Paradigmenwechsel der Erkenntnistheorie Es ist derzeit ziemlich

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Paradigmenwechsel der Erkenntnistheorie
Es ist derzeit ziemlich populär (u.a. durch die Darstellungen von Tugendhat und Habermas),
den Gang der Geschichte der theoretischen Philosophie in drei Schritten zu beschreiben.
Danach waren Antike und Mittelalter Zeitalter der Metaphysik als erster Philosophie, mit
Descartes wäre dann das Zeitalter der Erkenntnistheorie (und Bewusstseinsphilosophie)
angebrochen und schließlich hätten Frege, Russell und Wittgenstein das Zeitalter der
Sprachphilosophie („linguistic turn“) und Logik eingeläutet, worin denn auch der historische
Gang der Philosophie schließlich kulminiert. Wenn man dieses Bild ernst nimmt, dann würde
die Erkenntnistheorie nicht zu den Hauptströmungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts
gehören. Ein oberflächlicher Blick auf die philosophischen Entwicklungen des gerade
vergangenen Jahrhunderts könnte dieser Einschätzung Recht geben. Die sprachanalytische
und die hermeneutische Philosophie, die beide die Philosophie des 20. Jahrhunderts über
weite Strecken dominiert haben, stimmen nämlich dahingehend überein, dass sie der Sprache
einen absoluten Vorrang einräumen. Die Sache verhält sich jedoch komplizierter. Tatsächlich
hat die Erkenntnistheorie durchgängig eine wichtige Rolle gespielt, sie hat nur eine Reihe von
Transformationen durchgemacht (Paradigmenwechsel erlebt), die zum einen die Rolle des
erkennenden Subjekts betreffen, zum anderen die Vorrangstellung der Erkenntnistheorie vor
allen Einzelwissenschaften.
Dass die Erkenntnistheorie eine dauerhafte Bedeutung für die theoretische Philosophie, aber
auch für das Wissenschaftsverständnis hat, wird deutlich, wenn man sich die Grundfragen
dieser Disziplin ansieht. Ich möchte im Folgenden zwischen den analytischen Fragen und den
substantiellen Fragen unterscheiden. Die Erkenntnistheorie versucht erstens zu klären, was
denn überhaupt Erkenntnis (Wissen, Rechtfertigung) ist und worin das erkenntnistheoretische
Ziel der Wahrheit besteht. Das ist der analytische Teil der Erkenntnistheorie. Die
Erkenntnistheorie versucht aber zweitens auch substantiell zu bewerten, welches die Quellen
menschlicher Erkenntnis sind (Erfahrung, Vernunft, bestimmte Schlußverfahren wie, neben
der Deduktion, Induktion oder SBE, Information durch Dritte etc.) und wie weit der Umfang
unserer
Erkenntnis
reicht.
Gerade
die
letzte
Frage
beinhaltet
traditionell
eine
Auseinandersetzung mit dem Skeptiker, der die Möglichkeit ins Spiel bringt, dass wir
keinerlei Erkenntnis haben. Beide Grundfragen der Erkenntnistheorie sind so fundamental für
das menschliche Wissen, dass man sie nicht einfach aufgeben kann und auch im 20.
Jahrhundert nicht aufgegeben hat.
1
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Erkenntnistheorie auf traditionelle Weise und vor
allem von den Neukantianern betrieben. Der leitende Grundgedanke war dabei der folgende:
Die empirischen Einzelwissenschaften (wie die Physik oder Biologie) verwenden Methoden
und operieren mit Voraussetzungen, die sie selbst nicht mehr rechtfertigen können. Die
Erkenntnistheorie hat die Aufgabe, diese Wissenschaften zu legitimieren und auf ein sicheres
Fundament zu stellen. Nach dieser Auffassung kommt der Erkenntnistheorie also ein
methodischer Primat gegenüber jeglichem Wissen und jeder Form von Wissenschaft zu. Die
Erkenntnistheorie ist deshalb auch unabhängig oder autonom gegenüber den Ergebnissen der
empirischen Einzelwissenschaften. Und die Erkenntnistheorie verwendet bei ihrer
Legitimation der Wissenschaften rein apriorische und unfehlbare Methoden der
Vernunfterkenntnis. Der Neukantianer Rudolf Eisler, der auch das berühmte Kant-Lexikon
verfasst hat, bringt es in seiner Einführung in die Erkenntnistheorie von 1907 auf den Punkt:
„Die Erkenntnistheorie ist souverän, sie schöpft ihre Gewissheit aus sich selbst, aus ihrer rein logischen
Tätigkeit, mittels welcher sie, in a priorischer Weise, die Grundbegriffe und Grundsätze der
Wissenschaften deduziert oder doch legitimiert.“
Und warum bedürfen die empirischen Wissenschaften überhaupt einer apriorischen
Legitimation? Die Argumentation für diese Auffassung geht einerseits auf Descartes und
andererseits auf Kant zurück. Nach Descartes müssen die wissenschaftlichen Methoden
allererst in ihrer Zuverlässigkeit gegen skeptische Zweifel gerechtfertigt werden, um Wissen
hervorzubringen. Wenn wir aber bei der Rechtfertigung der Zuverlässigkeit empirischer
Methoden auf diese selbst zurückgreifen würden, dann würden wir uns in einen inakzeptablen
Zirkel verstricken. Deshalb bedarf es einer apriorischen Metarechtfertigung empirischer
Methoden.
Nach Kant beruhen die empirischen Wissenschaften auf sachlichen Voraussetzungen, die sich
ihrerseits nicht empirisch rechtfertigen lassen. So setzt beispielsweise die Physik voraus, dass
alle Ereignisse kausal erklärbar sind, weil jedes Ereignis eine Ursache hat. Dieses allgemeine
Kausalprinzip kann jedoch nach Kant nicht durch Erfahrung gerechtfertigt werden, weil
Kausalität eine modale Kategorie ist (die Ursache erzwingt die Wirkung mit Notwendigkeit)
und die Erfahrung uns nur sagt, was ist, und nicht sagt, was notwendig ist. Die Wahrheit des
Kausalprinzips müssen wir deshalb nach Kant a priori erkennen. Wie ist das möglich? Für
Kant ist die gesamte ontologische Grundstruktur der erfahrbaren Welt einschließlich ihrer
kausalen Determiniertheit durch den reinen Verstand erkennbar, weil die erfahrbare Welt
selbst ein Produkt unserer Verstandestätigkeit ist. Das ist der Grundgedanke seines
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transzendentalen Idealismus: Die Welt ist nicht völlig unabhängig vom rationalen Subjekt,
sondern auf der Grundlage der Sinneseindrücke durch die spontane Tätigkeit des
menschlichen Verstandes geformt. Wenn das gilt, dann ist natürlich leicht einsehbar, wieso
wir aufgrund apriorischer Reflexion auf die Struktur unseres Verstandes die Grundstruktur der
Welt erkennen können.
Es ist der methodologische Apriorismus der traditionellen Erkenntnistheorie der auch eine
starke antipsychologische Implikation hat, die bereits bei Kant deutlich ist, von den
Neukantianern aber noch stärker betont wird. Wenn nämlich die Erkenntnistheorie rein apriori
argumentiert (also gewissermaßen aus dem Lehnstuhl reinen Nachdenkens), dann kann sie
nicht von der empirischen Psychologie abhängig sein, weil sie ja alle empirischen
Wissenschaften einschließlich der Psychologie erst in deren Recht einsetzt. Hören wir noch
einmal den bereits zitierten Rudolf Eisler:
Erkenntnistheorie ist nicht Psychologie, ist nicht Anwendung von Psychologie, hat Psychologie nicht
zur Grundlage, nicht zum Ausgangspunkt, ja nicht einmal als Hilfsmittel. (...) Die Psychologie, weit
entfernt, zur Grundlage der Erkenntnistheorie dienen zu können, setzt schon diese Wissenschaft oder
wenigstens die Geltung ihrer Sätze voraus, sie ist die Abhängige der Erkenntnistheorie.
In der frühen analytische Philosophie (also bei Frege, Russell, Wittgenstein, aber auch dem
im Umkreis des Wiener Kreises arbeitenden Popper) radikalisiert sich nun diese Tendenz des
Antipsychologismus in der Erkenntnistheorie und führt letztlich, so paradox das auch klingen
mag, zur Vertreibung des erkennenden Subjekts aus der Erkenntnistheorie. Dabei lässt man
sich von dem folgenden Gedanken leiten: In der Erkenntnistheorie geht es nicht (wie in der
Psychologie) um eine Beschreibung der Ursachen und Genese unserer Urteile über die Welt.
Auch schlechte Gründe und ungültige Argumente haben ihre Quellen und Ursachen. Die
normative Frage, ob die Gründe gut oder die Argumente gültig sind, lässt sich mit Rekurs auf
Fakten gar nicht beantworten. Beschreibung und Bewertung, Genese und Geltung sind
einfach zwei verschiedene Dinge. Das hat bereits Kant selbst betont, wenn er in seiner KrV
zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen unterscheidet. Nun enthält aber die traditionelle
Erkenntnistheorie zumindest einen Restpsychologismus, wenn sie von den Quellen der
Erkenntnis spricht, die Rolle von Wahrnehmungserlebnissen für die Erkenntnis betont oder
eine Analyse der Erkenntnisvermögen unternimmt. Selbst wenn diese Theorien von einem
transzendentalen und apriorischen Standpunkt sprechen, bleiben sie psychologische Theorien.
So lautet zumindest der Vorwurf. Strawson hat später mit Blick auf Kant von einer
transzendentalen Psychologie gesprochen.
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Die Väter der analytischen Philosophie (Frege, Russell und Wittgenstein) haben deshalb die
Spuren des Erkenntnissubjekts innerhalb der Erkenntnistheorie konsequent getilgt und, wenn
man so will, die Erkenntnistheorie auf die Logik und die Begriffsanalyse reduziert. Wenn die
Leistungen des erkennenden Subjekts in der Erkenntnistheorie nämlich keine Rolle mehr
spielen, dann bleiben nur die logisch-inferentiellen und die semantischen Eigenschaften der
Propositionen
(Gedankeninhalte)
als
einziger
Maßstab
für
erkenntnistheoretische
Adäquatheit. Popper hat mit Bezug auf diese Schwundstufe der Erkenntnistheorie von einer
„Erkenntnistheorie ohne erkennendem Subjekt“ gesprochen. Und zunächst sah es tatsächlich
so aus, als ob die Erkenntnistheorie in dieser logischen Verwandlung gerettet werden könnte.
Schließlich können wir doch Gründe und Argumente aufgrund ihrer logischen Eigenschaften
bewerten. Die Normen der Erkenntnis würden dann von den Regeln der Logik und nur von
ihnen vorgegeben und diese wären rein a priori erforschbar.
Wenn man die Erkenntnistheorie auf die rein formale Logik und die Begriffsanalyse reduziert,
dann lässt sich offenbar der traditionelle Status der Erkenntnistheorie als erster Philosophie
und apriorischem Fundament aller Wissenschaft aufrechterhalten. Daran hatten alle frühen
Vertreter der analytischen Philosophie ein starkes Interesse. Die Regeln der Logik bilden
offenbar einen minimalen Kanon von Normen, an denen sich Erkenntnis und Wissenschaft
generell orientieren muss. Die Regeln der Logik haben aber auch nichts mit Psychologie zu
tun. Das geht bereits daraus hervor, dass diese Regeln keine Naturgesetze des Denkens sind,
sondern einen normativ verbindlichen Status haben. (Naturgesetze, gegen die verstoßen wird,
sind keine Naturgesetze; Normen bleiben dagegen trotz eines Verstoßes gegen sie in Kraft; sie
sagen ja nicht, wie etwas ist, sondern wie es sein soll.) Deshalb lassen sich die Regeln der
Logik auch nicht empirisch untersuchen, sondern allein apriori erforschen. Der
methodologische Apriorismus, die Autonomie und das Primat der Erkenntnistheorie vor den
empirischen Wissenschaften waren damit gerettet. So schien es wenigstens.
Dabei sollte es jedoch nicht bleiben. Die analytische Philosophie hat nicht nur das erkennende
Subjekt aus der Erkenntnistheorie vertrieben und damit die traditionelle Erkenntnistheorie auf
Logik und Begriffsanalyse reduziert. Sie hat später auch die methodologische Apriorizität der
Philosophie (und auch der Logik) generell in Frage gestellt. Wegweisend dafür war die Kritik
des amerikanischen Philosophen Willard Quine an der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis,
die dieser mit zunehmendem Echo seit den 50er Jahren vorgebracht hat. Bis heute berühmt
und berüchtigt ist sein Aufsatz „Two Dogmas of Empiricism“ (1952), in dem er auch die
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letzten Refugien des Apriori, nämlich die Logik und die Begriffsanalyse, heftig attackiert. Ich
will hier nicht die Argumentation Quines im einzelnen nachzeichnen, sondern seine Kritik in
einen größeren Kontext der analytischen Kritik an der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis
stellen.
Nach der klassischen Auffassung, also der Auffassung Kants, ist die apriorische Erkenntnis
eine Verstandeserkenntnis unabhängig von der Erfahrung, die sich auf notwendige
Wahrheiten bezieht. Unabhängig von der Erfahrung ist diese Erkenntnis, wenn die
Rechtfertigung nicht auf irgendeine Erfahrung rekurriert, sondern aus dem reinen Denken
stammt. Bei den Gegenständen apriorischer Erkenntnis kann es sich um analytische
Wahrheiten (wahr aufgrund von Bedeutung und aufgrund der logischen Form) oder um
sachhaltige (synthetische) Wahrheiten über die Welt handeln. In beiden Fällen gilt,
wenigstens für Kant, dass apriorische Erkenntnisse unfehlbar sind. Es kann also nicht sein,
dass ich in einer Überzeugung apriori gerechtfertigt bin und mich dennoch täusche oder
nachträglich zu einer gerechtfertigten Revision meiner Überzeugung komme.
Es ist vor allem dieses Charakteristikum der Unfehlbarkeit apriorischer Erkenntnis, von dem
Quine und seine Anhänger behauptet haben, dass es unerfüllbar ist. (Quine ist natürlich nicht
der erste gewesen, der die generelle Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis betont hat. Auch
Pragmatisten wie Peirce und Dewey sowie Anhänger und Begleiter des Wiener Kreises wie
Neurath und Popper haben dieses menschliche Grundfaktum hervorgehoben.) Was ist an
dieser Kritik dran? Zunächst einmal zeigt der Fortschritt in den Grundlagen des
naturwissenschaftlichen Weltbildes, in der Mathematik und sogar in der Logik, dass alle
Überzeugungen, selbst solche, auf die wir allein durch Nachdenken gekommen sind, mit
guten Gründen revidierbar sind und sich nachträglich als falsch herausstellen können. Man
muss nur an die Revolution des naturwissenschaftlichen Weltbildes im Übergang von der
Newtonschen Physik zur Relativitätstheorie denken oder an die Überwindung der
Euklidischen Geometrie durch Riemann und Lobashevski im 19. Jahrhundert1 und später
durch Einstein oder die Revision der klassischen aristotelischen Logik durch die moderne
Quantorenlogik Freges. Wenn wir uns darüber hinaus die Erkenntnisansprüche der
Philosophie ansehen, so war die Metaphysik nicht nur vor Kant ein Schlachtfeld andauernder
Streitigkeiten, sondern ist es auch nach Kant, trotz seiner Erkenntniskritik geblieben. Auch
1
Angegriffen wurde in erster Linie Euklids Parallelenaxion, wonach es durch einen gegebenen Punkt genau eine
Parallele zu einer gegebenen Gerade gibt. Riemann dagegen: Es gibt keine Parallele. Lobashevski: Es gibt
mehrere Parallelen. Einstein: Der tatsächliche Raum ist gekrümmt.
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hier scheint es keine Methode apriorischer Erkenntnis zu geben, die die Wahrheit ihrer
Resultate garantieren kann. Schließlich kann man auch bei größter Sorgfalt und Konzentration
niemals
das
Auftreten
von
„Rechenfehlern“
im
Denken
ausschließen.
Der
Unfehlbarkeitsanspruch apriorischer Erkenntnis scheint mir durch diese Belege definitiv
widerlegt zu sein.
Es gibt noch einen zweiten Einwand gegen die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis, der nicht
von Quine selbst stammt, sondern von ganz unterschiedlichen Leuten zu verschiedenen Zeiten
einmal vorgebracht worden ist. Dieser Einwand besteht in dem folgenden Dilemma: Entweder
die Gegenstände apriorischer Erkenntnis (also die besagten notwendigen Wahrheiten) bilden
eine vom Subjekt und dessen Verstand unabhängige Welt – das wäre der Standpunkt des
modalen Realismus, den etwa Descartes eingenommen hat – oder die Gegenstände
apriorischer Erkenntnis sind subjektabhängig – das wäre der Standpunkt von Kants
transzendentalem Idealismus. Wenn der Realismus richtig ist, dann ist es mysteriös, ja
vollkommen unerklärlich, wie wir durch reines Nachdenken eine Welt erkennen können, die
zu uns in keinerlei kausaler Beziehung stehen kann. Wenn dagegen der transzendentale
Idealismus richtig ist, dann können wir im Grunde nur erkennen, was wir selbst in die Dinge
hineinlegen oder –projizieren. Wir können dann gerade nicht erkennen, wie die Dinge an sich
selbst sind. Doch dann können wir die apriorische Erkenntnis der Dinge selbst gar nicht
erklären. Auch die Kantische Erklärung wäre im Grunde nichts anderes als ein indirektes
Zugeständnis an den Skeptizismus.
Wenn das richtig ist, dann wäre die Konsequenz eine weitere Transformation der
Erkenntnistheorie. Die Erkenntnistheorie würde nun auch ihre Vorrangstellung vor den
empirischen Einzelwissenschaften einbüßen, weil gar kein apriorischer Standpunkt möglich
wäre, von dem aus die Einzelwissenschaften legitimiert werden könnten. Dieses Resultat lässt
unterschiedliche Interpretationen zu. Einen möglichen Standpunkt markiert Quines eigene
Position. Für ihn löst sich die philosophische Erkenntnistheorie auf. Was weiterhin möglich
ist, ist ein empirisch-wissenschaftlicher Kommentar zu den empirischen Wissenschaften. Für
Quine gibt es keinen unabhängigen Maßstab der empirischen Wissenschaften mehr. Die
Wissenschaften werden autonom und zum Maßstab ihrer selbst. Es bleibt kein Raum für eine
philosophische Erkenntnistheorie. Diese Position nennt man Szientismus. Eine andere
mögliche Reaktion ist der Skeptizismus. Wenn eine philosophisch-apriorische Rechtfertigung
der Voraussetzungen empirischen Wissens und empirischer Wissenschaften unmöglich ist,
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diese Voraussetzungen aber dennoch begründungsbedürftig sind und empirisch nicht
begründet werden können, dann muss man die Konsequenz ziehen, dass empirisches Wissen
unmöglich ist. Diese Konsequenz haben die sogenannten Neuen Skeptiker (Barry Stroud,
Thomas Nagel etc.) seit den späten 60er Jahren gezogen.
Wir
haben
mittlerweile
drei
unterschiedliche
erkenntnistheoretische
Standpunkte
kennengelernt. Erstens die Erkenntnistheorie als Fundament aller Wissenschaft (wie sie vor
allem vom Neukantianismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten wurde), zweitens der
Szientismus (bei dem es sich im Grunde um die Aufhebung der philosophischen
Erkenntnistheorie handelt) und drittens der Skeptizismus. Um herauszufinden, welcher
Standpunkt den Vorzug verdient und ob es vielleicht noch weitere Optionen gibt, möchte ich
jetzt noch einmal die Argumente gegen den Psychologismus und gegen die Möglichkeit
apriorischer Erkenntnis Revue passieren lassen.
Seit Ende der 60er Jahre ist es im Anschluß an einen weiteren wichtigen Aufsatz von Quine
über „Naturalistische Erkenntnistheorie“ wieder zu einer Re-Psychologisierung in der
Erkenntnistheorie gekommen. Wenn man so will, wurde das erkennende Subjekt
wiederentdeckt. Das Hauptargument gegen die Relevanz psychologischer Fakten für die
Erkenntnistheorie
(und
für
die
Vertreibung
des
erkennenden
Subjekts
aus
der
Erkenntnistheorie) lautete, dass die Beschreibung der Genese (der Quellen) einer
Überzeugung nicht aussagekräftig ist in Hinblick auf die erkenntnistheoretische Berechtigung
dieser Überzeugung. Ich kann nicht herausfinden, ob ein Grund gut ist oder ein Argument
gültig, indem ich untersuche, aus welcher Quelle der Grund oder das Argument stammt. Das
ist sicher richtig. Und insofern ist Quine über das Ziel hinausgeschossen, wenn er in seinem
Aufsatz dafür plädiert, die Erkenntnistheorie auf die Psychologie (heute würde man sagen: die
Kognitionspsychologie) zu reduzieren. Er hat damit die bewertende Perspektive der
traditionellen Erkenntnistheorie einfach über Bord geworfen. Deshalb hat man ihm zu Recht
einen Themenwechsel vorgeworfen. Doch das zeigt nur, dass psychologische Tatsachen
alleine nicht darüber entscheiden, ob ein Grund gut ist oder nicht. Es zeigt nicht, dass
psychologische Tatsachen erkenntnistheoretisch irrelevant sind. Seit Anfang der 70er Jahre
gibt es in der Erkenntnistheorie wieder eine zunehmende Anzahl von Anhängern des
Psychologismus in der Erkenntnistheorie, die auf Tatsachen der folgenden Art aufmerksam
machen:
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Es kann sein, dass jemand ein sehr gutes Argument für eine Position hat, von der er
überzeugt ist. Nehmen wir einmal an, er würde ein deduktiv gültiges Argument
kennen, dessen Prämissen ausnahmslos wahr sind. Nehmen wir weiter an, er würde
seine Überzeugung aber nicht haben, weil er über dieses gute Argument verfügt,
sondern aus einem reinen Vorurteil. Auch wenn es das gute Argument nicht gäbe,
würde er dennoch weiterhin von der Sache überzeugt sein. Dann würden wir sagen,
dass die Überzeugung der Person im vorliegenden Fall nicht gerechtfertigt ist. Ein
Beispiel kann das illustrieren: Der Rassist Rasso hat rassistisch motivierte Vorurteile
gegen eine bestimmte menschliche Rasse. Er glaubt deshalb unter anderem, dass diese
Rasse aus genetischen Gründen von einer furchtbaren Krankheit heimgesucht wird.
Aufgrund seines Interesses an der Krankheit wird Rasso später Arzt und findet dabei
überraschenderweise heraus, dass alle wissenschaftlichen Belege auf die Wahrheit
seiner Überzeugung hindeuten. Rasso erwirbt also gute Gründe für seine
Überzeugung, und dennoch halten wir diese Überzeugung nicht für gerechtfertigt, weil
diese guten Gründe nicht die Ursache für seine Überzeugung sind, sondern das
rassistische Vorurteil.
Ich denke, dieses Beispiel zeigt sehr schön, dass wir in der Erkenntnistheorie zunächst die
psychologisch wirksamen Prozesse der Meinungsbildung herausfinden müssen und erst dann
untersuchen können, ob diese Prozesse die Meinungen adäquat rechtfertigen können. Wir
müssen also zunächst die verantwortlichen Prozesse deskriptiv erfassen, bevor wir sie danach
bewerten können.
Umgekehrt zeigt sich sehr schnell, dass eine auf die Logik reduzierte Erkenntnistheorie
eindeutig in der Luft hängt. Die Logik kann zwar untersuchen, ob Argumente gültig sind.
Doch das ist nicht ausreichend, um zu zeigen, dass die Konklusion gerechtfertigt ist. Dafür
müssten auch die Prämissen gerechtfertigt sein. Wenn wir die Rechtfertigung generell nach
dem Bild der Argumentation verstehen, würden wir niemals dazu in die Lage versetzt werden,
positive Rechtfertigung zu verstehen, wir würden immer nur den Transfer der Rechtfertigung
von den Prämissen auf die Konklusion verstehen, ohne jemals einen Anfang zu erreichen.
Erkenntnistheoretische Autorität kann durch rein formale Relationen nicht hervorgebracht
werden. Es ist wie mit einem System der Wasserleitung, das so gigantisch und gut vernetzt
sein mag, wie es will, und dennoch kein Wasser spendet, solange nicht irgendwo welches
eingeleitet wird. Die Logik blendet also einen ganz entscheidenden Faktor jeder
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Rechtfertigung aus, nämlich die Quelle der Rechtfertigung, die nicht mehr nach dem Modell
der Argumentation verstanden werden kann.
Doch
wodurch
bekommt
ein
psychologischer
Prozess
der
Meinungsbildung
erkenntnistheoretische Autorität? Was macht einen psychologisch wirksamen Grund zu einem
guten Grund? Hier hat es in den letzten 30 Jahren eine weitere Revolution der Denkungsart
gegeben, die vor allem mit dem Namen des amerikanischen Philosophen Alvin Goldman
verbunden
ist.
Nach
der
herkömmlichen
Auffassung
werden
die
Prozesse
der
Meinungsbildung danach bewertet, ob sie die Normen der Rationalität erfüllen. Diese Normen
umfassen die deduktive und induktive Logik, die Entscheidungstheorie und vielleicht noch
andere erkenntnistheoretische Grundnormen. Sie haben einen intrinsisch verpflichtenden
Charakter. Goldman hat dagegen bestritten, dass es solche irreduziblen epistemischen
Normen gibt. Wonach wir in unseren Erkenntnisbemühungen wirklich streben ist primär die
Wahrheit. Wir wollen ein möglichst umfassendes korrektes Bild der Realität gewinnen.
Methoden und Prozesse, die diesem Ziel dienlich sind, sind wertvolle Mittel zu diesem Ziel.
Aber ihr Wert ist ihnen nicht immanent, sondern sie haben diesen Wert nur relativ zu der
Wahrheitsbilanz ihrer Resultate. Wenn man diesen Gedanken zuende denkt, dann sind
Quellen und Methoden der Meinungsbildung erkenntnistheoretisch gut, wenn sie zuverlässig
sind und d.h. wenn sie in den meisten Fällen wahre Meinungen hervorbringen. Meinungen,
die durch zuverlässige Prozesse gebildet werden, können wir dann als gerechtfertigt
bezeichnen.
Goldmans Ansatz hat weitreichende Konsequenzen. Wenn er Recht hätte, dann wäre die
objektive Zuverlässigkeit einer psychologisch wirksamen Methode von entscheidender
Bedeutung für deren epistemische Autorität. Die Zuverlässigkeitstheorie (Reliabilismus)
macht Faktoren für die Rechtfertigung relevant, die die subjektive Perspektive überschreiten.
Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang auch von einem erkenntnistheoretischen
Externalismus. Wenn das externalistische Bild der Rechtfertigung richtig ist, dann scheint es
aber auch ausreichend für die Rechtfertigung zu sein, wenn diese objektiven Bedingungen
und Voraussetzungen erfüllt sind. Die Subjekte müssen nicht auch noch ein Wissen darüber
haben, dass sie erfüllt sind.
Damit erweisen sich zwei Vorannahmen der traditionellen Erkenntnistheorie als falsch.
Erstens ist es eine Tatsachenfrage, ob Methoden und Verfahren rechtfertigen können. Es ist
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keine irreduzibel normative Frage. Wenn die fraglichen Methoden und Verfahren zuverlässig
zur Wahrheit führen, dann liefern sie eine Rechtfertigung für die auf sie gestützten
Meinungen. Man sieht nicht, warum man eine Untersuchung dieser Zuverlässigkeit nicht
prinzipiell auch empirisch durchführen könnte. Zweitens zeigt der Externalismus, dass es
genügt, wenn die Voraussetzungen der empirischen Erkenntnis und der empirischen
Wissenschaften tatsächlich erfüllt sind. Wenn sie erfüllt sind, dann liegt empirisches Wissen
vor. Dazu bedarf es keiner zusätzlichen philosophischen Rechtfertigung, dass diese
Voraussetzungen erfüllt sind. Und weil das so ist, ist der gesamte Bereich der empirischen
Erkenntnis auch nicht abhängig von einer philosophischen Legitimation. Wir müssen also
sorgfältig die verschiedenen Ebenen auseinanderhalten. Wissen erster Ordnung erfordert
nicht, dass man weiß, dass man weiß. Wäre das erforderlich, dann würde eine philosophische
Metarechtfertigung auch gar nichts nützen, weil sie ihrerseits einer höherstufigen
Metarechtfertigung bedürfte usw. Die ganze Idee von Wissen und Rechtfertigung würde in
sich zusammenfallen.
Allerdings ist Goldmans erkenntnistheoretischer Externalismus nicht auf ungeteilte
Zustimmung gestoßen. Internalisten behaupten, dass der Externalist unserem intuitiven
Verständnis von Rechtfertigung und Wissen nicht gerecht wird. Für sie müssen alle für die
Rechtfertigung relevanten Faktoren aus der Perspektive der ersten Person für das Subjekt
zugänglich sein. Aus der Sicht der Internalisten kann niemand gerechtfertigt sein, in dem
unwillkürlich Überzeugungen entstehen, die zwar objektiv zuverlässig sind, für deren
Wahrheit aus der Perspektive des Subjekts aber nichts spricht. Gegenwärtig hält diese
Kontroverse zwischen Externalisten und Internalisten weiter an.
In der gegenwärtigen Erkenntnistheorie lässt sich nicht nur eine Re-Psychologisierung
beobachten, sondern seit einiger Zeit erfreut sich auch die apriorische Erkenntnis einer
gewissen Rehabilitierung. Es wird nämlich zunehmend deutlicher, dass die beiden
Haupteinwände gegen die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis längst nicht so stark sind, wie
es zunächst aussah. Quine hatte eingewandt, dass es keine Überzeugungen gibt, die gegen
Revision aus rationalen Gründen oder Täuschung immun sind. Auch im Bereich des
vermeintlich apriorischen Wissens gibt es keine Wahrheitsgarantie. Deshalb gebe es keine
apriori gerechtfertigten Überzeugungen. Quines Einwand beruht offensichtlich auf der
Annahme, dass a priori gerechtfertigte Überzeugungen irrtumsimmun sein müssen. Ja, er
definiert die Apriorizität geradezu durch Irrtumsimmunität. Doch warum sollte es keine
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fehlbare Rechtfertigung a priori geben können? Kant definiert apriorische Erkenntnis als
erfahrungsunabhängige Erkenntnis aus reiner Vernunft. Er gibt also die Quelle der Erkenntnis
an. Sie stammt demnach nicht aus der sinnlichen Erfahrung, sondern aus dem menschlichen
Verstand – dem Denken. Wenn die These der Externalisten zuträfe, dann würde diese Quelle
Rechtfertigungskraft haben, wenn sie mehrheitlich wahre Überzeugungen hervorbringen
würde. Es besteht kein Anlass dafür, einen engeren Zusammenhang mit der Wahrheit im Falle
apriorischer Rechtfertigung zu verlangen.
Vielleicht liegt es nahe, für die apriorische Erkenntnis Unfehlbarkeit zu verlangen, weil sie
sich auf notwendige Wahrheiten bezieht. Doch wenn das der Grund für die Forderung der
Wahrheitsgarantie ist, dann ist es ein schlechter Grund. Notwendige Wahrheiten bilden
nämlich den Gegenstandsbereich apriorischer Erkenntnis. Sie handelt also von dem, was nicht
anders sein könnte. Aber auch das, was nicht anders sein könnte, kann man fehlbar erkennen.
Notwendig sind eben nur die Tatsachen, auf die sich dieses Wissen bezieht. Daraus lässt sich
nichts über den epistemischen Status der Rechtfertigung ableiten. Wenn man in der
Auffassung gerechtfertigt ist, dass etwas notwendig wahr ist, dann bedeutet das nicht, dass die
Gründe für die Wahrheit dieser Aufassung deren Wahrheit erzwingen. Und auch das
Umgekehrte gilt: Dass wir wahrheitsgarantierende Gründe haben (wie im Fall des Gedankens
„Ich denke, also bin ich“) bedeutet nicht, dass die Tatsache, von der wir wissen, notwendig
ist. Selbstverständlich wäre es auch möglich gewesen, dass ich nicht existiert hätte. Das wäre
beispielsweise der Fall gewesen, wenn meine Mutter im Krieg gestorben wäre, was
glücklicherweise nicht eingetreten ist.
Die Festellung der uneingeschränkten Fehlbarkeit des Menschen ist also kein guter Einwand
gegen die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis, weil auch ein fehlbares Apriori kein Unding
ist. Sehen wir uns jetzt noch den zweiten Einwand etwas genauer an. Er lautete, dass
apriorische Erkenntnis, wenn sie von einer objektiv von uns unabhängigen modalen Realität
handelt, mysteriös und unerklärlich ist. Doch trifft das tatsächlich zu? Das hängt zum einen
davon ab, welches Bild man sich von der modalen Realität macht. Ganz harte modale
Realisten, wie der kürzlich verstorbene David Lewis, stellen sich vor, dass es neben der
wirklichen (aktualen) Welt andere, raum-zeitlich und kausal abgetrennte Universen gibt, die
er mögliche Welten nennt. Etwas wäre notwendig wahr, wenn es in jeder dieser möglichen
Welten einschließlich der aktualen Welt wahr wäre. Auf der anderen Seite gibt es die
Essentialisten, die an Aristoteles anknüpfen, und die glauben, dass notwendige Eigenschaften
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von Dingen essentielle Eigenschaften von Dingen in unserer Welt sind. Für sie gibt es also
nicht andere, unabhängige mögliche Welten neben der wirklichen Welt. Nach dieser
Auffasung, für die sich gegenwärtig insbesondere Saul Kripke stark macht, stehen wir
zumindest mit den Trägern der essentiellen Eigenschaften in direktem Kontakt, weil sie Dinge
unserer wirklichen Welt sind. Die richtige Ontologie möglicher Welten macht unsere
Bezugnahme auf modale Tatsachen also vielleicht weniger rätselhaft. Aber selbst wenn wir in
keinen kausalen Kontakt mit den notwendigen Wahrheiten stehen, folgt daraus nicht, dass wir
sie nicht erkennen können. Sicher, wenn wir ein empirische Erkenntnis von einem
Gegenstand mittels der Wahrnehmung haben, dann verlangen wir eine kausale Wirkung
dieses Gegenstandes auf uns. Wir dürfen diese kausale Bedingung des Wahrnehmungswissens
jedoch nicht vorschnell verallgemeinern. Wer sagt denn, dass sie auch auf unser Wissen von
notwendigen Wahrheiten zutreffen müssen? Vielleicht machen wir hier einfach den Fehler,
das Modell des Wahrnehmungswissens auf andere Bereiche des Wissens zu übertragen.
Weder die allgemeine Fehlbarkeit des Menschen noch die fehlende kausale Wirksamkeit
notwendiger Wahrheiten auf uns stellen unüberwindliche Hindernisse für apriorische
Erkenntnis dar. Deshalb hat es in den letzten zwanzig Jahren eine gewisse Rehabilitierung des
Apriori sogar im Bereich der analytischen Philosophie gegeben. Allerdings sind nach wie vor
viele Fragen offen. Haben wir apriorisches Wissen nur von logischen, mathematischen und
begrifflichen Wahrheiten, wie die Logischen Empiristen behaupetet haben, oder auch über die
Welt, wie Kant meinte? Welcher psychologische Prozess liegt der Erkenntnis aus reiner
Vernunft zugrunde? Ist diese Erkenntnis rein begrifflich, spielen auch Anschauungen dabei
eine Rolle und welche Rolle spielen Intuitionen? Schließlich: Können wir die erwähnte
explanatorische Lücke schließen? Können wir irgendwie erklären, wie es möglich ist, dass
wir zuverlässige apriorische Einsichten haben?
Blicken wir noch einmal zurück auf die Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert.
Am Anfang stand die traditionelle Auffassung der Erkenntnistheorie als apriorischem
Fundament allen empirischen Wissens. Dabei verstand sich die Erkenntnistheorie zunächst als
Theorie des erkennenden Subjekts. In zwei Schritten hat die analytische Philosophie dieses
traditionelle
Bild
Antipsychologismus
der
zu
Erkenntnistheorie
einer
destruiert.
Vertreibung
des
Zunächst
erkennenden
führte
eine
Subjekts
aus
harter
der
Erkenntnistheorie. Danach wurde die philosophische Erkenntnistheorie ihrer Vorrangstellung
beraubt, weil die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis bestritten wurde. Seit den 60er Jahren
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ist es zunächst zu einer Wiederentdeckung es erkennenden Subjekts in der Erkenntnistheorie
gekommen. Psychologische Fragen wurden auch in ihrer Bedeutung für die Erkenntnistheorie
wieder ernster genommen. Schließlich ist es in den 80er Jahren auch zu einer Rehabilitierung
apriorischer Erkenntnis gekommen.
Ist die Erkenntnistheorie damit wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt? Ich glaube,
dieser Eindruck trügt. Natürlich wäre es falsch von der gegenwärtigen Erkenntnistheorie zu
sprechen. Im Zuge einer allgemeinen Renaissance der Erkenntnistheorie in den letzten 30
Jahren hat sich ein gewisser Pluralismus eingestellt. So gibt es gegenwärtig immer noch
Anhänger der traditionellen Erkenntnistheorie. Es gibt aber auch Szientisten und Naturalisten.
Selbst der Skeptizismus ist wieder salonfähig geworden. Dennoch sind inzwischen sehr viele
Erkenntnistheoretiker in Abgrenzung zur traditionellen Erkenntnistheorie der Auffassung,
dass das empirische Wissen und die empirischen Wissenschaften autonom sind. Sie bedürfen
keiner philosophischen Legitimation, um berechtigt zu sein. (Diese Auffassung setzt einen
mehr oder weniger externalistischen Standpunkt voraus.) Außerdem besteht ein relativ breiter
Konsens darüber, dass die Ergebnisse empirischer Wissenschaften (insbesondere der
Psychologie) für die Erkenntnistheorie relevant sind. Die Erkenntnistheorie ist also nicht
unabhängig von den empirischen Wissenschaften, sondern auf deren Kooperation
angewiesen.
Kann sich die Erkenntnistheorie unter diesen Bedingungen als eigenständige Disziplin
behaupten? Oder müssen wir die Erkenntnistheorie den empirischen Wissenschaften
überlassen? Ich glaube, dass man gerade in Anbetracht der gegenwärtigen Rehabilitierung
apriorischer Erkenntnis gute Gründe hat, die für die Eigenständigkeit der Erkenntnistheorie
sprechen. Die Erkenntnistheorie soll unter anderem die Fragen beantworten, was Wissen, was
Rechtfertigung und was Wahrheit ist. Wenn man diese Fragen beantworten will, dann gibt es
keine andere Methode als die apriorische Begriffsanalyse. Und die hat selbstverständlich
nichts mit empirischer Wissenschaft zu tun. Aber auch die substantielle Erkenntnistheorie
kann mit apriorischen Methoden betrieben werden. Wenn der Externalismus richtig ist, dann
bedürfen Methoden zwar keiner Metarechtfertigung, um rechtfertigen zu können. Und selbst
wenn wir untersuchen, ob Methoden erkenntnistheoretisch akzeptabel sind oder nicht, können
wir das normalerweise tun, indem wir ihre Zuverlässigkeit empirisch prüfen. Wenn wir
jedoch unsere grundlegenden Erkenntnisquellen (wie die Wahrnehmung, die Erinnerung, die
Induktion usw.) ganz allgemein auf ihre Tauglichkeit untersuchen wollen und nach einer
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unabhängigen Legitimation suchen, dann scheint dazu nur die apriorische Erkenntnis in der
Lage zu sein. Doch selbst in den Fällen, in denen wir unsere Erkenntnisfähigkeiten empirisch
untersuchen, können wir diese Arbeit an keine der bekannten empirischen Wissenschaften
delegieren, denn welche dieser Wissenschaften sollte für die Untersuchung der
Zuverlässigkeit der Quellen unserer Erkenntnis zuständig sein. Auch wenn die
Erkenntnistheorie also nicht mehr beansprucht, ein Fundament allen Wissens zu sein, und
auch wenn sie mit den empirischen Wissenschaften (vor allem der Kognitionspsychologie)
zusammenarbeiten muss, um die epistemisch relevanten kognitiven Prozesse des Menschen
zu identifizieren, so bleibt sie dennoch eine Disziplin mit eigenständigen Methoden und
einem spezifischen Gegenstandsbereich. Sie liefert uns einen unverzichtbaren Kommentar zu
den Wissenschaften und unseren Erkenntnisbemühungen im Allgemeinen. Sie hilft uns dabei,
unsere epistemische Situation in der Welt besser zu verstehen. Und im Idealfall kann sie sogar
dazu beitragen, unsere Erkenntnismethoden zu verbessern und zu schärfen.
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