertung der Berufsfelder für Hochschulabsolventen durch Staufenbiel belegt die große Bedeutung der operativen Vertriebstätigkeiten (Abb. 4). Wirtschaftsakademiker strömen in den Vertrieb; und zwar in einem stärkerem Maße als in das Marketing. Viele Berufsanfänger können sich während ihres Studiums kaum vorstellen, nach Abschluss des Examens ihren Berufseinstieg in kundennahen Bereichen zu finden. Wie viele von ihnen haben im Hauptfach Marketing studiert, sich jedoch mit den strategischen und operativen Fragen des Verkaufens nie befasst (vgl. Wagner 1998, S. 80–87). So ist es kein Wunder, dass Wirtschaftsmagazine diese Thematik unter Karrieregesichtspunkten immer wieder aufgreifen und die Chancen junger Akademiker im Vertrieb betonen: „Plötzlich nimmt der vielgeschmähte Vertriebsjob mit dem Drückerimage die Züge des Traumjobs aller ehrgeizigen Jungmanager an“ (Gronwald/Rust/Schmalholz, MM 8/1999, S. 150). Eine Studie der Personalberatung Heidrick & Struggles/Mülder & Partner belegt in der Abb. 5, (1) dass 41 % der befragten Top-Manager ihre Karriere in Marketing und Vertrieb begannen, (2) und dass der Anteil der Nichtakademiker mittlerweile auf 8 % gesunken ist (vgl. den Hinweis auf diese Studie im Verkaufsleiter Service Nr. 681 v. 20.11.1999, S. 1). Was könnten die Gründe dafür sein, dass Vertrieb und Verkauf an den Hochschulen so stiefmütterlich behandelt werden? Wir sehen vor allem fünf Ursachen, warum Vertrieb und Verkauf keinen gefestigten Platz im Rahmen der Hochschulausbildung gefunden haben: (1) Viele Marketinggrundlagen wurden in den Zeiten der Verkäufermärkte gelegt, als die Güternachfrage noch das Angebot überstieg und die Marktbedingungen kaum Anlass für die Herausstellung einer „Verkaufskunst“ boten (vgl. zu den Marketingphasen Kotler/Bliemel 2001, S. 29–48). Kurz: Für die Theorie war (und ist) der Verkauf schlichtweg uninteressant. Erst auf den zweiten Literaturblick kommt ein Erstaunen über die Fülle der Studien zum Käuferverhalten auf. Käuferverhalten und kein Verkäuferverhalten? Da ist doch eine Lücke in der Forschung? (2) Das Marketing hat über Jahrzehnte vornehmlich die Konsumgütermärkte im Auge gehabt und die Verkaufsvorgänge hierbei auf den Pull-Ansatz (aus dem Handel an Endverbraucher S. 1-22 Kap.1 6 25.03.03 16:55 Uhr Seite 6 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing Position im Vorjahr Key Account Manager Produktmanager Vertriebs-/Verkaufsleiter Vertriebsingenieur Vertriebsmanager Verkaufsprofi Marketingmanager Service/Costumer Care/Kundendienst Sales Consultant Geschäftsführer Marketing/Vertrieb Vertriebsspezialist Leiter Marketing und Vertrieb Business Development Manager Marketing-/Vertriebs-Referent Vertriebscontroller © Prof. Dr. Winkelmann/Talhammer 1 3 2 1 3 2 4 4 5 – 6 7 7 7 8 11 9 10 10 13 11 – 12 9 13 14 14 12 15 8 sonstige Stellenmarkt für Marketing und Vertrieb Ende 2001: Stellenanzeigen FAZ und Süddeutsche Zeitung (N=351) 59 52 46 37 24 22 17 14 13 12 12 11 6 6 5 17 10 20 30 40 Abb. 3: 351 Führungspositionen im Absatzbereich / FAZ und Süddeutsche Zeitung, Dezember 2001 50 60 70 S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 7 Zur Einstimmung 7 BERUFLICHE EINSTIEGSBEREICHE FÜR BWL-ABSOLVENTEN 58,8% Finanz-/Rechnungswesen 51,0% Controlling 47,7% Verkauf/Vertrieb 45,8% Informationsverarbeitung 45,1% Marketing/Produktmanagement 34,0% Personal-/Sozialwesen 31,4% Beratung 28,8% Einkauf 24,2% Projektierung/Projektmanagement 22,9% Unternehmensplanung/Betriebsw. Abteilung 22,9% Logistik Interne Revision 19,5% 18,3% Presse/Kommunikation/Redaktion 17,6% Organisation 15,0% Qualitätssicherung 14,4% Marktforschung 13,7% Rechtsabteilung 12,4% Stabs-/Linienfunktionen 12,4% Techn. Funktionsbereiche 9,8% Kreditwesen 9,8% Multimedia 9,2% Aus-/Weiterbildung 0,0% 10,0% 20,0% (Quelle: Staufenbiel-Studie 2001) 30,0% 40,0% 50,0% 60,0% 70,0% einstellende Unternehmen in Prozent (n = 153) Abb. 4: Quelle: Joerg E. Staufenbiel (Hrsg.): Berufsplanung für den Management-Nachwuchs, 22. Auflage START 2002 SPRUNGBRETTER FÜR KARRIEREN Marketing und Vertrieb 41% Finanz- und Rechnungswesen 18% Forschung & Entwicklung 17% Produktion und Technik 12% Personalabteilung 6% Stabsabteilungen 4% 2% sonstige Ressorts (Mehrfachnennungen) 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% Befragung von 212 Managern durch Heidrick & Struggles / Mülder & Partner, vgl. Manager Magazin, Nr. 8/1999, S. 140 Abb. 5: Der Vertrieb als Karrieresprungbrett 45% S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 8 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing 8 herausverkaufen) reduziert. Nicht auf Verkaufsherausforderungen lag das Augenmerk der Forschung, sondern auf der Handelsdistribution und den Geschehnissen am Point of Sale (POS). Erst in den vergangenen zwanzig Jahren hat die Marketingwissenschaft der ersten Verkaufsstufe mehr Aufmerksamkeit gewidment: dem Key Account Verkauf der Markenhersteller in den Handel hinein (Push-Ansatz). Ein wenig Belebung kam in die Literatur, als dieser Ansatz dann auf die technischen Märkte übertragen wurde (z.B. durch Goehrmann 1984, Miller/Heiman 1992, Bald 1995, Senn 1997, Kleinaltenkamp/Plinke 1995, Backhaus 1997, Bonart 1999, Godefroid 2000). (3) Marketingprofessoren verfügen nur in Ausnahmefällen über operative Verkaufserfahrungen. Und ein so bahnbrechendes Forschungsvorhaben wie das Columbus-Projekt vom Kosiol/Witte-Kreis wurde leider nicht als Vertriebsuntersuchung aufgezogen, sondern untersuchte aus dem Blickwinkel der anderen Schreibtischseite das Entscheidungsverhalten von Einkäufern in Beschaffungsprozessen (Hauschildt/Grün 1993). Auch bei der auf dem kritischen Rationalismus (Popper) basierenden empirischen Theorie der Unternehmung blieb der Verkauf leider außen vor. (4) In den Zeiten des Marketing-Boom (80er Jahre) füllten Hochschulabsolventen und ehemalige Assistenten die Marketing-Planstellen auf. So kamen auf die Hochschulprofessoren, die selbst nie in Verkaufsverantwortung standen, keine Anforderungen von ehemaligen Studenten zu, sich mit der Verkaufsmaterie zu beschäftigen. (5) Wirtschaftsmagazine, die den HochschulabsolventInnen den Vertrieb schmackhaft machen wollen, skizzieren immer wieder einseitig nur Verkäuferkarrieren. Sie zeigen nicht die Anforderungen und Chancen auf, die mit Führungspositionen im Vertrieb verbunden sind. Wir sollten jedoch an den Hochschulen keine Verkäufer ausbilden, sondern Manager, die eines Tages Verkäufer führen. Gegenwärtig scheint es, als befinde sich das Marketing in einer Konsolidierungsphase. Zunehmend beherrschen Systeme das Marketing, und die Musik spielt im Verkauf. Diese saloppe Praktikeraussage wird durch die bereits zitierte Untersuchung bekannter Personalberatungen belegt. Management-Karrieren starten überwiegend im Vertrieb, wie die Abb. 5 ergänzend belegt. Das Statement der Abb. 6 ist der Kienbaum Vergütungsberatung zu verdanken und soll zusammenfassend den jungen Studierenden eine Orientierung bieten. 1.1.4. Weiterführende Begriffsklärungen a.) Absatz Im folgenden sollen die Begriffe Absatz, Distribution, Marketing, Vertrieb, Verkauf geklärt werden. Sie alle werden nicht einheitlich verwendet; weder in der Theorie noch in der Praxis (vgl. Oehme 1998, S. 132, mit verschiedenen Begriffsauslegungen). Zum Teil werden die Begriffe auch kombiniert, so dass wir uns über kreative Neuschöpfungen freuen dürfen. Dannenberg brachte den Begriff des Vertriebsmarketing ein (vgl. Dannenberg 1997). Ein Seminar des Harvard Business Manager kündigt neue Wege im Absatzmarketing an; und eine Stellenanzeige (Referent für Marketing und Werbung gesucht) veranlasste Weeser-Krell zu dem Stoßseufzer, dass „in Terminologie und wissenschaftlicher Systematik weniger Bewanderte … Kraut und Rüben durcheinander werfen.“ (Weeser-Krell in einem Leserbrief an die Absatzwirtschaft, 4/1998, S. 123). Die deutsche Betriebswirtschaftslehre ist in ihren Anfängen etwa ab 1925 bis in die 50er Jahre gut mit dem Begriff Absatz zurecht gekommen (vgl. Gutenberg 1984, S. 123 ff.). Ende der 30er Jahre proklamierte die Literatur gar das Primat vom Absatz (vgl. auch die Quellen bei Bubic 1996, S. 108). Die Aspekte der Marktbearbeitung wurden wissenschaftlich hoffähig. S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 9 Zur Einstimmung 9 HOCHSCHULABSOLVENTINNEN IM VERTRIEB „Die Möglichkeit, im Vertrieb Gehälter zu erreichen, die sonst nur Leitenden Angestellten vorbehalten sind, zeigt, dass sich das Berufsbild vom „Klinkenputzer“ stark gewandelt hat. Drastisch wie kaum woanders haben sich die Anforderungen geändert. Früher als rein abschlussorientierte Reisende, ausgestattet mit Prospekten und Preislisten, gesehen, werden sie heute immer mehr zur strategischen Schnittstelle zwischen Unternehmen und Kunden. In Zeiten, wo der Wettbewerbsvorsprung über Produktinnovationen immer kurzlebiger wird und Hersteller mit ihren Produkten und Leistungen austauschbar werden, versuchen die Unternehmen über System- bzw. Wertschöpfungspartnerschaften, Pre-Sales-Service und Added Values eine höhere Kundenbindung und dadurch stärkere Marktanteile und Erträge aufzubauen. Und wer wenn nicht die Mitarbeiter im Vertrieb sollen die neuen Konzepte im Markt durchsetzen? Die Vertriebsorganisationen setzen dabei auf erfahrene und gut ausgebildete Vertriebsmitarbeiter und zunehmend auch auf Hochschulabsolventen. Insgesamt liegt der Akademikeranteil nach den Ergebnissen der aktuellen Kienbaum-Vergütungsstudie unter den Verkäufern bei 52 %, vor zehn Jahren waren es noch 29 %. Mitarbeiter mit technischen bzw. ingenieurwissenschaftlichen Abschlüssen spielen bei Produktionsunternehmen die Hauptrolle. Das deckt sich mit der Erfahrung, dass der Dialog mit dem Kunden in der Praxis weitgehend über den Produktnutzen geführt wird und auch in der Aus- und Weiterbildung technische Aspekte gegenüber kaufmännischen dominieren. In know-how-intensiven Technologiebranchen mit stark erklärungsbedürftigen Produkten finden sich deshalb häufig Ingenieure im Vertrieb, während BetriebswirtInnen von den Universitäten und FH’s eher im weiten Feld der Medium- und LowTech-Märkte und natürlich im Konsumgütervertrieb zu finden sind.“ Holger Scheepers, Vergütungsberatung Kienbaum Management Consultants GmbH (holger. [email protected]) Abb. 6: Statement von Kienbaum Management Consultants GmbH Den Begriff Absatz grenzte Gutenberg wie folgt ein: (1) Zunächst zog Gutenberg den Absatzbegriff dem der Leistungsverwertung vor. Die Leistungsverwertung erschien ihm „mit sprachlichen Mängeln behaftet“, zu „farblos“ und dem „betrieblichen Sprachgebrauch zu fremd“ (Gutenberg 1984, S. 1). (2) Im nächsten Schritt hat er den Absatzbegriff sehr weit gefasst. Die Absatzwirtschaft enthält „nicht nur Verkaufsvorgänge, sondern auch Einkaufs-, und Beschaffungsakte, und zwar nicht nur von Produktions-, sondern auch von Handels- und sonstigen Dienstleistungsunternehmen.“ (Gutenberg 1984, S. 2). (3) Für seine weiteren Ausführungen engte Gutenberg den Absatzbegriff dann wieder ein. Aufgabe absatzwirtschaftlicher Maßnahmen ist es, „in Übereinstimmung mit den jeweiligen Zielvorstellungen der Unternehmensleitung zu erreichen, dass das Absatzniveau des Unternehmens auf seinem gegenwärtigen Stand gehalten oder vor einem weiteren Absinken bewahrt oder erhöht wird …“ (Gutenberg 1984, S. 7). Damit bringt Gutenberg die betriebliche Absatzwirtschaft auf einen Wesenskern, der mit der Vertriebsdefinition dieses Buches in Einklang steht. Für die Instrumente der Marktbearbeitung prägte Gutenberg den Begriff des absatzwirtschaftlichen Instrumentariums (vgl. Gutenberg 1984, S. 104). Mittlerweile ist der Absatzbegriff leider zu einer Größe degeneriert, die für Verkaufsmengen steht (Absatz = Absatzmenge). So haben sich auch die bedeutenden Wegbereiter der deutschen Marketinglehre, Nieschlag, Dichtl und Hörschgen, 1971 vom Titel ihres langjährigen Standardwerkes Einführung in die Lehre der Ab- S. 1-22 Kap.1 25.03.03 10 16:55 Uhr Seite 10 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing satzwirtschaft gelöst und firmierten um in: Marketing – Ein entscheidungstheoretischer Ansatz. Dies kam einer fachlichen Wachablösung gleich. Ab dieser Zeit sind es vorrangig die Amerikaner, die uns die modernen Denkweisen und Instrumente zur Marktbearbeitung als Bausteine des Marketing anbieten. Um so erstaunlicher und auch erfreulicher ist es, dass die wohl führende Marktzeitschrift in Deutschland noch immer den Titel Absatzwirtschaft (Zeitschrift für Marketing im Untertitel!) trägt. b.) Distribution Die Amerikaner führten den Distributionsbegriff ein. Als die US-amerikanischen Farmer den im Zuge der Industrialisierung explodierenden Nahrungsbedarf der Städte nicht mehr befriedigen konnten, erwiesen sich Absatzmittler-Netzwerke als Rettung gegen Hungersnöte. Kunden- bzw. Verkaufsprobleme gab es nicht. Die Engpässe lagen in der Warenverteilung (zur Distributionsorientierung vgl. Kotler/Bliemel 2001, S. 23). „Distribution umfasst die einzelnen Maßnahmen des Unternehmens, um das Produkt für die Zielkunden leicht zugänglich und verfügbar zu machen“ (Kotler/Bliemel 2001, S. 151). Das P = place im McCarthy-Schema verankerte den durch Verteilungsmentalität und Vertriebskanaleffizienz gekennzeichneten Distributionsbegriff in das Konsumgütermarketing: „Kennzeichnend für die so definierte Distributionspolitik ist die Zwecksetzung der Unternehmung, ihren Absatzgütern physische und kommunikative Präsenz im Absatzmarkt zu verschaffen, ihr „Regalplatz“ im Sinne von Konfrontationsmöglichkeiten mit der Verbraucherzielgruppe zu sichern.“ (Ahlert 1996, S. 21). Seiler definiert knapp und eindeutig: „Als Distributionspolitik bezeichnet man alle Aktivitäten, die mit der Verteilung der Erzeugnisse zusammenhängen.“ (Seiler 1992, S. 263). Auch Specht vertritt die einseitige Lehrmeinung: „Im einzel- bzw. betriebswirtschaftlichen Sinne soll der Begriff Distribution spezielle Marketingaktivitäten erfassen, und zwar solche, die die Güterübertragungswege betreffen.“ (Specht 1998, S. 4) Nur sporadisch tauchen die Begriffe Vertrieb/Verkauf in den Definitionen auf. Dann geht es jedoch zumeist um einen Teilbereich der Distributionspolitik, der die Wahl der Vertriebskanäle (nach klassischer Lehre die Absatzmethode) berührt (vgl. z.B. bei Poth 1986, S. 8). Nach dieser Denkweise werden „mal auf die Schnelle 1.000.000 Ritter Sport in den Markt geworfen“, wird der Handel unter Verteilungsdruck gesetzt und König Kunde zum „Distributionssubjekt“ (Ahlert 1996, S. 72) herabgewürdigt. Die Marktbearbeitung reduziert sich auf ein logistisches Spiel. Sie wird zur kundenfreien Zone. Erklärungsversuche für die Distributionslastigkeit der Marketinglehre und eine Darstellung der wenigen Ansätze, die dem Vertrieb/Verkauf einen festen Platz im Rahmen der Marketinginstrumente zu sichern, sind an anderer Stelle erfolgt (Winkelmann 2002, S. 275–278). Im folgenden wird aufgezeigt, (1) dass die Warenverteilung durch die Absatzkanäle nur eine Facette des Vertriebs darstellt und dass (2) mit einer Regalplatzmentalität und mit Kunden als Konfrontationsopfer heute keine Märkte mehr erobert werden können. c.) Marketing In den Zeiten der Verkäufermärkte war auch das Marketing von diesem Verteilungsdenken geprägt. Immer wieder gern zitiert wird eine logistische Begriffsfassung der American Marketing Association (AMA) aus dem Jahr 1948: „Marketing ist die Erfüllung derjenigen Unternehmensfunktionen, die den Fluss von Gütern und Dienstleistungen vom Produzenten zum Verbraucher bzw. Verwender lenken.“ (zit. in Meffert 1998, S. 9) S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 11 Zur Einstimmung 11 In der Definition der AMA im Jahr 1985 werden eher die instrumentellen Funktionen des Marketing und die Aufgabe der Bedürfnisbefriedigung betont: „Marketing is the process of planning and executing the conception, pricing, promotion and distribution of ideas, goods, and services to create exchanges that satisfy individual and organizational objectives.“ (AMA 1985) Diese Begriffsfassungen bringen den zurückliegenden Wandel der Märkte von den Verkäufer- zu den Käufermärkten gut zum Ausdruck. Der Kunde mit seinen Bedürfnissen rückt in das Blickfeld des Marketing. Sehr viel mehr hat sich aber seither inhaltlich bei der Marketingdefinition nicht getan. Meffert hat in das Handwörterbuch des Marketing, das für Studenten die „Bibel“ für das Lernen von Begriffen sein sollte, praktisch die strategische AMA-Definition übernommen. Marketing ist „Planung, Koordination und Kontrolle aller auf aktuelle und potentielle Märkte ausgerichteten Unternehmensaktivitäten zur Verwirklichung der Unternehmensziele im gesamtwirtschaftlichen Versorgungsprozess durch eine dauerhafte Befriedigung der Kundenbedürfnisse.“ (Meffert 1995, Sp. 1472) Wer bringt das Marketing vom hohen Ross der Strategie herunter? Wer bringt die Kärrnerarbeit der Kundenbetreuung ins Spiel und die Verantwortung, die das Marketing dabei für die Wertschöpfung der Unternehmung hat? In diese Richtung klingt in einem Buch von Kotler an: „Marketing ist die Wissenschaft und die Kunst, profitable Kunden zu gewinnen, an sich zu binden und aufzubauen.“ (Kotler 1999, S. 156) Damit ist das Marketing wieder handfester im Sinne der Praxis definiert. Wem aber würde auffallen, wenn in allen obigen Definitionen das Wort Marketing einfach durch Vertrieb ersetzt wird? Versuchen wir es einmal: „Vertrieb ist die Verantwortung und die Kunst, profitable Kunden zu gewinnen, an sich zu binden und aufzubauen.“ Wir meinen: Jeder verantwortungsbewusste Vertriebschef sollte doch die obigen Marketinginhalte verinnerlicht haben, auch wenn er das Wort Marketing noch nie gehört hätte. Welcher Vertriebsmitarbeiter will denn nicht die Bedürfnisse seiner Kunden und gleichzeitig die Unternehmensziele erfüllen? Es bringt also nichts, Marketing mit Inhalten zu belegen, die ureigene Sache des Verkaufens sind. Dann hat das Marketing dem Vertrieb außer einigen Methoden und Techniken, z.B. Produktmanagement, Markenführung oder Marktforschung, nicht viel zu bieten. Die Frage aus Vertriebssicht lautet also: Wo liegen die besonderen Kräfte und Fähigkeiten des Marketing, die speziell den Vertrieb unterstützen, seine Verkaufsschlagkraft im Markt über diejenigen Eigenschaften hinaus stärken, die schon immer das Verkaufen bestimmten? Zur Beantwor- tung dieser Frage könnte man nun eine Flut von Begriffen sichten (s. auch die Zusammenstellung bei Pepels 1998, S. 11–17) und nach Besonderheiten und Zusatzkompetenzen des Marketing suchen. Findet man diese spezifischen Vorteilselemente des Marketing nicht, dann bleibt das Marketing für den „eingefleischten“ Vertriebler nicht mehr als eine akademische Worthülse. Aspekte dieser inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Marketing sind der Abb. 7 zu entnehmen. d.) Marktorientierte Unternehmensführung „Marketing im Sinne einer marktorientierten Unternehmensführung kennzeichnet die Ausrichtung aller relevanten Unternehmensaktivitäten auf die Wünsche und Bedüfnisse der Anspruchsgruppen.“ (Prof. Esch zur Definition des Marketing in: Mission, Aktuelles Leitbild des Deutschen Marketing-Verbandes, 2002) Das Konzept der marktorientierten Unternehmensführung beruht auf einer weiten Auslegung des Marketingbegriffs, wie die neuerliche Mission des Deutschen Marketing-Verbandes zeigt. Es ist unverändert der Anspruch des Marketing, eine wirklich dominierende Rolle bei der Gestaltung von Unternehmensstrategien zu spielen. Das Marketing versteht sich als „… Führungsphilosophie … als die bewusste Führung des gesamten Unternehmens vom Absatzmarkt her, d.h. der S. 1-22 Kap.1 25.03.03 12 16:55 Uhr Seite 12 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing MARKETING ALS Aufgaben des Marketing • • Absatzpolitik • • Beziehungsmarketing • Marktgestaltende (marktorientierte) Unternehmensführung • • • Gestaltung jeglicher Art sozialer Beziehungen und Austauschprozessen (generisches Marketing) • • optimale Gestaltung des Leistungsflusses vom Lieferanten zum Kunden optimaler Einsatz absatzpolitischer Instrumente (Marketing-Mix) zur Schaffung und Sicherung von Märkten (Absatz, Umsatz, Ergebnis) Aufbau und Pflege von Beziehungen (Relationship Marketing) Befriedigung der Bedürfnisse von Personen und Gruppen im Einklang mit Unternehmenszielen Denkhaltung der marktorientierten Unternehmensführung in die anderen Unternehmensbereiche tragen (Marketingphilosophie) Ausrichtung aller Unternehmensaktivitäten auf Kundenerwartungen, -wünsche und Markttrends Notwendigkeit zu kundenbegünstigenden Entscheidungen nutzenorientierte Verbesserung jeglicher menschlicher Beziehungen Marketing als Maxime für soziale und umweltbezogene Aufgaben Marketing als Philosophie für gesellschaftliches Handeln Was sagt der Vertrieb • • ist seit jeher Grundaufgabe des Vertriebs ist Aufgabe des Vertriebs, der den Markterfolg zu verantworten hat • • im Industrieverkauf ganz normal für die Bedürfnisbefriedigung braucht der Vertrieb das Marketing nicht • ist „natürliches“ Anliegen des Vertriebs hier zeigt sich eine Kraft des Marketing: das Marketing erlöst den Vertrieb aus der Ressortbegrenzung Kraft des Marketing: Durch die Marketingphilosophie erhält der Vertrieb mehr Durchsetzungskraft im Gesamtunternehmen hier geht Marketing in der Tat weit über die Aufgaben und Belange des Vertriebs hinaus wird die Mitgliederwerbung (Kundengewinnung) von Parteien, Gewerkschaften, gemeinnützigen Organisationen auch als Vertrieb verstanden, würde sich der Vertrieb hier auch berührt fühlen • • • • Das Schema setzt auf der Systematik der 4 Marketingdefinitionen von Pepels auf. Siehe dort auch die den Kategorien entsprechenden Autoren mit ihren Begriffsauslegungen sowie die Literaturquellen (Pepels 1998, S. 11–17) Abb. 7: Was bringt das Marketing Neues für den Vertrieb? Kunde und seine Nutzenansprüche sowie ihre konsequente Erfüllung stehen im Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns, um so unter Käufermarkt-Bedingungen Erfolg und Existenz des Unternehmens dauerhaft zu sichern.“ (Becker 2002, S. 3) Wir möchten gerne dieser Vision folgen. Aber die Grenzen sind offenkundig. Das Marketing hat sich zwar über die Jahrzehnte zu einer anerkannten Wissenschaft entwickelt; der große Durchbruch auf Geschäftsführungsebene ist jedoch, wie bereits ausgeführt, bis auf Ausnahmen (z.B. BMW) nicht gelungen. Die tragische Rolle des Marketing kommt gut im Zusammenhang mit der Reorganisation des Bayer Konzerns zum Ausdruck: „Der Turn-around hat auch Auswirkungen auf das Marketing. Werner Spinner, seit Jahren für Marketing verantwortlich, ist zwar in den fünfköpfigen Holding-Vorstand übernommen worden, die Funktion Marketing schaffte diesen Sprung allerdings nicht.“ (vgl. die Meldung in ASW, 9/2002, S. 32) Nach dem Wertkettenmodell von Porter sind Marketing und Vertrieb primäre Unternemensaktivitäten, die der unmittelbaren Wertschöpfung dienen. Doch das Marketing hat seine Wertschöpfungskräfte nicht richtig deutlich machen können (vgl. Schütz, ASW Sonderausgabe 2002, S. 46–47) und wird in die operativen Geschäftsbereiche zurückverlagert. Ohne Frage liefert aber der Denkansatz des ganzheitlichen Marketing dem Vertrieb entscheidende Impulse für die Kunden- und Marktbetreuung. Das Vertriebsmanagement profitiert vom Marketing auf dreifache Weise: S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 13 Zur Einstimmung 13 (1) Die Geschäftsführung (Vorstand) vertritt eine kundenbezogene Strategie, verkündet diese im Unternehmen und lebt diese auch vor. Die Kundenbetreuung erhält Rückendeckung durch das Top-Management. (2) Die Vertriebsmitarbeiter erhalten konkrete Unterstützung bei ihrer Arbeit durch Kollegen, die Marktdaten analysieren, Produkte und Marken pflegen, Erfolgschancen für Strategien untersuchen, Interessenten durch Verkaufsförderung kaufgeneigt machen. Der Verkäufer weiß dann das Marketing zu schätzen, weil Marketing-Kollegen ihm anerkannten Marketingservice bieten. (3) Der Vertrieb erhält eine vertretbare Priorität bei konfliktären, innerbetrieblichen Entscheidungen, wenn es um den Markterfolg geht. Diese drei Sachverhalte kennzeichnen den Triadenansatz der marktorientierten Unternehmensführung (vgl. Winkelmann 2002, S. 33–34). Er ergänzt das duale Konzept von Meffert um die Bedingung eines geachteten Marketingservice (Punkt 2) und um eine Prioritätsnuance (Punkt 3). In dem Moment, in dem Marketing von allen Unternehmensbereichen als Kompass zur Ausrichtung und Konzentration auf Kundenwünsche (Markttrends) akzeptiert wird, gibt das Marketing dem Vertrieb frischen Schwung. Als Antreiber wirkt ein „… Marketing als Ausdruck eines marktorientierten unternehmerischen Denkstils, der sich durch eine schöpferische, systematische und zuweilen auch aggressive Note auszeichnet …“ (Nieschlag/Dichtl/Hörschgen 1985, S. 8) Das Marketing öffnet dem Vertrieb also durch eine Kundenzentrierung die technischen und verwaltenden Unternehmensressorts. Hinzu kommen spezielle Kompetenzen des Marketing, die den Vertrieb bei der Marktbearbeitung unterstützen und ihm besondere Verkaufskräfte verleihen: • Die Kunst des Marketing liegt darin, systematisch neue Bedürfnisse bei potenziellen Abnehmern zu schaffen, „schlafende“ Bedürfnisse zu wecken oder bestehende Bedürfnisse zu beeinflussen. • Die Kunst des Marketing liegt darin, Produkten gezielt Zusatznutzen (Added Values) zu ver- leihen und/oder durch Kreation von intelligenten Sachleistungs- und Dienstleistungsprogrammen Käuferpräferenzen zu schaffen. Anders gesagt: Das Marketing ebnet dem Vertrieb mit Hilfe der Produktpositionierung einen Weg in die Köpfe der Käufer (vgl. Weinhold-Stünzi 1996, S. 44–55). • Die Kunst des Marketing kann sogar darin liegen, Unternehmens- oder Produktbotschaften so nachhaltig in den Erinnerungen und Präferenzen der Interessenten und Kunden zu verankern, dass zum Verkaufen keine persönlichen Kundenkontakte, Warenpräsentationen und Verkaufsverhandlungen notwendig sind. Die Kunst des Marketing kann u.U. Markterfolg ohne verkäuferische Akquisitionstätigkeit erreichen, ein überzeugendes Leistungsangebot und attraktive Preise vorausgesetzt. Marketing ist nach der ganzheitlichen Begriffsauffassung also mehr als Vertrieb. Abb. 8 enthält noch weitere, den Vertrieb antreibende Impulse. Diese Überlegungen fließen abschließend in eine Definition für den so geheimnisvollen Marketingbegriff ein, der dem Vertrieb ausreichend Raum zur eigenen Entfaltung lässt: S. 1-22 Kap.1 25.03.03 14 16:55 Uhr Seite 14 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing ➡ Marketing stellt für die oberste Führung ein (1) Leitkonzept (eine Philosophie) dar, das alle Unternehmensaktivitäten gemäß einer strategischen Zielsetzung auf den Kunden (den Markt) ausrichtet und (2) demzufolge bei kritischen betrieblichen Entscheidungen dem Vertrieb eine deutliche Priorität lässt. ➡ Auf der Ebene der Aufgaben und Funktionen umfasst Marketing als Marketing-Service alle Maßnahmen, die (1) das Marktverhalten analysieren (Marktforschung) und neue Käuferbedürfnisse aufdecken oder schaffen, um dadurch neue Produkte oder gar Innovationen anzustoßen, (2) außerhalb von Verkaufsgesprächen Botschaften und Bilder der Gesamtunternehmung und ihres Leistungsangebotes in den Markt transportieren (PR, Kundendialog und Werbung), (3) den Verkauf unterstützen (Verkaufsförderung) und (4) zur Gestaltung und Umsetzung der Marktstrategie beitragen (Markenführung, Produkt-Management). WAS BIETET MARKETING DEM VERTRIEB? Marktorientierung aller Unternehmensbereiche Techniken zur Bedürfnisbeeinflussung Marktforschung durch Spezialisten VERTRIEB PROFITIERT VON Marktmacht durch Fertigung briefen: Marken Target Costing Massenwerbung, CI, Imagepolitik Ergänzende Verkaufsförderung Abb. 8: Was bietet das Marketing dem Vertrieb? e.) Vertrieb Wie gelangt man vom Marketingbegriff zum Vertrieb? Der Vertriebsbegriff ist in der Literatur – wie eingangs erwähnt – keinesfalls gefestigt. Belz bezeichnet ihn gar als „unglücklich“ (Belz 1999, S. 10). Ein Problem liegt der Marketinglehre der Hochschulen, die den Vertrieb für ihre Grundlagenforschung nie als würdig empfunden haben. Der Wirrwarr wissenschaftlicher Begriffsfindungen kommt z.B. in einer Befragung zum Ausdruck, in der Kundenmanagement, Vertrieb und Verkaufsaußendienst als getrennte Arbeitsgebiete abgefragt werden (vgl. Köhler/Habann/Hahne 1999, S. 51). Man könnte es sich einfach machen und dem Marketing die strategischen, dem Vertrieb die mehr operativ-taktischen Elemente der betrieblichen Leistungsverwertung zuordnen (vgl. Becker 2002, S. 860). Diese Lösung ist nicht ganz haltbar, denn: (1) Auch die strategische Arbeit des Marketing besteht aus operativen und taktischen Teilaufgaben. S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 15 Zur Einstimmung 15 ZEHN AUSLEGUNGSRICHTUNGEN FÜR DEN BEGRIFF VERTRIEB 1 Vertrieb = Distributionspolitik als Instrumentalbereich des Marketing-Mix ohne persönlichen Verkauf (Absatzmethode) 2 Vertrieb = Distributionspolitik als Instrumentalbereich des Marketing-Mix mit persönlichem Verkauf 3 Vertrieb = Distributionspolitik nur in Investitionsgütermärkten (Distribution/Verkauf an Geschäftskunden) 4 Vertrieb = Verkauf (direkter und indirekter Vertrieb) 5 Vertrieb = nur Direktverkauf (BtoB und BtoC) 6 Vertrieb = Organisation der Absatzwege (Vertriebskanalpolitik; z.B. Pressevertrieb, Pressegrosso) 7 Vertrieb = nur Organisation des Verkaufs (Vertriebsabteilung) 8 Vertrieb = nur Flächenverkauf (nicht individuelles Kunden-Management, wie Key Account Management) 9 Vertrieb = nur physische Distribution (Lager, Expedition, Transport) 10 Vertrieb = Marketing (Vertriebsmarketing) Abb. 9: Die Auslegungen des Vertriebsbegriffs (2) Umgekehrt muss sich auch der Vertrieb langfristige strategische Eckpfeiler schaffen. Nur sollte eine Vertriebsstrategie unter dem Primat des Marketing (der marktorientierten Unternehmensführung) stehen, selbst wenn zuweilen taktische Verkaufsentscheidungen dieser Marketingstrategie zuwiderlaufen. In der Praxis wird dennoch dem Marketing die größere Kompetenz für die Unternehmensplanung zugesprochen. Unterhalb der Ebene der strategischen Unternehmensführung gibt es dann zahlreiche Auslegungen des Vertriebsbegriffes gemäß Abb. 9. Dieses Buch lehnt sich an die Begriffsfassung ➁ an: ➡ Vertrieb/Verkauf im weiteren Sinne: Der Vertrieb umfasst alle Tätigkeiten und Funktionen (Mitarbeiter und deren Aufgaben im Rahmen betrieblicher Stellen), Strukturen und Abläufe, Methoden und Systeme zur Leistungsverwertung (Absatzwirtschaft). ➡ Vertrieb kann mit Distributionspolitik gleichgesetzt werden, wenn Distribution nicht auf die physische Warenverteilung (Lager, Versand, Transport) beschränkt wird. ➡ Der Vertrieb ist ein gewichtiges Instrument im Rahmen des Marketing-Mix; neben der Leistungsprogramm- (Produkt-), der Konditionen- (Preis-) und der Kommunikationspolitik. ➡ Beim Vertriebsleiter liegt die Verantwortung für die marktbezogenen quantitativen Zielgrößen Auftragseingang, Absatz, Umsatz, Vertriebsergebnis, Marktanteil sowie für qualitative Ziele wie z.B. Kundenzufriedenheit, Kundentreue etc. Eine Vertriebsverantwortung folgt aus einer Umsatzverantwortung. ➡ Die Aufgabe des Vertriebs ist deshalb die systematische Umsatzgenerierung und Umsatzsicherung. ➡ Der Vertrieb umfasst hierzu (1) eine akquisitorische (Verkauf = Interaktion zwischen Anbieter und Nachfrager) und eine (2) logistische (Verteilung von Waren) Komponente. ➡ Vertrieb ist auch als Verkaufspolitik im weiteren Sinne zu verstehen. Der Vertrieb ist die Brücke zum Kunden und strebt nach der Eroberung und Sicherung von Märkten. Den Vertrieb lediglich als „einheitliche Schnittstelle des Unternehmens zum Kunden“ zu begreifen (Reichwald/Bastian/Lohse 2000, S. 6) reicht heute nicht mehr aus. Der Vertrieb wird zum Regulativ für die Kundenmacht. Streng genommen geht die Kundensicht im Rahmen der CRM-Diskussion (Customer Relationship Management) sogar über den Vertrieb hinaus. CRM S. 1-22 Kap.1 16 25.03.03 16:55 Uhr Seite 16 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing integriert nun auch die kundennahen Prozesse ausserhalb des Vertriebs, also primär die von Marketing und Kundendienst. Diese Aspekte werden in Kapitel 6 weiter vertieft. Wir wollen aber auch bei den späteren CRM-Abhandlungen in diesem Buch den Vertrieb im Fadenkreuz behalten. f.) Verkauf – persönlicher Verkauf „Die Erfahrungen zeigen, dass Absolventen von Hochschulen, trotz eines hohen Standards an fachlicher Ausbildung, Wissensdefizite haben in bezug auf den gesamten Komplex Verkauf.“ (Wagner/Gerling-Konzern, 1998, S. 84) Der Vertrieb ist das Herz, das Verkaufen das Blut des Wirtschaftens (und Rechnungswesen und Bilanz bilden das Korsett). Dies belegt auch eine Befragung von EMNID Burke (Abb. 10): Der persönliche Verkauf gilt in der Praxis als wichtigstes Marketing-Instrument; mit deutlichem Abstand vor den verkaufsfördernden Messen (vgl. o.V., ASW 8/1999, S. 102). DIE WICHTIGSTEN INSTRUMENTE ZUR ERREICHUNG ABSATZWIRTSCHAFTLICHER ZIELE 60% Persönlicher Verkauf Messen/Ausstellungen 57% Direktwerbun g 36% 32% Fachzeitschriften 31% Onlinemedien 28% Filmpräsentationen 27% Public Relations 19% Publikumszeitschriften Außenwerbung 18% Telefonmarketing 18% 13% Sponsoring 13% Wirtschaftspresse 11% TV/Hörfunk (Mehrfachnennungen) 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% – Prozentuale Nennungen von 1.100 Unternehmen – Befragung durch das EMNID-Institut im Auftrag des AUMA (Quelle: ASW 8/1999, S. 102 ) Abb. 10: Ranking der Bedeutung der Marketinginstrumente Wie bereits in der Einführung erwähnt, weiß die konventionelle Lehre mit dem Verkauf bis auf bemerkenswerte Ausnahmen (z.B. Belz, Homburg, Kleinaltenkamp, Krafft, Pepels, Plinke, Rösler, Sönke-Albers, Weis, Witt) nicht viel anzufangen. Nach den Erläuterungen im Abschnitt 1.1.4.b. könnte man vielleicht annehmen, der Verkauf gehöre eindeutig zur Distributionspolitik. Das ist in der Theorie aber nicht klar. Namhafte Wissenschaftler wie Meffert, Bruhn, Specht oder z.T. auch Weis (über)betonen das kommunikative Element des Verkaufens und schlagen den persönlichen Verkauf der Kommunikationspolitik zu (vgl. die Auseinandersetzung hierüber und die Quellen bei Winkelmann 2002, S. 276–278). Der persönliche Verkauf erhält den gleichen Stellen- S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 17 Zur Einstimmung 17 wert wie Kataloge und Imagebroschüren (vgl. Hoppen 1999, S. 240). Diese „Heimatlosigkeit“ des Verkaufs kommt in einem Zitat von Specht (unter Bezug auf Goehrmann) gut zum Ausdruck: „Das vielfach dem Kommunikations-Mix zugeordnete Verkaufsmanagement (vgl. Goehrmann) bzw. der persönliche Verkauf kann aus der Behandlung von Distributionsfragen nicht völlig ausgeklammert werden, denn der Aufbau einer eigenen Verkaufsaußendienstorganisation ersetzt nicht selten die Inanspruchnahme organisationsexterner Absatzmittler und -helfer.“ (Specht 1998, S. 4) Dass in technischen Branchen der direkte Verkauf überwiegt und in Konsummärkten die eigene Außendienstorganisation keinesweges die Absatzmittler ersetzt, sondern sie als (Handels)Kunden (s. die Praxisbeispiele Pöschl und Vaillant, Abb. 32 und 33) verkäuferisch betreut, wird in der Theorie regelmäßig übersehen. Wer sich gar nicht zu helfen weiß, nimmt eine Doppelzuordnung vor. Die Verkäufer erscheinen im Rahmen der Distributionspolitik als seelenlose Verteilungshelfer, sobald sie aber den Kunden ansprechen (persönlicher Verkauf), werden sie zu Instrumenten der Kommunikationspolitik (vgl. Vossebein 2000, S. 139 und 152; Pohl 1986, S. 10; auch Bonart erklärt ausdrücklich die Doppelzugehörigkeit: vgl. Bonart 1999, S. 21). Wer diesen Weg geht, macht die Kommunikationspolitik zur Leerformel. Dann ist alles menschliche Wirken ein Thema der Kommunikationspolitik; sogar Schweigen ist Kommunikation. Rufen wir also Gutenberg als Zeugen auf, um den Verkauf/Vertrieb nicht in der Kommunikationspolitik untergehen zu lassen: Solange die Schuhverkäuferin sich bemüht, „den Verkaufsvorgang dahingehend zu beeinflussen, dass der Kunde sich zum Kauf der Schuhe entschließt, versucht sie zu „verkaufen“. Damit treibt sich aber noch keine Werbung.“ (Gutenberg 1984, S. 358) Die Bedeutung des persönlichen Verkaufs wird also von der Theorie völlig unterschätzt. Dies ist allenfalls verständlich für Branchen, die ohne eigenen Außendienst über Vertriebspartner „distribuieren“. Die Realität aber ist, dass in den meisten Märkten die Kommunikationspolitik dem Verkauf „dient“; ihn zumindest unterstützt. Zitieren wir den Verkauf daher in Anlehnung an Ahlert, der dieses Tätigkeitsfeld (wenigstens) eindeutig der Distributionspolitik zuordnet: ➡ Verkauf (im engeren Sinne) Verkaufen ist die Grundfunktion des Vertriebs und umfasst „den Vorgang des Kaufvertragsabschlusses einschließlich der zuvor erfolgten Anbahnung in Form der Güterdarbietung, der Kaufberatung und der Kaufverhandlung.“ (Ahlert 1996, S. 27) Der Verkauf kann persönlich (Außendienst) oder unpersönlich (durch Telefon, Brief, PC, Fax) erfolgen. Verkaufen impliziert, einem Nachfrager bei Vorliegen gleicher oder gleichartiger Angebote (Wettbewerbsbedingungen) eine Nutzenerfüllung in Form von Sachgütern, Service und/oder Dienstleistungen (i.d.R. gegen ein monetäres Opfer) zu bieten. Ohne Wettbewerb (im Monopolfall) wird Verkaufen zum Verteilen. Nach dieser Definition gehören Lieferservice, Transport und Lagerwesen (Logistik) der Ware nicht zum Verkaufsvorgang i.e.S. Genau an dieser Stelle wird der Vorteil des weiter gefassten Vertriebsbegriffes deutlich. Das Phänomen Verkaufen kann durch die Arbeitsschritte eines Verkaufsprozesses (SalesCycle) näher konkretisiert werden. Es sind diese in einem 10-Stufen-Konzept: (1) Kundensuche (Kundenlokalisierung) und Vorqualifizierung, (2) Kontaktaufnahme mit dem Kunden (Kundenansprache), S. 1-22 Kap.1 25.03.03 18 16:55 Uhr Seite 18 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing (3) Analyse der Kundenerwartungen und -wünsche, (4) Kundenqualifizierung (Kunden-Feinbewertung und Zielgruppenzuordnung) sowie daraus folgend Bestimmung der Leads (der verfolgungswürdigen Kontakte), (5) bedürfnisgerechtes Zuschneiden (Individualisierung) des eigenen Angebotes mit Nachweis der eigenen Produktvorteile im Vergleich zu Konkurrenzprodukten, (6) Vertrags- mit Preisverhandlung (Contracting), (7) Kaufabschluss (Closing), (8) Auftragsbearbeitung, Auslieferung und Fakturierung (Processing), (9) Nachbetreuung mit dem Ziel einer verstärkten Kundenbindung und einer Kundenentwicklung, (10) gegebenenfalls Kundenrückgewinnung. Im Transaktionsverkauf von Konsumgütern werden einige dieser Stufen übersprungen bzw. sind nur von untergeordneter Bedeutung (z.B. die Stufen (6) und (7)). Dieser zehnstufige Akquisitionsprozess enthält zahlreiche Einzelvorgänge des Handelns und Aushandelns. g.) Handel Deshalb verdient auch der Handelsbegriff eine Abgrenzung zum Begriff Vertrieb/Verkauf. Handeln ist immer auch Verkaufen; und „Handel ist eigentlich seiner Natur nach immer Vertrieb“ (Pepels 1998, S. 131). Trotzdem sollten die Begriffe Vertrieb und Handel nicht synonym verwendet werden: • Handel ist zum einen als institutioneller Begriff belegt. Im großen Marktspiel der Konsumund Investitionsgüterindustrie übernimmt der Groß- und Einzelhandel für die Hersteller die Rolle eines Vertriebspartners. Der Vertrieb der Hersteller erstreckt sich über die gesamte Distributionskette (Absatzkanal). Der Handel wird nach dieser Sichtweise Element des Herstellervertriebs. Wenn es den Handel mit seinen Marktaufgaben nicht gäbe, müssten die Hersteller selbst die Endverbraucher bedienen. • Im Rahmen des Verkaufsvorgangs wird – Standard-Konsumgüter und -Dienstleistungen mit fixierten Auszeichnungspreisen ausgenommen – i.d.R. verhandelt. Handeln ist ein iterativer Vorgang der Annäherung von Preisvorstellungen zwischen Anbieter und Nachfrager (s. zum Thema Verhandlungstaktik den Abschnitt 7.4.6.). • Der institutionelle Handel bezeichnet seine Aktivitäten am POS (Point of Sale) weniger als Vertrieb sondern vielmehr als Verkauf. Anerkannte Ausführende dieser Verkaufsfunktion sind die Verkäufer im stationären Einzelhandel. Sie bleiben im Hintergrund beim Selbstbedienungshandel, wenn die Ware nur angedient wird. Sie übernehmen anspruchsvolle Beratungsaufgaben für erklärungsbedürftige Produkte im Facheinzelhandel, wo die grundlegenden Markterfolgsfaktoren Kundennähe, Kundenzufriedenheit und Kundenbindung unmittelbar zu beachten sind (s. Abschnitt 5.1.). • Es gibt aber auch starke Händler oder Handelshäuser, die sich ebenso wie die Hersteller ihre eigenen Vertriebsorganisationen mit Außendienstmitarbeitern aufbauen. Der Begriff Handelsvertrieb ist angebracht. Die weiteren Ausführungen dieses Buches werden diese Vertriebsorganisationen mit einschließen. Damit sind die Begriffe geklärt, die immer wieder mit dem Vertrieb in Verbindung gebracht und zuweilen sogar synonym verwendet werden. Die Begriffe Verkauf, Vertrieb und Marketing können jetzt in einen Zusammenhang mit dem Wachstum einer Unternehmung gesehen werden. S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 19 Expansionspfad des Marketing 19 1.2. Expansionspfad des Marketing Wir vertreten die These: ➡ Selbst wenn eine Unternehmung sich nicht ausdrücklich zum Marketing bekennt – mit wachsender Unternehmensgröße wird sie durch den Konkurrenzkampf zur Profilierung von Marketingfunktionen gedrängt. Das Marketing emanzipiert sich im Zuge eines Unternehmenswachstums. Dem Marketing fällt es bei wachsender Unternehmensgröße immer leichter, sich mit seinen Anforderungen und Belangen Gehör zu verschaffen. Am Ende eines Reife- und Wachstumsprozesses kann die Philosophie einer ressortumgreifenden, marktorientierten Unternehmensführung stehen. Abb. 11 veranschaulicht den Profilierungsprozess (vgl. Winkelmann 2002, S. 34). Nach der Idee des Expansionspfades • entwickelt sich bei kleineren Unternehmensgrößen zunächst der Verkauf, bevor die Notwendigkeit von Marketingfunktionen drängend wird (Der Fehler der dot.coms: Sie haben zwar Marketing betrieben, jedoch das Verkaufen vergessen.), • sind bei mittleren Unternehmensgrößen Marketingfunktionen zwar unabdingbar, jedoch kommt es oft noch nicht zu einer Herauslösung einer Marketingabteilung aus dem Verkauf, • stößt das Marketing in der Praxis im Zuge eines weiteren Unternehmenswachstums irgendwann auf kritische organisatorische und damit kompetenzbezogene Grenzen. Die Notwendigkeit einer Marketingphilosophie wird auf Geschäftsführungsebene zwar nicht geleugnet. Das Problem liegt aber in der Frage, in welchem Umfang dem Marketing eine Verselbständi- Abb. 11: Der Expansionspfad des Marketing S. 1-22 Kap.1 20 25.03.03 16:55 Uhr Seite 20 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing gung der Funktionen erlaubt wird. Wann darf sich das Marketing aus dem Verkauf herauslösen und eine eigene Abteilung bilden? Was darf das Marketing mit eigener Visitenkarte, mit Budgets und mit fachlichen Weisungsrechten ausgestattet, anderen Stellen anweisen? Das Dilemma zeigt sich beispielsweise beim Customer Relationship Management (CRM). Eigentlich sollte CRM primär eine Frage der Marktorientierung der Gesamtunternehmung und damit eine Frage des Marketing sein. Doch in den CRM-Projekten der Praxis spielt das Marketing i.d.R. hinter dem Vertrieb und hinter der IT-Abteilung nur eine nachrangige Rolle. • Nach der Idee des Expansionspfades fällt es größeren Unternehmen leichter, eine Marketingkompetenz zum Ausdruck zu bringen als mittelständischen Betrieben, in denen das Marketing oft im Verkauf „untergeht“ (Aussage eines Mittelständlers: „Marketing macht bei uns Frau xy nebenbei.“). Der Funke des Marketing ist dennoch bereits in der Verkaufsabteilung eines noch so kleinen Betriebes gezündet. Wie sonst könnte die kleine Unternehmung ihre Kunden unter den derzeit harten Wettbewerbsbedingungen dauerhaft halten? Wächst der kleine Betrieb, dann kristallisieren sich zunehmend vertriebliche Unterstützungsfunktionen heraus (z.B. Marktforschung, Verkaufsförderung inkl. Kataloge, Webauftritt und Messeteilnahme, Produktmanagement, Public Relations, Werbung, Call-Center-Einsatz), treten selbstbewusst neben den Verkauf, bleiben aber noch im Vertrieb eingebunden. Wächst die Unternehmung weiter bzw. profilieren sich diese Funktionen mit Erfolg, dann kommt es zu den Schicksalsentscheidungen für das Marketing: (1) Sollen diese Funktionen aus den Verkauf herausgelöst und in einer eigenständigen Marketingabteilung zusammengefasst werden? (2) Wenn ja, soll die Marketingabteilung hierarchisch (a) an die Vertriebleitung angegliedert, also dem Verkauf überstellt werden, (b) soll sie dem Verkauf gleichgestellt werden oder (c) soll sie als zentraler Marketingstab direkt der Geschäftsführung (dem Vorstand) unterstellt werden, wie das z.B. bei BMW der Fall ist. Antworten auf diese Fragen werden in Abschnitt 3.2.2.h. gegeben. 1.3. Über eine „Feindschaft“ zwischen Marketing und Vertrieb Abschnitt 1.1.4.d. hat Kompetenzen aufgezeigt, durch die das Marketing die Vertriebskraft verstärken kann. Dagegen stehen Klagen über eine Gegnerschaft beider Organisationsbereiche, die doch beide dem Kunden gegenüber verpflichtet sind: „Marketing und Vertrieb verfangen sich immer wieder in starkem Konkurrenzdenken. Beide Abteilungen reklamieren für sich die Kompetenz, am besten zu wissen, wie man ein Produkt zum Kunden bringt. Das führt zu Eifersüchteleien und zu einer Menge Schwierigkeiten.“ (Dannenberg 1997, S. 76) Dieser Grabenkampf dürfte besonders in akademisierten Unternehmen zu finden sein, in denen wissenschaftlich vorgeprägte Marketingspezialisten „hemdsärmeligen“ Verkäufernaturen gegenübersitzen. Das Marketing betrachtet die Kunden aus strategischem Winkel als Gesamtheit. Der Vertrieb identifiziert sich mit jedem einzelnen Kunden und dessen ganz spezifischen Anforderungen und Eigenheiten (vgl. Bauer 2000, S. 43). Hinsichtlich der Barrieren zwischen den beiden Personengruppen werden die Unterschiede der Abb. 12 gesehen: Dannenberg betont als weitere Konfliktfelder alt gegen jung, Erfahrung gegen Dynamik, Kontaktstärke gegen Analytik, Praxis gegen Hochschulausbildung, Umsatzverantwortung gegen Budgethoheit sowie Büroarbeit versus Reisetätigkeit (vgl. Dannenberg 1997, S. 66). S. 1-22 Kap.1 25.03.03 16:55 Uhr Seite 21 Über eine „Feindschaft“ zwischen Marketing und Vertrieb Vertriebskollegen Marketingkollegen 21 Ausbildung 1 Praktiker mit „bodenständiger“ Berufsausbildung Produktmanager, Marktforscher und Werbefachleute haben i.d.R. Hochschulabschluss und kaum Berufserfahrung in anderen Bereichen Arbeitsgrundlagen 2 Kontaktstärke und sicheres persönliches Auftreten Analytische und konzeptionelle Fähigkeiten Informationsbasis 3 Viele Einzelkontakte mit Kunden Marktstatistiken, Besuchsberichte, Brancheninformationen Firmenzugehörigkeit 4 Oft über 10 Jahre, weniger Karriereperspektiven Oft nur 2–3 Jahre Position dient als Karrieresprungbrett (Quelle: o.V. PM Beratungsbrief, Nr. 468, 1998, S. 1) Abb. 12: Oft vermutete Unterscheidungsmerkmale für Mitarbeiter in Marketing und Vertrieb Dem sind folgende Argumente entgegenzuhalten: • Der Anteil der Praktiker mit „bodenständiger Berufsausbildung“ nimmt tendenziell ab. Immer mehr Hochschulabsolventen suchen Karrieremöglichkeiten mit operativer Verantwortung und drängen folglich in den Vertrieb. Auf der anderen Seite akademisieren sich die Einkaufsstäbe anspruchsvoller Großkunden, und die Lieferanten müssen mit hochqualifizierten Kundenbetreuern dagegenhalten. • Der Argumentation hinsichtlich Arbeitsgrundlagen ist überhaupt nicht zuzustimmen. Warum sollten den Marketingkollegen Kontaktstärke und persönliches Auftreten fremd sein? • Andererseits kann den Vertriebsmitarbeitern nur dringend geraten werden, in den Marktanalysen fit zu sein. Und die Marketingarbeit bleibt ebenfalls ohne Kundenkontakte blutleer. • Dass der Vertrieb weniger Karriereperspektiven bietet, ist durch Fakten widerlegt. • CRM und Internet-Vertrieb fordern den Führungskräften im Vertrieb uneingeschränkt strategische Fähigkeiten ab. Operieren in einer Unternehmung Marketing und Vertrieb in getrennten Abteilungen, dann erledigt jeder Bereich seine typischen Aufgaben, wie das in einer arbeitsteiligen Wirtschaft so üblich ist. Es hängt von Führungsstil, Zielvorgaben und Schnittstellen-Management ab, wie Marketing und Vertrieb miteinander harmonieren. Der richtungsweisende und in diesem Buch wiederholt geäußerte Ausweg: Der Vertrieb sollte sich im Marketing gut auskennen. Die MobilCom beispielsweise verzichtet ganz auf eine Marketingabteilung. Der Vertrieb ist nach Servicechannels organisiert mit jeweils einem Gesamtverantwortlichen für die Produkte. Die Marketingaufgaben sind integriert. „Dadurch haben wir bei MobilCom nicht diesen berühmten Kampf zwischen Marketing und Vertrieb.“ (Interview von Drosten mit dem Vorstandsvorsitzenden der MobilCom, ASW 8/1999, S. 21). Der Hidden Champion Pöschl ist der Problematik schon seit Jahren dadurch ausgewichen, dass Marketing, Vertrieb und Logistik fest in der Hand eines Geschäftsleitungsmitgliedes liegen. Da dieser auch für Kundendienst und Logistik zuständig ist, wird bei Pöschl folglich schon über Jahre die CRM-Philosophie verfolgt. Die Würth-Gruppe legt die Verantwortung für Marketingaktionen in die Hand der Regionalvertriebe. Diese müssen eigene Marketingmaßnahmen aus ihrem operativen Ergebnis finanzieren. Folgende Trends beschleunigen das Verschwimmen der Grenzen zwischen den Bereichen Marketing und Vertrieb: (1) Immer mehr Hochschulabsolventen finden ihre Anfangsstellung im Vertrieb (wie eingangs dargestellt) und bringen ihre Marketingmotivation und ihr Marketingwissen aus der Hochschulausbildung dort ein. S. 1-22 Kap.1 22 25.03.03 16:55 Uhr Seite 22 Der Vertrieb im Rahmen von Unternehmensführung und Marketing (2) Die Märkte sind zunehmend gesättigt. Kunden werden anspruchsvoller. Anspruchsvolle Kundenbetreuung ohne Verknüpfung von Marketing- und Verkaufsfertigkeiten ist wohl kaum noch vorstellbar. (3) Die neuen computergestützten Systeme zur Marktbearbeitung integrieren alle kundenorientierten Prozesse und damit auch Marketing und Verkauf (CRM-Philosophie). Letztlich stoßen auch die Arbeitsplätze in den Marketingstäben zunehmend an Grenzen, während in deutschen Vertriebsorganisationen infolge eines Generationswechsels in den nächsten fünf Jahren noch ein erheblicher Personalbedarf zu erwarten ist. Zukünftige Marketingmitarbeiter werden daher erst Traineeprogramme und Projektperioden im Verkauf durchleben und ein Gespür für Märkte und Kunden entwickeln müssen, bevor Stabsstellen für sie frei werden. Diese Zeiten gemeinsamer „Frontend-Erfahrungen“ werden helfen, Verständnis für die Wünsche und Sorgen der Arbeitskollegen zu entwickeln, die täglich unter Umsatzdruck stehen. Dabei ist das Zusammenspiel von Marketing und Vertrieb in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen unterschiedlich ausgeprägt.