Ideologie Parlamente und Parteien

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Marxistische Lesehefte 2
Erich Hahn
Ideologie
Ekkehard Lieberam
Parlamente und Parteien
Berlin 1998
Marxistische Lesehefte
Heft 2
ISBN 3-932725-40-9
Redaktion: Uwe-Jens Heuer, Harry Nick, Kurt Pätzold, Arnold Schölzel
Satz: Kurt Pätzold, Hans-Joachim Siegel
Herstellung: GNN Verlag Sachsen/Berlin GmbH
Badeweg 1, 04435 Schkeuditz
Tel.: (03 42 04) 6 57 11 FAX: (03 42 04) 6 58 93
Preis: 00,00 DM
Inhalt
Vorwort des Redaktionskollegiums
Ideologie
(eingeleitet und ausgewählt von Erich Hahn)
6
I. Einführung
II. Texte
9
9
13
1. Karl Marx über gesellschaftliche Grundlagen der Ideologie (1859)
13
2. Karl Marx/Friedrich Engels zur Entstehung ideologischer Vorstellungen
(1845/46)
13
3. Karl Marx über die „verkehrte“ Art und Weise, in der die Verhältnisse der
Warenproduktion sich im Bewußtsein der Warenproduzenten widerspiegeln
(1867)
16
4. Karl Marx über die „Verwandlung von Wert resp. Preis der Arbeitskraft in
Arbeitslohn“ als Beispiel für die Verschleierung wesentlicher, grundlegender Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft durch deren Oberfläche
(1867)
18
5. Friedrich Engels über die relative Selbständigkeit der Ideologien (1890) 20
6. Friedrich Engels zur Entstehung und Wirksamkeit ideologischer
Vorstellungen (1893)
22
7. Wladimir I. Lenin über die Vereinigung von wissenschaftlichem
Sozialismus und Arbeiterbewegung (1899)
24
8. Wladimir I. Lenin über die Quelle des politischen Bewußtseins (1901/02) 25
9. Wladimir I. Lenin über den wissenschaftlichen Sozialismus als Ideologie
(1902)
25
10. Nikolai J. Bucharin zum Begriff „Ideologie“ (1922)
25
11. Antonio Gramsci über unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffs
„Ideologie“
26
12. Max Horkheimer über Ideologie, absoluten Geist, Wahrheit (1951)
26
13. Theodor W. Adorno über die Dialektik der Ideologie (1954)
27
14. Ernst Bloch über Ideologie, Apologie, Betrug, Ideal, Symbol, Utopie,
Kultur. (1954/55)
28
15. Georg Lukács über Ideologien als „Vehikel zum Ausfechten gesellschaftlicher Konflikte“ (1964/68)
29
III.Literaturverzeichnis
Inhaltsv erze ic hnis
30
3
Parlamente und Parteien
(eingeleitet und ausgewählt von Ekkehard Lieberam)
32
I. Einführung
II. Texte
32
38
1. Karl Marx über die repräsentative Verfassung als Fortschritt (1843)
38
2. Wilhelm Wolff zum Konflikt zwischen Bürgertum und Monarchie (1847
38
3. Karl Marx über Parteien, Klassen und Herrschaft im März 1850.
Allgemeines Stimmrecht und Bourgeoisieherrschaft (1850)
38
4. Karl Marx über die parlamentarische Republik als Despotie einer Klasse,
als Umwälzungsform und als Form der Herrschaft der Gesamtbourgeoisie.
Einbildungen und wirkliche Interessen der Parteien (1851/52)
40
5. Karl Marx zur Kommune: nicht eine parlamentarische, sondern eine
arbeitende Körperschaft (1871)
41
6. Karl Marx für Arbeiter in die Parlamente (1871)
42
7. Karl Marx/Friedrich Engels zu entschiedener Opposition (1881)
42
8. Friedrich Engels über den parlamentarischen Kretinismus (1884)
42
9. Friedrich Engels für die Beachtung gegenwärtiger Bedürfnisse der Arbeiter
(1884)
43
10. Friedrich Engels über Parteien als Kartelle zur Ausbeutung der Staatsmacht (1891)
43
11. Friedrich Engels über Spießbürger in der Reichstagsfraktion (1892)
44
12. Friedrich Engels über das Schaukelspiel der die Bourgeoisieherrschaft
verewigenden Parteien (1892)
44
13. Friedrich Engels über die Bedeutung des Stimmenzuwachses (1893)
45
14. Karl Kautsky über Erfahrungen des Parlamentarismus in England. Das
Parlament als Werkzeug der Diktatur des Proletariats (1893)
45
15. Friedrich Engels über Erfahrungen mit dem allgemeinen Stimmrecht.
Reichstag als Tribüne (1895)
46
16. Eduard Bernstein über tatsächliche Teilhaberschaft als Ergebnis des
Wahlrechts (1899)
47
17. Rosa Luxemburg über Parlament und Regierung: Organ der Klassenkämpfe bzw. Organ mit innerer Homogenität (1902)
47
18. Rosa Luxemburg über den Rückgang der Bedeutung des Parlamentarismus
aufgrund sozialer Entwicklung (1904)
48
19. Rosa Luxemburg über Parlamentarismus als Nährboden des Opportunismus (1904)
48
20. August Bebel über scharfe Opposition als Hauptmethode parlamentarischer Arbeit (1908/1910)
49
21. Karl Kautsky über Ausnutzung der Differenzen zwischen den bürgerlichen
Parteien. Ablehnung einer Koalitionsregierung (1909)
50
4
Inhaltsverzeichnis
22. Rosa Luxemburg über die Ohnmacht der rein parlamentarischen Aktion
(1912)
50
23. Wladimir I. Lenin über die Suche der reaktionären Parteien nach Rückhalt
in den Massen (1913)
51
24. Rosa Luxemburg über außerparlamentarische Aktionen und
Parlamentarismus (1913)
51
25. Wladimir I. Lenin über die Unvermeidlichkeit der „bürgerlichen
Arbeiterpartei“ (1916)
52
26. Wladimir I. Lenin über die Republik als beste politische Hülle des Kapitalismus. Vertretungsköperschaften, aber keinen Parlamentarismus (1917) 52
27. Rosa Luxemburg über das Parlament und die Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen. Bürgerlicher Parlamentarismus und Klassenherrschaft
haben ihr Daseinsrecht verwirkt (1918)
53
28. Karl Kautsky über die Nationalversammlung und A- und S-Räte (1919) 54
29. Wolfgang Abendroth über den Funktionsverlust der Parlamente im Gesetzgebungsprozeß (1959)
55
30. Wolfgang Abendroth über Konsequenzen der Entwicklung des Parteienkampfes als Auswahl von Führungskadern (1962)
55
31. Reinhard Opitz über Monopolmacht, antimonopolistische Strategie und
Parlamente (1969)
56
32. Wolfgang Abendroth über Ursachen oppositioneller Strömungen in der
Sozialdemokratie (1977)
57
33. Ernest Mandel gegen Reduzierung des Klassenkampfes auf seinen
politisch-parlamentarischen Aspekt (1978)
57
III.Literaturverzeichnis
Inhaltsv erze ic hnis
58
5
Vorwort des Redaktionskollegiums
Im Aufruf „In großer Sorge“ hatten dessen Unterzeichner 1995 vor der Gefahr
einer Richtungsänderung der PDS gewarnt, die dem Anpassungsdruck nachgibt.
Die Unterzeichner forderten dagegen, „gemeinsam den Versuch zu unternehmen,
vernünftig, also radikal, Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren und dabei
für unsere Strategie das, was wir bei Marx Wichtiges und Richtiges gelernt
haben, nicht leichtfertig zugunsten neuer Moden über Bord zu werfen“1. Der Prozeß hat sich nicht mit der Schnelligkeit vollzogen, wie viele von uns damals
befürchteten, aber er geht weiter. Überwiegender Pragmatismus geht mit theoretischer Bedenkenlosigkeit einher.
Eine auf radikale Veränderung der bestehenden Verhältnisse zielende Strategie
der PDS bedarf unabdingbar entsprechender Theorie. Statt dessen werden auf
unterschiedlichem Niveau Teilaussagen der Modernetheorien mit marxistischen
Aussagen und tagespolitisch begründeten Forderungen kombiniert. Viele theoretisch Interessierte innerhalb und außerhalb der PDS finden sich dabei nicht
zurecht, sind sich unsicher, was von dem früher Gelernten denn heute noch gilt,
ob und inwieweit der Marxismus helfen könne, was denn heute Marxismus sei.
Der ständige Druck, „durch den Zusammenbruch des europäischen Sozialismus
ist der Marxismus, ist Marx widerlegt“, bleibt nicht ohne Wirkung. Manche
haben auch die Sehnsucht nach der Wiederherstellung eines geschlossenen
Denksystems (übrigens ist auch die heute verbreitete Ideologie weitgehend
geschlossen, ohne daß diese Geschlossenheit etwas mit theoretischem Anspruch
zu tun hat). Links-kritisch denkende Jugendliche suchen vergeblich nach einem
Zugang zu marxistischer Theorie.
Was ist in dieser Situation möglich, was könnte vielleicht das Marxistische Forum
leisten? Viele veröffentlichen Arbeiten, auch in unserer Schriftenreihe. Das aber
genügt diesen Anforderungen nicht. Eine theoretische Antwort auf unsere heutige Gesamtsituation kann niemand geben. Sieben Jahre nach einem solchen
Zusammenbruch ist das unmöglich. Erst muß sich der Staub dieses Zusammenbruchs gelegt haben, müssen die neuen Widersprüche voll sichtbar werden, ehe
überhaupt an eine solche Antwort herangegangen werden kann. Abendroth hatte
schon 1967 resignierend gesagt: „Wir müssen unsere Situation im wesentlichen
mit der Lage vergleichen, in welcher sich am Anfang des 19. Jahrhunderts Fourier oder Sismondi und solche Leute befunden haben.“2
Eine Lösung kann auch nicht in dem einfachen Rückgriff auf Karl Marx liegen,
was er denn wirklich gesagt habe, wie dies vor Jahrzehnten Ernst Fischer und
1
Aufruf „In großer Sorge”, 1995, in: Neues Deutschland vom 18. Mai 1995
2
Wolfgang Abendroth, Gespräche mit Georg Lukàcs, Reinbek 1967, S. 93
6
Vorwort
kürzlich Wolfgang Leonhard vornahmen. Hier handelt es sich um eine Reaktion
auf die marxistisch-lenininstische Orthodoxie, die gegenwärtiges politisches
Handeln unmittelbar aus den Aussagen der „Klassiker“ ableitete, in dem wirklich oder scheinbar entgegengesetzte Zitate aufgelesen wurden, das Werk von
Marx und Engels von der anderen Seite her als Steinbruch für Zitatenschlachten
benutzt wurde.
Was also könnte geschehen, um bei der marxistischen Aneignung der Gegenwart
zu helfen?
Ein Beitrag des Marxistischen Forums soll die gemeinsame Erarbeitung eines
„Marxistischen Lesebuchs“ sein. Das kann und darf keine Zusammenstellung
„richtiger“, also auch einander nicht widersprechender, Texte sein. Andererseits
können wir uns nicht auf die Darstellung der Methode beschränken, was ja hieße,
daß es keinerlei Ergebnisse mehr gäbe. Es muß marxistisches Denken in seiner
historischen Entwicklung und Widersprüchlichkeit erscheinen. Was aber ist
eigentlich marxistisches Denken?
Marxistisches Denken im Gefolge von Marx ist immer eingreifendes materialistisch-dialektisches Denken. Wir sagen der Welt nicht, schrieb Marx 1843 an
Ruge, „Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug, wir wollen dir die
wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, worum sie eigentlich
kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie
auch nicht will.“3 Praxisrelevanz der Theorie ist damit ebenso gemeint, wie die
Sicht der Theorie als integrales Moment der Praxis. Der Marxismus enthält damit
notwendig sowohl Aussagen über die Welt, über ihre Alternativen und Möglichkeiten wie normative Aussagen über Ziele. Das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Theorie und Politik steht im Mittelpunkt seines Interesses. Dem Marxismus wohnt damit notwendig die Frage nach dem Adressaten, nach dem Subjekt
der Veränderung inne. Das war zunächst die Arbeiterbewegung (Marx: „Wie die
Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen.4“, später mehr und mehr die Partei und der von
ihr dominierte Staat.
Diese Beziehung von Theorie und Subjekt hatte zwiespältige Folgen. Für den
Erfolg der Verbreitung mußte ein Preis bezahlt werden. Die Theorie wurde den
Interessen und dem Verständnis des Subjekts unterworfen. Im Dienste der Überzeugungskraft einer geschlossenen Weltanschauung (Lenin: „Die Lehre von Marx
ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch.“5
wurde der Marxismus immer stärker aus einem Paradigma, das stets an der sich
3
Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin 1978, S. 345
4
MEW, Bd. 1, Berlin 1978, S. 391
5
Lenin-Werke (LW), Bd. 19, Berlin 1981,S. 3
Vorwort
7
verändernden Wirklichkeit zu überprüfen war, zu einem alles erklärenden
Dogma, unterlag er den Gefahren der Ideologie. Das begann schon mit dem AntiDühring, setzte sich in den Schriften von Kautsky (dem Begründer des „Marxismus“) fort und erreichte seinen Höhepunkt unter Stalin.
Der Ausweg kann nicht sein, den Zusammenhang zwischen Theorie und gesellschaftlicher Praxis zu zerreißen. Er bleibt die Seele des Marxismus, war auch die
Grundlage seiner wissenschaftlichen Fruchtbarkeit. Der Ausweg kann nur in
einer konsequent historischen Sicht auf die eigene Geschichte und Gegenwart
liegen. Der Marxismus ist als theoretische Bewegung stets mit der sich verändernden Welt verknüpft, antwortet auf sie, korrigiert seine Antworten. Er ist zu
keinem Zeitpunkt ein geschlossenes System, sondern immer nur Antwort, besser
ein Feld von Antworten auf die Welt. Er steht nicht nur in Auseinandersetzung
mit der Welt, sondern stets auch in innerer Auseinandersetzung. Er unterliegt
damit immer auch der Gefahr irriger, unreifer und apologetischer Antworten,
bestimmt durch ungenügende Kenntnis, den Druck des Gegners, auch aber des
eigenen Dogmatismus.
Jedes neue marxistische Nachdenken muß bemüht sein, an die bisherige Gesamtentwicklung anzuknüpfen, frühere Auseinandersetzungen nicht zu wiederholen, aber fortzuführen. Ein vereinfachtes, primitives Geschichtsbild hat in vielen Fällen Kampfwillen und Kampfentschlossenheit gefördert. Es konnte aber
auch dazu führen, daß - im Vertrauen auf den ohnehin sicheren Sieg - vor dem
konkreten, immer unsicheren, Kampf zurückgewichen wurde. Es war dem
Marsch in der Kolonne dienlich, nicht aber dem eigenverantwortlichen, selbständigen Kampf. Vor allem aber, und das ist ja heute erschreckende Wirklichkeit,
führt die Niederlage dann zum ideellen Zusammenbruch. Der „Sieger der
Geschichte“ ist auf Niederlagen nicht vorbereitet, er ordnet sich der neuen
„objektiven Gesetzmäßigkeit“ unter.
Eine neue Aneignung des marxistischen Erbes könnte durch ein Marxistisches
Lesebuch unterstützt werden. Es soll auch unsere eigenen Fragen und Zweifel
widerspiegeln, die Diskussion herausfordern. Es enthält klassische Texte von
Marx ebenso wie von Engels, Texte von Kautsky, Bernstein, Luxemburg, Lenin,
Trotzki, Stalin, Lukàcs, Gramsci, Thalheimer bis zu Mandel u. a. (keine lebenden Autoren), Texte, die in ihrer Einheit und Widersprüchlichkeit den Reichtum
und die Probleme marxistischen Denkens zum Weiterdenken enthalten. Hauptkriterium der Auswahl ist theoretisches Niveau, Sprachgewalt und historische
Wirksamkeit.
Es werden zu etwa dreißig Begriffen Texte mit einer kurzen Einführung vorgelegt.
Dabei war Textzusammenstellung und Einführung Sache des jeweiligen Autors.
Sie erscheinen zunächst als Marxistische Lesehefte mit in der Regel zwei Begriffen. Später sollen sie als Buch veröffentlicht werden.
8
Vorwort
Ideologie
Eingeleitet und ausgewählt von Erich Hahn
I. Einführung
1. Unter einer Ideologie kann man eine Gesamtheit geistiger Anschauungen,
Ideen, Theorien, Normen, Werte und anderer Elemente verstehen, die
bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln,
der Lage, den Interessen und den Zielen bestimmter sozialer Gruppen - vor
allem Klassen - oder Strömungen Ausdruck verleihen,
auf die Erhaltung oder Veränderung gesellschaftlicher Zustände oder Ordnungen gerichtet sind und
praktische Verhaltensweisen oder Aktionen hervorrufen.
(Text 1, Text 10, Text 15).
2. Der ideologietheoretische Denkeinsatz von Marx und Engels bestand vor allem
darin, wesentliche Merkmale der bürgerlichen Ideologie aufzudecken, auf diese
Weise allgemeine Einsichten in die Struktur und Dynamik ideologischer Prozesse zu Tage zu fördern und so entscheidende ideologische Voraussetzungen zur
geschichtlichen Formierung der Arbeiterbewegung zu schaffen.
Natürlich stehen diese Leistungen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit
Grundpositionen der marxistischen Theorie. Sie stellen zugleich eine Fortführung
der französischen Aufklärung, der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie
und der Religionskritik Ludwig Feuerbachs dar.
Besonders zwei Einsichten sind zu nennen.
Zum einen die detaillierte Herleitung ideologischer Auffassungen aus dem materiellen Lebensprozeß der Gesellschaft und der geschichtlichen Praxis. (Text 2)
Von ausschlaggebender Bedeutung dafür, daß gesellschaftliche Gruppen sich
durch ein bestimmtes Selbstverständnis, durch ein mehr oder weniger klares
Bewußtsein von den Bedingungen und den Perspektiven ihrer Existenz sowie
durch eine spezifische Sicht auf das Ganze der Gesellschaft auszeichnen, ist ihre
objektiv gegebene Stellung in dem jeweiligen System ökonomischer und sozialer
Verhältnisse. In starkem Maße vermittelt, d.h. stimuliert, gefiltert oder kanalisiert werden diese Prozesse geistiger Realitätsaneignung durch die mit dieser
Stellung verbundenen Interessen.
Zu berücksichtigen ist natürlich der Zusammenhang zwischen der in diesem
Sinne determinierenden Rolle materieller Lebensverhältnisse und der geschichtlichen Praxis. Ideologien formieren sich nicht in einer abstrakten Konfrontation
bestimmter Subjekte mit ihren materiellen Lebensbedingungen sondern dadurch,
Einführung
9
daß ihre Interessen, Bestrebungen und Aktivitäten mit denen anderer in Konflikt
geraten, daß sie gezwungen sind, ihre Absichten und Aktionen gegenüber Gegnern und Konkurrenten zu rechtfertigen, zu begründen, zu verteidigen und
durchzusetzen. (Text 1).
Derartige Selbstverständigungsprozesse bzw. Auseinandersetzungen mit aktuellen Kontrahenden stehen darüberhinaus in einem zeitlichen Kontext. Stets geht
es darum, geschichtlich Überkommenes praktisch und geistig zu verarbeiten.
Auffassungen, die überholte Zustände legitimieren, werden aus dem Weg
geräumt. Zugleich ist es unumgänglich, sich der vorhandenen Ideen, Begriffe
und nicht zuletzt ihres sprachlichen oder künstlerischen Ausdrucks zu bedienen,
sich in den gegebenen geistigen Formen zu artikulieren.
Hervorzuheben ist zum anderen die Analyse der Verkehrungen und Verzerrungen, denen die Widerspiegelung des gesellschaftlichen Seins durch das gesellschaftliche Bewußtsein in bestimmten Prozeßen ideologischer Realitätsaneignung unterliegt. (Text 3, Text 4).
So groß die Rolle von Irrtum, Lüge und Betrug oder anderen subjektiven Faktoren bei der Erzeugung und Verbreitung falscher Auffassungen über ökonomische,
soziale oder politische Sachverhalte sein kann, entscheidend sind Widersprüche
in den objektiven Produktions- und Lebensverhältnissen selbst, sind Erscheinungen, die wesentliche Zusammenhänge verdecken, entstellen, einseitig oder
verzerrt wiedergeben. Von bleibender Bedeutung dafür sind vor allem Marx’ Darstellung des Warenfetischismus im ersten sowie seine Enthüllung der „Verwandlung von Wert resp. Preis der Arbeitskraft in Arbeitslohn“ im siebzehnten Kapitel des I.Bandes des „Kapital“. Ergänzt und umkleidet wird dies durch Untersuchungen zur Rolle der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Erfordernisse des
Klassenkampfes, der internen Logik geistiger Prozesse und anderer Faktoren.
(Text 5, Text 6).
3. Elemente der Marxschen Ideologietheorie und -begrifflichkeit wurden zu
Bestandteilen des wissenschaftlichen Fundus des zwanzigsten Jahrhunderts.
Weitergeführt und kritisch verarbeitet wurden sie u.a. in den Werken von Georg
Lukács, Antonio Gramsci und Leo Kofler, in den Debatten der Wissenssoziologie
(Karl Mannheim) und der Frankfurter Schule (Max Horkheimer, Theodor W.Adorno, Walter Benjamin, Herbert Marcuse) sowie durch bestimmte Aspekte der Psychoanalyse und der Systemtheorie.
Lenin und andere Theoretiker der russischen Arbeiterbewegung sahen sich im
Zusammenhang mit der Oktoberrevolution vor die Aufgabe gestellt, die wechselseitigen und widersprüchlichen Verbindungen von Ideologie, Massenbewußtsein
und Arbeiterbewegung zu analysieren und praktisch zu gestalten. (Text 7, Text 8,
Text 9).
10
Einführung
Das Scheitern der an den Prinzipien und Erfahrungen der Oktoberrevolution orientierten sozialistischen Systeme macht es zwingend erforderlich, diese Fragen
neu zu durchdenken und Tendenzen der Dogmatisierung und Realitätsblindheit
als Konsequenz der politischen Institutionalisierung ideologischer Prozeße entgegenzuwirken.
4. Seit Jahrzehnten unentschieden ist der Streit um die Frage, ob Ideologien in
jedem Falle falsches Bewußtsein darstellen oder ob es auch Ideologien gibt, auf
die dieses Merkmal nicht zutrifft, ob insofern der Ideologiebegriff ausschließlich
kritischen Charakter trägt oder auch ein neutraler Ideologiebegriff legitim ist, ob
die zahlreichen negativen Urteile über ideologische Prozesse von Marx und
Engels hauptsächlich der bürgerlichen Ideologie bzw. idealistischen, religiösen
oder ähnlichen Systemen gelten oder auf Ideologien generell zutreffen. (Text 11,
Text 12, Text 13, Text 14).
Die Herausarbeitung des falschen, des verkehrten und verkehrenden Charakters
ideologischer Vorstellungen hat zweifelsohne erhebliche Bedeutung. Die Aufbrechung von Selbsttäuschungen und Irrationalismen, der Nachweis von Nichtübereinstimmungen zwischen Meinungen und Tatsachen, ein realistisches Weltbild
und unverfälschte, wissenschaftlich gestützte Einsichten in gesellschaftliche
Zusammenhänge sind auch am Ende dieses Jahrhunderts unverzichtbar für Aufklärung und Emanzipation.
Andererseits ist davon auszugehen, daß die aktuelle und geschichtliche Wirksamkeit von Ideen, Theorien oder anderen geistigen Entwürfen niemals allein
von ihrem Wahrheitsgehalt abhängt. Zudem belegen zahlreiche Erfahrungen, daß
Ideologien in der Regel weder nur durch falsche noch nur durch wahre Auffassungen gekennzeichnet sind. Marx hat klassische Verkehrungsmechanismen
ideologischer Vorstellungen in der Neuzeit aufgedeckt. Konkrete Ideologien lassen sich jedoch keinesfalls auf diese Mechanismen und ihre Resultate reduzieren. In der bisherigen Geschichte waren Ideologien wesentlich zunächst Emanzipations- und dann Herrschaftswissen. Die Eigenart von Ideologien ist es, praktische Erfordernisse einer geschichtlichen Situation auszudrücken. Sie sind auf
die Erzielung von Handlungsfähigkeit und praktischer Aktion angelegt. Und der
Erfolg dieser Funktion hängt von einem angemessenen Realitätsbezug ab. Dieser
aber enthält mehr als die Wahrheitsrelation. Gefordert sind nicht nur der diskursive sondern beispielsweise auch der bildhaft-künstlerische Aufweis sich
abzeichnender Möglichkeiten und die adaequate Artikulation von Erfahrungen,
Bedürfnissen, Forderungen und Hoffnungen. Künftiges muß antizipiert, Normen
muß zur Geltung und Anerkennung verholfen werden. All das sind Realitätsbezüge, die sinnvoller Weise kaum nach dem Wahrheitskriterium beurteilt und
bewertet werden können.
Einführung
11
5. Die notwendige Reproduktion einer kritischen marxistischen Ideologietheorie
sieht sich mit gravierenden Problemen und Herausforderungen konfrontiert.
Erstens ist entgegen mehrfachen Voraussagen ein „Ende“ klassischer Ideologien
nicht absehbar. Das kann auch nicht anders sein, da Ideologien eine notwendige
Bewegungsform und Funktion geschichtlicher Widersprüche darstellen. Die
Situation ist zur Zeit dadurch gekennzeichnet, daß eine Reihe traditioneller Ideologien in modifizierter Gestalt auftreten und kontinuierlich oder sporadisch eine
zum Teil beträchtliche Wirkung zeitigen - sei es als geistige Grundlage von Massenbewegungen (islamischer Fundamentalismus) oder militanter Minderheiten
(Rassismus), als Legitimation politischer Konzepte (Nationalismus und christlicher Fundamentalismus) oder als Begründung und Rechtfertigung ökonomischer
Strategien (Neoliberalismus).
Zweitens ist eine entschiedene Ausweitung und Vermehrung objektiver Faktoren
festzustellen, die das ideologische Leben der gegenwärtigen Welt konstituieren
und die ideologische Herrschaft des Kapitals ausweiten. Marx’ Diktum vom
„stummen Zwang der Verhältnisse“ bezieht seine außergewöhnliche Relevanz
aus der demoralisierenden und disziplinierenden Wirkung der Massenarbeitslosigkeit ebenso wie aus der Rolle bestimmter Ästhetisierungsprozesse und der
Verankerung bestimmter Konsummuster als domierende Leitbilder für die
Lebensgestaltung in den entwickelten Industrieländern oder der manipulativen
Reproduktion kollektiver Psychosen in Ansehung zahlloser Staus und Barrieren
bei der Lösung drängender Gattungsprobleme.
Drittens. Marxistische Ideologietheorie bedarf der Verarbeitung der Resultate
moderner Medientheorien. Daß die gegenwärtig einsetzende Medienrevolution
mit Veränderungen der menschlichen Sinneswahrnehmung einhergeht, ist
unstrittig. Offen sind die Konsequenzen derartiger Veränderungen für die Realitätsverarbeitung als Ganzes und insofern für die geistige Struktur und die ideologische Stabilität - oder Brüchigkeit - sozialer Systeme.
Viertens. Das Kardinalproblem kritischer Ideologietheorie überhaupt besteht
möglicherweise darin, daß sich der Grundansatz klassischer Ideologiekritik,
falsches Bewußtsein durch Aufklärung aus der Welt zu schaffen, die Wirkung von
Ideologie dadurch aufzuheben, daß die Produktion und der Charakter von Ideologie durchschaubar gemacht werden, überlebt hat. Klarheit über die Mechanismen ideologischer Manipulation und Einsicht in die Verflechtung von Ideologie,
Interessen und Macht konnten deren Wirkung nicht beeinträchtigen oder überwinden. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt ideologischer Aktivität,
zwischen dem Betrüger und dem Betrogenen scheint fragwürdiger denn je.
12
Einführung
II. Texte
1. Karl Marx über gesellschaftliche Grundlagen der Ideologie
(1859)
Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen
und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr
Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die
materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist,
mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten.
Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der
Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß
man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu
konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und
den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen,
kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt
werden und ihn ausfechten.
(Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, Berlin 1961, S. 8
und 9)
2. Karl Marx/Friedrich Engels zur Entstehung ideologischer Vorstellungen (1845/46)
S.26: Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst
unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr
der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres
materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der
Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich
darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen,
Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch
eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formen hinauf. Das Bewußtsein kann
nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr
wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre
Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so
Texte
13
geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie
die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.
Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde
herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h. es wird nicht
ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen,
auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen,
um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den
wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß
auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen
behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbstständigkeit. Sie haben keine
Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser
ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. ...
S.31/32: Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke
an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem
Augenblicke an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres als
das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen,
ohne etwas Wirkliches vorzustellen - von diesem Augenblicke an ist das Bewußtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der „reinen“
Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. überzugehen. Aber selbst wenn diese
Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. in Widerspruch mit den bestehenden
Verhältnissen treten, so kann dies nur dadurch geschehen, daß die bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse mit der bestehenden Produktionskraft in Widerspruch getreten sind. ...
S.46: Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht
der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die
die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit
zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im
Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion
abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als
der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die
eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.
14
Te xt e
S.47/48: Löst man nun bei der Auffassung des geschichtlichen Verlaufs die
Gedanken der herrschenden Klasse von der herrschenden Klasse los, verselbständigt man sie, bleibt dabei stehen, daß in einer Epoche diese und jene Gedanken geherrscht haben, ohne sich um die Bedingungen der Produktion und um die
Produzenten dieser Gedanken zu bekümmern, läßt man also die den Gedanken
zugrunde liegenden Individuen und Weltzustände weg, so kann man z.B. sagen,
daß während der Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die Begriffe Ehre, Treue
etc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Freiheit, Gleichheit
etc. herrschten. Die herrschende Klasse selbst bildet sich dies im Durchschnitt
ein... Jede neue Klasse, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt,
ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d.h. ideell
ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die
einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen. Die revolutionierende Klasse tritt von vornherein, schon weil sie einer Klasse gegenübersteht, nicht als
Klasse, sondern als Vertreterin der Gesellschaft auf, sie erscheint als die ganze
Masse der Gesellschaft gegenüber der einzig herrschenden Klasse. Sie kann dies,
weil im Anfange ihr Interesse wirklich noch mehr mit dem gemeinschaftlichen
Interesse aller übrigen nichtherrschenden Klassen zusammenhängt, sich unter
dem Druck der bisherigen Verhältnisse noch nicht als besonderes Interesse einer
besonderen Klasse entwickeln konnte.
S.274: Je mehr die normale Verkehrsform der Gesellschaft und damit die Bedingungen der herrschenden Klasse ihren Gegensatz gegen die fortgeschrittene Produktionsweise entwickeln, je größer daher der Zwiespalt in der herrschenden
Klasse selbst und mit der beherrschten Klasse wird, desto unwahrer wird natürlich das dieser Verkehrsform ursprünglich entsprechende Bewußtsein, d.h. es
hört auf, das ihr entsprechende Bewußtsein zu sein, desto mehr sinken die früheren überlieferten Vorstellungen dieser Verkehrsverhältnisse, worin die wirklichen
persönlichen Interessen ppp. als allgemeine ausgesprochen werden, zu bloß idealisierenden Phrasen, zur bewußten Illusion, zur absichtlichen Heuchelei herab.
Je mehr sie aber durch das Leben Lügen gestraft werden und je weniger sie dem
Bewußtsein selbst gelten, desto entschiedner werden sie geltend gemacht, desto
heuchlerischer, moralischer und heiliger wird die Sprache dieser normalen
Gesellschaft.
S.405: „Beruf, Bestimmung, Aufgabe, Ideal“ sind...entweder
1. die Vorstellung von den revolutionären Aufgaben, die einer unterdrückten
Klasse materiell vorgeschrieben sind; oder
2. bloße idealistische Paraphrasen oder auch entsprechender bewußter Ausdruck
der durch die Teilung der Arbeit zu verschiedenen Geschäften verselbständigten
Betätigungsweisen der Individuen; oder
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3. der bewußte Ausdruck der Notwendigkeit, in der Individuen, Klassen, Nationen sich jeden Augenblick befinden, durch eine ganz bestimmte Tätigkeit ihre
Stellung zu behaupten: oder
4. die in den Gesetzen, der Moral pp. ideell ausgedrückten Existenzbedingungen
der herrschenden Klasse (bedingt durch die bisherige Entwicklung der Produktion), die von ihren Ideologen mit mehr oder weniger Bewußtsein theoretisch verselbständigt werden, in dem Bewußtsein der einzelnen Individuen dieser Klasse
als Beruf pp. sich darstellen können und den Individuen der beherrschten Klasse als Lebensnorm entgegengehalen werden, teils als Beschönigung oder
Bewußtsein der Herrschaft, teils als moralisches Mittel derselben. Hier, wie
überhaupt bei den Ideologen, ist zu bemerken, daß sie die Sache notwendig auf
den Kopf stellen und ihre Ideologie sowohl für die erzeugende Kraft wie für den
Zweck aller gesellschaftlichen Verhältnisse ansehen, während sie nur ihr Ausdruck und Symptom sind.
(Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, Berlin 1958,
S. 26, 31-32, 46, 47-48, 274, 405)
3. Karl Marx über die „verkehrte“ Art und Weise, in der die
Verhältnisse der Warenproduktion sich im Bewußtsein der
Warenproduzenten widerspiegeln (1867)
S.85-87: Der mystische Charakter der Ware entspringt also nicht aus ihrem
Gebrauchswert. Er entspringt ebensowenig aus dem Inhalt der Wertbestimmungen. Denn erstens, wie verschieden die nützlichen Arbeiten oder produktiven
Tätigkeiten sein mögen, es ist eine physiologische Wahrheit, daß sie Funktionen
des menschlichen Organismus sind, und daß jede solche Funktion, welches
immer ihr Inhalt und ihre Form, wesentlich Verausgabung von menschlichem
Hirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw. ist. Was zweitens der Bestimmung der
Wertgröße zugrunde liegt, die Zeitdauer jener Verausgabung oder die Quantität
der Arbeit, so ist die Quantität sogar sinnfällig von der Qualität der Arbeit unterscheidbar. In allen Zuständen mußte die Arbeitszeit, welche die Produktion der
Lebensmittel kostet, den Menschen interessieren, obgleich nicht gleichmäßig auf
verschiedenen Entwicklungsstufen. Endlich, sobald die Menschen in irgendeiner
Weise füreinander arbeiten, erhält ihre Arbeit auch eine gesellschaftliche Form.
Woher entspringt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es
Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst. Die Gleichheit der
menschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte,
endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestim-
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mungen ihrer Arbeiten bestätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte.
Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche
Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften
dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches
Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. So stellt sich
der Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz des
Sehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dings außerhalb des
Auges dar. Aber beim Sehen wird wirklich Licht von einem Ding, dem äußeren
Gegenstand, auf ein andres Ding, das Auge, geworfen. Es ist ein physisches Verhältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen
Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu
schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen
selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von
Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen
Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der
menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher der Warenproduktion unzertrennlich ist.
Dieser Fetischcharakter der Warenwelt enspringt, wie die vorhergehende Analyse bereits gezeigt hat, aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der
Arbeit, welche Waren produziert.
Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte voneinander unabhängig betriebner Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produuzenten erst in
gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte,
erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in
der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittelst derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar
gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern
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vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.
S.89-90: Das Nachdenken über die Formen des menschlichen Lebens, also auch
ihre wissenschaftliche Analyse, schlägt überhaupt einen der wirklichen Entwicklung entgegengesetzten Weg ein. Es beginnt post festum und daher mit den
fertigen Resultaten des Entwicklungsprozesses. Die Formen, welche Arbeitsprodukte zu Waren stempeln und daher der Warenzirkulation vorausgesetzt sind,
besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens,
bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen, nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt. So war es nur die Analyse der Warenpreise, die
zur Bestimmung der Wertgröße, nur der gemeinschaftliche Geldausdruck der
Waren, der zur Fixierung ihres Wertcharakters führte. Es ist aber eben diese fertige Form - die Geldform - der Warenwelt, welche den gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen Verhältnisse der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren. Wenn ich sage, Rock,
Stiefel usw. beziehen sich auf Leinwand als die allgemeine Verkörperung
abstrakter menschlicher Arbeit, so springt die Verrücktheit dieses Ausdrucks ins
Auge. Aber wenn die Produzenten von Rock, Stiefel usw. diese Waren auf Leinwand - oder auf Gold und Silber, was nichts an der Sache ändert - als allgemeines Äquivalent beziehn, erscheint ihnen die Beziehung ihrer Privatarbeiten zu
der gesellschaftlichen Gesamtarbeit genau in dieser verrückten Form.
Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es
sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion.
(Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 85-87, 89-90)
4. Karl Marx über die „Verwandlung von Wert resp. Preis der
Arbeitskraft in Arbeitslohn“ als Beispiel für die Verschleierung
wesentlicher, grundlegender Verhältnisse der bürgerlichen
Gesellschaft durch deren Oberfläche (1867)
S.557: Auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Lohn des
Arbeiters als Preis der Arbeit, ein bestimmtes Quantum Geld, das für ein
bestimmtes Quantum Arbeit gezahlt wird.
S.559/560: Was dem Geldbesitzer auf dem Warenmarkt direkt gegenübertritt, ist
in der Tat nicht die Arbeit, sondern der Arbeiter. Was letztrer verkauft, ist seine
Arbeitskraft. Sobald seine Arbeit wirklich beginnt, hat sie bereis aufgehört, ihm
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zu gehören, kann also nicht mehr von ihm verkauft werden. Die Arbeit ist die
Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert.
Im Ausdruck: „Wert der Arbeit“ ist der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöscht,
sondern in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ein imaginärer Ausdruck, wie etwa
Wert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch aus den Produktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen
wesentlicher Verhältnisse. Daß in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrt
darstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt, außer in der politischen
Ökonomie.
Die klassische politische Ökonomie entlehnte dem Alltagsleben ohne weitere
Kritik die Kategorie „Preis der Arbeit“, um sich dann hinterher zu fragen, wie
wird dieser Preis bestimmt?.
S.560/561: Aber was sind die Produktionskosten - des Arbeiters, d.h. die Kosten,
um den Arbeiter selbst zu produzieren oder zu reproduzieren? Diese Frage schob
sich der politischen Ökonomie bewußtlos für die ursprüngliche unter, da sie mit
den Produktionskosten der Arbeit als solcher sich im Kreise drehte und nicht
vom Flecke kam. Was sie also Wert der Arbeit... nennt, ist in der Tat der Wert der
Arbeitskraft, die in der Persönlichkeit des Arbeiters existiert, und von ihrer
Funktion, der Arbeit, ebenso verschieden ist, wie eine Maschine von ihren Operationen. ...
Da der Wert der Arbeit nur ein irrationeller Ausdruck für den Wert der Arbeitskraft, ergibt sich von selbst, daß der Wert der Arbeit stets kleiner sein muß als
ihr Wertprodukt, denn der Kapitalist läßt die Arbeitskraft stets länger funktionieren als zu Reproduktion ihres eignen Werts nötig ist.
S.562/63: Die Form des Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung des
Arbeitstags in notwendige Arbeit und Mehrarbeit, in bezahlte und unbezahlte
Arbeit aus. Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit. Bei der Fronarbeit unterscheiden sich räumlich und zeitlich, handgreiflich sinnlich, die Arbeit des Fröners für sich selbst und seine Zwangsarbeit für den Grundherrn. Bei der Sklavenarbeit erscheint selbst der Teil des Arbeitstags, worin der Sklave nur den Wert
seiner eignen Lebensmittel ersetzt, den er in der Tat also für sich selbst arbeitet,
als Arbeit für seinen Meister. Alle seine Arbeit erscheint als unbezahlte Arbeit.
Bei der Lohnarbeit erscheint umgekehrt selbst die Mehrarbeit oder unbezahlte
Arbeit als bezahlt. Dort verbirgt das Eigentumsverhältnis das Fürsichselbstarbeiten des Sklaven, hier das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters.
Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und
Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der
Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des
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Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.
Braucht die Weltgeschichte viele Zeit, um hinter das Geheimnis des Arbeitslohns
zu kommen, so ist dagegen nichts leichter zu verstehn als die Notwendigkeit...dieser Erscheinungsform.
Der Austausch zwischen Kapital und Arbeit stellt sich der Wahrnehmung
zunächst ganz in derselben Art dar wie der Kauf und Verkauf aller andren Waren.
Der Käufer gibt eine gewisse Geldsumme, der Verkäufer einen von Geld verschiednen Artikel. Das Rechtsbewußtsein erkennt hier höchstens einen stofflichen Unterschied...Daß dieselbe Arbeit nach einer andren Seite hin allgemeines
wertbildendes Element ist, eine Eigenschaft, wodurch sie sich von allen andren
Waren unterscheidet, fällt außerhalb des Bereichs des gewöhnlichen Bewußtseins.
S.564: Übrigens gilt von der Erscheinungsform „Wert und Preis der Arbeit“ oder
„Arbeitslohn“, im Unterschied zum wesentlichen Verhältnis, welches erscheint,
dem Wert und Preis der Arbeitskraft, dasselbe, was von allen Erscheinungsformen und ihrem verborgnen Hintergrund. Die ersteren reproduzieren sich unmittelbar spontan, als gang und gäbe Denkformen, der andre muß durch die Wissenschaft erst entdeckt werden. Die klassische politische Ökonomie stößt
annähernd auf den wahren Sachverhalt, ohne ihn jedoch bewußt zu formulieren.
Sie kann das nicht, solange sie in ihrer bürgerlichen Haut steckt.
(Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 557, 559-560,
560-561, 562-563, 564)
5. Friedrich Engels über die relative Selbständigkeit der Ideologien
(1890)
S.490: Die Sache faßt sich am leichtesten vom Standpunkt der Teilung der
Arbeit. Die Gesellschaft erzeugt gewisse gemeinsame Funktionen, deren sie nicht
entraten kann. Die hierzu ernannten Leute bilden einen neuen Zweig der Teilung
der Arbeit innerhalb der Gesellschaft. Sie erhalten damit besondre Interessen
auch gegenüber ihren Mandataren, sie verselbständigen sich ihnen gegenüber,
und - der Staat ist da. Und nun geht es ähnlich wie beim Warenhandel und später beim Geldhandel: die neue selbstände Macht hat zwar im ganzen und großen
der Bewegung der Produktion zu folgen, reagiert aber auch, kraft der ihr innewohnenden, d.h. ihr einmal übertragnen und allmählich weiterentwickelten relativen Selbständigkeit, wiederum auf die Bedingungen und den Gang der Produktion. Es ist Wechselwirkung zweier ungleicher Kräfte, der ökonomischen Bewegung auf der einen, der nach möglichster Selbständigkeit strebenden und, weil
einmal eingesetzten, auch mit einer Eigenbewegung begabten neuen politischen
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Macht; die ökonomische Bewegung setzt sich im ganzen und großen durch, aber
sie muß auch Rückwirkung erleiden von der durch sie selbst eingesetzten und
mit relativer Selbständigkeit begabten politischen Bewegung, der Bewegung
einerseits der Staatsmacht, andrerseits der mit ihr gleichzeitig erzeugten Opposition. Wie im Geldmarkt sich die Bewegung des Industriemarkts im ganzen und
großen, und unter oben angedeuteten Vorbehalten, widerspiegelt, und natürlich
verkehrt, so spiegelt sich im Kampf zwischen Regierung und Opposition der
Kampf der vorher schon bestehenden und kämpfenden Klassen wider, aber ebenfalls verkehrt, nicht mehr direkt, sondern indirekt, nicht als Klassenkampf, sondern als Kampf um politische Prinzipien, und so verkehrt, daß es Jahrtausende
gebracht hat, bis wir wieder dahinterkamen.
S.491/492: Mit dem Jus ist es ähnlich: Sowie die neue Arbeitsteilung nötig wird,
die Berufsjuristen schafft, ist wieder ein neues, selbständiges Gebiet eröffnet,
das bei aller seiner allgemeinen Abhängigkeit von der Produktion und dem Handel doch auch eine besondre Reaktionsfähigkeit gegen diese Gebiete besitzt. In
einem modernen Staat muß das Recht nicht nur der allgemeinen ökonomischen
Lage entsprechen, ihr Ausdruck sein, sondern auch ein in sich zusammenhängender Ausdruck, der sich nicht durch innere Widersprüche selbst ins Gesicht
schlägt. Und um das fertigzubringen, geht die Treue der Abspiegelung der ökonomischen Verhältnisse mehr und mehr in die Brüche. ...
Die Widerspieglung ökonomischer Verhältnisse als Rechtsprinzipien ist notwendig ebenfalls eine auf den Kopf stellende: Sie geht vor, ohne daß sie den Handelnden zum Bewußtsein kommt, der Jurist bildet sich ein, mit aprioristischen
Sätzen zu operieren, während es doch nur ökonomische Reflexe sind - so steht
alles auf dem Kopf. Und daß diese Umkehrung, die, solange sie nicht erkannt ist,
das konstituiert, was wir ideologische Anschauung nennen, ihrerseits wieder auf
die ökonomische Basis zurückwirkt und sie innerhalb gewisser Grenzen modifizieren kann, scheint mir selbstverständlich.
S.492/493: Was nun die noch höher in der Luft schwebenden ideologischen
Gebiete angeht, Religion, Philosophie etc., so haben diese einen vorgeschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundnen und übernommnen Bestand
von - was wir heute Blödsinn nennen würden. Diesen verschiednen falschen Vorstellungen von der Natur, von der Beschaffenheit des Menschen selbst, von Geistern, Zauberkräften etc. liegt meist nur negativ Ökonomisches zugrunde; die
niedrige ökonomische Entwicklung der vorgeschichtlichen Periode hat zur
Ergänzung, aber auch stellenweise zur Bedingung und selbst Ursache, die
falschen Vorstellungen von der Natur. Und wenn auch das ökonomische Bedürfnis die Haupttriebfeder der fortschreitenden Naturerkenntnis war und immer
mehr geworden ist, so wäre es doch pedantisch, wollte man für all diesen urzuständlichen Blödsinn ökonomische Ursachen suchen. Die Geschichte der Wis-
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senschaften ist die Geschichte der allmählichen Beseitigng dieses Blödsinns,
respektive seiner Ersetzung durch neuen, aber immer weniger absurden Blödsinn. Die Leute, die dies besorgen, gehören wieder besondern Sphären der Teilung der Arbeit an und kommen sich vor, als bearbeiteten sie ein unabhängiges
Gebiet. Und insofern sie eine selbständige Gruppe innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bilden, insofern haben ihre Produktionen, inklusive ihrer
Irrtümer, einen rückwirkenden Einfluß auf die ganze gesellschaftliche Entwicklung, selbst auf die ökonomische. Aber bei alledem stehn sie selbst wieder unter
dem beherrschenden Einfluß der ökonomischen Entwicklung. Z.B. in der Philosophie läßt sich dies am leichtesten für die bürgerliche Periode nachweisen.
Hobbes war der erste moderne Materialist (im Sinne des 18.Jahrhunderts), aber
Absolutist zur Zeit, wo die absolute Monarchie in ganz Europa ihre Blütezeit
hatte und in England den Kampf mit dem Volk aufnahm. Locke war in Religion
wie Politik der Sohn des Klassenkompromisses von 1688. Die englischen Deisten
und ihre konsequenten Fortsetzer, die französischen Malterialisten, waren die
echten Philosophen der Bourgeoisie, die Franzosen sogar der bürgerlichen Revolution. In der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel geht der deutsche
Spießbürger durch - bald positiv, bald negativ. Aber als bestimmtes Gebiet der
Arbeitsteilung hat die Philosophie jeder Epoche ein bestimmtes Gedankenmaterial zur Voraussetzung, das ihr von ihren Vorgängern überliefert worden und
wovon sie ausgeht. ... Die schließliche Suprematie der ökonomischen Entwicklung auch über diese Gebiete steht mir fest, aber sie findet statt innerhalb der
duch das einzelne Gebiet selbst vorgeschriebnen Bedingungen: in der Philosophie z.B. durch Einwirkung ökonomischer Einflüsse (die meist wieder erst in
ihrer politischen usw. Verkleidung wirken) auf das vorhandne philosophische
Material, das die Vorgänger geliefert haben. Die Ökonomie schafft hier nichts a
novo, sie bestimmt aber die Art der Abänderung und Fortbildung des vorgefundnen Gedankenstoffs, und auch das meist indirekt, indem es die politischen, juristischen, moralischen Reflexe sind, die die größte direkte Wirkung auf die Philosophie üben.
(Friedrich Engels, F. Engels an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890, MEW, Bd. 37,
Berlin 1967, S. 490, 491-492, 492-493)
6. Friedrich Engels zur Entstehung und Wirksamkeit ideologischer
Vorstellungen (1893)
Sonst fehlt nur noch ein Punkt, der aber auch in den Sachen von Marx und mir
regelmäßig nicht genug hervorgehoben ist und in Beziehung auf den uns alle
gleiche Schuld trifft. Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die
Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen
und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen
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Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle
Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen. Das hat denn den Gegnern willkommnen Anlaß zu
Mißverständnissen resp. Entstellungen gegeben. ...
Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker
vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. Er imaginiert sich also falsche resp. scheinbare Triekbräfte. Weil
es ein Denkprozeß ist, leitet er seinen Inhalt wie seine Form aus dem reinen Denken ab, entweder seinem eignen oder dem seiner Vorgänger. Er arbeitet mit
bloßem Gedankematerial, das er unbesehen als durchs Denken erzeugt hinnimmt
und sonst nicht weiter auf einen entfernteren, vom Denken unabhängigen
Ursprung untersucht, und zwar ist ihm dies selbstverständlich, da ihm alles Handeln, weil durchs Denken vermittelt, auch in letzter Instand im Denken begründet erscheint.
Der historische Ideolog (historisch soll hier einfach zusammenfassend stehn für
politisch, juristisch, philosophisch, theologisch, kurz für alle Gebiete, die der
Gesellschaft angehören und nicht bloß der Natur) - der historische Ideolog hat
also auf jedem wissenschaftlichen Gebiet einen Stoff, der sich selbständig aus
dem Denken früherer Generationen gebildet und im Gehirn dieser einander folgenden Generationen eine selbständige, eigne Entwicklungsweise durchgemacht
hat. Allerdings mögen äußere Tatsachen, die dem einen oder andren Gebiete
angehören, mitbestimmend auf diese Entwicklung eingewirkt haben, aber diese
Tatsachen sind nach der stillschweigenden Voraussetzung ja selbst wieder bloße
Früchte eines Denkprozesses, und so bleiben wir immer noch im Bereich des
bloßen Denkens, das selbst die härtesten Tatsachen anscheindend glücklich verdaut hat.
Es ist dieser Schein einer selbständigen Geschichte der Staatsverfassungen, der
Rechtssysteme, der ideologischen Vorstellungen auf jedem Sondergebiet, der die
meisten Leute vor allem blendet. Wenn Luther und Calvin die offizielle katholische Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau indirekt mit seinem
republikanischen „Contrat social“ den konstitutionellen Montesquieu „überwindet“, so ist das ein Vorgang, der innerhalb der Theologie, der Philosophie, der
Staatswissenschaft bleibt, eine Etappe in der Geschichte dieser Denkgebiete darstellt und gar nicht aus dem Denkgebiet herauskommt. Und seitdem die bürgerliche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit der kapitalistischen Produktion dazugekommen, gilt ja sogar die Überwindung der Merkantilisten durch
die Physiokraten und A.Smith für einen bloßen Sieg des Gedankens; nicht für
den Gedankenreflex veränderter ökonomischer Tatsachen, sondern für die endlich errungene richtige Einsicht in stets und überall bestehende tsatsächliche
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Bedingungen; hätten Richard Löwenherz und Philipp August den Freihandel eingeführt statt sich in Kreuzzüge zu verwickeln, so blieben uns fünfhundert Jahre
Elend und Dummheit erspart.
Diese Seite der Sache, die ich hier nur andeuten kann, haben wir, glaube ich, alle
mehr vernachlässigt, als sie verdient. Es ist die alte Geschichte: Im Anfang wird
stets die Form über den Inhalt vernachlässigt. Wie gesagt, ich habe das ebenfalls
getan, und der Fehler ist mir immer erst post festum aufgestoßen. Ich bin also
nicht nur weit entfernt davon, Ihnen irgendeinen Vorwurf daraus zu machen dazu bin ich als älterer Mitschuldiger ja gar nicht berechtigt, im Gegenteil - aber
ich möchte Sie doch für die Zukunft auf diesen Punkt aufmerksam machen.
Damit zusammen hängt auch die blödsinnige Vorstellung der Ideologen: weil wir
den verschiednen ideologischen Sphären, die in der Geschichte eine Rolle spielen, eine selbständige historische Entwicklung absprechen, sprächen wir ihnen
auch jede historische Wirksamkeit ab. Es liegt hier die ordinäre undialektische
Vorstellung von Ursache und Wirklung als starr einander entgegengesetzten
Polen zugrunde, die ablosute Vergessung der Wechselwirkung. Daß ein historisches Moment, sobald es einmal durch andre, schließlich ökonomische Ursachen, in die Welt gesetzt, nun auch reagiert, auf seine Umgebung und selbst
seine eignen Ursachen zurückwirken kann, vergessen die Herren oft fast absichtlich.
(Friedrich Engels, F. Engels an Franz Mehring, 14. Juli 1893, MEW, Bd. 39, Berlin 1968, S. 96-97)
7. Wladimir I. Lenin über die Vereinigung von wissenschaftlichem
Sozialismus und Arbeiterbewegung (1899)
Die Sozialdemokratie reduziert sich nicht auf einfachen Dienst an der Arbeiterbewegung: sie ist die „Vereinigung von Sozialismus und Arbeiterbewegung“ (um
die Definition K.Kaustskys zu gebrauchen, die die Hauptideen des „Kommunistischen Manifests“ wiedergibt); es ist ihre Aufgabe, in die spontane Arbeiterbewegung bestimmte sozialistische Ideale hineinzutragen, sie mit sozialistischen
Überzeugungen, die auf dem Niveau der modernen Wissenschaft stehen müssen,
zu verbinden, sie mit dem systematischen politischen Kampf für die Demokratie
als ein Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus zu verbinden, ...
(Wladimir I. Lenin, Artikel für die „Rabotschaja Gazeta“, LW, Bd. 4, Berlin 1955,
S. 211)
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8. Wladimir I. Lenin über die Quelle des politischen Bewußtseins
(1901/02)
Das politische Bewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden,
das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb
der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet,
aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller
Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen.
(Wladimir I. Lenin, Was tun?, LW, Bd. 5, Berlin 1955, S. 436)
9. Wladimir I. Lenin über den wissenschaftlichen Sozialismus als
Ideologie (1902)
Das „Klasseninteresse“ zwingt die Proletarier, sich zu vereinigen, gegen die
Kapitalisten zu kämpfen, über die Bedingungen ihrer Befreiung nachzudenken.
Das „Klasseninteresse“ macht sie für den Sozialismus empfänglich. Aber der
Sozialismus, als Ideologie des proletarischen Klassenkampfes, ist den allgemeinen Bedingungen der Entstehung, Entwicklung und Festigung einer Ideologie
untergeordnet, d.h. er fußt auf dem gesamten Rüstzeug des menschlichen Wissens, setzt eine hohe Entwicklung der Wissenschaft voraus, erfordert wissenschaftliche Arbeit usw. usf.
(Wladimir I. Lenin, Brief an den Nordbund, LW, Bd. 6, Berlin 1956, S. 155)
10. Nikolai J. Bucharin zum Begriff „Ideologie“ (1922)
S.238: Unter der gesellschaftlichen Ideologie werden wir das System der Gedanken, Gefühle oder Verhaltensmaßregeln (Normen) verstehen. Dazu gehören folglich solche Erscheinungen wie der Inhalt der Wissenschaft... und der Kunst, die
Gesamtheit der Normen, der Sitten oder der Moral usw. Unter gesellschaftlicher
Psychologie werden wir die nichtsystematisierten oder wenig systematisierten
Gefühle, Gedanken und Stimmungen verstehen, die die gegebene Gesellschaft,
Klasse, Gruppe, Profession usw. aufweist. ...
S.247/48: Die gesellschaftliche Psychologie ist ein gewisses Reservoir für die
Ideologie...Die Ideologien sind das Geronnene der gesellschaftlichen Psychologie...Die Ideologie ist nicht von der Psychologie durch einen Grenzpfahl mit der
Aufschrift: „Eintritt streng verboten“ getrennt. Im Gegenteil, in Wirklichkeit
vollzieht sich stets ein ununterbrochener Prozeß der Befestigung, der Verdich-
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tung, der Verhärtung der gesellschaftlichen Psychologie zur gesellschaftlichen
Ideologie.
(Nikolai I. Bucharin, Theorie des historischen Materialismus, Hamburg 1922,
S. 238, 247-248)
11. Antonio Gramsci über unterschiedliche Verwendungsweisen des
Begriffs „Ideologie“
Wenn man den Wert der Ideologien in Betracht zieht, so scheint mir, daß ein Element des Irrtums in der Tatsache zu suchen ist (was andererseits nicht zufällig
ist), daß man mit dem Namen Ideologie einmal den für eine bestimmte Basis notwendigen Überbau, zum anderen die willkürlichen Hirngespinster gewisser Individuen bezeichnet. Die abfällige Bedeutung des Wortes ist extensiv geworden,
und das hat die theoretische Analyse des Begriffs Ideologie verändert und denaturiert. Der Prozeß dieses Irrtums kann leicht rekonstruiert werden: 1. die Ideologie wird als von der Basis unterschieden festgestellt, und man behauptet, daß
nicht die Ideologien die Basis verändern, sondern umgekehrt; 2. man behauptet,
eine gewisse politische Lösung sei „ideologische“, d.h. nicht ausreichend, um
die Basis zu ändern, während sie sie zu ändern glaubt; man behauptet, sie sei
unnütz, stupide etc.; 3. man geht zu der Behauptung über, jede Ideologie sei „reiner Schein, unnütz, stupide etc.
Man muß also unterscheiden zwischen historisch organischen Ideologien, die für
eine gewisse Struktur notwendig sind, und willkürlichen, rationalistisch „gewollten“ Ideologien. Soweit sie historisch notwendig sind, sind sie gültig, „psychologisch“ gültig, sie „organisieren“ die Menschenmassen, bilden das Terrain, auf
denen die Menschen sich bewegen, ein Bewußtsein ihrer Lage erhalten, kämpfen
etc. Soweit sie „willkürlich“ sind, bringen sie nur „Bewegungen“ in Form individueller Polemik hervor etc.
(Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, Frankfurt am Main 1967, S. 169-170)
12. Max Horkheimer über Ideologie, absoluten Geist, Wahrheit
(1951)
S.11: Wenngleich das Wort Ideologie heute in einem verschwommenen und universalen Sinn gebraucht wird, enthält es doch immer noch ein Element, das im
Gegensatz zu dem Anspruch des Geistes steht, seinem Dasein oder seinem Inhalt
nach für unbedingt zu gelten. Selbst in seiner verflachten Form widerspricht der
Ideologiebegriff somit der idealistischen Anschauungsweise. Geist als Ideologie
ist nicht absolut...
S.21: Geist ist in der Tat in der Geschichte verflochten, er hängt unlöslich mit
dem Willen, den Interessen und Trieben der Menschen, mit ihrer realen Lage
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zusammen. Aber der Unterschied zwischen dem als Unbedingtem sich aufspreizenden Bedingten einerseits und der Erkenntnis, zu der wir mit unseren besten
Kräften jeweils kommen, andererseits, dieser Unterschied fällt damit keineswegs
dahin. Es ist der Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Der Name der
Ideologie sollte dem seiner Abhängigkeit nicht bewußten, geschichtlich aber
bereits durchschaubaren Wissen, dem vor der fortgeschrittensten Erkenntnis
bereits zum Schein herabgesunkenen Meinen, im Gegensatz zur Wahrheit vorbehalten werden.
(Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1985,
S. 11, 21)
13. Theodor W. Adorno über die Dialektik der Ideologie (1954)
S.472/473: Die Ideologienlehre bricht auseinander in einen höchst abstrakten,
der bündigen Artikulation entratenden Totalentwurf und monographische Studien. In dem Vakuum dazwischen verliert sich das dialektische Problem der Ideologien: daß diese zwar falsches Bewußtsein, aber doch nicht nur falsch sind. Der
Schleier, der notwendig zwischen der Gesellschaft und deren Einsicht in ihr eigenes Wesen liegt, drückt zugleich kraft solcher Notwendigkeit auch dies Wesen
selbst aus. Unwahr werden eigentliche Ideologien erst durch ihr Verhältnis zu der
bestehenden Wirklichkeit. Sie können „an sich“ wär sein, so wie die Ideen Freiheit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit es sind, aber sie gebärden sich, als wären sie
bereits realisiert. Die Etikettierung solcher Ideen als Ideologien, die der totale
Ideologiebegriff gestattet, zeugt vielfach weniger von Unversöhnlichkeit mit dem
falschen Bewußtsein, als von Wut auf das, was in sei’s auch noch so ohnmächtiger geistiger Reflexion auf die Möglichkeit eines Besseren verweisen könnte...
S.474: Von Ideologie läßt sich sinnvoll nur soweit reden, wie ein Geistiges selbständig, substantiell und mit eigenem Anspruch aus dem gesellschaftlichen Prozeß
hervortritt. Ihre Unwahrheit ist stets der Preis eben dieser Ablösung, der Verleugnung des gesellschaftlichen Grundes. Aber auch ihr Wahrheitsmoment haftet an solcher Selbständigkeit, an einem Bewußtsein, das mehr ist als der bloße
Abdruck des Seienden, und danach trachtet, das Seiende zu durchdringen. Heute
ist die Signatur der Ideologien eher die Absenz dieser Selbständigkeit als der
Trug ihres Anspruchs.
(Theodor W. Adorno, Beitrag zur Ideologienlehre, in: Theodor W. Adorno, Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main 1979, S. 472-473, 474)
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14. Ernst Bloch über Ideologie, Apologie, Betrug, Ideal, Symbol,
Utopie, Kultur (1954/55)
S.126/27: Die Frage ist nun, ob und wieweit sich der vorwegnehmende Gegenzug
mit einem bloß verschönernden berührt. Besonders dann, wenn das bloß Verschönernde, obwohl es durchaus überleuchtet, über die Hälfte gar keinen Gegenzug, sondern ein bloßes bedenkliches Polieren des Vorhandenen in sich hat. Und
das mit keineswegs revolutionärem Auftrag dahinter, sondern mit apologetischem, mit einem also, der das Subjekt mit dem Vorhandenen versöhnen soll.
Diese Absicht erfüllt vor allem die Ideologie in den nicht mehr revolutionären,
obzwar noch aufsteigenden, weil die Entwicklung der Produktivkräfte noch fördernden Zeiten einer Klassengesellschaft. Das Überleuchten des Vorhandenen
geschieht dann als täuschende, bestenfalls verfrühte Harmonisierung, und es ist
umgeben von lauter Rauch oder Weihrauch des falschen Bewußtseins. (Die faule
Ideologie in den absinkenden Zeiten einer Klassengesellschaft, besonders also
die des Spätbürgertums von heute, gehört freilich überhaupt nicht hierher; denn
sie ist bereits gewußtes falsches Bewußtsein, mithin Betrug.) Weiterhin aber gibt
es in der Ideologie gewisse Verdichtungs-, Vervollkommnungs- und Bedeutungsfiguren des Vorhandenen, die, wenn überwiegend auf Verdichtung bezogen, als
Archetypen, wenn überwiegend auf Vervollkommnung bezogen, als Ideale, wenn
überwiegend auf Bedeutung bezogen, als Allegorien und Symbole bekannt sind.
Die in alledem, auf so verschiedene Weise, intendierte Verschönerung des Vorhandenen ist immerhin keine des Schlecht-Vorhandenen, und sie will von letzterem nicht bewußt, also betrügerisch ablenken. Vielmehr wird hier das Vorhandene ergänzt, zwar auf keine dialektisch sprengende und reale, jedoch so, daß eine
eigentümliche, eine uneigentliche Antizipation des Besseren nicht fehlt... Und
nun ist die Frage konkreter geworden: ob und wieweit sich der vorwegnehmende
Gegenzug mit einem bloß verschönernden berührt. Denn in Ideologie, anders in
Archetypen, anders in Idealen, anders in Allegorien und Symbolen liegt zwar
kein Gegenzug vor, wohl aber ein Übersteigen des Vorhandenen durch seine verschönernde, verdichtende, vervollkommnende oder bedeutungshafte Übersteigerung. Und diese wiederum ist nicht möglich ohne eine verzerrte oder versetzte
utopische Funktion...
S.131: Ein scharfer Blick bewährt sich nicht bloß darin, daß er duchschaut. Sondern ebenso in der Weise, daß er nicht jedes als so klar wie Wasser sieht. Indem
eben nicht alles so fertig klar ist, sondern zuweilen ein Gären, Sich-Bilden vorliegt, dem gerade der scharfe Blick gerecht wird. Am breitesten wie gemischtesten erscheint dieses Unabgeschlossene in der Ideologie, sofern sie mit der
bloßen Bindung an ihre Zeit nicht erschöpft ist. Und auch nicht mit dem bloßen
falschen Bewußtsein über ihre Zeit, das alle bisherigen Kulturen begleitet hat...
28
Te xt e
S.134: Das Klassische in jeder Klassik steht vor jeder Zeit genauso als revolutionäre Romantik da, nämlich als vorwärts weisende Aufgabe und als Lösung, die
aus der Zukunft, nicht aus der Vergangenheit entgegenkommt und selber noch
voll Zukunft spricht, anspricht, weiterruft. Das aber, samt Bescheidenerem, ist
nur deshalb der Fall, weil Ideologien nach dieser Seite mit dem falschen Bewußtsein ihrer Basis und auch mit der aktiven Arbeit für ihre jeweilige Basis nicht
erschöpft sind. Keine Suche nach dem Überschuß ist möglich im falschen
Bewußtsein selbst, wie es die Ideologie der Klassengesellschaften getragen hat,
und keine ist notwendig in der Ideologie der sozialistischen Revolution, an der
überhaupt kein falsches Bewußtsein teilnimmt. Der Sozialismus als Ideologie des
revolutionären Proletariats ist überhaupt nur wahres Bewußtsein, bezogen auf die
begriffene Bewegung und die ergriffene Tendenz der Wirklichkeit...
S.135: Auch die Klassenideologien, worin die Großwerke der Vergangenheit stehen, führen genau auf jenen Überschuß über das standortgebundene falsche
Bewußtsein, der fortwirkende Kultur heißt, also Substrat des antretbaren Kulturerbes ist. Und es erhellt nun: eben dieser Überschuß wird erzeugt durch
nichts anderes als durch die Wirkung der utopischen Funktion in den ideologischen Gebilden der kulturellen Seite. Ja, falsches Bewußtsein allein wäre noch
nicht einmal ausreichend, um die ideologische Einhüllung so, wie es geschah, zu
vergolden. Es allein wäre außerstande, eines der wichtigsten Merkmale der Ideologie herzustellen, nämlich verfrühte Harmonisierung der gesellschaftlichen
Widersprüche. Wie viel weniger erst ist Ideologie als Medium fortwirkenden Kultursubstrats ohne ihre Begegnung mit utopischer Funktion begreifbar.
(Ernst Bloch, Das antizipierende Bewußtsein, Frankfurt am Main 1972, S. 126127, 131, 135)
15. Georg Lukács über Ideologien als „Vehikel zum Ausfechten
gesellschaftlicher Konflikte“ (1964/68)
Ideologie ist vor allem jene Form der gedanklichen Bearbeitung der Wirklichkeit,
die dazu dient, die gesellschaftliche Praxis der Menschen bewußt und aktionsfähig zu machen... Diese Determiniertheit aller menschlichen Äußerungsweisen
durch das hic et nunc des gesellschaftlich-geschichtlichen Geradesoseins ihrer
Entstehung hat zur notwendigen Folge, daß eine jede Reaktion der Menschen auf
ihre ökonomisch-soziale Umwelt unter bestimmten Umständen zur Ideologie werden kann. Diese universelle Möglichkeit zur Ideologie beruht seinsmäßig darauf,
daß ihr Inhalt (und in vielen Fällen auch ihre Form) untilgbare Zeichen ihrer
Genesis in sich bewahrt. Ob diese Zeichen eventuell bis zur Unwahrnehmbarkeit
verblassen oder prägnant sichtbar werden, hängt von ihren - möglichen - Funktionen im Prozeß der gesellschaftlichen Konflikte ab... In solchen Kämpfen entsteht auch die historisch so wichtig gewordene pejorative Bedeutung der IdeoloTexte
29
gie. Die sachliche Unvereinbarkeit der gegeneinander streitenden Ideologien
nimmt im Laufe der Geschichte die verschiedensten Formen auf, sie kann als
Auslegung von Traditionen, von religiösen Überzeugungen, von wissenschaftlichen Theorien und Methoden usw. erscheinen...
Weder eine individuell richtige oder falsche Ansicht, noch eine richtige oder
falsche wissenschaftliche Hypothese, Theorie etc. ist an und für sich eine Ideologie: sie kann nur... zur Ideologie werden. Erst nachdem sie theoretisches oder
praktisches Vehikel zum Ausfechten gesellschaftlicher Konflikte geworden ist,
mögen diese größere oder kleinere, schicksalhafte oder episodische sein, kann
sie zu einer Ideologie werden.
(Georg Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 2. Halbband, Darmstadt und Neuwied 1986, S. 389-401)
III. Literaturverzeichnis
Theodor W. Adorno, Beitrag zur Ideologienlehre, in: Theodor W. Adorno, Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main 1979
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Nikolai I. Bucharin, Theorie des historischen Materialismus, Hamburg 1922
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Friedrich Engels, F. Engels an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890, MEW, Bd. 37,
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Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1985
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Wladimir I. Lenin, Was tun?, LW, Bd. 5, Berlin 1955
Wladimir I. Lenin, Brief an den Nordbund, LW, Bd. 6, Berlin 1956
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30
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Paderborn/München/Wien/Zürich 1985
Hans-Joachim Lieber (Hrsg.), Ideologie - Wissenschaft - Gesellschaft, Darmstadt
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Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. Zwei Bände, Frankfurt am Main
1983
Peter Zima, Ideologie und Theorie, Tübingen 1989
Literaturverzeichnis
31
Parlamente und Parteien
Eingeleitet und ausgewählt von Ekkehard Lieberam
I. Einführung
Die Spezifik der marxistischen Sicht auf die politischen Institutionen Parlamente und Parteien ist die Aufdeckung ihres Klassencharakters, ihrer konkreten
Rolle in den Klassenkämpfen und Machtkonstellationen ihrer Zeit (beispielhaft:
Text 27). Die marxistische Diskussion um Parlamentarismus und Parteien bzw.
Parteiensysteme ist so auch Teil der Debatte um die Strukturen der Macht, um die
Funktionsweise der bürgerlichen Demokratie und um die politischen Kräfteverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft, deren Beeinflussung und Veränderung, sowie um die Konsequenzen, die sich aus alldem für die Politik und
Arbeitsweise einer sozialistischen Partei ergeben.1
Als widersprüchlicher Erkenntnisprozeß ist diese Diskussion zum einen durch
die vielgestaltigen sich wandelnden Tendenzen und Erscheinungsformen im Parlaments- und Parteiensystem des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt, die z. T. eine
eindeutige begriffliche Bewertung schwierig machten (z. B. Ist die parlamentarische Republik „Umwälzungsform“ oder „Lebensform“ der bürgerlichen Gesellschaft? - Text 4). Dieser Erkenntnisprozeß war zum anderen auch deshalb kompliziert, weil es immer wieder, insbesondere unter dem Eindruck jäher revolutionärer Wendungen (so im Zusammenhang mit den Revolutionen 1917/1918), zu
heftigen Kontroversen unter Marxisten über die Grundfragen der Haltung zum
Parlamentarismus, zur „Eroberung oder Beseitigung des bürgerlichen Parlaments“ kam (Text 26, Text 27, Text 28). Dabei ist nicht zu übersehen, daß der
„parlamentarische Kretinismus“ (Text 8, Text 18) zu einem wichtigen Vehikel des
Übergang von Marxisten auf opportunistische Positionen wurde, verbunden mit
einer Interpretation des allgemeinen Wahlrechts und der parlamentarischen
Demokratie als Garantie für „tatsächliche Teilhaberschaft“ (Text 16). Die Unterschätzung von außerparlamentarischen Machtmitteln bzw. der Verzicht darauf,
die Erhebung des Parlaments zur „Zentralachse des sozialen Lebens“ (Text 18)
erscheint als Teil und Ausdruck realer Anpassungsprozesse ehemals marxistischer Parteien an das politische System des Kapitalismus, die in der Funktionsweise des bürgerlichen Parlamentarismus selbst einen wichtigen „Nährboden“
haben (Text 19).
Karl Marx und Friedrich Engels konnten bereits auf eine mehrhundertjährige
Geschichte des Parlaments zurückblicken. Sie sahen im Prinzip der Repräsentation einen großen Fortschritt (Text 1). Begrüßt wurde von Wilhelm Wolff das Auftreten des Bürgertums gegen die unbeschränkte Monarchie im Vereinigten Land32
Einführung
tag in Preußen (Text 2). Marx und Engels nahmen selbst Anteil an den Klassenkämpfen um das allgemeine Wahlrecht und um die parlamentarische Republik in Frankreich (Text 3 und Text 4), um den Einzug der Sozialisten in die parlamentarischen Vertretungen in Deutschland, in Frankreich und England. Sie
sahen im Parlament eine Tribüne des Klassenkampfes und in den Parlamentswahlen vor allem ein Barometer für die Siegeschancen des Proletariats (Text 15).
Sie gaben im besonderen Maße August Bebel konkrete Ratschläge für die parlamentarische Arbeit (Text 7, Text 9, Text 11, Text 13).
Zu ihrer Zeit, um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das
darf dabei nicht übersehen werden, war das Parlament in der überwiegenden
Mehrzahl der europäischen Staaten (Ausnahme: USA, England und Frankreich)
ein recht bedeutungsloses Anhängsel halbabsolutistischer Regierungssysteme.
Parteien gab es erst in Gestalt von Zusammenschlüssen monarchistischer, bürgerlicher und kleinbürgerlicher Politiker, die sich aus Parlamentsgruppen und
Wahlvereinen zu recht lockeren Parteigebilden entwickelten sowie in Gestalt von
ersten Arbeiterparteien, die sich zunächst außerhalb des Parlaments formierten.
Der von der Arbeiterbewegung getragene Kampf um das allgemeine Wahlrecht
hatte in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Chartistenbewegung
einen Höhepunkt, aber auch eine Niederlage erfahren. In den USA, wo das allgemeine Wahlrecht für weiße Männer weitgehend realisiert war, wurde es durch
die Praxis der offenen Abstimmungen, durch das Kartell der beiden großen korrupten Parteien (Text 10) und infolge verbreiteter Wahlfälschungen stark entwertet.
Vor allem nach der Revolution vom Februar 1848 in Frankreich (Text 3 und
Text 4) wurden kurzzeitig in einer Art politischen Großexperiments die Konturen
jenes Modells einer „parlamentarischen“ bzw. „konstitutionellen Republik“ (so
Karl Marx) sichtbar, wie es sich dann mit Modifikationen im 20. Jahrhundert in
den entwickelten kapitalistischen Staaten durchsetzte: allgemeines und gleiches
Wahlrecht, Beherrschung des Parlaments durch der Bourgeoisie ergebene Parteien, Inbesitznahme des staatlichen Apparates als „Hauptbeute“ durch die siegreichen Parteien. Im Zusammenhang mit den „Klassenkämpfen in Frankreich“
entwickelte Karl Marx denn auch seine wichtigsten Thesen zur Funktionsweise
des bürgerlichen Parlaments: Es ist jene politische Form, die die Herrschaft der
Gesamtbourgeoisie gewährleistet. Der Organismus der in ihm vertretenen Parteien wurzelt in den materiellen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Das
Parlament spiegelt den Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit wider. Es
erweist sich als Bollwerk der Bourgeoisie gegenüber dem Proletariat und wird
beseitigt, wenn die Kontrolle der Bourgeoisie verloren geht.
Als in den folgenden Jahrzehnten insbesondere in Deutschland der Kampf um
selbständige Arbeiterparteien mit Massenanhang wachsende Wahlerfolge und
Einführung
33
eine stetige Zunahme der Reichstagsmandate brachte, rückten drei Fragen in den
Vordergrund: erstens die Frage nach der Bedeutung von Wahlerfolgen und parlamentarischen Positionen für den Kampf um die Eroberung der politischen Macht
bzw. für das Herankommen an die sozialistische Revolution (Text 14, Text 15,
Text 24); zweitens die Frage nach dem Verhältnis von parlamentarischer Tätigkeit
und außerparlamentarischer Aktion (Text 20 und Text 22); drittens nach dem
Sinn und den Risiken einer Regierungsbeteiligung (Text 17 und Text 21).
Nicht übersehen werden darf, daß Karl Marx und Friedrich Engels (Text 5) und
dann auch Lenin (Text 26) aus dem ersten, kurzzeitigen Versuch einer sozialistischen Revolution in Gestalt der Pariser Kommune 1871 sehr weitreichende
Schlußfolgerungen für die Überwindung des Parlamentarismus, für einen neuen
Typ der gewählten Vertretungskörperschaften, der Regierung und des Gemeinwesens ableiteten.
Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts kam es zu einem tiefgreifenden, qualitativen
Wandel der parlamentarischen Institutionen und Regierungssysteme, der Parteien und Parteiensysteme. Auch die bürgerlichen Parteien mußten „Rückhalt in
den Massen“ suchen (Text 23). Die schon von Engels erkannte Tendenz zur Herausbildung „bürgerlicher Arbeiterparteien“ (Text 25) verstärkte sich qualitativ,
indem sie in zunehmendem Maße auch die sozialdemokratischen Parteien erfaßte. Die Bedienung der ebablierten Parteien an der Staatskrippe (Text 14) schloß
eine sich ausweitende Ämterpatronage ein; der Verschmelzung der Staatsspitze
mit den Führungen dieser Parteien entsprach die Tendenz zur bürokratischen
Parteienherrschaft. Die Parteien wurden vergleichbar mit kapitalistischen Betrieben, in denen unten gearbeitet und oben Geld verdient wird. Es kam zu einem
Funktionsverlust der Parlamente gegenüber der Regierung gerade auch im
Gesetzgebungsprozeß. Dies ging einher mit einem Anwachsen der legislativen
Rolle der eng mit dem Großkapital liierten Ministerialbürokratie (Text 29). Neue
Methoden der Wählermanipulierung und der Ausgestaltung des Wahlrechts trugen dazu bei, allgemeines Wahlrecht und Bourgeoisiesherrschaft zu vereinbaren
(Text 30 und Text 31).
Aus der Sicht am Ende dieses Jahrhunderts besteht das wohl wichtigste Resultat
der Transformation parlamentarischer Demokratie darin, daß sie - und damit Parlamente, allgemeines Wahlrecht und Parteien - sowohl in den parlamentarischen
Republiken und Monarchien als auch in den präsidentiellen bzw. semipräsidentiellen Republiken zu einer insgesamt stabilen Bewegungs- und Entwicklungsform einer sich wandelnden kapitalistischen Gesellschaft geworden sind. Es entstand ein Parlaments- und Parteienmechanismus, der Kapitalmacht und parlamentarisches System nicht nur vereinbar werden ließ, sondern beide im System
des sozialstaatlichen Klassenkompromisses fest miteinander verband. Aus einem
Anhängsel des monarchistischen Regierungssystems wurde das Parlament zum
34
Einführung
formalen Dreh- und Angelpunkt der Staatspolitik, zum realen Zentrum der Hervorbringung der politischen und administrativen Elite wie auch jener Integrationsmechanismen, die der Kapitalherrschaft Massenloyalität und Legitimation
sichern. 2
Mittels ihrer in den Parlamenten vertretenen Parteien war es der Arbeiterbewegung sowie anderen sozialen und politischen Bewegungen möglich, ihre Interessen und Forderungen partiell durchzusetzen, die Staatspolitik und die Art und
Weise der Machtausübung zu beeinflussen. Die zeitweilige Übernahme der
Regierung durch sozialdemokratische und kommunistische Parteien beförderte
diese Entwicklung, erklärt sie aber nur teilweise. Sie wurde möglich unter dem
Druck machtvoller außerparlamentarischer Bewegungen und unter dem anhaltenden Druck des Realsozialismus. Sie kam zum Stillstand bzw. ist regressiv seit
sich das politische Kräfteverhältnis in den siebziger und achtziger Jahren zugunsten des Kapitals veränderte. Nicht zu übersehen ist, daß die neoliberale Politik
der Umverteilung des Reichtums von unten nach oben von den meisten Parlamenten befördert wird. Die sich gerade auch angesichts dieser Politik verschärfenden sozialen Konflikte und Verteilungskämpfe bewirken, daß die Parlamente
wieder stärker zu Arenen der Klassenauseinandersetzung werden.
Zugleich geht es um enorm praktisch-politische Fragen: Kern einer Widerstandsstrategie gegen die neoliberale Offensive, auf die sich ein Großteil der
wirtschaftlichen und politischen Elite verständigt hat, muß die Veränderung des
politischen Kräfteverhältnisses sein. Ohne den Aufbau von realer Gegenmacht
gegen die Macht des Kapitals wird es den Linkskräften in den Parlamenten nicht
gelingen, diese Offensive zu stoppen und eine gesellschaftliche Wende zugunsten
der Lohnabhängigen, der sozialen und demokratischen Bewegungen und überhaupt „der Gesellschaft von unten“ einzuleiten. Verhängnisvoll wäre in dieser
Situation die Reduzierung des Klassenkampfes auf seinen parlamentarischen
Aspekt (Text 33) oder gar die Anpassung an die vom Neoliberalismus bestimmten parlamentarischen Spielregeln. Aktueller denn je ist der Gedanke von Rosa
Luxemburg von der Ohnmacht der rein parlamentarischen Aktion und ihre
Erkenntnis, daß die Kraft der parlamentarischen Aktion allein von der „eigenen
Machtentfaltung“ der Massen abhängt (Text 22).
1
Zur aktuellen Diskussion in der PDS um derartige Konsequenzen vgl. u. a. M. Böttcher,
A. Dost, U.-J. Heuer, E. Lieberam, Opposition als Gegenmacht, Disput 11/1995; U.-J.
Heuer, Zur Einführung und W. Richter, Zur außerparlamentarischen Arbeit der PDS,
in: In großer Sorge, was ist, was denkt, was will das Marxistische Forum, Köln 1995;
E. Lieberam, Opposition als Gegenmacht, Marxistische Blätter, 1-96; Ekkehard Lieberam, Die PDS und der Integrationsmechanismus des parlamentarischen Systems, Marxistisches Forum, Heft 5, Januar 1996, U.-J. Heuer, E. Lieberam, G. Schirmer, Zur
Regierungsbeteiligung der PDS, Disput 8/1996; J. Bischoff, In Bonn angekommen,
Sozialismus, 9/96
Einführung
35
2
36
Vgl. E. Lieberam, Marxistische Demokratietheorie und bürgerliches Parlament, in:
Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 30, Juni 1997. Eine sehr instruktive Sicht auf
die Transformation der parlamentarischen Demokratie kennzeichnet die Publikationen
von Johannes Agnoli. Vgl. insbesondere: J. Agnoli, Thesen zur Transformation der
Demokratie, Berlin 1968; Zur Parlamentarismus-Diskussion in der Bundesrepublik,
Sozialistische Politik, 1/1969; Revolutionäre Strategie und Parlamentarismus, in:
Überlegungen zum bürgerlichen Staat, Berlin 1975 und Krise des Parlamentarismus?,
Demokratie und Recht, 15/1987. In seinen „Thesen zur Transformation der Demokratie“ führt Agnoli u.a. aus: „Denn die klassische parlamentarische Demokratie gibt es
schon längst nicht mehr. Nicht nur entsprachen ihre soziale Funktion und ihre institutionelle Struktur einer vergangenen Periode der Geschichte. Der liberale Staat war die
öffentlich-rechtliche Organisationsform der Herrschaft in einer Gesellschaft, die zwar
kapitalistisch produzierte (und daher sind einige seiner Institute noch vorhanden),
jedoch mit der Kraft der Dampfmaschine arbeitete. Mit einem solchen Staat kann unsere Gesellschaft, die Atomkraft produziert und mit Atomkraft produzieren wird, sehr
wenig anfangen. Überdies aber: die klassische parlamentarische Qualität des früheren
bürgerlichen Staates: die Vormacht des Parlaments, seine Souveränität und seine politische wie legislative Entscheidungskompetenz, ist selbst verfassungsrechtlich überwunden. Das Grundgesetz postuliert die Vormacht der Exekutive gegenüber der Legislative, sei es in der Frage der Richtlinienkompetenz, sei es in der Frage der Kontrolle
der Regierung über das Parlament. ...
Die Schwierigkeit lag - und liegt - in dem ambivalenten Charakter, den das Parlament
unter Umständen annehmen kann. In einer dynamisch gewordenen bürgerlichen
Gesellschaft, die ebenso durch den Antagonismus der Produktion gekennzeichnet ist
wie durch die Interessenpluralität der Distribution, können sich Vertretungskörperschaften als Instrumente bieten, den Antagonismus staatlich zum Ausdruck zu bringen
und so den (gesellschaftlichen) Klassenkampf zum politischen Herrschaftskonflikt zu
potenzieren. So gesehen kann das parlamentarische Regierungssystem nur dann die
bürgerliche Herrschaft garantieren und den Kapitalismus schützen, wenn es gelingt,
seine Ambivalenz zurückzudrängen. Es muß als Mechanismus funktionieren, der antagonistische Konflikte so weit wie möglich politisch „irrelevant“ macht und plurale
Interessenkonflikte staatlich kontrolliert und befriedet. Die von Friedrich Engels entwickelte Perspektive kehrt sich derart um: die „bürgerliche Republik“, nach Engels
die beste Form für die offene, unter Umständen sogar friedliche Austragung des Klassenkampfes und des Herrschaftskonflikts, versucht bürgerlich zu bleiben und transformiert sich zur besten Form, die abhängige Klasse in das kapitalistische System der Produktion und in das bürgerliche System der Herrschaft zu integrieren. Das „Volk“ wird
zur bloßen Manövriermasse im Konkurrenzstreit politischer Führungsgruppen degradiert. Beispielhaft, durchaus vorbildlich für andere „parlamentarisch“ regierte Länder
vollzog sich diese Transformation in der Bundesrepublik. ...
Die verstaatlichten Parteien entwickeln eine neuartige gesellschaftliche Qualität, die
mit ihrer eigenen materiellen Interessenlage verbunden ist: Sie sind an der Aufrechterhaltung der Verhältnisse interessiert, die ihre eigene Verstaatlichung und feste Etablierung an der Macht ermöglichen. Dadurch koppeln sie sich - ganz gleich, ob sie
Massenparteien sind oder nicht - mit den Interessen derjenigen gesellschaftlichen
Einführung
Gruppen, denen es ebenso an der Konservation der gegebenen Strukturen gelegen ist.
Insofern ist die alte Frage müßig, ob die politisch herrschenden Gruppen Handlanger
der herrschenden Klasse sind oder ob sie eine selbständige gesellschaftliche Klasse
(die politische Klasse) darstellen. Sie sind selbst ein Teil, nämlich der politische, der
herrschenden Klasse. Genauer: sie sind deren staatliche Funktion. Auf diese Weise
wird der gesellschaftliche Antagonismus im Parteiensystem nicht mehr widerspiegelt.
... Ideologisch bezeichnen sich gerade solche Parteien, die sich den breiten Massen
entfremdet haben, selbst als Volksparteien. Die Volksparteien entwickeln einen neuartigen, durch die Zusammenarbeit der eigenen Führungsstäbe bedingten Herrschaftsmechanismus, in dem verdinglichte, obrigkeitliche Machtzentren in sich zirkulierend
ein Konkurrenzverhältnis eingehen. Nur ist dieses Konkurrenzverhältnis obligatorisch
organisiert und hat mit dem Prinzip der freien Konkurrenz ebenso wenig zu tun wie die
organisierte Marktaufteilung des modernen Oligopolkapitalismus mit dem freien Wettbewerb. Die offene Konkurrenzzirkulation politischer Führungsgruppen, die sich
gegenseitig bekämpfen und ausschließen, wird abgelöst von einer assimilativen Zirkulation, die in letzter Konsequenz zur Selbstauflösung treibt: zur durchgängigen Assimilation der (schein)konkurrierenden Parteien und ihrer gemeinsamen Beteiligung an
der Staatsgewalt - sei es im Zusammenspiel und im Wechselmechanismus von Mehrheits- und Minderheitsfraktion, sei es in der Form der Großen Koalition. So kämpfen
die Parteien untereinander um die Regierungsmacht und bilden dennoch eine symbiotische Einheit, in deren Kreis ein abstrakter Führungskonflikt ausgefochten werden
kann. Sie bilden die plurale Fassung einer Einheitspartei. ...
Das bedeutet: die Perspektive einer „systemimmanenten“ Evolution des Parlamentarismus scheitert an seiner eigenen, systembedingten, d.h. durch seine Herrschaftsfunktion bedingten Involutionstendenz. Wie diese Involutionstendenz langfristig stärker durchschlägt als die Möglichkeit, das Parlament vertretungsfunktional auszunutzen, zeigt die Entwicklung in noch desintegrierten Gesellschaften. Die fundamentaloppositionellen Parteien, die sich auf das parlamentarische Spiel einlassen und den
außerparlamentarischen Kampf nicht mehr als das wesentliche Mittel des Herrschaftskonflikts praktizieren, drohen ihre emanzipatorische Qualität zu verlieren und sich in
bürokratische Integrationsapparate zu verwandeln. Anders gesagt: der politische und
(warum denn nicht) auch moralische Niedergang der Sozialdemokratie (ein historischer Verrat an der Befreiung der Menschen) ist ein Warnzeichen für die sozialistischen und kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern.“ (Konturen,
Zeitschrift für Berliner Studenten, Nr. 31, 1968)
Einführung
37
II. Texte
1. Karl Marx über die repräsentative Verfassung als Fortschritt
(1843)
Es ist die Streitfrage zwischen repräsentativer und ständischer Verfassung. Die
repräsentative Verfassung ist ein großer Fortschritt, weil sie der offene, unverfälschte, konsequente Ausdruck des modernen Staatszustandes ist. Sie ist der
unverhohlene Widerspruch.
(Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW, Bd. 1, Berlin 1978, S. 279)
2. Wilhelm Wolff zum Konflikt zwischen Bürgertum und Monarchie
(1847)
Die Wichtigkeit seiner Verhandlungen (des „Vereinigten Landtages“ in Preußen E. L.) beruht darauf, daß die öffentliche Meinung in Preußen während der 11
Wochen einen Fortschritt gemacht hat, zu welchem ohne den Landtag viele Jahre
erforderlich gewesen wären. Zum ersten Mal kämpfte hier das preußische Bürgertum mit der Bürokratie und der unbeschränkten Monarchie gleichsam vor den
Augen des Publikums.
(Wilhelm Wolff, Der preußische Landtag und das Proletariat in Preußen wie überhaupt in Deutschland, in: Der Bund der Kommunisten, Dokumente und Materialien, Bd. 1, Berlin 1983, S. 516)
3. Karl Marx über Parteien, Klassen und Herrschaft im März 1850.
Allgemeines Stimmrecht und Bourgeoisieherrschaft (1850)
In der Nationalversammlung saß ganz Frankreich zu Gericht über das Pariser Proletariat. Sie brach sofort mit den sozialen Illusionen der Februarrevolution, sie
proklamierte rundheraus die bürgerliche Republik, nichts als die bürgerliche
Republik. Sofort schloß sie aus der von ihr ernannten Exekutivkommission die
Vertreter des Proletariats aus: Louis Blanc und Albert; sie verwarf den Vorschlag
eines besondern Arbeitsministeriums, sie empfing mit stürmischem Beifallsrufe
die Erklärung des Ministers Trélat: „Es handle sich nur noch darum, die Arbeit auf
ihre alten Bedingungen zurückzuführen.“
Aber das alles genügte nicht. Die Februarrepublik war von den Arbeitern erkämpft
unter dem passiven Beistande der Bourgeoisie. Die Proletarier betrachteten sich
mit Recht als die Sieger des Februar, und sie machten die hochmütigen Ansprüche
des Siegers. Sie mußten auf der Straße besiegt, es mußte ihnen gezeigt werden,
38
Te xt e
daß sie unterlagen, sobald sie nicht mit der Bourgeoisie, sondern gegen die Bourgeoisie kämpften. ...
Und die wirkliche Geburtsstätte der bürgerlichen Republik, es ist nicht der
Februarsieg, es ist die Juniniederlage. ...
Seit Anfang März hatte die Wahlagitation für die gesetzgebende Nationalversammlung begonnen. Zwei Hauptgruppen traten sich gegenüber, die Partei der Ordnung
und die demokratisch-sozialistische oder rote Partei, zwischen beiden standen die
Freunde der Konstitution, unter welchem Namen die trikoloren Republikaner des
„National“ eine Partei vorzustellen suchten. Die Partei der Ordnung bildete sich
unmittelbar nach den Junitagen; erst nachdem der 10. Dezember ihr erlaubt hatte,
die Koterie des „National“, der Bourgeoisierepublikaner, von sich abzustoßen,
enthüllte sich das Geheimnis ihrer Existenz, die Koalition der Orleanisten und
Legitimisten zu einer Partei. Die Bourgeoisieklasse zerfiel in zwei große Fraktionen, die abwechselnd, das große Grundeigentum unter der restaurierten Monarchie, die Finanzaristokratie und die industrielle Bourgeoisie unter der Julimonarchie, das Monopol der Herrschaft behauptet hatten. Bourbon war der königliche
Name für den überwiegenden Einfluß der Interessen der einen Fraktion, Orleans
der königliche Name für den überwiegenden Einfluß der Interessen der andern
Fraktion - das namenlose Reich der Republik war das einzige, worin beide Fraktionen in gleichmäßiger Herrschaft das gemeinsame Klasseninteresse behaupten
konnten, ohne ihre wechselseitige Rivalität aufzugeben. ...
Die Bourgeoisherrschaft als Ausfluß und Resultat des allgemeinen Stimmrechts,
als ausgesprochener Akt des souveränen Volkswillens, das ist der Sinn der Bourgeoiskonstituion. Aber von dem Augenblick an, wo der Inhalt dieses Stimmrechts,
dieses souveränen Willens nicht mehr die Bourgeoisherrschaft ist, hat die Konstitution noch einen Sinn? Ist es nicht die Pflicht der Bourgeoisie, das Stimmrecht
so zu regeln, daß es das Vernünftige will, ihre Herrschaft? Das allgemeine Wahlrecht, indem es die vorhandene Staatsmacht beständig wieder aufhebt und von
neuem aus sich erschafft, hebt es nicht alle Stabilität auf, stellt es nicht jeden
Augenblick alle bestehenden Gewalten in Frage, vernichtet es nicht die Autorität,
droht es nicht die Anarchie selbst zur Autorität zu erheben? Nach dem 10. März
1850, wer sollte noch zweifeln?
Die Bourgeoisie, indem sie das allgemeine Wahlrecht, mit dem sie sich bisher drapiert hatte, aus dem sie ihre Allmacht saugte, verwirft, gesteht unverhohlen:
„Unsre Diktatur hat bisher bestanden durch den Volkswillen, sie muß jetzt befestigt
werden wider den Volkswillen“.
(Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW, Bd. 7, Berlin 1960, S. 30,
58, 59 und 93)
Texte
39
4. Karl Marx über die parlamentarische Republik als Despotie
einer Klasse, als Umwälzungsform und als Form der Herrschaft
der Gesamtbourgeoisie. Einbildungen und wirkliche Interessen
der Parteien (1851/52)
Die Niederlage der Juniinsurgenten hatte nun allerdings das Terrain vorbereitet,
geebnet, worauf die bürgerliche Republik begründet, aufgeführt werden konnte;
aber sie hatte zugleich gezeigt, daß es sich in Europa um andre Fragen handelt als
um „Republik oder Monarchie“. Sie hatte offenbart, daß bürgerliche Republik hier
die uneingeschränkte Despotie einer Klasse über andre Klassen bedeute. Sie
hatte bewiesen, daß in altzivilisierten Ländern mit entwickelnder Klassenbildung,
mit modernen Produktionsbedingungen und mit einem geistigen Bewußtsein,
worin alle überlieferten Ideen durch jahrhundertelange Arbeit aufgelöst sind, die
Republik überhaupt nur die politische Umwälzungsform der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet und nicht ihre konservative Lebensform, wie z. B. in den Vereinigten Staaten von Nordamerika...
Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze
Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus
den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum,
dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die
eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden: Wenn Oreanisten, Legitimisten, jede Fraktion sich selbst und der andern vorzureden suchte, daß die Anhänglichkeit an ihre zwei Königshäuser sie trenne,
bewies später die Tatsache, daß vielmehr ihr gespaltenes Interesse die Vereinigung der zwei Königshäuser verbot. Und wie man im Privatleben unterscheidet
zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklich
ist und tut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und
Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen
Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden. ...
Der koalisierten Bourgeoisie gegenüber hatte sich eine Koalition zwischen Kleinbürgern und Arbeitern gebildet, die sogenannte sozialdemokratische Partei. Die
Kleinbürger sahen sich nach den Junitagen 1848 schlecht belohnt, ihre materiellen Interessen gefährdet und die demokratischen Garantien, die ihnen die Geltendmachung dieser Interessen sichern sollten, von der Konterrevolution in Frage
gestellt. Sie näherten sich daher den Arbeitern. Ihre parlamentarische Repräsentation andrerseits, die Montagne, während der Diktatur der Bourgeoisrepublikaner beseite geschoben, hatte in der letzten Lebenshälfte der Konstituante durch
den Kampf mit Bonaparte und den royalistischen Ministern ihre verlorene Popu-
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larität wiedererobert. Sie hatte mit den sozialistischen Führern eine Allianz
geschlossen. Februar 1849 wurden Versöhnungsbankette gefeiert. Ein gemeinschaftliches Programm wurde entworfen, gemeinschaftliche Wahlkomitees wurden
gestiftet und gemeinschaftliche Kandidaten aufgestellt. Den sozialen Forderungen
des Proletariats ward die revolutionäre Pointe abgebrochen und eine demokratische Wendung gegeben, den demokratischen Ansprüchen des Kleinbürgertums
die bloß politische Form abgestreift und ihre sozialistische Pointe herausgekehrt.
So entstand die Sozialdemokratie. ...
Es (das Kleinbürgertum - E. L.) glaubt vielmehr, daß die besondern Bedingungen
seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die
moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann. ...
Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihrem Kampfe wider die
Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommneten
diese Maschine statt sie zu brechen. Die Parteien, die abwechselnd um die Herrschaft rangen, betrachteten die Besitznahme dieses ungeheuren Staatsgebäudes
als die Hauptbeute des Siegers.
(Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, Berlin 1960,
S. 122, 139, 140, 141 und 197)
5. Karl Marx zur Kommune: nicht eine parlamentarische, sondern
eine arbeitende Körperschaft (1871)
Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich
und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder
anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung,
wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso
die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune
an abwärts, mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die
erworbnen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger
verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. Die öffentlichen Ämter hörten
auf, das Privateigentum der Handlanger der Zentralregierung zu sein.
(Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, Berlin 1963, S. 339)
Texte
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6. Karl Marx für Arbeiter in die Parlamente (1871)
Man soll keineswegs glauben, daß es von geringer Bedeutung ist, Arbeiter in den
Parlamenten zu haben. Wenn man ihre Stimme erstickt, wie im Falle DePotter und
Castiau, oder wen man sie hinauswirft wie Manuel - so üben diese Repressalien
und diese Unterdrückung eine tiefe Wirkung auf das Volk aus. Wenn sie dagegen,
wie Bebel und Liebknecht, von der Parlamentstribüne sprechen können, so hört
sie die ganze Welt. Sowohl in dem einen wie in dem andern Fall verschafft das
unsern Prinzipien große Publizität. Um nur ein Beispiel zu bringen: Als Bebel und
Liebknecht während des Krieges, der in Frankreich geführt wurde, darangingen,
gegen den Krieg zu kämpfen, um angesichts all dieser Geschehnisse die Verantwortlichkeit dafür seitens der Arbeiterklasse von sich zu weisen, war ganz
Deutschland erschüttert; und sogar in München, dieser Stadt, wo Revolutionen
nur wegen des Bierpreises zustandekommen, fanden große Kundgebungen statt,
auf denen die Beendigung des Krieges gefordert wurde.
Die Regierungen sind uns feindlich gesinnt; man muß ihnen mit allen uns zu
Gebote stehenden Mitteln antworten. Arbeiter in die Parlamente bringen ist
gleichbedeutend mit einem Sieg über die Regierungen, aber man muß die richtigen Männer auswählen, keine Tolains.
(Karl Marx, Aus dem Protokoll der Sitzung der Londoner Konferenz der Internationalen Arbeiterassoziation vom 20. September 1871, MEW, Bd. 17, Berlin 1962,
S. 651)
7. Karl Marx/Friedrich Engels zu entschiedener Opposition (1881)
Statt entschiedner politischer Opposition - allgemeine Vermittlung; statt des
Kampfs gegen Regierung und Bourgeoisie - der Versuch, sie zu gewinnen und zu
überreden; statt trotzigen Widerstands gegen Mißhandlungen von oben - demütige Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe verdient. Alle historisch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in Mißverständnisse und alle
Diskussion beendigt mit der Bemerkung: in der Hauptsache sind wir ja alle einig.
(Karl Marx, Friedrich Engels an August Bebel, Wilhelm Liebknecht u. a., MEW,
Bd. 34, Berlin 1966, S. 405)
8. Friedrich Engels über den parlamentarischen Kretinismus
(1884)
Endlich deckten wir den parlamentarischen Kretinismus (wie Marx es nannte) der
verschiedenen sogenannten Nationalversammlungen auf. Diese Herren hatten
sich alle Machtmittel entschlüpfen lassen, sie zum Teil freiwillig wieder den
Regierungen überliefert. Neben neugestärkten, reaktionären Regierungen standen
in Berlin wie in Frankfurt machtlose Versammlungen, die trotzdem sich einbilde42
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ten, ihre ohnmächtigen Beschlüsse würden die Welt aus den Angeln haben. Bis
auf die äußerste Linke herrschte diese kretinhafte Selbsttäuschung. Wir riefen
ihnen zu: ihr parlamentarischer Sieg werde zusammenfallen mit ihrer wirklichen
Niederlage.
Und so geschah’s in Berlin wie in Frankfurt. Als die „Linke“ die Majorität erhielt,
jagte die Regierung die ganze Versammlung auseinander; sie konnte es, weil die
Versammlung ihren eigenen Kredit beim Volk verscherzt hatte.
(Friedrich Engels, Marx und die „Neue Rheinische Zeitung“ 1848-49, MEW,
Bd. 21, Berlin 1984, S. 21)
9. Friedrich Engels für die Beachtung gegenwärtiger Bedürfnisse
der Arbeiter (1884)
Will die Fraktion sich nicht einfach ablehnend verhalten, so kann sie nach meiner Meinung zu dieser Staatshilfe für die Bourgeoisie, die möglicherweise (was
freilich erst zu beweisen) den Arbeitern indirekt zugute kommen kann, nur dann
ihre Einwilligung geben, wenn ebensolche Staatshilfe für die Arbeiter zugesichert
wird. „Gebt Ihr uns 4-5 Millionen jährlich für Arbeitergenossenschaften (nicht Vorschuß, sondern Schenkung, wie für die Reeder), dann lassen wir mit uns reden.
Gebt Ihr uns Garantien, daß in Preußen die Domänen statt Großpächter oder an
Bauern, die ohne Taglöhnerarbeit existenzunfähig sind, an Arbeitergenossenschaften ausgepachtet werden sollen, daß öffentliche Arbeiten an Arbeitergenossenschaften statt an Kapitalisten verdungen werden, gut, wir wollen ein übriges tun. Wenn
nicht, nicht.“
Wenn die Fraktion solche Vorschläge macht, wofür natürlich die richtige Form
gefunden werden muß, dann wird niemand den sozialdemokratischen Abgeordneten vorwerfen können, sie vernachlässigten über die Zukunft der gegenwärtigen
Bedürfnisse der Arbeiter.
(Friedrich Engels an Wilhelm Liebknecht in Berlin vom 29. Dezember 1884,
MEW, Bd. 36, Berlin 1967, S. 259)
10. Friedrich Engels über Parteien als Kartelle zur Ausbeutung der
Staatsmacht (1891)
Nirgends bilden die „Politiker“ eine abgesondertere und mächtigere Abteilung
der Nation als grade in Nordamerika. Hier wird jede der beiden große Parteien,
denen die Herrschaft abwechselnd zufällt, selbst wieder regiert von Leuten, die
aus der Politik ein Geschäft machen, die auf Sitze in den gesetzgebenden Versammlungen des Bundes wie der Einzelstaaten spekulieren oder die von de Agitation für ihre Partei leben und nach deren Sieg durch Stellen belohnt werden. Es
ist bekannt, wie die Amerikaner seit 30 Jahren versuchen, dies unerträglich gewTexte
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ordne Joch abzuschütteln, und wie sie trotz alledem immer tiefer in diesen Sumpf
der Korruption hineinsinken. Gerade in Amerika können wir am besten sehn, wie
diese Verselbständigung der Staatsmacht gegenüber der Gesellschaft, zu deren
bloßem Werkzeug sie ursprünglich bestimmt war, vor sich geht. Hier existiert
keine Dynastie, kein Adel, kein stehendes Heer, außer den paar Mann zur Bewachung der Indianer. Und dennoch haben wir hier zwei große Banden von politischen Spekulanten, die abwechselnd die Staatsmacht in Besitz nehmen und mit
den korruptesten Mitteln und zu den korruptesten Zwecken ausbeuten - und die
Nation ist ohnmächtig gegen diese, angeblich in ihrem Dienst stehenden, in Wirklichkeit aber sie beherrschenden und plündernden zwei großen Kartelle von Politikern.
(Friedrich Engels, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Einleitung, MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 197-198)
11. Friedrich Engels über Spießbürger in der Reichstagsfraktion
(1892)
Ich habe noch die Jahre im Gedächtnis, wo ich - damals noch mit L[ie]bk[necht]
in offizieller Korrespondenz stehend - in einem fort gegen die überall hineinsickernde urdeutsche Spießbürgerei anzukämpfen hatte. Im ganzen und großen
haben wir das in Reichsdeutschland glücklich hinter uns, aber was sitzen in der
Fraktion für Spießer und kommen immer wieder hinein! Eine Arbeiterpartei hat da
nur die Wahl zwischen Arbeitern, die sofort gemaßregelt werden und dann leicht
als Parteipensionäre verlumpen, oder Spießbürgern, die sich selbst ernähren, aber
die Partei blamieren.
(Friedrich Engels an Victor Adler, 30. August 1992, MEW, Bd. 38, Berlin 1968,
S. 445)
12. Friedrich Engels über das Schaukelspiel der die Bourgeoisieherrschaft verewigenden Parteien (1892)
Und wenn in nicht mehr ferner Zeit sich herausstellt, daß dies neue Parlament
nichts mit Herrn Gladstone und Herr Gladstone nichts mit diesem Parlament
anfangen kann, dann wird die englische Arbeiterpartei auch wohl hinreichend
konstituiert sein, um dem Schaukelspiel der beiden alten, einander an der Regierung ablösenden aber eben dadurch die Bourgeoisieherrschaft verewigenden Parteien demnächst ein Ende zu machen.
(Friedrich Engels, Vorwort zur 2. deutschen Auflage der „Lage der arbeitenden
Klasse in England“, MEW, Bd. 22, Berlin 1972, S. 330)
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13. Friedrich Engels über die Bedeutung des Stimmenzuwachses
(1893)
Unsere Wahlen nahmen einen glänzenden Verlauf. 1890 - 20 Sitze, jetzt 24 beim
ersten Ansturm gewonnen; 1890 - ungefähr 60 Stichwahlen, diesmal 85. Wir
haben zwei Sitze verloren und sechs neue gewonnen. Unter den 85 Stichwahlen
sind 38, wo wir 1890 nicht in die Stichwahl kamen...
Die Anzahl der Sitze hat jedoch eine sehr zweitrangige Bedeutung. Die Hauptsache ist der Zuwachs an Stimmen, und der wird gewiß beträchtlich sein.
(Friedrich Engels an Laura Lafargne, 20. Juni 1893, MEW, Bd. 39, Berlin 1978,
S. 86)
14. Karl Kautsky über Erfahrungen des Parlamentarismus in England. Das Parlament als Werkzeug der Diktatur des Proletariats
(1893)
Die Unterschiede zwischen beiden Parteien (den Whigs und den Tories - E. L.)
schwanden immer mehr, sie waren schließlich nicht größer als die Unterschiede,
wie sie innerhalb jeder der beiden Parteien vorkamen. Wenn trotzdem der Gegensatz zwischen Tories und Whigs fortdauerte, so war der Grund nur der, daß die
Staatskrippe zu klein war, als daß beide Parteien gleichzeitig an sie heran konnten.
Die Kämpfe im Parlament verloren damit immer mehr den Charakter von prinzipiellen Kämpfen; sie wurden immer mehr bloße Intrigen von Strebern, die sich
nach Amt und Würden drängten, um Gelegenheit zu bekommen, den Staat nicht
etwa in ihrem besonderen Sinne zu leiten, sondern auszubeuten. ...
Gerade im Vaterland des Parlamentarismus zeigt die Entwicklung der Parteiverhältnisse, wie unrichtig die Behauptung ist, der Parlamentarismus diene ausschließlich der Kapitalistenklasse. Wir haben gesehen, daß je nach der Höhe der ökonomischen Entwicklung und nach der Art des Wahlrechts das Repräsentativsystem den verschiedensten Klasseninteressen gedient und die verschiedensten
Charakterformen angenommen hat.
Nachdem das englische Unterhaus über anderthalb Jahrhunderte lang ein Werkzeug der Diktatur der Aristokratie gewesen ist, wurde es für ein halbes Jahrhundert ein Werkzeug der Diktatur der industriellen Kapitalisten. Aber bereits haben
diese ihre Alleinherrschaft verloren, bereits ist das Proletariat imstande, die innere Politik des Landes zu seinen Gunsten zu beeinflussen im Parlament und durch
das Parlament, und die Arbeiterklasse braucht nur noch sich innerlich freizuma-
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chen vom liberalen Denken, um das englische allmächtige Parlament in ein Werkzeug der Diktatur des Proletariats zu verwandeln.
(Karl Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, Stuttgart 1911, S. 98 , 99 und
109)
15. Friedrich Engels über Erfahrungen mit dem allgemeinen Stimmrecht. Reichstag als Tribüne (1895)
Schon das Kommunistische Manifest hatte die Erkämpfung des allgemeinen
Wahlrechts, der Demokratie, als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des
streitbaren Proletariats proklamiert, und Lassalle hatte diesen Punkt wieder aufgenommen. Als nun Bismarck sich genötigt sah, dies Wahlrecht einzuführen als
einziges Mittel, die Volksmassen für seine Pläne zu interessieren, da machten
unsere Arbeiter sofort Ernst damit und sandten August Bebel in den ersten konstituierenden Reichstag. Und von dem Tage an haben sie das Wahlrecht benutzt in
einer Weise, die sich ihnen tausendfach gelohnt und die den Arbeitern aller Länder als Vorbild gedient hat. Sie haben das Wahlrecht, in den Worten des französischen marxistischen Programms, transformé, de moyen de duperie qu’il a été jusqu’ici, en instrument d’émancipation - es verwandelt aus einem Mittel der Prellerei, was es bisher war, in ein Werkzeug der Befreiung. Und wenn das allgemeine
Wahlrecht keinen anderen Gewinn geboten hätte, als daß es uns erlaubte, uns alle
drei Jahre zu zählen; daß es durch die regelmäßig konstatierte, unerwartet rasche
Steigerung der Stimmenzahl in gleichem Maße die Siegesgewißheit der Arbeiter
wie den Schrecken der Gegner steigerte und so unser bestes Propagandamittel
wurde; daß es uns genau unterrichtete über unsere eigene Stärke wie über die
aller gegnerischen Parteien und uns dadurch einen Maßstab für die Proportionierung unserer Aktion lieferte, wie es keinen zweiten gibt - uns vor unzeitiger Zaghaftigkeit ebensosehr bewahrte wie vor unzeitiger Tollkühnheit -, wenn das der
einzige Gewinn wäre, den wir vom Stimmrecht haben, dann wäre es schon über
und übergenug. Aber es hat noch viel mehr getan. In der Wahlagitation lieferte es
uns ein Mittel, wie es kein zweites gibt, um mit den Volksmassen da, wo sie uns
noch fernstehen, in Berührung zu kommen, alle Parteien zu zwingen, ihre Ansichten und Handlungen unseren Angriffen gegenüber vor allem Volk zu verteidigen;
und dazu eröffnete es unseren Vertretern im Reichstag eine Tribüne, von der herab
sie mit ganz anderer Autorität und Freiheit zu ihren Gegnern im Parlament wie zu
den Massen draußen sprechen konnten als in der Presse und in Versammlungen.
(Friedrich Engels, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, Einleitung,
MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 518)
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16. Eduard Bernstein über tatsächliche Teilhaberschaft als Ergebnis
des Wahlrechts (1899)
In der Demokratie lernen die Parteien und die hinter ihnen stehenden Klassen
bald die Grenzen ihrer Macht kennen und sich jedesmal nur so viel vornehmen,
als sie nach Lage der Umstände vernünftigerweise hoffen können durchzusetzen...
Das Wahlrecht der Demokratie macht seinen Inhaber virtuell zu einem Teilhaber
am Gemeinwesen, und diese virtuelle Teilhaberschaft muß auf die Dauer zur
tatsächlichen Teilhaberschaft führen. Bei einer der Zahl und Ausbildung nach
unentwickelten Arbeiterklasse kann das allgemeine Wahlrecht lange als das
Recht erscheinen, den „Metzger“ selbst zu wählen, mit der Zahl und Erkenntnis
der Arbeiter wird es jedoch zum Werkzeug, die Volksvertreter aus Herren in wirkliche Diener des Volkes zu verwandeln.
Aber das allgemeine Wahlrecht ist erst ein Stück Demokratie, wenn auch ein
Stück, das auf die Dauer die anderen nach sich ziehen muß, wie der Magnet die
zerstreuten Eisenteile an sich zieht. Das geht wohl langsamer vor sich, wie es
mancher wünscht, aber trotzdem ist es im Werk. Und die Sozialdemokratie kann
dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin,
auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie, stellt, mit allen sich
daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.
(Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der
Sozialdemokratie, Berlin 1991, S. 145 und 146)
17. Rosa Luxemburg über Parlament und Regierung: Organ der
Klassenkämpfe bzw. Organ mit innerer Homogenität (1902)
Während das Parlament ein Organ der Klassen- und Fraktionskämpfe innerhalb
der bürgerlichen Gesellschaft, deshalb das geeignetste Terrain für den systematischen Widerstand der Sozialisten gegen die Herrschaft der Bourgeoisie bildet, ist
diese Rolle der Arbeitervertreter im Schoße der Regierung von vornherein ausgeschlossen. Berufen, das fertige Ergebnis der im Parlament und im Lande ausgefochtenen Parteikämpfe in die Tat umzusetzen, ist die Zentralgewalt vor allem ein
Organ der Aktion, dessen Lebensfähigkeit auf innerer Homogenität beruht.
Ebenso wie in der kapitalistischen Wirtschaft ihre einzelnen Zweige, Produktion,
Austausch, Kredit, Transportwesen, aufs innigste zusammenhängen und großindustrieller Welthandel bei mittelalterlichen Verkehrsmitteln, sozialistischer Austausch bei privatwirtschaftlicher Produktion undenkbar sind, ebenso muß in dem
bürgerlichen Staate, der nur die politische Organisation der kapitalistischen Wirtschaft ist, zwischen den einzelnen Funktionen volle Harmonie bestehen. ...
Somit stellt die Zentralregierung eines modernen Staates ein Räderwerk dar, dessen einzelne Teile von allen Seiten ineinandergreifen und gegenseitig ihre BeweTexte
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gungen bestimmen und regulieren. Der unmittelbare Transmissionsmechanismus,
der das ganze Räderwerk in Gang bringt, ist das bürgerliche Parlament, aber die
treibende Kraft sind dabei zunächst die Klassen- und Parteiverhältnisse im Lande
und in letzter Linie - die Produktions- und Austauschverhältnisse der gesellschaftlichen Wirtschaft. Der kapitalistischen Einheitlichkeit der Ökonomik hier
entspricht die bürgerliche Einheitlichkeit der Regierungspolitik dort.
(Rosa Luxemburg, Die sozialistische Krise in Frankreich, in: Gesammelte Werke,
Bd. 1, Zweiter Halbband, Berlin 1970, S. 58 und 59)
18. Rosa Luxemburg über den Rückgang der Bedeutung des Parlamentarismus aufgrund sozialer Entwicklung (1904)
Es ist eine historisch nicht bloß erklärliche, sondern notwendige Illusion des um
die Herrschaft kämpfenden und noch mehr des zur Herrschaft gelangten Bürgertums, daß sein Parlament die Zentralachse des sozialen Lebens, die treibende
Macht der Weltgeschichte sei. Eine Auffassung, deren natürliche Blüte jener
famose „parlamentarische Kretinismus“ ist, der über dem selbstgefälligen Redegeplätscher von ein paar hundert Abgeordneten in einer bürgerlichen Gesetzgebungskammer die weltgeschichtlichen Riesenkräfte übersieht, die draußen im
Schoße der gesellschaftlichen Entwicklung, ganz unbekümmert um die parlamentarische Gesetzmacherei, wirksam sind. ...
Solange der Klassenkonflikt zwischen Bürgertum und Feudalmonarchie dauert, ist
der offene Parteikampf im Parlament sein natürlicher Ausdruck. Auf dem Boden
des perfekt gewordenen Kompromisses dagegen sind bürgerliche Parteikämpfe im
Parlament unnütz. Die Interessenkonflikte zwischen den verschiedenen Gruppen
der herrschenden bürgerlich-feudalen Reaktion werden nicht mehr durch Kraftproben im Parlament, sondern in der Form des Kuhhandels hinter den Kulissen
des Parlaments ausgetragen. Was an bürgerlichen offenen Parlamentskämpfen
noch übriggeblieben ist, sind nicht mehr Klassen- und Parteikonflikte, sondern
höchstens in zurückgebliebenen Ländern, wie Österreich, Nationalitäten-, d. h.
Cliquenhader, dessen adäquate parlamentarische Form die Raufszene, der Skandal ist.
(Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie und Parlamentarismus, in: Gesammelte
Werke, Bd. 1, Zweiter Halbband, a. a. O., S. 448 und 449)
19. Rosa Luxemburg über Parlamentarismus als Nährboden des
Opportunismus (1904)
Die Erscheinungen im Leben der deutschen wie der französischen und der italienischen Sozialdemokratie, auf die sich Lenin beruft, sind aus einer ganz bestimmten sozialen Basis emporgewachsen, nämlich aus der des bürgerlichen Parlamen-
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tarismus. Wie dieser überhaupt der spezifische Nährboden der gegenwärtigen
opportunistischen Strömung in der sozialistischen Bewegung Westeuropas ist, so
sind auch die besonderen Tendenzen des Opportunismus zur Desorganisation aus
ihm entsprossen.
Der Parlamentarismus unterstützt nicht nur all die bekannten Illusionen des jetzigen Opportunismus, wie wir sie in Frankreich, Italien und Deutschland kennengelernt haben: die Überschätzung der Reformarbeit, des Zusammenwirkens der
Klassen und Parteien, der friedlichen Entwicklung usw., er bildet zugleich den
Boden, auf dem sich diese Illusionen praktisch betätigen können, indem er die
Akademiker auch in der Sozialdemokratie als Parlamentarier von der proletarischen Masse absondert, gewissermaßen über sie emporhebt. Endlich gestaltet derselbe Parlamentarismus mit dem Wachstum der Arbeiterbewegung diese letztere
zum Sprungbrett politischen Emporkommens, weshalb er sie leicht zum Unterschlupf für ehrgeizige und schiffbrüchige bürgerliche Existenzen macht.
(Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in:
Gesammelte Werke, Bd. 1, Zweiter Halbband, a. a. O., S. 437)
20. August Bebel über scharfe Opposition als Hauptmethode parlamentarischer Arbeit (1908/1910)
Unser Ziel erringen wir nicht durch kleine Konzessionen, durch Kriechen am
Boden, indem wir zu den Massen heruntersteigen, sondern indem wir die Massen
zu uns emporheben, indem wir sie begeistern für unsere großen Ziele. (Lebhafter
Beifall.) Wenn wir in diesem Sinne arbeiten, bleibt uns der Sieg sicher, nicht aber,
wenn wir glauben, wir müßten nach allen Richtungen Rechnungsträgerei treiben.
(Sehr richtig!) Gewiß, kein Mensch kann mit dem Kopf durch die Wand. (Sehr
richtig.) Auch im Reichstage tun wir alles, was wir nur tun können, um eine Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse herbeizuführen. Wir tun es nicht in dem
Glauben, daß es in besonderem Maße geschehen wird. (Sehr wahr!) Wir tun es,
um die Arbeiterklasse kampffähiger, leistungsfähiger für den Kampf um unser
großes Ziel zu machen. (Lebhafte Zustimmung.)...
Am 24. November 1884 gab es eine große Debatte im Reichstage darüber, wer der
Haupturheber der Sozialpolitik sei, und unser verstorbener Genosse Auer erklärte, das ist die Sozialdemokratie! Ohne sie wäre die Reform nicht vorhanden. Als
das bürgerlicherseits bestritten wurde, trat Bismarck auf und antwortete: wenn es
keine Sozialdemokraten gäbe und nicht eine Menge sich vor ihnen fürchteten,
würden die mäßigen Fortschritte, die wir bisher in der Sozialreform gemacht
haben, nicht existieren. (Hört! Hört!) Bismarck erklärt also hier positiv und direkt
die Sozialdemokratie als die Urheberin der Sozialpolitik. Und da spricht man auf
unserer Seite von Negation, wie das Kolb getan hat.
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Die Negierer haben in der Welt oft mehr erreicht als die sogenannten positiven
Arbeiter. (Bewegung.) Scharfe Kritik, scharfe Opposition fällt alle Zeit auf fruchtbaren Boden, wenn sie berechtigt ist, und unsere ist gewiß berechtigt. (Sehr richtig!)
(August Bebel, SPD-Parteitag 1908 in Nürnberg, Protokoll und SPD-Parteitag
1910 in Magdeburg, Protokoll, zit. nach H. Grimberg (Hrsg.), Schlag nach bei
Bebel!, Bremen 1980, S. 20 und 21)
21. Karl Kautsky über Ausnutzung der Differenzen zwischen den
bürgerlichen Parteien. Ablehnung einer Koalitionsregierung
(1909)
Andererseits aber hält man es für möglich, daß das Proletariat zur politischen
Macht gelangt ohne Revolution, das heißt, ohne erhebliche Machtverschiebung im
Staat, einfach durch eine kluge Taktik des Zusammenwirkens mit dem Proletariat
nahestehenden bürgerlichen Parteien, mit denen man zusammen eine Koalitionsregierung bildet, zu der jede der beteiligten Parteien allein nicht ausreichen
würde.
Auf diese Weise komme man um die Revolution herum, die ein ganz veraltetes,
barbarisches Mittel darstelle, daß in unserem erleuchteten Jahrhundert der Demokratie, der Ethik und der Menschenliebe keinen Platz finde.
Diese Auffassungen würden, wenn sie zum Durchbruch kämen, die ganze von
Marx und Engels begründete sozialdemokratische Taktik über den Haufen werfen.
... Weiter handelt es sich nicht darum, ob wir Differenzen unter den bürgerlichen
Parteien nicht zugunsten des Proletariats ausnützen sollen. Nicht umsonst haben
Marx und Engels stets das Wort von der „reaktionären Masse“ bekämpft, weil es
zu sehr die Gegensätze verdeckt, die zwischen den verschiedenen Fraktionen der
besitzenden Klassen herrschen und die für den Fortschritt des Proletariats mitunter sehr wichtig wurden. Sowohl die Arbeiterschutzgesetze wie die Erweiterungen
der politischen Rechte hatte es meist solchen Gegensätzen zu verdanken.
Bestritten wird bloß die Möglichkeit, daß eine proletarische Partei mit bürgerlichen Parteien zusammen in normaler Weise eine R e g i e r u n g oder eine
R e g i e r u n g s p a r t e i bilden kann, ohne dadurch in unüberwindliche
Widersprüche zu geraten, an denen sie scheitern muß.
(Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt/M. 1972, S. 19 und 20)
22. Rosa Luxemburg über die Ohnmacht der rein parlamentarischen
Aktion (1912)
Indem das Proletariat auf diesen Liberalismus baut, auf die eigene Machtentfaltung verzichtet und all sein Hoffen ausschließlich aufs Parlament setzt, begibt es
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sich selbst seines Einflusses und raubt auch seiner parlamentarischen Aktion die
Kraft. Es ist eine Lebensfrage für die Arbeitermassen, sich darüber vollständig
klarzuwerden, daß heutzutage keine ernste, fortschrittliche Reform mehr auf rein
parlamentarischem Wege erreicht werden kann. Welche Gestalt und welche
Bedeutung heute eine ausschließlich parlamentarische Opposition selbst bei
äußerster Zuspitzung des Kampfes gewinnt, das zeigen die jüngsten Vorgänge in
Ungarn. Hier erleben wir gleichfalls eine Bündnispolitik und einen gemeinsamen
Feldzug der Sozialdemokratie mit der Opposition. Was ist aus dem Feldzug im Parlament geworden? Eine Hanswurstiade mit wüstem Geschrei, Tollhäuserszenen
und einem blödsinnigen Revolverattentat als Höhepunkt. Die Kindertrompete ist
Waffe und Symbol zugleich dieses parlamentarischen Froschmäusekriegs. Und
schließlich genügte die Handbewegung eines brutalen Kerls auf der Präsidententribüne, um die ganze Opposition durch den „Leutnant mit zehn Mann“ aus dem
Tempel der bürgerlichen Gesetzgebung wie Betrunkene aus der Schenke auf die
Straße zu werfen. In diesen traurigen und abstoßenden Hanswurstiaden offenbart
sich eine sehr ernste Lehre der Zeitgeschichte: die Ohnmacht der rein parlamentarischen Aktion gegen die herrschende Reaktion.
(Rosa Luxemburg, Schlag auf Schlag, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973,
S. 170 und 171)
23. Wladimir I. Lenin über die Suche der reaktionären Parteien
nach Rückhalt in den Massen (1913)
In jenen Staaten, wo die Grundpfeiler der Verfassung und die Teilnahme des
Volkes an Staatsangelegenheiten gesichert sind, streben nicht nur die Sozialisten
danach, die Massen zu organisieren (die einzige Stärke der Sozialisten besteht ja
in der Aufklärung und Organisierung der Massen), sondern auch die reaktionären
Parteien. Ist die Staatsordnung demokratisiert, so müssen die Kapitalisten in den
Massen Rückhalt suchen, und dafür ist es erforderlich, sie unter den Losungen
des Klerikalismus (der Schwarzhundertreaktion und der Religion), des Nationalismus, Chauvinismus usw. zu organisieren.
(Wladimir I. Lenin, Die Organisierung der Massen durch die Deutschen Katholiken, LW, Bd. 36, Berlin 1967, S. 218)
24. Rosa Luxemburg über außerparlamentarische Aktionen und Parlamentarismus (1913)
Der jüngste, größte Wahlsieg unserer Partei hat jetzt vor aller Augen klargemacht,
daß eine sozialdemokratische Fraktion von 110 Mann in der Ära der imperialistischen Delirien und der parlamentarischen Impotenz sozialreformerisch wie agitatorisch nicht mehr, sondern weniger herauszuholen imstande ist als früher eine
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Fraktion von einem Viertel dieser Stärke. Und der heutige Knotenpunkt der innerpolitischen Entwicklung Deutschlands, das preußische Wahlrecht, hat durch
seine hoffnungslose Versumpfung alle Aussichten auf eine durch bloßen Druck
der Wahlaktionen erzwungene parlamentarische Reform vernichtet. In Preußen
wie im Reiche stößt die Sozialdemokratie in ihrer ganzen Macht ohnmächtig an
die Schranke, die Lassalle schon im Jahre 1851 in den Worten formulierte: „Nie
hat, nie wird eine (gesetzgebende) Versammlung den bestehenden Zustand
umstürzen. Alles, was eine solche Versammlung je getan und gekonnt hat, ist, den
draußen bestehenden Zustand proklamieren, den draußen schon vollzogenen
Umsturz der Gesellschaft sanktionieren und ihn in seine einzelnen Konsequenzen,
Gesetze usw. auszuarbeiten. Aber ewig wird eine solche Versammlung impotent
sein, die Gesellschaft selber umzustürzen, die sie vertritt.“ Wir sind aber an einer
Entwicklungsstufe angelangt, wo die dringendsten und unabweisbarsten Abwehrforderungen des Proletariats - das allgemeine Wahlrecht in Preußen, die allgemeine Volkswehr im Reich - einen tatsächlichen Umsturz der bestehenden
preußisch-deutschen Klassenverhältnisse bedeuten. Will die Arbeiterklasse heute
im Parlament ihre Lebensinteressen durchsetzen, dann muß sie erst „draußen“
den tatsächlichen Umsturz vollziehen. Will sie dem Parlamentarismus wieder politische Fruchtbarkeit verleihen, dann muß sie durch außerparlamentarische Aktionen die Masse selbst auf die politische Bühne führen.
(Rosa Luxemburg, Lassalles Erbschaft, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin
1973, S. 222 223)
25. Wladimir I. Lenin über die Unvermeidlichkeit der „bürgerlichen
Arbeiterpartei“ (1916)
Damals (in England um 1890 - E. L.) konnte sich die „bürgerliche Arbeiterpartei“,
um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem
einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß
eine Monopolstellung. Jetzt ist die „bürgerliche Arbeiterpartei“ unvermeidlich und
typisch für alle imperialistischen Länder.
(Wladimir I. Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, LW,
Bd. 23, Berlin 1957, S. 113)
26. Wladimir I. Lenin über die Republik als beste politische Hülle
des Kapitalismus. Vertretungsköperschaften, aber keinen Parlamentarismus (1917)
Die demokratische Republik ist die denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus, und daher begründet das Kapital, nachdem es (durch Paltschinski, Tschernow, Zereteli und Co.) von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat, seine Macht
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derart zuverlässig, derart sicher, daß kein Wechsel, weder der Personen noch der
Institutionen, noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, diese
Macht erschüttern kann.
Der Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich nicht in der Aufhebung der
Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zu suchen, sondern in der
Umwandlung der Vertretungskörperschaften aus Schwatzbuden in „arbeitende“
Körperschaften. ...
Die Vertretungskörperschaften bleiben, aber den Parlamentarismus als besonderes System, als Trennung der gesetzgebenden von der vollziehenden Tätigkeit, als
Vorzugsstellung für Abgeordnete gibt es hier nicht. Ohne Vertretungskörperschaften können wir uns eine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demokratie nicht; ohne Parlamentarismus können und müssen wir sie uns denken, soll
die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft für uns nicht ein leeres Gerede sein.
(Wladimir I. Lenin, Staat und Revolution, LW, Bd. 25, Berlin 1981, S. 405 und
436)
27. Rosa Luxemburg über das Parlament und die Erfahrungen der
bürgerlichen Revolutionen. Bürgerlicher Parlamentarismus und
Klassenherrschaft haben ihr Daseinsrecht verwirkt (1918)
Wie standen die Dinge in England? Dort ist die Wiege des bürgerlichen Parlamentarismus, dort hat er sich am frühesten, am kraftvollsten entfaltet. Als im
Jahre 1649 die Stunde der ersten modernen bürgerlichen Revolution in England
geschlagen hatte, blickte das englische Parlament bereits auf eine mehr als dreihundertjährige Geschichte zurück. Das Parlament wurde denn auch vom ersten
Augenblick der Revolution an zu ihrem Mittelpunkt, Bollwerk, ihrem Hauptquartier. Das berühmte Lange Parlament, das alle Phasen der englischen Revolution,
vom ersten Geplänkel zwischen der Opposition und der königlichen Macht bis
zum Prozeß und zur Hinrichtung Karl Stuarts, im eigenen Schoße ausgetragen hat,
dieses Parlament war ein unübertreffliches, gefügiges Werkzeug in den Händen
der aufstrebenden Bourgeoisie.
Und was ergab sich? Dieses selbe Parlament mußte sich ein besonderes „parlamentarisches Heer“ schaffen, das von ihm aus seinem Schoße gewählte Parlamentsgenerale ins Feld führten.
Und in Frankreich? Dort ward der Gedanke der Nationalversammlung zuerst geboren. Es war eine geniale welthistorische Eingebung des Klasseninstinkts, als die
Mirabeau und die anderen im Jahre 1789 erklärten: Die bis dahin stets getrennt
gewesnen drei „Stände“, Adel, Klerus und „der dritte Stand“, müßten von nun an
gemeinsam als Nationalversammlung tagen. Diese Versammlung war nämlich
gerade durch die gemeinsame Tagung der Stände ein Werkzeug des bürgerlichen
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Klassenkampfes. Zusammen mit starken Minderheiten der beiden oberen Stände
hatte der „dritte Stand“, das heißt das revolutionäre Bürgertum, in der Nationalversammlung von vornherein eine kompakte Majorität.
Und was ergab sich wiederum? Die Vendee, die Emigration, Verrat der Generale,
Zettelungen des Klerus, Aufstand von fünfzig Departements, Koalitionskriege des
feudalen Europas, schließlich als das einzige Mittel, den Sieg der Revolution zu
sichern, die Diktatur und als deren Abschluß die Schreckensherrschaft!
So wenig taugte die parlamentarische Majorität, um die bürgerlichen Revolutionen
auszufechten! Und doch, was ist der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Feudalismus, gemessen an dem gähnenden Abgrund, der heute zwischen Arbeit und
Kapital sich aufgetan!...
Und dieser letzte Kampf, der an Gewaltigkeit der Aufgabe alles Dagewesene übertrifft, soll fertigbringen, was kein Klassenkampf, keine Revolution je fertiggebracht: das Todesringen zweier Welten in ein lindes Säuseln parlamentarischer
Redeschlachten und Majoritätsbeschlüsse auflösen!
Auch der Parlamentarismus war eine Arena des Klassenkampfes für das Proletariat, solange der ruhige Alltag der bürgerlichen Gesellschaft dauerte: Er war die
Tribüne, von der aus die Massen um die Fahne des Sozialismus gesammelt, für den
Kampf geschult werden konnten. Heute stehen wir mitten in der proletarischen
Revolution, und es gilt heute, an den Baum der kapitalistischen Ausbeutung
selbst Axt zu legen. Der bürgerliche Parlamentarismus hat, wie die bürgerliche
Klassenherrschaft, deren vornehmstes politische Ziel er ist, sein Daseinsrecht
verwirkt. Jetzt tritt der Klassenkampf in seiner unverhüllten, nackten Gestalt in
die Schranken. Kapital und Arbeit haben sich nichts mehr zu sagen, sie haben
einander nur mit eiserner Umarmung zu packen und im Endkampf zu entscheiden, wer zu Boden geworfen wird.
(Rosa Luxemburg, Nationalversammlung oder Räteregierung, in: Gesammelte
Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 462, 463 und 464)
28. Karl Kautsky über die Nationalversammlung und A- und S-Räte
(1919)
Bisher sah unsere Partei ihre Aufgabe in der Revolutionierung der Köpfe, denn
nur mit solchen läßt sich der Sozialismus durchführen. Die Spartakusse dagegen
sehen ihre Aufgabe darin, eine Einrichtung zu erfinden, die uns diese mühsame
Arbeit erspart, die uns den Sieg und die Herrschaft unter allen Umständen
sichert, mögen die Massen für uns sein oder gegen uns. ...
Die Nationalversammlung ist auf dem Marsch und nichts vermag sie aufzuhalten.
Die Sozialisten, die sich ihr entgegenstellen, können nur eines erreichen: die Ver-
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kleinerung der sozialistischen Mehrheit in ihr. Die Schuld dieser Sozialisten wäre
es, wenn die Nationalversammlung gar eine gegenrevolutionäre Mehrheit aufwies.
Gerade weil diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, müssen wir um so dringender fordern, daß an Stelle des Kampfes gegen die Nationalversammlung der
Kampf um sie mit voller Kraft aufgenommen wird.
(Karl Kautsky, Nationalversammlung und Räteversammlung, Berlin 1919, S. 14
und 16)
29. Wolfgang Abendroth über den Funktionsverlust der Parlamente
im Gesetzgebungsprozeß (1959)
Das Ziel der kapitalistischen Oberschichten in der liberalen Entwicklungsperiode
des vorigen Jahrhunderts - die Verdrängung der Staatsgewalt aus dem gesellschaftlichen Leben, soweit sie nicht zur polizeilichen Unterdrückung des Proletariats unentbehrlich war - ist deshalb in allen kapitalistischen Ländern durch die
Ausdehnung der öffentlichen Gewalt zwecks Regelung fast aller Lebensbereiche jedoch unter der Kontrolle und im Interesse der Inhaber der ökonomischen Macht
- ersetzt worden.
Damit haben gleichzeitig Umfang und Kompliziertheit der Gesetzgebung erheblich zugenommen. Die Parlamente - einst das wichtigste Mittel, durch ihre legislative Gewalt den vorkapitalistischen Obrigkeitsstaat zur Anerkennung der liberalen Interessen der modernen kapitalistischen Klassen zu zwingen - haben infolge
dieser Entwicklungstendenz die Fähigkeit zur Einbringung neuer Gesetze weitgehend an die hohe Bürokratie abtreten müssen. Diese kontrolliert gleichzeitig die
Anwendung der Gesetze als administrative Bürokratie durch ihre Verordnungen
oder als richterliche Bürokratie durch ihre Urteile. Bürokratie und Richterschaft
haben, durch zahllose Generalklauseln der neuen Gesetze begünstigt, die frühere
Aufgabe des Parlaments, durch seine Normierungen konkrete Tatbestände klar zu
regeln, an sich gezogen. Die Macht der Bürokratie, die in immer stärkerem Maße
mit der Manager-Schicht der Konzerne, Trusts und Kartelle auswechselbar wird
und verschmilzt, ist dadurch gewaltig gewachsen.
(Wolfgang Abendroth, Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie, Programmentwurf 1959, in: W. Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied und Berlin 1967, S. 412)
30. Wolfgang Abendroth über Konsequenzen der Entwicklung des
Parteienkampfes als Auswahl von Führungskadern (1962)
Wird nämlich die politische Auseinandersetzung zwischen den Parteien nicht
mehr um wichtige inhaltliche Fragen, sondern nur noch um die Auswahl von
Führungskadern, geführt, so ist die notwendige Folge, daß sich die qualitativ bes-
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seren und politisch interessierten Teile des Volkes für diese Auseinandersetzung
nicht mehr so stark engagieren, daß sie noch bereit wären, ihre Zeit für die Tätigkeit in einer Partei zu opfern. Dadurch wird dann unvermeidlich die von Ossip
Flechtheim geschilderte Tendenz verstärkt, daß sich die Parteimitgliedschaft (und
vor allem die Schicht, die die Mitgliederversammlungen besucht) nicht mehr aus
Wählern ergänzt, die in der politischen Betätigung ein sachliches Anliegen sehen,
sondern aus „Anhängern, die die Partei vor allem als Stellenvermittlung betrachten“. Als weitere Folge ist die Transformation der Verhaltensweisen der Wähler in
eine bloße Konsumentenreaktion, die sich auf Akklamtion auswechselbarer (aber
am Ende in Krisensituationen nicht mehr auswechselbarer), mehr oder minder
demagogischer „Führer“ beschränkt, unvermeidlich, die selbstverständlich stets
für einen großen Teil der Wähler charakteristisch gewesen ist. So galt es bisher als
Aufgabe der politischen Parteien, diese Konsumentenreaktion zurückzudrängen.
Jetzt wird es ihr Hauptzweck, sie auszunutzen und also auch zu verstärken. Die
notwendige weitere Folge dieser „Entideologisierung“, die in Wirklichkeit die
monopolistische Beherrschung der Gesellschaft durch die jede Gesellschaftskritik negierende Ideologie der Ideologielosigkeit zum Inhalt hat, ist deshalb die
Umwandlung der Wahlkämpfe in eine Konkurrenz von Werbetechnikern, die unter
Verwendung aller modernen Informationsmittel (und gleichzeitig Manipulationsmittel) in Anpassung an das niedrigmögliche geistige und politische Niveau des
Wählers die Wortführer der Parteien als Stars aufbauen.
(Wolfgang Abendroth, Das Problem der innerparteilichen und innerverbandlichen
Demokratie in der Bundesrepublik, a. a. O., S. 306)
31. Reinhard Opitz über Monopolmacht, antimonopolistische Strategie und Parlamente (1969)
Antimonopolistische Alternativen haben demnach nichts mit gesellschaftlichen
Endvisionen zu tun, sie sind vielmehr Kampfalternativen, mit deren Durchsetzung
der Prozeß der Gesellschaftsveränderung nicht abgeschlossen, sondern forciert
bzw. überhaupt erst ausgelöst wird. Hinter den ersten Reformen, die gegen den
Willen des Monopolkapitals durchgesetzt werden und der Gesellschaft reale Einflußpositionen verschaffen, liegt nicht Ruhe, sondern verschärfter, die Entwicklung immer weiter treibender Klassenkampf.
Die Beschaffenheit der von der Opposition jeweils zum aktuellen Kampfziel zu
erhebenden Alternativen muß folglich so sein, daß sie die in einer konkreten
Situation notwendigen Entwicklungsprozesse einzuleiten vermögen. Alternativen,
die nicht die Massen ergreifen, helfen nichts. Ergriffene Massen aber, die für
Reformen kämpfen, mit denen der Allmacht der Monopole in Wahrheit keinerlei
Abbruch getan wird, helfen auch nichts. Dies sind die beiden Abwege, auf die die
oppositionelle Strategie leicht geraten kann. ...
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Wenn es gelingt, bewußt zu machen, welche Inhalte durch Mitbestimmung durchgesetzt werden sollen, dann verwandeln sich selbst bei ungünstigerem Zahlenverhältnis die Aufsichtsräte und Vorstände von Kooperationsgremien in Stätten des
Klassenkampfes.
Das aber ist auch der entscheidende Punkt in der Parlamentarismusfrage. Für die
Mehrheit der Bevölkerung ist die Demokratie mit der parlamentarischen Demokratie identisch. Die Entfunktionalisierung der Parlamente ist in allen kapitalistischen Ländern eine Folgeerscheinung der Verschmelzung von Monopolmacht und
Staatsmacht. Diesen Vorgang der Entmachtung der Parlamente als verursacht
durch das Monopolsystem der Bevölkerung erklärlich zu machen und daraus die
Notwendigkeit der Entmachtung der Monopole abzuleiten, wäre wirkliche Aufklärungsarbeit, weil sie Einsicht in die Herkunft der Entdemokratisierung vermittelt und eine klare Auskunft darüber gibt, gegen wen man sich wenden muß, um
ihr Einhalt zu gebieten.
(Reinhard Opitz, Grundfragen oppositioneller Alternative und Strategie, in: Alternativen der Opposition, Köln 1969, S. 399 und 404)
32. Wolfgang Abendroth über Ursachen oppositioneller Strömungen
in der Sozialdemokratie (1977)
Innerhalb der Sozialdemokratie entstehen immer wieder oppositionelle Strömungen gegen eine Politik der Führung, die sich mehr oder weniger bewußt in die
Interessenlagen des realistischen Flügels des Monopolkapitals einordnet. Zwar ist
das industrielle Proletariat nicht mehr in der Partei aktiv; die Mehrheit der unteren ehrenamtlichen Funktionäre der SPD besteht aus Angestellten und Beamten
der Kommunen und Länder. Gleichwohl wirken Belastungen des industriellen
Proletariats schon deshalb auf die SPD zurück, weil sie auf dessen Stimmen angewiesen ist. So werden in der Partei immer wieder oppositionelle Regungen entstehen, die an ihre Tradition als Partei des proletarischen Klassenbewußtseins
anknüpfen, wenn der Widerspruch zwischen den aktuellen Tagesinteressen der
abhängig Arbeitenden und der Politik der Führung der SPD allzu groß wird.
(Wolfgang Abendroth, Die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland und die
Perspektive ihrer Linken, in: Das Argument, Juli/August 1977, S. 474 f.)
33. Ernest Mandel gegen Reduzierung des Klassenkampfes auf seinen politisch-parlamentarischen Aspekt (1978)
Hinter der gesamten eurokommunistischen Strategie, genau wie hinter der
„Ermattungsstrategie“ Kautskys, steht eine manipulatorische und bürokratische
Auffassung von der Arbeiterbewegung, der Arbeiterpolitik und der Politik im allgemeinen, die es aufzuzeigen gilt. Der Klassenkampf ist allein auf seinen politi-
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schen, besser: politisch-parlamentarischen Aspekt reduziert. Die Beziehungen
zwischen politischen Klassen sind im wesentlichen auf alleinige Beziehungen zwischen politischen Parteien, besser: zwischen den Führungen dieser Parteien reduziert. Eine Handvoll „Führer“ ist dazu ausersehen, die sozialen Interessen von
Millionen Menschen, mit all ihren hochkomplexen Verwicklungen, zu repräsentieren und gültig zu artikulieren, und das einzig aufgrund von Wahlergebnissen.
Diese gesellschaftlichen Klassen - d. h. Millionen, in den größeren Ländern Dutzende Millionen von Menschen - sind gehalten, Hab-acht-Stellung vor den allwissenden Führern einzunehmen, nach Kommando zu marschieren oder stehenzubleiben, wie Marionetten, die von einer Mechanik manipuliert werden, die sie
strikt kontrolliert.
(Ernest Mandel, Kritik des Eurokommunismus, Berlin 1978, S. 139)
III. Literaturverzeichnis
Wolfgang Abendroth, Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie, Programmentwurf 1959, in: W. Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied und Berlin 1967
Wolfgang Abendroth, Das Problem der innerparteilichen und innerverbandlichen
Demokratie in der Bundesrepublik, a. a. O.
Wolfgang Abendroth, Die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland und die
Perspektive ihrer Linken, in: Das Argument, Juli/August 1977
August Bebel, SPD-Parteitag 1908 in Nürnberg, Protokoll und SPD-Parteitag
1910 in Magdeburg, Protokoll, zit. nach H. Grimberg (Hrsg.), Schlag nach bei
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Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der
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Friedrich Engels, Marx und die „Neue Rheinische Zeitung“ 1848-49, MEW,
Bd. 21, Berlin 1984
Friedrich Engels an Wilhelm Liebknecht in Berlin vom 29. Dezember 1884,
MEW, Bd. 36, Berlin 1967
Friedrich Engels, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Einleitung, MEW, Bd. 22, Berlin 1963
Friedrich Engels an Victor Adler, 30. August 1992, MEW, Bd. 38, Berlin 1968
Friedrich Engels, Vorwort zur 2. deutschen Auflage der „Lage der arbeitenden
Klasse in England“, MEW, Bd. 22, Berlin 1972
Friedrich Engels an Laura Lafargne, 20. Juni 1893, MEW, Bd. 39, Berlin 1978
58
Literaturverzeichnis
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MEW, Bd. 22, Berlin 1963
Karl Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, Stuttgart 1911
Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt/M. 1972
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Wladimir I. Lenin, Die Organisierung der Massen durch die Deutschen Katholiken, LW, Bd. 36, Berlin 1967
Wladimir I. Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, LW, Bd.
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Rosa Luxemburg, Die sozialistische Krise in Frankreich, in: Gesammelte Werke,
Bd. 1, Zweiter Halbband, Berlin 1970
Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie und Parlamentarismus, in: Gesammelte
Werke, Bd. 1, Zweiter Halbband
Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in:
Gesammelte Werke, Bd. 1, Zweiter Halbband
Rosa Luxemburg, Schlag auf Schlag, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973
Rosa Luxemburg, Lassalles Erbschaft, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973
Rosa Luxemburg, Nationalversammlung oder Räteregierung, in: Gesammelte
Werke, Bd. 4, Berlin 1974
Ernest Mandel, Kritik des Eurokommunismus, Berlin 1978
Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW, Bd. 1, Berlin 1978
Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW, Bd. 7, Berlin 1960
Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, Berlin 1960
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Karl Marx, Aus dem Protokoll der Sitzung der Londoner Konferenz der Internationalen Arbeiterassoziation vom 20. September 1871, MEW, Bd. 17, Berlin
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Karl Marx, Friedrich Engels an August Bebel, Wilhelm Liebknecht u. a., MEW,
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Reinhard Opitz, Grundfragen oppositioneller Alternative und Strategie, in:
Alternativen der Opposition, Köln 1969
Wilhelm Wolff, Der preußische Landtag und das Proletariat in Preußen wie überhaupt in Deutschland, in: Der Bund der Kommunisten, Dokumente und Materialien, Bd. 1, Berlin 1983
Literaturverzeichnis
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