Das arzneimittelinduzierte Delir

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PHARMAZEUTISCHE WISSENSCHAFT Autor: Mag. pharm. Dr. Gunar Stemer, aHPh
Anstaltsapotheke
Arzneimittelinformation und Klinische Pharmazie
Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien – Medizinischer Universitätscampus
Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien
Tel.: 0043 1 40400 15380, Fax: 0043 1 40495 10999
Das arzneimittelinduzierte Delir
Das Delir ist die häufigste psychische Störung bei älteren Menschen, insbesondere bei sehr alten
Menschen. Man versteht darunter eine akute, organisch bedingte Psychose mit Bewusstseinsstörungen in Form von Eintrübung, Aufmerksamkeits-, Orientierungs- und Wahrnehmungsstörungen.
Reaktionen auf Umgebungsreize sind nicht angemessen, Personen werden als „durcheinander“ bzw.
„verwirrt“ wahrgenommen. Für die Entstehung eines Delirs gibt es viele verschiedene Gründe,
die Genese ist zumeist multifaktoriell. Das vorliegende Update bietet einen Überblick über zugrundeliegende Ursachen und Risikofaktoren für ein Delir. Delirogene Medikamente als Auslöser und
dahinterliegende Mechanismen werden beleuchtet. Delirinduzierende Arzneimittel(gruppen) werden
vorgestellt und auch medikamentöse Therapieansätze vorgestellt.
Das Delir ist häufig. Zwar variieren die Angaben zur Häufigkeit des
Auftretens eines Delirs, aber es kann davon ausgegangen werden,
dass circa 15-25% der Delirien bei Aufnahme ins Krankenhaus auftreten. Bis zu 56% der Patienten werden irgendwann während des Krankenhausaufenthaltes Symptome eines Delirs aufweisen (siehe Infobox). Die aufgetretene „akute Verwirrtheit“ ist dabei nur als Symptom zu sehen, und nicht als Diagnose.
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Warnzeichen eines Delirs können vielfältig sein: plötzlicher Verlust eines Ehepartners, akut notwendig werdende Veränderungen
von Lebensgewohnheiten, Einschränkungen der Beweglichkeit
oder Bettlägrigkeit, Inkontinenz oder Harnkatheter, schlechtes
Sehen oder Hören, u.a. Für die Diagnosestellung werden der Beginn und der zeitliche Verlauf der Symptomatik, das Vorhandensein somatischer Erkrankungen, eventuell durchlaufene Phasen
von Reizentzug, Arzneimittelverschreibungen, sowie vorliegende
Störungen der kognitiven Funktion, z.B. im Rahmen von Depression oder Demenz, berücksichtigt. Ist das Delir manifest, resultieren für die Patientinnen und Patienten und die betroffenen Betreuungspersonen häufig Begleitprobleme im Sinne von Inkontinenz, Ablehnung von Therapien, das Ziehen an Kathetern oder
Stürze. Besonders gefährdet sind Patientinnen und Patienten in
der postoperativen Phase. Verwirrtheit nach größeren operativen
Eingriffen wird bei 10-15% der älteren Patientinnen und Patienten
erwartet. Eine Behandlung auf einer Intensivstation gilt als weiterer Risikofaktor, ebenso wie das Vorliegen einer Demenz als Begleiterkrankung. Zwischen der Häufigkeit des Auftretens eines
Delirs und dem Alter besteht eine direkte Beziehung. Die Mortalität deliranter Patienten ist um circa 30% höher als bei gleichaltrigen Patienten ohne Delir.
Symptome des Delirs
•B
ewusstseinsstörungen und Vigilanzminderung (von leichter Bewusstseinsminderung bis Koma)
• Kognitive Störungen (z.B. Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen)
• Desorientiertheit (zeitlich, örtlich, situativ, zur Person)
• Wahrnehmungsstörungen (z.B. Illusionen, optische Halluzinationen)
• Psychomotorische Störungen (z.B. Hypo- oder Hyperaktivität im
Wechsel)
• Schlafstörungen (z.B. völlige Schlaflosigkeit, Umkehr des SchlafWach-Rhythmus, Albträume)
• Affektive Störungen (z.B. Angst, Furcht, Reizbarkeit)
• Vegetative Störungen (z.B. Schwitzen, erhöhter Herzrhythmus)
Infobox
Im Allgemeinen unterscheidet man zwei Arten von Delir. Das hyperaktive Delir ist gekennzeichnet durch psychomotorische Unruhe, Erregung, Reizbarkeit und Angst. Es wird aufgrund seiner Ausprägung
leichter erkannt als das hypoaktive Delir. Dieses ist durch Bewegungsarmut, reduzierter Kontaktaufnahme und, wenn überhaupt, geringen vegetativen Symptomen charakterisiert. Die unterschiedliche
Ausprägung erschwert und verzögert mitunter die Diagnose, insbesondere weil die Verlaufsformen auch fluktuieren. Die diagnostische
Zertifizierte Fortbildung
Fallvignette: Frau Müller entwickelt ein Delir
Vor der
Krankenhausaufnahme
Nach Diagnosestellung Delir
und Medikationsanpassung
Kommentar
Kommentar
Acetylsalicylsäure 100 mg
Bisprolol 5 mg
Ramipril 2,5 mg
Pantoprazol 20 mg
Venlafaxin 75 mg
Triazolam 0,25 mg
Acetylsalicylsäure 100 mg
Bisprolol 5 mg
Ramipril 2,5 mg
Pantoprazol 20 mg
Venlafaxin 75 mg
Triazolam 0,25 mg
Duloxetin 30 ml
Ersatz für Diclofenac
und Amitriptylin
Donepezil macht Agitation und Inkontinenz
als Nebenwirkung, Umstellung auf anderes
Antidementivum
Memantin 5 mg
Alternative zu
Donepezil
Oxybutynin 3,9mg/24h TTS
Starke anticholinerge Wirkung von Oxybutynin, Umstellung auf nicht zentral wirksames Urospasmolytikum
Trospium 60mg
Alternative zu
Oxybutynin
Diclofenac 100mg
Fragliche Indikation und Wirksamkeit;
Therapiestopp!
Amitriptylin 25 mg
Starke anticholinerge Wirkung; Umstellung
auf anderes, für neuropathische Schmerzen
besser geeignetes Arzneimittel
Diphenhydramin 50 mg
Rezeptfreies Schlafmittel mit anticholinergem Potential; Therapiestopp!
Donepezil 10 mg
Tabelle 1: Arzneimittelanamnese, Analyse und Ergebnis der Medikationsumstellung
Abgrenzung der verschiedenen Delir-Formen zu Demenz und Depression ist ebenfalls schwierig. Das Delir setzt in der Regel plötzlich ein
und ist zeitlich limitiert ist, während die Demenz – neben weiteren
Unterscheidungsmerkmalen – sich durch einen schleichenden Beginn
und wenig bis keiner Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit und
Wahrnehmung kennzeichnet.
Arzneimittelinduziertes Delir
Studien zu Ursachen für Delir sprechen in 12-39% von einer Arzneimittel-Beteiligung. Medikamente oder eine Kombination verschiedener Wirkstoffe gelten somit als dritthäufigste Delir-Ursache nach Elektrolytstörungen (hier v.a. Hyponatriämie) und Infektionen.
Fallvignette: Frau Müller entwickelt ein Delir
Frau Müller ist eine 74 Jahre alte Patientin mit einer kürzlich diagnostizierten leichten Alzheimerdemenz (Mini Mental State Test 23), die
mit dem Cholinesterasehemmer Donepezil behandelt wird. Anamnestisch weiter bekannt sind eine koronare Herzerkrankung und immer
wiederkehrende Schlafstörungen. Frau Müller lebt alleine Zuhause,
hat aber Unterstützung von einer täglich kommenden Heimhilfe. Dieser fällt auf, dass Frau Müller wenig isst – sie hätte keinen Appetit
– und dass sie trotz regelmäßiger Einnahme von Diclofenac weiter
über Schmerzen berichtet. Nicht lange nachdem ihre Demenztherapie
eingeleitet wurde, trat bei Frau Müller eine leichte Harninkontinenz
auf. Pro Tag nimmt sie 11 verschiedene Medikamente ein. Die aufmerksame Heimhilfe bemerkt, dass Frau Müller sich zunehmend kognitiv verschlechtert, sie reagiert verwirrt und aggressiv. Zur Abklärung
ihres sich verschlechternden Allgemeinzustandes und des ungewohnt
aggressiven Verhaltens wird Frau Müller ins Krankenhaus aufgenommen.
Risikofaktoren
Auslösefaktoren
Alter > 65 Jahre
Dehydratation
Elektrolytstörungen
Umgebungsfaktoren (Lärm, Reize,
Schlafunterbrechungen)
Hypoxie, Hypoglykämie, Ischämie
Arzneimittel
Demenz
Funktionelle Beeinträchtigung oder Immobilität
Mangelernährung
Multiple Komorbiditäten
Polymedikation
Organinsuffizienzen
(Leber, Niere)
Behandlung auf
Intensivstationen
Seh- bzw. Höreinschränkung
Infektionen
Neurologische Erkrankungen
(Schlaganfall, Epilepsie)
Schmerz
Schlafentzug
Chirurgische Eingriffe
Harnkatheter
Entzugssymptomatik (Alkohol,
Drogen, Benzodiazepine)
Tabelle 2: Risikofaktoren und Auslöser für Delir
Diverse Untersuchungen und eine vollständige Arzneimittelanamnese
führen zur Diagnose arzneimittelinduziertes Delir. Eine umfassende
Medikationsanalyse wird durchgeführt und alle potentiell am Entstehen der Delir-Symptomatik beteiligten Arzneimittel angepasst (Tabelle 1).
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PHARMAZEUTISCHE WISSENSCHAFT
Risikofaktoren und Auslöser für Delir
Im Sinne eines Präventionsansatzes und des raschen Erkennens ist
vor allem das Wissen um Risikofaktoren (siehe Tabelle 2) essentiell.
Die drei Risikofaktoren Alter, Multimorbidität und Polymedikation
sind für die Genese eines arzneimittelinduzierten Delirs besonders
relevant.
Im Alter kann aufgrund physiologischer Veränderungen auch die
Pharmakodynamik vieler Arzneimittel verändert sein. So führt zum
Beispiel eine Verminderung des Gesamtkörperwassers zu einem verringertem Verteilungsvolumen wasserlöslicher Arzneistoffe. Dies bedeutet konkret für das Herzglykosid Digoxin, dass eine erhöhte Wirkkonzentration im Blut erwartet werden kann. Andererseits führt die
Abnahme von Muskelmasse im Alter zu einer relativen Zunahme des
Körperfett-Anteils. Dadurch steigt wiederum das Verteilungsvolumen
für fettlösliche Arzneistoffe. Hiervon betroffen sind beispielsweise die
extrem lipophilen Benzodiazepine (als Anxiolytika, Sedativa, oder
Hypnotika), bei denen mit einer verlängerten Eliminationshalbwertszeit und somit einer länger anhaltenden Wirkung gerechnet werden
muss. Beim alten Menschen kommt es physiologisch zu einem Rückgang der Funktionen von Niere und Leber. So ist zum Beispiel die
renale Ausscheidung diverser Antiinfektiva vermindert. Delirähnliche
Nebenwirkungen (Verwirrung, Halluzinationen, u.a.) von Ciprofloxacin
oder Aciclovir können bei Kumulation stärker ausgeprägt sein. Eine
Abnahme der Leberfunktion kann zu einer gesteigerten Bioverfügbarkeit und in Folge zu höheren Blutspiegeln von Arzneistoffen führen,
die einem hohen First-Pass-Effekt unterliegen, wie z.B. Morphin oder
Midazolam. Dadurch können auch hier wiederum Delir-ähnliche Nebenwirkungen häufiger und stärker auftreten. Die Wirkung mancher
Arzneimittel kann auch deshalb stärker ausgeprägt sein und schon
bei normaler Dosierung toxische Effekt sichtbar werden, weil im Alter
die Rezeptordichte abnimmt und Patienten somit sensibler auf bestimmte Arzneistoffe reagieren.
Wirkstoffe mit anticholinerger Hauptwirkung
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Neben den bereits erwähnten Organinsuffizienzen der Leber und/oder
Niere sind vor allem neurologische Komorbiditäten als Risikofaktoren
für ein Delir von Bedeutung. Eine gesteigerte Permeabilität der BlutHirn-Schranke für Arzneimittel kann die Folge eines Insultes sein
bzw. im Rahmen einer Demenz entstehen. Auch Morbus Parkinson,
Gefäßerkrankungen und andere hirnorganische Störungen werden zu
diesen Risikofaktoren gezählt.
Eine amerikanische Studie zeigte den Zusammenhang von Polymedikation und Delir-Häufigkeit. Patienten, die im Mittel 80 Jahre alt
waren und eine Delir-Diagnose aufwiesen, hatten signfikant mehr
Arzneimittel als nicht-delirante Patientinnen. Mit steigender Anzahl
an verordneten Medikamenten erhöht sich gleichzeitig auch das Risiko für Wechselwirkungen, und sich bei alleiniger Verabreichung
nicht manifestierende Nebenwirkungen treten auf.
Besonderes Augenmerk sollte auf das Erkennen und Vermeiden von
sogenannten ‚Verschreibungskaskaden‘ liegen. Darunter versteht
man die Verschreibung neuer, zusätzlicher Arzneimittel zur Behandlung der Nebenwirkung eines anderen Arzneimittels. So können beispielsweise Cholinesterasehemmer (vgl. Fallvignette) zu Dranginkontinenz führen, woraufhin ein urospasmolytischer Wirkstoff (z.B. Oxybutynin) zur Therapie dieser Nebenwirkung verordnet wird. Die
daraufhin entstehenden delirähnlichen Nebenwirkungen (z.B. Agitation) werden wiederum reaktiv mit Sedativa behandelt. Dem Durchbrechen solcher Kaskaden kommt demnach für die Reduktion der
Polymedikation eine ganz entscheidene Bedeutung zu.
Delirogene Arzneimittel
Die Enstehung eines Delirs wird vor allem mit den zwei Neurotransmittern Dopamin und Acetylcholin in Verbindung gebracht. Dopamin
ist als Botenstoff im Zentralnervensystem an Informationsübertragung beteiligt, wobei hier vor allem ein dopaminerger Überschuss für
Wirkstoffe mit anticholinergen Nebenwirkungen
Arzneistoffgruppe
Vertreter (Beispiele)
Arzneistoffgruppe
Vertreter (Beispiele)
Antiemetika, Antivertiginosa
Dimenhydrinat, Scopolamin
Antiarrhythmika
Chinidin, Procainamid
Parkinsonmedikamente
Biperiden
Antihistaminika
(Sedativa, Antiallergika)
Diphenhydramin, Cetirizin
Gastrointestinale Spasmolytika
Butylscopolamin
Muskelrelaxanzien
Orphenadrin
Urologische Spasmolytika
Oxybutynin, Tolterodin, Fesoterodin, Darifenacin, Solifenacin
Ulkusmedikamente
Ranitidin
Inhalative Bronchodilatatoren
Ipratropium, Tiotropium, Aclidiniumbromid
Antidepressiva
Trizyklika
(z.B. Amitriptylin, Clomipramin)
Mydriatika
Atropin, Scopolamin, Homatropin, Tropicamid
Antipsychotika
Clozapin, Olanzapin
Intensivmedizin, präoperative
Medikation
Atropin
Analgetika
Pethidin, Fentanyl, Methadon,
Morphin, Tramadol
Benzodiazepine
Diazepam
Tabelle 3: Beispiele für Wirkstoffe mit anticholinerger Haupt- bzw. Nebenwirkung.
Zertifizierte Fortbildung
3 Punkte
2 Punkte
1 Punkt
Amitriptylin
Atropin
Chlorpheniramin
Diphenhydramin
Hydroxyzin
Oxybutynin
Tizanidin
Amantadin
Baclofen
Cetirizin
Clozapin
Loperamid
Loratadin
Olanzapin
Pseudoephedrin
Tolterodin
Carbidopa-Levodopa
Entacapon
Haloperidol
Metoclopramid
Mirtazapin
Paroxetin
Pramipexol
Quetiapin
Ranitidin
Risperidon
Selegilin
Trazodon
Ziprasidone
Tabelle 4: A
nticholinergic Risk Scale (Je höher der anticholinerge Risiko-Score einer Arzneimitteltherapie ist, desto höher ist das Risiko
für anticholinerge Nebenwirkungen), nach Rudolph JL et al. 2008.
die Delirenstehung veranwortlich ist. Acetylcholin ist wesentlich für
kognitive Funktionen und Vigilanz verantwortlich. Eine Reduktion
von Acetylcholin (cholinerges Defizit, z.B. durch bestimmte anticholinerg-wirkende Arzneimittel) ist zentral an der Delirentstehung beteiligt. Durch den Alterungsprozess kommt es per se schon zu einer
Verarmung am Neurotransmitter Acetylcholin. Periphere anticholinerge Effekte äußern sich beispielsweise in der Austrockung von
Schleimhäuten (Mundtrockenheit), trockenen Augen und trockener,
roter und warmer Haut (durch reduzierte Schweiß- bzw. Speichelbildung). Die Pupillen können erweitert sein, es kann zu Obstipation,
Harnverhalt bzw. einer erhöhten Herzfrequenz kommen. Zentralnervös äußert sich ein Mangel an Acetylcholin durch Stürze, Verwirrung,
Schwindel, Unruhe und Erregungszustände, Angst, Halluzinationen,
Krämpfe und Bewusstseinseintrübung.
Anticholinergwirkende Arzneimittel
Eine Vielzahl von Arzneistoffen haben ein anticholinerges Potential
und werden der Arzneimittelgruppe der Anticholinergika zugeschrieben. Hierbei handelt es sich allerdings um eine sehr heterogene
Gruppe, die Vertreter aus vielen verschiedenen Arzneistoffklassen
umfasst. Anticholinergika werden einerseits bewusst aufgrund ihres
Wirkmechanismus eingesetzt (z.B. Urospasmolytika), andererseits
gibt es zahlreiche Wirkstoffe, die neben ihrer pharmakologisch intendierten Hauptwirkung häufig anticholinerge Nebenwirkungen provozieren. Tabelle 3 enthält Beispiele für Wirkstoffe mit anticholinerger
Haupt- bzw. Nebenwirkung.
In der Praxis zeigt sich, dass nicht alle potentiell anticholinergen
Wirkstoffe das gleiche Risiko für ein Delir mit sich bringen. Für die
Risikoquantifizierung sind in der Literatur verschiedene Werkzeuge
publiziert, wobei hier exemplarisch die sogenannte Anticholinergic
Risk Scale vorgestellt werden soll (Tabelle 4). Je höher die Punkteanzahl für ein Arzneimittelschema ist (d.h. je größer die sogenannte
anticholinerge Last), desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer
Delirentstehung. Diese ermöglicht auch eine differenziertere Auswahl
von Wirkstoffen, wenn zum Beispiel auf einen Wirkstoff mit ähnlicher
Wirkung, aber niedrigerem delirogenen Potential zurückgegriffen
werden kann und so die gesamte anticholinerge Last eines Arzneimittelregimes reduziert werden kann.
Und da sind noch viele andere mehr!
Neben insuffizient behandelter Schmerzzustände können auch Opiate delirogen wirken. Die Komplexität resultiert daraus, die Balance
zwischen ausreichender Schmerztherapie (Vermeidung eines Delirs
aufgrund unbehandelter Schmerzen) und Auswahl und Dosierung der
Schmerzmittel (Vermeidung eines Delirs durch Opiate) zu finden. Die
„Zielgruppe“ für Opiate ist in der Regel schwerer krank und weist
zumeist schon Grunderkrankungen und Komorbididäten auf, die
selbst Risikofaktoren für ein Delir darstellen.
Generell wird eine langsame Auftitration empfohlen (‚start low, go
slow‘). Hypoaktive Delirien treten eher zu Beginn einer Opiat-Therapie bei Opiat-naiven Patienten auf, bei chronischer Schmerztherapie
gelten hyperaktive Delirien als häufiger. Besonders im Verdacht ein
Delir auszulösen steht das Opiat Pethidin (mit Verwirrungszuständen
als häufiger Nebenwirkung und weiteren neurolgischen und zentralnervösen Störwirkungen). Auch für das schwache Opiat Tramadol
sind Verwirrung, Halluzinationen und eine veränderte Sinneswahrnehmung als Nebenwirkungen beschrieben. Ferner zu beachten ist,
dass Tramadol auch über seine serotoninerge Wirkung agitierend
wirken kann.
Eine prospektive Untersuchung zu Risikofaktoren für Delir ergab,
dass 50 von 230 Patienten (22%) eine Delirdiagnose bei Aufnahme
ins Krankenhaus hatten, bei denen in 7 Fällen Benzodiazepine beteiligt waren. Benzodiazepine, die als Schlafmittel oder angstlösende
Substanzen zur Anwendung kommen, haben einen Einfluss auf die
Delirentstehung, wobei insbesondere auch paradoxe BenzodiazepinReaktionen (z.B. Unruhe, Reizbarkeit, Aggressivität) beschrieben und
zu beachten sind. Bei chronischem Benzodiazepinabusus kann es bei
versehentlichem Absetzen (z.B. bei unvollständiger Arzneimittelanamnese) zu einem entzugsbedingten Delir kommen. Auch für Benzodiazepine gilt ‚start low, go slow‘, die kürzest mögliche Therapiedauer
ist anzustreben und jene Benzodiazepine mit kürzerer Halbwertszeit
zu bevorzugen.
Die heterogene Gruppe der Psychopharmaka enthält auch delirogene
Arzneistoffe, wobei hier die anticholinerge Potenz sehr variabel ist.
Generell scheinen die neueren Substanzen (z.B. Risperidon) weniger
anticholinerg zu sein, als z.B. die Antipsychotika der ersten Generation (Pimozid, Zuclopenthixol). Aufmerksamkeit sollte vor allem auf
den Wirkstoff Amitriptylin gelegt werden, der auch zur Behandlung
von neuropathischen Schmerzen eingesetzt wird (siehe Fallvignette),
da dieser Wirkstoff ein starkes anticholinerges Potential aufweist.
Die Antidepressiva aus der Gruppe der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) zeigen, verglichen mit den Trizyklika, ein
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PHARMAZEUTISCHE WISSENSCHAFT
geringeres Delir-Risiko. Nicht zu unterschätzen ist allerdings das Risiko für eine Hyponatriämie, die ihrerseits wiederum zu einem Delir
führen kann. Hier sind vor allem die Wirkstoffe Fluoxetin, Fluvoxamin,
Paroxetin und Sertralin zu nennen. Fallberichte gibt es für fast alle
SSRIs und die Möglichkeit der Delirentstehung durch Hyponätriämie
bzw. die Misinterpretation eines Serotoninsyndroms (exzessive Stimulation verschiedener postsynaptischer Serotoninrezeptoren, gekennzeichnet durch zentralnervöse Erregung und neuromuskulären
Symptomen) sind zu berücksichtigen.
Neben den schon erwähnten Wirkstoffgruppen ist Delir als Nebenwirkung für viele weitere Arzneistoffe beschrieben. Diuretika wirken potentiell delirogen, weil sie zu Elektrolytverschiebungen und Dehydratation führen können. Chinolon-Antibiotika haben neurolgische Nebenwirkungen, wobei das delirogene Potential von der
Liquorgängigkeit abhängt, die z.B. bei Ciprofloxacin gegenüber Levofloxacin höher ist. Das Reserveantibiotikum Linezolid verfügt
neben seiner antibakteriellen Wirkung aufgrund der MAO-Hemmung
auch über eine serotoninerge Wirkung. Steroide können euphorisch
und dysphorisch wirken, das Auftreten von Psychosen und Halluzinationen ist beschrieben und delirähnliche Nebenwirkungen sind dosisabhängig.
Prävention und medikamentöse Therapie
Die Kenntnis von Risikofaktoren und das dementsprechende Management (d.h. Reduktion von Polymedikation, vollständige Anamnese, Dosierungsanpassung, Vermeidung von bestimmten Arzneistoffen) ist im Sinne eines Präventionsansatzes sehr wichtig. Flankierende Maßnahmen wie Schaffen einer ruhigen Umgebung, Zuwendung
zum Patienten, Herstellen von Orientierung sind zu ergreifen. Haloperidol kann in niedriger Dosierung, unter Berücksichtigung von Kontraindikationen und Nebenwirkungen (QT-Zeit und extrapyramidale
Symptomatik) vor allem zur Kontrolle psychotischer Symptome
(Angst, Halluzinationen) angewandt werden. Sedierende Substanzen
sollten nur kurzfristig und vorübergehend als symptomatische Maßnahme angewandt werden und schnellstmöglich Dosisreduktionsversuche durchgeführt werden.
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Tune LE et al. Acetylcholine and Delirium. Dement Geriatr Cogn
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Der Autor
Mag. pharm. Dr. Gunar Stemer
arbeitet als Krankenhausapotheker und klinischer Pharmazeut
in der Anstaltsapotheke des Allgemeinen Krankenhauses der
Stadt Wien – Medizinischer Universitätscampus. Er ist Leiter der
Abteilung Arzneimittelinformation und Klinische Pharmazie der
Anstaltsapotheke. Seine fachlichen Interessensgebiete umfassen Arzneimittelinformation, evidenzbasierte Pharmakotherapie
und Klinische Pharmazie im Bereich Nephrologie und Nierentransplantation. Mag.pharm. Dr. Gunar Stemer unterrichtet Phar-
12
makologie am Fachhochschulcampus Wien, Pharmakokinetik an
der Universität Wien und betreut Diplomarbeiten zu klinischpharmazeutischen Fragestellungen. Er ist Schriftführer der Arbeitsgemeinschaft der Österreichischen Krankenhausapotheker,
Mitglied im Fortbildungsausschuss der Österreichischen Apothekerkammer, Associate Editor im European Journal of Hospital
Pharmacy und Mitglied des Wissenschaftlichen Komitees der
European Association of Hospital Pharmacists.
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1. Welches Symptom tritt im Allgemeinen nicht im Rahmen eines
Delirs auf?
a) Konzentrationsstörungen
b) Schlaflosigkeit
c) Exantheme
d) Schwitzen
2. Welche Aussage über das Delir ist nicht richtig?
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3. Zum arzneimittelinduzierten Delir:
Welche Aussage ist nicht richtig?
a) Bei bis zu 40% der Delirien sind Arzneimittel als Ursache beteiligt.
b) Arzneimittel sind der häufigste Grund für das Entstehen von Delir im
Krankenhaus.
c) Bestimmte Arzneimittelgruppen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit ein Delir auszulösen.
d) Polymedikation erhöht die Wahrscheinlichkeit für ein Arzneimittelinduziertes Delir.
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4. Welches ist kein Risikofaktor für ein Delir?
a) Genetische Disposition
b) Demenz
c) Eingeschränkte Nierenfunktion
d) Alter
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5. Welches ist kein Auslösefaktor für ein Delir?
a) Schmerz
b) Schlafentzug
c) Hyponatriämie
d) Hyperurikämie
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❒
❒ a) Es gibt Warnzeichen, die für die Delirentstehung prädisponieren
können (z.B. plötzliche Veränderungen von Lebensgewohnheiten).
❒ b) Das Auftreten eines Delirs ist immer auf eine ganz klar bestimmbare
Ursache zurückzuführen.
❒ c) Delir ist die häufigste psychische Störung bei älteren Menschen.
❒ d) Es gibt verschiedene Delir-Verlaufsformen.
❒
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❒
6. Welche Aussage zu physiologischen Veränderungen im Alter ist
richtig?
a) Das verminderte Gesamtkörperwasser im Alter führt zu einer erhöhten Clearance von Arzneistoffen.
b) Das verminderte Gesamtkörperwasser im Alter führt zu einer Erniedrigung der Plasmakonzentrationen von wasserlöslichen Wirkstoffen,
weil auch deren Verteilungsvolumen abnimmt.
c) Die Eliminationshalbwertszeit bei fettlöslichen Arzneistoffen kann
sich aufgrund physiologischer Veränderungen im Alter verändern.
d) Die Bioverfügbarkeit bestimmter Wirkstoffe ist unabhängig vom
Alter.
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❒
❒
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7. Für welches Antiinfektivum sind delirähnliche Nebenwirkungen
nicht beschrieben?
a) Ciprofloxacin
b) Linezolid
c) Pivmecillinam
d) Aciclovir
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❒
8. Welcher Neurotransmitter ist an der Delir-Entstehung wesentlich
beteiligt?
a) Acetylcholin
b) GABA
c) Histamin
d) Adrenalin
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❒
9. Welcher der folgenden Wirkstoffe weist das höchste anticholinerge Potential gemäß der anticholinergen Risikoskala auf?
a) Quetiapin
b) Olanzapin
c) Baclofen
d) Amitriptylin
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❒
❒
10. Welches Neuroleptikum kann zur kurzfristigen Therapie von
psychotischen Zuständen im Rahmen eines Delirs in niedriger
Dosis verwendet werden?
a) Hydroxyzin
b) Haloperidol
c) Trazodon
d) Tizanidin
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