PHARMAZEUTISCHE WISSENSCHAFT Autor: Mag. pharm. Dr. Gunar Stemer, aHPh Anstaltsapotheke Arzneimittelinformation und Klinische Pharmazie Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien – Medizinischer Universitätscampus Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien Tel.: 0043 1 40400 15380, Fax: 0043 1 40495 10999 Das arzneimittelinduzierte Delir Das Delir ist die häufigste psychische Störung bei älteren Menschen, insbesondere bei sehr alten Menschen. Man versteht darunter eine akute, organisch bedingte Psychose mit Bewusstseinsstörungen in Form von Eintrübung, Aufmerksamkeits-, Orientierungs- und Wahrnehmungsstörungen. Reaktionen auf Umgebungsreize sind nicht angemessen, Personen werden als „durcheinander“ bzw. „verwirrt“ wahrgenommen. Für die Entstehung eines Delirs gibt es viele verschiedene Gründe, die Genese ist zumeist multifaktoriell. Das vorliegende Update bietet einen Überblick über zugrundeliegende Ursachen und Risikofaktoren für ein Delir. Delirogene Medikamente als Auslöser und dahinterliegende Mechanismen werden beleuchtet. Delirinduzierende Arzneimittel(gruppen) werden vorgestellt und auch medikamentöse Therapieansätze vorgestellt. Das Delir ist häufig. Zwar variieren die Angaben zur Häufigkeit des Auftretens eines Delirs, aber es kann davon ausgegangen werden, dass circa 15-25% der Delirien bei Aufnahme ins Krankenhaus auftreten. Bis zu 56% der Patienten werden irgendwann während des Krankenhausaufenthaltes Symptome eines Delirs aufweisen (siehe Infobox). Die aufgetretene „akute Verwirrtheit“ ist dabei nur als Symptom zu sehen, und nicht als Diagnose. 8 Warnzeichen eines Delirs können vielfältig sein: plötzlicher Verlust eines Ehepartners, akut notwendig werdende Veränderungen von Lebensgewohnheiten, Einschränkungen der Beweglichkeit oder Bettlägrigkeit, Inkontinenz oder Harnkatheter, schlechtes Sehen oder Hören, u.a. Für die Diagnosestellung werden der Beginn und der zeitliche Verlauf der Symptomatik, das Vorhandensein somatischer Erkrankungen, eventuell durchlaufene Phasen von Reizentzug, Arzneimittelverschreibungen, sowie vorliegende Störungen der kognitiven Funktion, z.B. im Rahmen von Depression oder Demenz, berücksichtigt. Ist das Delir manifest, resultieren für die Patientinnen und Patienten und die betroffenen Betreuungspersonen häufig Begleitprobleme im Sinne von Inkontinenz, Ablehnung von Therapien, das Ziehen an Kathetern oder Stürze. Besonders gefährdet sind Patientinnen und Patienten in der postoperativen Phase. Verwirrtheit nach größeren operativen Eingriffen wird bei 10-15% der älteren Patientinnen und Patienten erwartet. Eine Behandlung auf einer Intensivstation gilt als weiterer Risikofaktor, ebenso wie das Vorliegen einer Demenz als Begleiterkrankung. Zwischen der Häufigkeit des Auftretens eines Delirs und dem Alter besteht eine direkte Beziehung. Die Mortalität deliranter Patienten ist um circa 30% höher als bei gleichaltrigen Patienten ohne Delir. Symptome des Delirs •B ewusstseinsstörungen und Vigilanzminderung (von leichter Bewusstseinsminderung bis Koma) • Kognitive Störungen (z.B. Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen) • Desorientiertheit (zeitlich, örtlich, situativ, zur Person) • Wahrnehmungsstörungen (z.B. Illusionen, optische Halluzinationen) • Psychomotorische Störungen (z.B. Hypo- oder Hyperaktivität im Wechsel) • Schlafstörungen (z.B. völlige Schlaflosigkeit, Umkehr des SchlafWach-Rhythmus, Albträume) • Affektive Störungen (z.B. Angst, Furcht, Reizbarkeit) • Vegetative Störungen (z.B. Schwitzen, erhöhter Herzrhythmus) Infobox Im Allgemeinen unterscheidet man zwei Arten von Delir. Das hyperaktive Delir ist gekennzeichnet durch psychomotorische Unruhe, Erregung, Reizbarkeit und Angst. Es wird aufgrund seiner Ausprägung leichter erkannt als das hypoaktive Delir. Dieses ist durch Bewegungsarmut, reduzierter Kontaktaufnahme und, wenn überhaupt, geringen vegetativen Symptomen charakterisiert. Die unterschiedliche Ausprägung erschwert und verzögert mitunter die Diagnose, insbesondere weil die Verlaufsformen auch fluktuieren. Die diagnostische Zertifizierte Fortbildung Fallvignette: Frau Müller entwickelt ein Delir Vor der Krankenhausaufnahme Nach Diagnosestellung Delir und Medikationsanpassung Kommentar Kommentar Acetylsalicylsäure 100 mg Bisprolol 5 mg Ramipril 2,5 mg Pantoprazol 20 mg Venlafaxin 75 mg Triazolam 0,25 mg Acetylsalicylsäure 100 mg Bisprolol 5 mg Ramipril 2,5 mg Pantoprazol 20 mg Venlafaxin 75 mg Triazolam 0,25 mg Duloxetin 30 ml Ersatz für Diclofenac und Amitriptylin Donepezil macht Agitation und Inkontinenz als Nebenwirkung, Umstellung auf anderes Antidementivum Memantin 5 mg Alternative zu Donepezil Oxybutynin 3,9mg/24h TTS Starke anticholinerge Wirkung von Oxybutynin, Umstellung auf nicht zentral wirksames Urospasmolytikum Trospium 60mg Alternative zu Oxybutynin Diclofenac 100mg Fragliche Indikation und Wirksamkeit; Therapiestopp! Amitriptylin 25 mg Starke anticholinerge Wirkung; Umstellung auf anderes, für neuropathische Schmerzen besser geeignetes Arzneimittel Diphenhydramin 50 mg Rezeptfreies Schlafmittel mit anticholinergem Potential; Therapiestopp! Donepezil 10 mg Tabelle 1: Arzneimittelanamnese, Analyse und Ergebnis der Medikationsumstellung Abgrenzung der verschiedenen Delir-Formen zu Demenz und Depression ist ebenfalls schwierig. Das Delir setzt in der Regel plötzlich ein und ist zeitlich limitiert ist, während die Demenz – neben weiteren Unterscheidungsmerkmalen – sich durch einen schleichenden Beginn und wenig bis keiner Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung kennzeichnet. Arzneimittelinduziertes Delir Studien zu Ursachen für Delir sprechen in 12-39% von einer Arzneimittel-Beteiligung. Medikamente oder eine Kombination verschiedener Wirkstoffe gelten somit als dritthäufigste Delir-Ursache nach Elektrolytstörungen (hier v.a. Hyponatriämie) und Infektionen. Fallvignette: Frau Müller entwickelt ein Delir Frau Müller ist eine 74 Jahre alte Patientin mit einer kürzlich diagnostizierten leichten Alzheimerdemenz (Mini Mental State Test 23), die mit dem Cholinesterasehemmer Donepezil behandelt wird. Anamnestisch weiter bekannt sind eine koronare Herzerkrankung und immer wiederkehrende Schlafstörungen. Frau Müller lebt alleine Zuhause, hat aber Unterstützung von einer täglich kommenden Heimhilfe. Dieser fällt auf, dass Frau Müller wenig isst – sie hätte keinen Appetit – und dass sie trotz regelmäßiger Einnahme von Diclofenac weiter über Schmerzen berichtet. Nicht lange nachdem ihre Demenztherapie eingeleitet wurde, trat bei Frau Müller eine leichte Harninkontinenz auf. Pro Tag nimmt sie 11 verschiedene Medikamente ein. Die aufmerksame Heimhilfe bemerkt, dass Frau Müller sich zunehmend kognitiv verschlechtert, sie reagiert verwirrt und aggressiv. Zur Abklärung ihres sich verschlechternden Allgemeinzustandes und des ungewohnt aggressiven Verhaltens wird Frau Müller ins Krankenhaus aufgenommen. Risikofaktoren Auslösefaktoren Alter > 65 Jahre Dehydratation Elektrolytstörungen Umgebungsfaktoren (Lärm, Reize, Schlafunterbrechungen) Hypoxie, Hypoglykämie, Ischämie Arzneimittel Demenz Funktionelle Beeinträchtigung oder Immobilität Mangelernährung Multiple Komorbiditäten Polymedikation Organinsuffizienzen (Leber, Niere) Behandlung auf Intensivstationen Seh- bzw. Höreinschränkung Infektionen Neurologische Erkrankungen (Schlaganfall, Epilepsie) Schmerz Schlafentzug Chirurgische Eingriffe Harnkatheter Entzugssymptomatik (Alkohol, Drogen, Benzodiazepine) Tabelle 2: Risikofaktoren und Auslöser für Delir Diverse Untersuchungen und eine vollständige Arzneimittelanamnese führen zur Diagnose arzneimittelinduziertes Delir. Eine umfassende Medikationsanalyse wird durchgeführt und alle potentiell am Entstehen der Delir-Symptomatik beteiligten Arzneimittel angepasst (Tabelle 1). 9 PHARMAZEUTISCHE WISSENSCHAFT Risikofaktoren und Auslöser für Delir Im Sinne eines Präventionsansatzes und des raschen Erkennens ist vor allem das Wissen um Risikofaktoren (siehe Tabelle 2) essentiell. Die drei Risikofaktoren Alter, Multimorbidität und Polymedikation sind für die Genese eines arzneimittelinduzierten Delirs besonders relevant. Im Alter kann aufgrund physiologischer Veränderungen auch die Pharmakodynamik vieler Arzneimittel verändert sein. So führt zum Beispiel eine Verminderung des Gesamtkörperwassers zu einem verringertem Verteilungsvolumen wasserlöslicher Arzneistoffe. Dies bedeutet konkret für das Herzglykosid Digoxin, dass eine erhöhte Wirkkonzentration im Blut erwartet werden kann. Andererseits führt die Abnahme von Muskelmasse im Alter zu einer relativen Zunahme des Körperfett-Anteils. Dadurch steigt wiederum das Verteilungsvolumen für fettlösliche Arzneistoffe. Hiervon betroffen sind beispielsweise die extrem lipophilen Benzodiazepine (als Anxiolytika, Sedativa, oder Hypnotika), bei denen mit einer verlängerten Eliminationshalbwertszeit und somit einer länger anhaltenden Wirkung gerechnet werden muss. Beim alten Menschen kommt es physiologisch zu einem Rückgang der Funktionen von Niere und Leber. So ist zum Beispiel die renale Ausscheidung diverser Antiinfektiva vermindert. Delirähnliche Nebenwirkungen (Verwirrung, Halluzinationen, u.a.) von Ciprofloxacin oder Aciclovir können bei Kumulation stärker ausgeprägt sein. Eine Abnahme der Leberfunktion kann zu einer gesteigerten Bioverfügbarkeit und in Folge zu höheren Blutspiegeln von Arzneistoffen führen, die einem hohen First-Pass-Effekt unterliegen, wie z.B. Morphin oder Midazolam. Dadurch können auch hier wiederum Delir-ähnliche Nebenwirkungen häufiger und stärker auftreten. Die Wirkung mancher Arzneimittel kann auch deshalb stärker ausgeprägt sein und schon bei normaler Dosierung toxische Effekt sichtbar werden, weil im Alter die Rezeptordichte abnimmt und Patienten somit sensibler auf bestimmte Arzneistoffe reagieren. Wirkstoffe mit anticholinerger Hauptwirkung 10 Neben den bereits erwähnten Organinsuffizienzen der Leber und/oder Niere sind vor allem neurologische Komorbiditäten als Risikofaktoren für ein Delir von Bedeutung. Eine gesteigerte Permeabilität der BlutHirn-Schranke für Arzneimittel kann die Folge eines Insultes sein bzw. im Rahmen einer Demenz entstehen. Auch Morbus Parkinson, Gefäßerkrankungen und andere hirnorganische Störungen werden zu diesen Risikofaktoren gezählt. Eine amerikanische Studie zeigte den Zusammenhang von Polymedikation und Delir-Häufigkeit. Patienten, die im Mittel 80 Jahre alt waren und eine Delir-Diagnose aufwiesen, hatten signfikant mehr Arzneimittel als nicht-delirante Patientinnen. Mit steigender Anzahl an verordneten Medikamenten erhöht sich gleichzeitig auch das Risiko für Wechselwirkungen, und sich bei alleiniger Verabreichung nicht manifestierende Nebenwirkungen treten auf. Besonderes Augenmerk sollte auf das Erkennen und Vermeiden von sogenannten ‚Verschreibungskaskaden‘ liegen. Darunter versteht man die Verschreibung neuer, zusätzlicher Arzneimittel zur Behandlung der Nebenwirkung eines anderen Arzneimittels. So können beispielsweise Cholinesterasehemmer (vgl. Fallvignette) zu Dranginkontinenz führen, woraufhin ein urospasmolytischer Wirkstoff (z.B. Oxybutynin) zur Therapie dieser Nebenwirkung verordnet wird. Die daraufhin entstehenden delirähnlichen Nebenwirkungen (z.B. Agitation) werden wiederum reaktiv mit Sedativa behandelt. Dem Durchbrechen solcher Kaskaden kommt demnach für die Reduktion der Polymedikation eine ganz entscheidene Bedeutung zu. Delirogene Arzneimittel Die Enstehung eines Delirs wird vor allem mit den zwei Neurotransmittern Dopamin und Acetylcholin in Verbindung gebracht. Dopamin ist als Botenstoff im Zentralnervensystem an Informationsübertragung beteiligt, wobei hier vor allem ein dopaminerger Überschuss für Wirkstoffe mit anticholinergen Nebenwirkungen Arzneistoffgruppe Vertreter (Beispiele) Arzneistoffgruppe Vertreter (Beispiele) Antiemetika, Antivertiginosa Dimenhydrinat, Scopolamin Antiarrhythmika Chinidin, Procainamid Parkinsonmedikamente Biperiden Antihistaminika (Sedativa, Antiallergika) Diphenhydramin, Cetirizin Gastrointestinale Spasmolytika Butylscopolamin Muskelrelaxanzien Orphenadrin Urologische Spasmolytika Oxybutynin, Tolterodin, Fesoterodin, Darifenacin, Solifenacin Ulkusmedikamente Ranitidin Inhalative Bronchodilatatoren Ipratropium, Tiotropium, Aclidiniumbromid Antidepressiva Trizyklika (z.B. Amitriptylin, Clomipramin) Mydriatika Atropin, Scopolamin, Homatropin, Tropicamid Antipsychotika Clozapin, Olanzapin Intensivmedizin, präoperative Medikation Atropin Analgetika Pethidin, Fentanyl, Methadon, Morphin, Tramadol Benzodiazepine Diazepam Tabelle 3: Beispiele für Wirkstoffe mit anticholinerger Haupt- bzw. Nebenwirkung. Zertifizierte Fortbildung 3 Punkte 2 Punkte 1 Punkt Amitriptylin Atropin Chlorpheniramin Diphenhydramin Hydroxyzin Oxybutynin Tizanidin Amantadin Baclofen Cetirizin Clozapin Loperamid Loratadin Olanzapin Pseudoephedrin Tolterodin Carbidopa-Levodopa Entacapon Haloperidol Metoclopramid Mirtazapin Paroxetin Pramipexol Quetiapin Ranitidin Risperidon Selegilin Trazodon Ziprasidone Tabelle 4: A nticholinergic Risk Scale (Je höher der anticholinerge Risiko-Score einer Arzneimitteltherapie ist, desto höher ist das Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen), nach Rudolph JL et al. 2008. die Delirenstehung veranwortlich ist. Acetylcholin ist wesentlich für kognitive Funktionen und Vigilanz verantwortlich. Eine Reduktion von Acetylcholin (cholinerges Defizit, z.B. durch bestimmte anticholinerg-wirkende Arzneimittel) ist zentral an der Delirentstehung beteiligt. Durch den Alterungsprozess kommt es per se schon zu einer Verarmung am Neurotransmitter Acetylcholin. Periphere anticholinerge Effekte äußern sich beispielsweise in der Austrockung von Schleimhäuten (Mundtrockenheit), trockenen Augen und trockener, roter und warmer Haut (durch reduzierte Schweiß- bzw. Speichelbildung). Die Pupillen können erweitert sein, es kann zu Obstipation, Harnverhalt bzw. einer erhöhten Herzfrequenz kommen. Zentralnervös äußert sich ein Mangel an Acetylcholin durch Stürze, Verwirrung, Schwindel, Unruhe und Erregungszustände, Angst, Halluzinationen, Krämpfe und Bewusstseinseintrübung. Anticholinergwirkende Arzneimittel Eine Vielzahl von Arzneistoffen haben ein anticholinerges Potential und werden der Arzneimittelgruppe der Anticholinergika zugeschrieben. Hierbei handelt es sich allerdings um eine sehr heterogene Gruppe, die Vertreter aus vielen verschiedenen Arzneistoffklassen umfasst. Anticholinergika werden einerseits bewusst aufgrund ihres Wirkmechanismus eingesetzt (z.B. Urospasmolytika), andererseits gibt es zahlreiche Wirkstoffe, die neben ihrer pharmakologisch intendierten Hauptwirkung häufig anticholinerge Nebenwirkungen provozieren. Tabelle 3 enthält Beispiele für Wirkstoffe mit anticholinerger Haupt- bzw. Nebenwirkung. In der Praxis zeigt sich, dass nicht alle potentiell anticholinergen Wirkstoffe das gleiche Risiko für ein Delir mit sich bringen. Für die Risikoquantifizierung sind in der Literatur verschiedene Werkzeuge publiziert, wobei hier exemplarisch die sogenannte Anticholinergic Risk Scale vorgestellt werden soll (Tabelle 4). Je höher die Punkteanzahl für ein Arzneimittelschema ist (d.h. je größer die sogenannte anticholinerge Last), desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Delirentstehung. Diese ermöglicht auch eine differenziertere Auswahl von Wirkstoffen, wenn zum Beispiel auf einen Wirkstoff mit ähnlicher Wirkung, aber niedrigerem delirogenen Potential zurückgegriffen werden kann und so die gesamte anticholinerge Last eines Arzneimittelregimes reduziert werden kann. Und da sind noch viele andere mehr! Neben insuffizient behandelter Schmerzzustände können auch Opiate delirogen wirken. Die Komplexität resultiert daraus, die Balance zwischen ausreichender Schmerztherapie (Vermeidung eines Delirs aufgrund unbehandelter Schmerzen) und Auswahl und Dosierung der Schmerzmittel (Vermeidung eines Delirs durch Opiate) zu finden. Die „Zielgruppe“ für Opiate ist in der Regel schwerer krank und weist zumeist schon Grunderkrankungen und Komorbididäten auf, die selbst Risikofaktoren für ein Delir darstellen. Generell wird eine langsame Auftitration empfohlen (‚start low, go slow‘). Hypoaktive Delirien treten eher zu Beginn einer Opiat-Therapie bei Opiat-naiven Patienten auf, bei chronischer Schmerztherapie gelten hyperaktive Delirien als häufiger. Besonders im Verdacht ein Delir auszulösen steht das Opiat Pethidin (mit Verwirrungszuständen als häufiger Nebenwirkung und weiteren neurolgischen und zentralnervösen Störwirkungen). Auch für das schwache Opiat Tramadol sind Verwirrung, Halluzinationen und eine veränderte Sinneswahrnehmung als Nebenwirkungen beschrieben. Ferner zu beachten ist, dass Tramadol auch über seine serotoninerge Wirkung agitierend wirken kann. Eine prospektive Untersuchung zu Risikofaktoren für Delir ergab, dass 50 von 230 Patienten (22%) eine Delirdiagnose bei Aufnahme ins Krankenhaus hatten, bei denen in 7 Fällen Benzodiazepine beteiligt waren. Benzodiazepine, die als Schlafmittel oder angstlösende Substanzen zur Anwendung kommen, haben einen Einfluss auf die Delirentstehung, wobei insbesondere auch paradoxe BenzodiazepinReaktionen (z.B. Unruhe, Reizbarkeit, Aggressivität) beschrieben und zu beachten sind. Bei chronischem Benzodiazepinabusus kann es bei versehentlichem Absetzen (z.B. bei unvollständiger Arzneimittelanamnese) zu einem entzugsbedingten Delir kommen. Auch für Benzodiazepine gilt ‚start low, go slow‘, die kürzest mögliche Therapiedauer ist anzustreben und jene Benzodiazepine mit kürzerer Halbwertszeit zu bevorzugen. Die heterogene Gruppe der Psychopharmaka enthält auch delirogene Arzneistoffe, wobei hier die anticholinerge Potenz sehr variabel ist. Generell scheinen die neueren Substanzen (z.B. Risperidon) weniger anticholinerg zu sein, als z.B. die Antipsychotika der ersten Generation (Pimozid, Zuclopenthixol). Aufmerksamkeit sollte vor allem auf den Wirkstoff Amitriptylin gelegt werden, der auch zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen eingesetzt wird (siehe Fallvignette), da dieser Wirkstoff ein starkes anticholinerges Potential aufweist. Die Antidepressiva aus der Gruppe der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) zeigen, verglichen mit den Trizyklika, ein 11 PHARMAZEUTISCHE WISSENSCHAFT geringeres Delir-Risiko. Nicht zu unterschätzen ist allerdings das Risiko für eine Hyponatriämie, die ihrerseits wiederum zu einem Delir führen kann. Hier sind vor allem die Wirkstoffe Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin zu nennen. Fallberichte gibt es für fast alle SSRIs und die Möglichkeit der Delirentstehung durch Hyponätriämie bzw. die Misinterpretation eines Serotoninsyndroms (exzessive Stimulation verschiedener postsynaptischer Serotoninrezeptoren, gekennzeichnet durch zentralnervöse Erregung und neuromuskulären Symptomen) sind zu berücksichtigen. Neben den schon erwähnten Wirkstoffgruppen ist Delir als Nebenwirkung für viele weitere Arzneistoffe beschrieben. Diuretika wirken potentiell delirogen, weil sie zu Elektrolytverschiebungen und Dehydratation führen können. Chinolon-Antibiotika haben neurolgische Nebenwirkungen, wobei das delirogene Potential von der Liquorgängigkeit abhängt, die z.B. bei Ciprofloxacin gegenüber Levofloxacin höher ist. Das Reserveantibiotikum Linezolid verfügt neben seiner antibakteriellen Wirkung aufgrund der MAO-Hemmung auch über eine serotoninerge Wirkung. Steroide können euphorisch und dysphorisch wirken, das Auftreten von Psychosen und Halluzinationen ist beschrieben und delirähnliche Nebenwirkungen sind dosisabhängig. Prävention und medikamentöse Therapie Die Kenntnis von Risikofaktoren und das dementsprechende Management (d.h. Reduktion von Polymedikation, vollständige Anamnese, Dosierungsanpassung, Vermeidung von bestimmten Arzneistoffen) ist im Sinne eines Präventionsansatzes sehr wichtig. Flankierende Maßnahmen wie Schaffen einer ruhigen Umgebung, Zuwendung zum Patienten, Herstellen von Orientierung sind zu ergreifen. Haloperidol kann in niedriger Dosierung, unter Berücksichtigung von Kontraindikationen und Nebenwirkungen (QT-Zeit und extrapyramidale Symptomatik) vor allem zur Kontrolle psychotischer Symptome (Angst, Halluzinationen) angewandt werden. Sedierende Substanzen sollten nur kurzfristig und vorübergehend als symptomatische Maßnahme angewandt werden und schnellstmöglich Dosisreduktionsversuche durchgeführt werden. Literatur: Caplan G. Managing delirium in older patients. Australian Prescriber 2011; 34(1) Catic AG. Identification and Management of In-Hospital Drug-induced Delirium in Older Patients. Drugs Ageing 2011: 28(9):737748 Drugs believed to cause or prolong delirium or confusional states. UpToDate, letzter Zugriff 21.7.2016 Flaherty JH. The Evaluation and Management of Delirium Among Older Persons. Med Clin N Am 2011; 95:555-577 Fuller MA, Borovicka MC. Delirium. Drug-Induced Diseases (ed. Tisdale JE, Miller DA, 2nd edition) Francis J et al. A prospective study of delirium in hospitalized elderly. JAMA. 1990 Feb 23;263(8):1097-101. Fruehwald T. Delir – eine klinische Herausforderung in der Geriatrie. http://www.springermedizin.at/artikel/12429-delir-eine-klinische-herausforderung-in-der-geriatrie ; letzter Zugriff 10.08.2016 Inouye SK. The dilemma of delirium: clinical and research controversies regarding diagnosis and evaluation of delirium in hospitalized elderly medical patients. Am J Med. 1994 Sep;97(3):278-88. Meyer S et al. Medikamentenassoziiertes Delirium. Therapeutische Umschau 2010; 79-83 Miller MO. Evaluation and Management of Delirium in Hospitalized Older Patients. Am Fam Physician 2008;78(11):1265-1270 Moore AR et al. Drug-induced cognitive impairment in the elderly. Drugs Ageing 1999; 15(1):15-28 Pschyrembel – Klinisches Wörterbuch online, letzter Zugriff 10.08. Rudberg MA et al. The natural history of delirium in older hospitalized patients: a syndrome of heterogeneity. Age Ageing 1997 May;26(3):169-74 Rudolph JL et al. The anticholinergic risk scale and anticholinergic adverse effects in older persons. Arch Intern Med 2008; 168(5):508-13 Strohbach D. Anticholinerge Arzneistoffe – Erkennen, erklären, ersetzen. Pharmazeutische Zeitung 41/2013 Tune LE et al. Acetylcholine and Delirium. Dement Geriatr Cogn Disord 1999;10:342-344 Der Autor Mag. pharm. Dr. Gunar Stemer arbeitet als Krankenhausapotheker und klinischer Pharmazeut in der Anstaltsapotheke des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien – Medizinischer Universitätscampus. Er ist Leiter der Abteilung Arzneimittelinformation und Klinische Pharmazie der Anstaltsapotheke. Seine fachlichen Interessensgebiete umfassen Arzneimittelinformation, evidenzbasierte Pharmakotherapie und Klinische Pharmazie im Bereich Nephrologie und Nierentransplantation. Mag.pharm. Dr. Gunar Stemer unterrichtet Phar- 12 makologie am Fachhochschulcampus Wien, Pharmakokinetik an der Universität Wien und betreut Diplomarbeiten zu klinischpharmazeutischen Fragestellungen. Er ist Schriftführer der Arbeitsgemeinschaft der Österreichischen Krankenhausapotheker, Mitglied im Fortbildungsausschuss der Österreichischen Apothekerkammer, Associate Editor im European Journal of Hospital Pharmacy und Mitglied des Wissenschaftlichen Komitees der European Association of Hospital Pharmacists. Fortbildungs-Fragebogen 11/2016 02 08 / 6 20 57 41 Mit dem Apotheken Magazin Fortbildungspunkte sammeln [email protected] Jede Ausgabe enthält einen speziellen Fortbildungsartikel und einen dazu gehörigen Fortbildungsfragebogen, für dessen richtige Ausfüllung und Einsendung jeder Einsender einen von der Bundesapothekerkammer Berlin akkreditierten Fortbildungspunkt erhalten kann. OPTIONAL: Zusätzlich sind im gesamten Heft Beiträge enthalten, die als Fortbildungsbeiträge gekennzeichnet sind. Zur Gesamtheit dieser Beiträge gibt es einen weiteren Fragebogen nur für Abonnenten. Pro Frage ist jeweils nur eine Antwort richtig. Die Lösungen werden Ihnen zusammen mit dem Fortbildungspunkt mitgeteilt. Wenn Sie in jeder Heftausgabe beide Fortbildungsfragebögen richtig einsenden, können Sie sich übers Jahr insgesamt 20 Fortbildungspunkte aus der Kategorie „Bearbeiten von Lektionen“ (rezertifiziert durch die Bundesapothekerkammer, Veranstaltungs-Nr.: BAK 2015/402) sichern. Bitte auf Lesbarkeit achten! ❒ ❒ ❒ ❒ 1. Welches Symptom tritt im Allgemeinen nicht im Rahmen eines Delirs auf? a) Konzentrationsstörungen b) Schlaflosigkeit c) Exantheme d) Schwitzen 2. Welche Aussage über das Delir ist nicht richtig? ❒ ❒ 3. Zum arzneimittelinduzierten Delir: Welche Aussage ist nicht richtig? a) Bei bis zu 40% der Delirien sind Arzneimittel als Ursache beteiligt. b) Arzneimittel sind der häufigste Grund für das Entstehen von Delir im Krankenhaus. c) Bestimmte Arzneimittelgruppen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit ein Delir auszulösen. d) Polymedikation erhöht die Wahrscheinlichkeit für ein Arzneimittelinduziertes Delir. ❒ ❒ ❒ ❒ 4. Welches ist kein Risikofaktor für ein Delir? a) Genetische Disposition b) Demenz c) Eingeschränkte Nierenfunktion d) Alter ❒ ❒ ❒ ❒ 5. Welches ist kein Auslösefaktor für ein Delir? a) Schmerz b) Schlafentzug c) Hyponatriämie d) Hyperurikämie Ja, ich möchte das Apotheken-Magazin für 25,– Euro regelmäßig erhalten! ❒ ❒ ❒ a) Es gibt Warnzeichen, die für die Delirentstehung prädisponieren können (z.B. plötzliche Veränderungen von Lebensgewohnheiten). ❒ b) Das Auftreten eines Delirs ist immer auf eine ganz klar bestimmbare Ursache zurückzuführen. ❒ c) Delir ist die häufigste psychische Störung bei älteren Menschen. ❒ d) Es gibt verschiedene Delir-Verlaufsformen. ❒ ❒ ❒ ❒ 6. Welche Aussage zu physiologischen Veränderungen im Alter ist richtig? a) Das verminderte Gesamtkörperwasser im Alter führt zu einer erhöhten Clearance von Arzneistoffen. b) Das verminderte Gesamtkörperwasser im Alter führt zu einer Erniedrigung der Plasmakonzentrationen von wasserlöslichen Wirkstoffen, weil auch deren Verteilungsvolumen abnimmt. c) Die Eliminationshalbwertszeit bei fettlöslichen Arzneistoffen kann sich aufgrund physiologischer Veränderungen im Alter verändern. d) Die Bioverfügbarkeit bestimmter Wirkstoffe ist unabhängig vom Alter. ❒ ❒ ❒ ❒ 7. Für welches Antiinfektivum sind delirähnliche Nebenwirkungen nicht beschrieben? a) Ciprofloxacin b) Linezolid c) Pivmecillinam d) Aciclovir ❒ ❒ ❒ ❒ 8. Welcher Neurotransmitter ist an der Delir-Entstehung wesentlich beteiligt? a) Acetylcholin b) GABA c) Histamin d) Adrenalin ❒ ❒ ❒ ❒ 9. Welcher der folgenden Wirkstoffe weist das höchste anticholinerge Potential gemäß der anticholinergen Risikoskala auf? a) Quetiapin b) Olanzapin c) Baclofen d) Amitriptylin ❒ ❒ ❒ ❒ 10. Welches Neuroleptikum kann zur kurzfristigen Therapie von psychotischen Zuständen im Rahmen eines Delirs in niedriger Dosis verwendet werden? a) Hydroxyzin b) Haloperidol c) Trazodon d) Tizanidin BITTE KONTAKTDATEN IN BLOCKSCHRIFT VOLLSTÄNDIG EINTRAGEN! ZUR ZUSENDUNG DES ZERTIFIKATS BENÖTIGEN WIR IHRE E-MAILADRESSE – BITTE EINTRAGEN. Bitte ankreuzen Berufsbezeichnung: Lösen Sie – exklusiv für Abonnenten – auch den ABO-Fragebogen im hinteren Heftteil und Sie erhalten einen zusätzlichen Fortbildungspunkt! Name: ____________________________________________________ Apotheke: __________________________________________________ Ich abonniere das Apotheken-Magazin zum Jahresvorzugspreis von 25,– EUR (10 Ausgaben inkl. MwSt. und Versand, Inland). 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