Auf der Suche nach der Goldenen Zeit

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AUF
DER
SUCHE
ESKALATION
UND
NACH DER
GOLDENEN ZEIT
NATURVERLETZUNGEN
DYNAMISCHE NACHHALTIGKEIT
DER
Károly Henrich
Die Altsteinzeit wird häufig als Goldenes Zeitalter der Nachhaltigkeit und des harmonischen Zusammenlebens der Menschen mit der Natur geschildert. Tatsächlich
brachte hingegen das menschliche Handeln immer schon Nachhaltigkeitsverletzungen mit sich, die anfangs geringfügig und heilbar waren, mit zunehmender
Annäherung an die Gegenwart aber eskalierten, das gesamte Erdsystem erfassten
und immer weniger geheilt werden können. Die Herstellung von Nachhaltigkeit ist
somit als eine grundlegend neuartige Herausforderung an die gesellschaftliche
Lernfähigkeit zu begreifen. Ihre Bewältigung setzt ein dynamisches Nachhaltigkeitsverständnis voraus, das auf Deeskalation und Evolutionsfähigkeit zielt.
The Old Stone Age is frequently presented as a Golden Age of sustainability and
harmonious co-existence of humanity and nature. In fact, however, human action
has always entailed infringements of the sustainability principle. While these infringements were initially minor and healable, they escalated towards the present,
encompassed the entire Earth System and are increasingly less healable. The production of sustainability is thus a fundamentally novel challenge to the learning capacity of human society. Coping with this challenge will require a dynamic understanding of sustainability, focused upon de-escalation and evolutionary capacity.
Schlüsselbegriffe: Goldenes Zeitalter, Läsion, Eskalation, Deeskalation, dynamische Nachhaltigkeit
Keywords: Golden Age, lesion, escalation, de-escalation, dynamic sustainability
1. Wildbeuter-Kulturen als Nachhaltigkeitsparadies?
Die früheste Kulturstufe der Menschheitsgeschichte, das Paläolithikum (die Altsteinzeit),
wird häufig als Goldenes Zeitalter der Nachhaltigkeit und der Harmonie beschrieben.
In der langen, von ungefähr 800 000 bis 10 000 Jahre vor unserer Zeit reichenden
frühen Epoche der Entwicklung des Menschen habe – so wird behauptet – Überfluss
an Nahrung und sonstigen Ressourcen geherrscht und die Naturauffassung sei von der
Vorstellung der Einheit und der Verwandtschaft geprägt gewesen. Darüber hinaus sei
die Altsteinzeit – so lautet die ergänzende These – nicht nur wegen des rücksichtsvollschonenden Umgangs mit der Natur ein Goldenes Zeitalter gewesen, sondern auch
wegen der auf weitgehende gesellschaftliche Gleichheit gestützten Beziehungen zwischen den Menschen. Als exemplarischer Repräsentant dieser Auffassung sei Borneman (1981, 36–40) erwähnt, der in seiner umfassenden Studie über das Patriarchat
nachzuweisen versucht, dass in jener Zeit
✧ keine Kriege stattfanden, weil Eigentum und territoriale Abgrenzung unbekannt
waren;
✧ das Verhältnis der Geschlechter zueinander wahrscheinlich ausgeglichener als zu
irgendeiner späteren Zeit der Menschheitsgeschichte war;
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© Gesellschaft für ökologisch-nachhaltige Entwicklung
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Natur und Kultur
✧ gesellschaftliche Abstufungen und Herrschaftsbeziehungen unbekannt waren, weil
die wirtschaftlichen Voraussetzungen fehlten: Arbeitsteilung und Erzielung eines
Überschusses, der Gegenstand ungleicher Aneignung hätte sein können.
Tatsächlich waren jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse keineswegs so idyllisch. In
der Auseinandersetzung mit fremden Gruppen dominierte bedingungsloses Konkurrenzverhalten, das Tötung, Mord und den Einsatz der jeweils wirksamsten Waffen als
selbstverständliche Aktivitäten einschloss. Innerartliche Tötung spielte daher in der
durch die Konkurrenz von Hominiden-Gruppen angetriebenen Evolution eine ebenso
bedeutende Rolle wie die rücksichtslose und häufig grausame Aneignung der Natur
(BÖHME 2001). In der Literatur über die vorgeschichtlichen Ursprünge des Krieges wird
folglich überwiegend nicht bezweifelt, dass Gewalt und Aggression zwischen menschlichen Gruppen im Paläolithikum verbreitet waren, sondern lediglich die Frage kontrovers beantwortet, ob schon von Kriegführung gesprochen werden könne (KEELEY 1996;
FERRILL 1997; WRANGHAM U. PETERSON 1996).
Nichtsdestoweniger ist die erwähnte Vorstellung von einem der Einführung des
Ackerbaus vorangehenden chrýseon génos, einem Goldenen Weltalter, bereits in
Hesiods „Werke und Tage“, einem der frühesten Texte der altgriechischen Literatur, zu
finden. In einundzwanzig Versen (HESIOD 1991, 90-93, Verse 106-126) schildert der
Dichter ein göttergleiches, sorgenfreies Leben, gekennzeichnet durch die Abwesenheit
von Kriegen und allen sonstigen Übeln. Die Menschen waren zufrieden mit dem, was
die Erde von sich aus darbot, und quälten sie nicht mit dem Pflug. Ovid hat diese Schilderung in seine Metamorphosen (1961, I, 89-113) übernommen und betont, dass in
der aurea aetas, dem Goldenen Zeitalter, noch kein Ackerbau betrieben wurde, sondern alle sich mit Beeren und Eicheln begnügten.
In der Geschichtsbetrachtung steht der Grundvorstellung, dass es einst eine schöne heile Welt gegeben habe und es seit dieser idealen Urgesellschaft mit der Menschheit bergab gegangen sei, die völlig entgegengesetzte Auffassung gegenüber, dass im
Laufe der Zeit ein ständiger Fortschritt stattgefunden habe, „so dass aus rohen, tierischen Anfängen sich nach und nach Kulturen, Künste, Wissenschaften, verfeinerte Lebensformen und Bildung entwickeln konnten” (WIMMER 1983). Die damit angedeutete
grundsätzliche Kontroverse soll hier nur aus umweltgeschichtlicher Perspektive erörtert
werden. Ausgehend von der Fragestellung, ob die Wildbeuter-Kulturen der Altsteinzeit
tatsächlich in vorbildlicher Weise mit ihrer natürlichen Umwelt umgegangen sind und
uns Anregungen für die Lösung der heutigen Nachhaltigkeitsprobleme bieten können,
sollen in einem kurzen Streifzug durch die Entwicklungsgeschichte der Mensch-NaturBeziehungen die wichtigsten historischen Schaltstellen und Tendenzen erläutert werden.
Zwei Schlüsselbegriffe werden dabei – zum Teil getrennt, zum Teil miteinander verknüpft – verwendet und als elementare Bausteine einer Basishypothese benutzt:
✧ Läsion, verstanden als (Be-)Schädigung und Verletzung von Menschen(gruppen) und
individuellen, kollektiven oder systemisch-komplexen Naturobjekten zum Vorteil der
jeweiligen Täter;
✧ Eskalation im Sinne der beständig vorangetriebenen Verschärfung der Angriffs- und
Schädigungsmöglichkeiten und -wirkungen.
Eine fundamentale Eskalationshypothese hat Vermeij (1987, 49) für die biologische
Evolution formuliert: „Biologische, von Konkurrenten und Prädatoren ausgehende
Gefahren sind im Laufe der Zeit in vergleichbaren natürlichen Lebensräumen stärker
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geworden; das heißt, die Fähigkeiten der Feinde sind gewachsen und mit ihnen die Bedrohungen, die sie für potentielle Opfer darstellen. Dies ist die Eskalationshypothese.”
Diese Hypothese, für deren Triftigkeit Vermeij selbst und andere Autoren zahlreiche
Beispiele angeführt haben, bezieht sich ausschließlich auf die Entwicklung der biologischen, körpereigenen Waffen und Schädigungsmöglichkeiten in der Tier- und Pflanzenwelt. Sie wird hier ausgedehnt auf die soziale Evolution und die von der Gattung
Homo betriebene Verstärkung der technologischen, körperunabhängigen Waffen und
Läsionsmöglichkeiten. In diesem Sinne wird den folgenden Ausführungen eine orientierende Basishypothese vorangestellt: Für die soziale Evolution ist – die biologische
Eskalation fortsetzend und potenzierend – eine technologische Eskalation bestimmend,
die sich in einer unablässigen Verschärfung sowohl der Naturverletzungen als auch der
asymmetrischen gesellschaftlichen Aneignungs- und Gewaltbeziehungen äußert.
In den weiteren Abschnitten wird in der Tat deutlich werden, dass die Geschichte
der menschlichen Einwirkungen auf die Natur geprägt ist von einer sich zunächst
allmählich, im Laufe der Zeit dann immer rascher beschleunigenden Eskalation der
Naturverletzungen. Gleichzeitig haben sich auch im Umgang der Menschen miteinander Ungleichheiten, Grausamkeiten, Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse in einem
Maße entwickelt und verschärft, für das es in der Evolution der innerartlichen Beziehungen außerhalb der Menschheitssphäre kaum Parallelen gibt. Auf diese innergesellschaftlichen Eskalationsprozesse wird hier jedoch nicht systematisch eingegangen, sondern nur gelegentlich hingewiesen. Lediglich einzelne Stationen des langen Weges vom
ersten Mord im Nutzungskonflikt um eine steinzeitliche Wasserstelle bis zu den 169
Millionen Völkermordopfern und den 34 Millionen Kriegstoten des 20. Jahrhunderts
(HEINSOHN 1999, 53) werden exemplarisch beleuchtet, um Querverbindungen zur
fortschreitenden Naturzerstörung sichtbar zu machen.
Zu erläutern ist noch das Verhältnis des Begriffs der Nachhaltigkeitsverletzung zu
dem der Umweltschädigung oder Naturverletzung. Der Deckungsgrad der Begriffe ist
variabel: Er hängt von der Strenge der Nachhaltigkeitsdefinition ab.
In der Nachhaltigkeitsdiskussion werden, soweit sie mit ökonomischen Begriffen
arbeitet, vier abgestufte Fassungen des Prinzips unterschieden, die sich vereinfacht
folgendermaßen charakterisieren lassen (TURNER 1993, 10):
✧ Sehr schwache Nachhaltigkeit: Der Nachhaltigkeitsforderung ist Genüge getan,
wenn und solange Verminderungen des Naturkapitals eine wenigstens gleich große
Vermehrung des sozioökonomischen Kapitals gegenübersteht.
✧ Schwache Nachhaltigkeit: Hier wird zusätzlich eine Grenze der Transformation eingeführt; Nachhaltigkeit ist dieser Variante des Kriteriums zufolge gegeben, wenn Reduzierungen des Naturkapitals durch Aufstockungen des sozioökonomischen Kapitals kompensiert werden, bei diesem Umwandlungsprozess aber das kritische Naturkapital, ein für die Fortexistenz des Gesamtsystems unerlässlicher Grundbestand,
nicht geschmälert wird.
✧ Starke Nachhaltigkeit: Diese Spielart des Kriteriums verlangt vollständige Erhaltung
des Naturkapitals in qualitativer und quantitativer Hinsicht und zugleich – im Falle von
Umstrukturierungsprozessen – die Bestandserhaltung des kritischen Naturkapitals.
✧ Sehr starke Nachhaltigkeit: Die Bedingungen der starken Nachhaltigkeit werden
durch die Forderung nach Nullwachstum der wirtschaftlichen Produktion und der
menschlichen Bevölkerung ergänzt.
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Im Falle der sehr schwachen Nachhaltigkeit besteht ein beträchtlicher Abstand zwischen
Naturverletzungen und Nachhaltigkeitsverletzungen: Alle Schädigungen und Verminderungen des Naturvermögens, die mit mindestens gleich großen Erhöhungen des
sozioökonomischen Vermögens verbunden sind, verletzen das Nachhaltigkeitsprinzip in
seiner schwächsten Fassung nicht. Am anderen Pol, dem der sehr starken Nachhaltigkeit, und auch schon bei der starken Nachhaltigkeit entspricht dagegen jeder Naturverletzung eine gleich starke Nachhaltigkeitsverletzung. Diese Gleichsetzung von
Natur- und Nachhaltigkeitsläsionen und das mit ihr verknüpfte starke oder sehr starke
Nachhaltigkeitsprinzip bestimmen im vorliegenden Beitrag den Gebrauch der Begriffe.
Mit dieser terminologischen Entscheidung verbindet sich der Vorzug, das Problem der
wirtschaftlich, sozial oder kulturell begründeten Zulässigkeit respektive Erwünschtheit
von Naturverletzungen nicht von vornherein durch eine unscharfe, beschönigende
Bestimmung des Nachhaltigkeitsbegriffs ganz oder teilweise ‘wegzudefinieren’.
2. Altsteinzeit: Vom Beerensammeln zur Bärenausrottung
Als die Gattung Homo vor etwa zwei Millionen Jahren auftauchte – zunächst war es
der Geschickte (Homo habilis), dann der Aufrechte (Homo erectus), schließlich der
selbst ernannte Weise (Homo sapiens) –, fügte sie sich in eine bereits seit weit über 500
Millionen Jahren in Gang befindliche Eskalation von Feind-Opfer-Beziehungen und
eine vielstufige ‘Nahrungspyramide’ ein, eine klar gegliederte Rangordnung von
‘Fressen und Gefressenwerden’.
Zwei Fragen sind dabei aus umweltgeschichtlicher Sicht von besonderer Bedeutung,
nämlich wann zum einen das Feuer beherrscht und regelmäßig gebraucht wurde und
wann zum anderen die Jagd entstand und eine unübersehbare Rolle zu spielen begann. Diese beiden Themen verdienen deshalb besondere Beachtung, weil sie Tätigkeitsfelder der Hominiden (Menschenartigen) betreffen, in denen recht verlässliche
Anhaltspunkte für nachhaltigkeitsfeindliche Beschädigungen von Ökosystemen und
Tierarten entdeckt worden sind.
Festzustellen ist zunächst, dass die ursprünglich allein auf pflanzliche Ernährung
gestützte Lebensweise der Hominiden im Paläolithikum schon längst abgelöst worden
war von einer omnivoren Ernährung mit einem wachsenden Anteil an fleischlicher Nahrung, deren wesentliche Quelle auch nicht mehr die Verwertung von Kadavern bildete,
sondern die Jagd auf zunehmend größere Tiere. Ausschließlich herbivor waren mit
hoher Wahrscheinlichkeit lediglich die Australopithecinen (A. afarensis, A. africanus, A.
robustus – 5 bis 1 Million Jahre vor heute). Dass sie sich als Jäger oder Aasfresser karnivor ernährten, kann ausgeschlossen werden. Ihre im Vergleich zu anderen Hominiden robusten Formen deuten auf eine energiearme, harte Pflanzenkost (HENKE u. ROTHE
1994, 295). Mit ihren dennoch begrenzten körperlichen Fähigkeiten waren sie beim
Zusammentreffen mit starken Raubtieren eher Gejagte als Jäger.
Homo habilis (2,2 bis 1,6 Millionen Jahre vor heute, stammesgeschichtlich vermutlich aus Australopithecus africanus, 3 bis 2 Millionen Jahre vor heute, hervorgegangen)
erschloss sich dann offensichtlich Nahrungsressourcen von hoher Qualität, sowohl
fleischliche als auch hochwertige pflanzliche Nahrung. (Näheres zu den Problemen der
Präzisierung der stammesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Australopithecinen und
Homo habilis findet sich bei Henke u. Rothe 1999, 168–179.) Der Aasfresser-Hypothese von Blumenschine und Cavallo (1992) zufolge stützte sich der steigende Fleischverzehr von Homo habilis auf die kleptoparasitische (stehlend-schmarotzende) Nutzung
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der Fraßreste von Karnivorenbeute. Die mangelnde Körperstärke und die begrenzten
Fähigkeiten zu schneller Flucht machten diese Art weitgehend wehrlos und setzten den
Möglichkeiten zur Jagd enge Grenzen. Jagd auf Kleintiere war nicht ausgeschlossen,
aber wenig effizient, solange keine Distanzwaffen verfügbar waren (HENKE U. ROTHE
1994, 364).
Homo erectus (2 Millionen bis 400 000 Jahre vor heute) vollzog schließlich endgültig den Wechsel zum Fleischfresser: Pflanzliche Nahrung nahm einen immer
geringeren Anteil ein, fleischliche einen immer höheren. Technologischer Wandel, der
immer komplexere Werkzeuge und Jagdgeräte verfügbar machte, bildete die Grundlage (HENKE u. ROTHE 1994, 423–25). Aus europäischer Sicht sind die etwa 400 000
Jahre alten, recht gut erhaltenen und qualitätsvoll bearbeiteten Holzspeere, die
zusammen mit zahlreichen Resten von Großsäugern im Braunkohlentagebaugebiet
Schöningen (Niedersachsen) entdeckt wurden, der aufsehenerregendste Beleg für
organisierte Großwildjagd des Homo erectus (THIEME 1997 und 1998).
Homo neanderthalensis (200 000 bis 30 000 vor heute) und Homo sapiens (ab
130 000 v.h.) setzten die Evolution der jagenden menschlichen Fleischfresser fort. Im
Zeitraum zwischen 45 000 und 40 000 Jahren vor heute wurden neuartige, häufig aus
mehreren Teilen zusammengesetzte Jagdinstrumente erfunden, und die ‘Wildbeuter’
und ‘niederen Jäger und Sammler’ wurden endgültig durch die ‘höhere Jägerkultur’
abgelöst. Das Jung- oder Spätpaläolithikum (35 000 bis 12 000 v.h.) wurde dann zur
‘großen Epoche der Eiszeitjäger’. Pflanzliche Nahrungsressourcen spielten eine eher
marginale Rolle, das aus Jagd und Fischfang resultierende Angebot war dagegen
reichlich (HENKE U. ROTHE 1994, 532).
Dieser kurze Überblick macht deutlich, dass die Hominiden in der ‘Nahrungspyramide’ kontinuierlich emporgestiegen sind: Die herbivoren Australopithecinen waren
noch auf einer sehr niedrigen Stufe angesiedelt; Homo erectus vollzog dann dank verbesserter Jagdgeräte den Übergang zur erfolgreichen Jagd und zur vorherrschenden
Karnivorie; Homo sapiens schließlich wurde nach weiteren Verbesserungen der Werkzeuge und Waffen zu einem Jäger, der grundsätzlich allen Tieren gewachsen war. Der
Evolutionsprozess, der die Gattung zu diesem Aufstieg befähigte, besaß allerdings eine
neue Qualität: Es handelte sich nicht mehr – wie zuvor in der Geschichte der Biosphäre
– um biologische Eskalation und Schädigung, sondern um technologische. Nicht mehr
die Angriffswirksamkeit körperlicher Eigenschaften wurde gesteigert, sondern vor allem
diejenige äußerer, technischer Hilfsmittel.
Die Fähigkeiten der Hominiden erweiterten sich dabei auch insofern, als die
Tötungs- und Vernichtungsmöglichkeiten sich auf immer höhere Stufen der Organisationsebenen der Materie erstreckten: Zunächst konnten nur Individuen getötet werden,
dann gelang es, ganze Populationen von Wildtieren auszulöschen, und schließlich kam
es zu einer ersten großen Welle von Arten-Ausrottungen, an denen der Mensch zumindest mitbeteiligt war.
In welchem Maße die ‘Late Pleistocene Extinctions’, die Artenausrottungen im Spätpleistozän, tatsächlich auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen sind, ist nach wie vor
umstritten. Die wichtigsten Fakten seien kurz erwähnt (STUART 1999, 258f.):
✧ Im Zeitraum zwischen 18 000 und 9 000 Jahren vor heute starben in Nordamerika
43 Säugetierarten aus, in der Mehrzahl Großsäugetiere wie das amerikanische
Mastodon (Mammut americanum) und der Säbelzahntiger (Smilodon fatalis).
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✧ Die Säugetierfauna Südamerikas verminderte sich im gleichen Zeitraum um 46
überwiegend große Arten, unter ihnen ein Riesenfaultier (Megatherium) und ein
Riesengürteltier (Glyptodon).
✧ In Eurasien verteilen sich die Auslöschungen über einen längeren Zeitraum; sie
besaßen ein geringeres Ausmaß als in der Neuen Welt, doch starben auch hier die
meisten großen Säugetiere aus, zum Beispiel der Höhlenbär (Ursus spelaeus) und
das Wollmammut (Mammuthus primigenius).
✧ Australien wurde etwa 40 000 Jahre vor heute von Menschen besiedelt; nur wenig
später begannen die Auslöschungen, denen 21 meist große Säugetierarten zum
Opfer fielen, darunter der ‘Beutellöwe’ (Thylacoleo carnifex) und das Diprotodon
(Diprotodon optatum), ein etwa drei Meter langes, äsendes Beuteltier.
Für Martin und Steadman (1999, 50) ist der ausschlaggebende Einfluss menschlicher
Tötungsaktivitäten offenkundig:
Die einzigartige Umweltkrise, die die „schreckliche Akzentverschiebung“ einer Reihe
von aufeinander folgenden Artenauslöschungen auslöst, ist die Ankunft des in
anatomischer und verhaltensmäßiger Hinsicht modernen Homo sapiens. Charakteristische Komponenten des Fossilbelegs zeigen an, dass der anthropogene Auslöschungsprozess mehr umfasste als lediglich menschliche Prädation. Nichtsdestoweniger weist das auf dem gesamten Erdball feststellbare und wiederholte Zusammenfallen des Kontakts mit Menschen und der Besiedelung durch sie mit einem bald
darauf folgenden Auslöschungsschub auf ein Ursache- und Wirkungsverhältnis hin.
Die erwähnte Verbesserung der Jagdwaffen und der Organisation der Jagd spielte
dabei eine wesentliche Rolle, sie wurde allerdings ergänzt durch weitere Faktoren. Insgesamt sechs als ‘secret weapons’ wirkende Faktorenkomplexe, die sich zu dem
Gesamtsyndrom ‘menschlicher Einfluss’ vereinigten, werden von Martin und Steadman
(1999, 26f.) unterschieden:
✧ Importierte fremde Arten, die einheimische Ökosysteme schädigten;
✧ Lebensraumzerstörung durch Rodungen;
✧ durch Menschen und Tiere eingeschleppte Krankheiten;
✧ Schlüsselarten-Kaskade (keystone cascade): die Auslöschung großer pflanzenfressender Schlüsselarten, zum Beispiel von Rüsseltieren, hatte die Ausbreitung von Gebüschvegetation zur Folge, die den Lebensraum weidender Huftiere einengte;
✧ Prädationsübergewicht: bedrohte, aber noch vorhandene starke Räuber wie Säbelzahntiger und Direwolf schufen im Zusammenwirken mit menschlichen Jägern einen
zusätzlichen Druck, der großen Pflanzenfressern das Ende brachte;
✧ Übermäßige Tötung (surplus killing): Vor allem leicht zu erlegende Beute ist aus verschiedenen Gründen im Übermaß getötet worden, zum Beispiel weil vermutet
wurde, überlebende Tiere einer Herde könnten andere warnen.
Menschliche Jagdtätigkeit spielte also eine zentrale Rolle, wurde aber von anderen
beabsichtigten oder unbeabsichtigten Wirkungen des Auftretens der Menschen ergänzt.
Vor allem Anhänger der Klimawandel-Hypothese heben darüber hinaus die Stresswirkungen auf die Tiergemeinschaften hervor, die vom Rückzug der Gletscher ausgegangen seien. Owen-Smith (1999, 67) kommt jedoch nach sorgfältiger Abwägung
aller Argumente zu folgendem Ergebnis:
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Die Klimaverschiebung in der Endphase der Eiszeit muss einen starken Einfluss auf
die Lebensraumbedingungen gehabt haben. Ihre Auswirkungen wurden aber vor
allem in Nord- und Südamerika erheblich modifiziert durch die Ausschaltung des
störenden Einflusses großer Pflanzenfresser auf die Vegetation. Ein verstärktes
Auftreten von Bränden durch menschliche Aktivitäten dürfte in Australien einen
wesentlichen Beitrag geleistet haben. So war die Anwesenheit von Menschen in
verschiedener Weise der ausschlaggebende Faktor, der einen schwachen Auslöschungsanstoß in eine starke Auslöschungskaskade verwandelte.
Unabhängig von der Stärke des menschlichen Einflusses auf das genannte Auslöschungsereignis bleibt auf jeden Fall festzustellen: Ohne den zu jener Zeit erreichten
technischen und organisatorischen Entwicklungsstand der Jagd wären diese Ausrottungen nicht möglich gewesen. Sie belegen daher deutlich, in welchem Maße sich die
Angriffs- und Vernichtungswirksamkeit der Hominiden seit der Epoche der Australopithecinen gesteigert hat.
Ein zweites, bereits angedeutetes Beispiel für die Eskalation der Einwirkungsmöglichkeiten bildet der Gebrauch des Feuers. Der älteste gesicherte Hinweis auf die kontrollierte menschliche Verwendung von Feuer stammt bisher von einer 700 000 Jahre alten
Feuerstelle von Escale im heutigen südfranzösischen Departement Bouches-du-Rhône
(HENKE U. ROTHE 1999, 231). Der zielgerichtete Einsatz von Feuer zur Zerstörung und
Umgestaltung von Lebensräumen reicht möglicherweise 100 000 Jahre zurück:
Feuer hat Lebensräume zerstört, solange es Blitze und Vulkane gibt, doch die Menschen haben dieses natürlich verursachte Feuer durch absichtlich oder versehentlich
ausgelöstes ergänzt. (...) Unter Fachwissenschaftlern setzt sich die Auffassung durch,
dass der Gebrauch von Feuer durch Menschen nicht nur für die frühen Ackerbauern Bedeutung besaß, sondern auch für die Großwildjäger, sowohl um das
Wachstum von Gräsern in Waldlandschaften zu verstärken als auch um Tierherden
zum Abschlachten zu treiben. Der absichtsvolle Gebrauch von Feuer ist somit mindestens 10 000 Jahre alt, einige Autoren sprechen sogar von 100 000 Jahren und
mehr. (...) Manche Fachgelehrte vertreten die Auffassung, dass die Existenz der ausgedehnten Grasland- und Savannengebiete in der Welt begünstigt und ausgeweitet
worden ist durch jahrtausendelanges absichtliches Abbrennen jener Regionen durch
Menschen. (REDMAN 1999, 65f.)
Mit besonderem Nachdruck weisen heute nordamerikanische Umwelthistoriker darauf
hin, dass die europäischen Eroberer sich keineswegs ‘freies’, ungenutztes und herrenloses Land aneigneten, sondern Vegetationsräume, in denen auch und nicht zuletzt die
Verteilung der Wälder in maßgeblicher Weise durch die präeuropäische indianische
Bevölkerung beeinflusst worden war (ARNOLD 1996, 112–115). Vor allem in marginalen (nahe der Anbaugrenze liegenden) Gebieten, in denen die ökologischen Gegebenheiten grundsätzlich sehr unterschiedliche Pflanzengemeinschaften ermöglichen
würden – in den Great Plains, dem California Central Valley und der Palouse-Region
im Staat Washington –, hat Feuer, auch anthropogenes, einen unbestreitbaren Einfluss
auf die Vegetationszusammensetzung ausgeübt (MARTIN 1978, 179).
Die von Hominiden vollzogenen, technologisch und organisatorisch gestützten
Eskalationsprozesse hatten somit zu Beginn des Neolithikums zu folgendem Zwischenergebnis geführt:
✧ Die Hominiden hatten sich von Pflanzenfressern und Räubern niederer Ordnung zu
Spitzenräubern emporgearbeitet.
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✧ Dank beständiger Weiterentwicklung der Jagd- und Feuertechnologie erstreckten
sich die Vernichtungs- und Transformationsmöglichkeiten auf immer höhere Organisationsebenen der Ökosphäre: Die Aneignungs- und Konsumtions-, die Störungsund Zerstörungskapazität schritt fort von den individuellen Organismen zu Populationen, Arten, lokalen und schließlich regionalen Ökosystemen.
Das präzivilisatorische Zeitalter der Menschheitsgeschichte, das Paläo- und das Mesolithikum, war also alles andere als eine goldene Ära der Nachhaltigkeit. Zahlreiche
Tierarten wurden ausgelöscht und regionale Ökosysteme von beträchtlichen Dimensionen gestört, zerstört und umgestaltet. Exemplarisch-pointiert lässt sich feststellen,
dass der Eskalationsweg der Menschheit in jenem Zeitraum vom Beerensammeln zur
Bärenausrottung führte. Zu den im Spätpleistozän ausgestorbenen Großsäugetieren
gehörte nämlich nicht zuletzt auch der eindrucksvolle Höhlenbär (Ursus spelaeus).
Dennoch aber hatte gegen Ende des Mesolithikums aus heutiger Sicht die Umweltdegradation erst ein sehr niedriges Niveau erreicht.
3. Agrargesellschaften: Von der Rodung entlang des Bachlaufs zur Entwaldung
des Mittelmeerraums
Die neolithische Revolution, der Übergang vom Wildbeutertum zur agrarischen Produktion, brachte zahlreiche technische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen
mit sich, die in der Regel positiv beurteilt werden, sie hob aber andererseits auch die
von den Menschen der Natur zugefügten Läsionen auf ein qualitativ neues Niveau, das
Sieferles (1988) Oxymoron von den ‘Fortschritten der Naturzerstörung’ treffend
erscheinen lässt. Drei Prozesse dieser Art seien besonders hervorgehoben:
✧ die Domestikation von Wildpflanzen und -tieren;
✧ die ersten Rodungen größeren Ausmaßes;
✧ die Einführung bodendegradierender Ackerbautechniken.
Destruktive Begleiterscheinungen der neolithischen Revolution, die Anlass bieten, von
einer großen Läsivtransformation, einer umfassenden Wandlung schädigender Beziehungen zu sprechen, haben sich aber nicht nur im Umgang mit der Natur entwickelt,
sondern auch im Zusammenleben der Menschen. Die Produktionsüberschüsse, die mit
den neuen Wirtschaftsformen erzielt wurden, eröffneten die Möglichkeit der asymmetrischen Aneignung, die bald zur Wirklichkeit wurde und die Grundlage der Entstehung
innergesellschaftlicher Hierarchien und Läsionspyramiden bildete. Äußere Kennzeichen
der veränderten sozialen Beziehungen sind die seit Beginn des Neolithikums auftretenden Befestigungen, die nicht für die Jagd, sondern speziell für den Krieg bestimmten
Waffenformen und bildliche Darstellungen von Kämpfen zwischen Menschengruppen.
Besondere Bedeutung kommt der Domestikation von Pflanzen und Tieren zu, einem
Prozess, dessen historische Bedingungen und Konsequenzen Diamond (1998) mit großer Sorgfalt untersucht und dargestellt hat. Vierzehn klassische Arten pflanzenfressender Tiere umfasst die von ihm zusammengestellte Liste der domestizierten Säugetiere:
✧ die großen Fünf: Schaf, Ziege, Kuh und Rind, Schwein, Pferd;
✧ weitere Neun: Dromedar, zweihöckeriges Kamel, Lama und Alpaka, Esel, Rentier,
Wasserbüffel, Jak, Bali-Rind, Gaur.
Die Wildvorfahren von dreizehn dieser vierzehn Arten hatten ihr Verbreitungsgebiet in
Eurasien (unter Einschluss von Nordafrika) – eine Tatsache, die nach Diamond
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entscheidend dazu beitrug, dass die Eurasier und nicht die Völker anderer Kontinente
sich als Erste den Weg zur Zivilisation zu bahnen vermochten.
Die Prozesse der Migration und der Diffusion der zuerst in Vorderasien eingeführten Neuerungen verliefen in Eurasien wesentlich rascher als vergleichbare Prozesse in
Afrika und Amerika. Als Ursache führt Diamond (1998, Kap. 9) an, dass die Hauptachse Eurasiens in Ost-West-Richtung verlaufe, diejenige Afrikas und Amerikas aber in
Nord-Süd-Richtung. Die eurasische Ost-West-Achse sei wegen günstigerer topographischer und einheitlicherer ökologischer Bedingungen erheblich ausbreitungsfreundlicher
als die Nord-Süd-Achsen Amerikas und Afrikas.
Die Domestikation von Wildpflanzen und Wildtieren hob die von Menschen verursachten Beschädigungen der Biosphäre auf eine neue Stufe. Domestikation bedeutet,
dass zuvor prädatorisch genutzte Pflanzen und Tiere in ihren genetischen Eigenschaften – bewusst oder unbewusst – in einer Weise verändert werden, die sie für die Menschen nützlicher und besser ausbeutbar macht als die wilden Vorfahren (DIAMOND
1998, 129, 186). Die domestizierten Tiere lieferten in der Tat in wachsendem und
beständigem Maße Fleisch, Milch und Dünger, und sie dienten überdies als Zugtiere
bei der Feldbestellung, wodurch sich insgesamt die bisherige Intensität der Ausbeutung
erheblich steigerte. Außerdem verloren – wie Jewell (1969, 107) das ausdrückt – die
betroffenen Tierarten ebenso wie die domestizierten Pflanzen ihre entwicklungsgeschichtliche Freiheit und ihre genetische Unabhängigkeit.
Die neue Qualität der Läsionen der Natursphäre zeigte sich darüber hinaus in
weiteren zuvor unbekannten Erscheinungen:
✧ Im Zuge der Einführung der Landwirtschaft kam es zu ersten nennenswerten Rodungen. Für Mitteleuropa konstatieren Lüning und Kalis (1992, 44) zum Beispiel: „Bei
Beginn des mitteleuropäischen Neolithikums (etwa 7500 Jahre v.h.) war Europa mit
dichten Wäldern bedeckt. Der frühe Ackerbau basierte auf lichtbedürftigen Steppenpflanzen, für die Teile des Waldes gerodet werden mussten. (...) Relativ kleine und
unzusammenhängende Rodungsinseln dürften in den Siedlungsgebieten der frühen
Bauern (lössbedeckte Beckenlandschaften) etwa 5–6 % der Waldbedeckung Südund Westdeutschlands gelichtet haben.”
✧ Die Techniken der Landbewirtschaftung führten ebenso wie die Zurückdrängung von
Gehölzen zu Bodenerosion und auf künstlich bewässerten, voll der Sonne ausgesetzten Feldern zu Bodenversalzung (KÜSTER 1998, 72; VAN VLIET-LANOË ET AL. 1992,
105f.).
Schon in der Anfangsphase des ‘Aufstiegs der Zivilisation’ traten also neuartige Läsionen
nicht nur der Biosphäre, sondern auch der Pedosphäre, der Böden des Erdsystems, auf.
Auch die Strukturen und Entwicklungsprozesse der Anthroposphäre wurden – wie
schon angedeutet – in jener Zeit grundlegend verändert. Die erweiterte menschliche
Kontrolle über Pflanzen und Tiere bot die Grundlage für die Entstehung gesellschaftlicher Hierarchien und die Expansion sozialer Macht (ADAMS 1988, 14f.):
Zur selben Zeit, als die Menschen Pflanzen und Tiere domestizierten, begannen sie
auch, andere menschliche Wesen zu domestizieren, indem sie eine angeborene
Befähigung zu Dominanz und Unterordnung aktivierten, die sie von ihren
frühmenschlichen Vorfahren geerbt hatten. Die den gezähmten Pflanzen und Tieren
gegenüber gewonnene Herrschaftsstellung half Macht über Menschen zu erringen,
und das trieb wiederum die Ausweitung der Domestizierung voran.
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Wenn Adams von der Domestikation von Menschen durch andere Menschen spricht,
kann allerdings nicht die Veränderung genetischer Eigenschaften durch einen biologischen Selektionsprozess gemeint sein. Es kann hier vielmehr nur um die Herstellung
und Verstärkung der Nützlichkeit und Ausbeutbarkeit potentieller menschlicher
Läsionsopfer durch macht- und gewaltgestützte gesellschaftliche Prozesse gehen.
Dabei ist auch zu beachten, dass die neolithische Revolution durchaus mit kämpferischen Auseinandersetzungen verbunden war, bei denen sich in der Regel die militärisch machtvolleren bäuerlichen Völker durchsetzten.
In den bäuerlichen Gesellschaften selbst brachte der Übergang zur Landwirtschaft
keineswegs für alle Mitglieder Vorteile. Die Lebenssituation der meisten Kleinbauern
und Viehzüchter war nicht unbedingt besser als die von Jägern und Sammlern:
Zeitbudgetstudien haben gezeigt, dass sie mehr und nicht weniger Stunden pro Tag
arbeiten müssen als Jäger und Sammler. Archäologischen Untersuchungen zufolge
waren die ersten Ackerbauern in vielen Regionen kleiner und schlechter ernährt als
die von ihnen verdrängten Jäger und Sammler. Sie litten außerdem an gefährlicheren Krankheiten und starben im Durchschnitt früher. (DIAMOND 1998, 117)
Der materielle Lebensstandard nahm also vermutlich für beträchtliche Teile der Bevölkerung eher ab: Sie mussten bei schlechterer Ernährung mehr und regelmäßiger
arbeiten. Offenkundige Gewinner waren dagegen diejenigen Bevölkerungsschichten,
die dank gesteigerter Produktivität zur Wahrnehmung spezieller Aufgaben von der Nahrungserzeugung freigestellt wurden: Handwerker, Beamte, Priester etc. Die horizontale,
auf Arbeitsteilung basierende Gliederung der Gesellschaft schlug rasch in eine vertikale, Unterdrückung und Ausbeutung implizierende Abstufung um.
Eingeleitet durch die mit der neolithischen Revolution vollzogene große Läsivtransformation setzten neuartige Eskalationsprozesse ein, die innerhalb einer erdgeschichtlich vergleichsweise kurzen Zeit zu Umweltzerstörungen führten, die angesichts der
heutigen Intensität zwar bescheiden waren, dennoch aber erheblich über das paläound mesolithische Niveau hinausgingen. Eine vollständige Bestandsaufnahme und
Dokumentation ist hier nicht möglich; exemplarisch seien lediglich einige Teilprozesse
der Läsionseskalation angeführt, die bereits in der griechisch-römischen Antike deutlich
erkennbar waren:
✧ die Entwaldung des Mittelmeerraums;
✧ die kriegsbedingte Umweltzerstörung;
✧ die Begleit- und Folgeerscheinungen des Bergbaus;
✧ die Tötung gewaltiger Mengen von Opfertieren in Griechenland;
✧ die Vernichtung wilder Tiere zu Unterhaltungszwecken.
Detaillierter soll der erste dieser Prozesse erläutert werden. Vier Ursachenkomplexe
trieben die Entwaldung in der griechisch-römischen Antike voran:
✧ der Flächenbedarf der expandierenden Agrarwirtschaft;
✧ die wachsende Nachfrage nach Holz als Baumaterial;
✧ der zunehmende Brennholzbedarf;
✧ die griechischen und römischen Flottenbauprogramme.
Die Rodung von Wäldern zur Ackerlandgewinnung wurde im Altertum – wie auch zu
anderen Zeiten und an anderen Orten der Menschheitsgeschichte – grundsätzlich als
Fortschritt betrachtet. Waldbestände behinderten die Ausweitung der Landwirtschaft
Jg. 4/2 (2003)
Auf der Suche nach der Goldenen Zeit
13
und wurden, wo immer erforderlich und möglich, gerodet. Die Folgen sind bis heute
insbesondere im Hügel- und Bergland nicht zu übersehen.
Mit der allmählichen Zunahme der Bevölkerung stieg auch der Bedarf an Holz für
Bauzwecke und als Brennstoff. Im Römischen Reich wurde die Nachfrage nach Brennholz besonders durch die Vielzahl der Thermenanlagen stimuliert, die vor allem in der
Stadt Rom immer zahlreicher und größer wurden: Elf große Badepaläste und 856 kleinere Bäder gab es im vierten Jahrhundert nach Christus in der Hauptstadt des Reichs
(WEEBER 1990, 35). Dem Energiebedarf der Hypokaustenheizungen, bei denen Heißluft durch Röhren in die Böden oder Wände der zu erwärmenden Räume geführt
wurde, sind vermutlich weite Waldgebiete Italiens zum Opfer gefallen.
Sowohl in Griechenland als auch im Römischen Reich kam schließlich dem Holzbedarf für den Schiffsbau eine herausragende Bedeutung zu. Neue Dimensionen wurden dabei in den achtziger Jahren des fünften Jahrhunderts vor Christus eröffnet, als
Themistokles ein gewaltiges Flottenbauprogramm durchsetzte und innerhalb weniger
Jahre Holz für den Bau von zweihundert Kriegsschiffen beschafft werden musste. In der
Folgezeit führte der Aufstieg Athens zur seebeherrschenden Macht dazu, dass ständig
eine Kriegsflotte von mehreren hundert Schiffen unterhalten wurde. Die leichte Bauweise und die starke Beanspruchung der Trieren sorgten dafür, dass kontinuierlich
Schiffe durch neue ersetzt werden mussten.
Die zunächst seekriegsunerfahrenen Römer etablierten sich in der Zeit des Ersten
Punischen Krieges als Seemacht. Da im Zuge der Expansion des Römischen Reiches
Flotten auch in allen Regionen gebaut wurden, in denen die Römer die Herrschaft
übernahmen, war die weitere Entwaldung küstennaher Gebiete in der gesamten
Mediterraneis die Folge.
Die Eskalation der Schädigungsmöglichkeiten und Nachhaltigkeitsverletzungen in
den durch die agrarisch-zivilisatorische Revolution entstandenen Gesellschaften lässt
sich – betrachtet man den Umgang mit den Wäldern als Kernprozess – exemplarischpointiert durch den Entwicklungsweg von der Rodung entlang des Bachlaufs bis zur
Entwaldung beträchtlicher Teile des gesamten Mittelmeerraums verdeutlichen. Nicht
mehr heilbare, durch menschliche Eingriffe verursachte Veränderungen, die im Paläolithikum und im Mesolithikum noch ein vergleichsweise seltenes Phänomen gewesen
waren, bestimmten nun – vor allem in Form von Waldvernichtung und Bodenerosion –
das Erscheinungsbild vieler von Agrargesellschaften beeinflusster Landschaften.
4. Neuzeit: Vom urbanen Industriesmog zur globalen Klimaveränderung
Der Übergang zu den neuzeitlichen industriekapitalistischen Gesellschaften, der die
Natur- und Nachhaltigkeitsverletzungen noch einmal in beispielloser Weise verstärkt
und beschleunigt hat, wird im Wesentlichen durch die üblicherweise unter dem Begriff
der Industriellen Revolution zusammengefassten Veränderungen eingeleitet. Ausschlaggebend waren dabei keineswegs allein die bahnbrechenden technischen Neuerungen,
beteiligt waren vielmehr auch tief greifende soziale, ökonomische und politische
Umwälzungen. Darüber hinaus verdient aber auch ein Wirkungskomplex besondere
Beachtung, der bereits einige Zeit vor der Industriellen Revolution die Konturen des
heutigen Weltsystems zu formen begann: die ‘militärische Revolution’, die Parker
(1990) zufolge in entscheidendem Maße den Aufstieg des Westens vorbereitet und vorangetrieben hat. „Das Maschinenzeitalter mag”, konstatiert Parker (1990, 145), „als
Erklärung dafür dienen, wie die Europäer es schafften, ihre Kontrolle von 35 Prozent
14
K. Henrich
Natur und Kultur
der gesamten Landfläche des Globus im Jahr 1800 auf 84 Prozent im Jahre 1914 auszudehnen. Es kann jedoch nicht erklären, wie sie die ersten 35 Prozent eroberten.”
Die Antwort lässt sich auf einen knappen Nenner bringen: Die eingeborenen Völker Amerikas, Sibiriens, Schwarzafrikas und Südostasiens verloren ihre Unabhängigkeit, weil sie nicht imstande waren, die Errungenschaften der westlichen Militärtechnologie – Feuerwaffen, Festungen, stehende Heere und Kriegsschiffe – zu übernehmen
(PARKER 1990, 167). Dass auch die Völker der islamischen Welt den Europäern unterlagen, hing vor allem damit zusammen, dass sie die wirksamere Technologie nicht in
ihre vorhandenen militärischen Systeme einzugliedern vermochten. Die Völker Ostasiens dagegen konnten in der gesamten frühen Neuzeit ihre Unabhängigkeit gegenüber den europäischen Mächten behaupten, weil sie ihrerseits schon seit längerer Zeit
über die wichtigsten Bestandteile der neuen Militärtechnologie verfügten.
Die Kausalkette der europäischen militärischen Überlegenheit hat Diamond (1998)
in seiner schon erwähnten Studie wesentlich weiter zurückverfolgt, nämlich bis zum
geohistorischen Bedingungsgefüge der neolithischen Revolution. Eine dezidierte
Gegenposition zu Erklärungen einnehmend, die Unterschieden in den kognitiven
Fähigkeiten der einzelnen ‘Rassen’ eine zentrale Bedeutung zusprechen, rückt Diamond
ökologisch-historische Bedingungsfaktoren in den Vordergrund.
Ausgehend von der exemplarischen Fragestellung, warum nicht Atahualpa seine
Krieger ausschickte, um Kaiser Karl V. gefangen zu nehmen und sein Reich zu unterwerfen, sondern der spanische Konquistador Pizarro als Vertreter Karls V. mit 168 spanischen Soldaten den Herrscher des größten und am weitesten entwickelten Staatswesens der Neuen Welt in seine Gewalt brachte, präsentiert Diamond (1998, 93) ein
Geflecht von Ursachen, in dem die unterschiedliche Menge domestizierbarer Pflanzen
und Tiere eine Schlüsselstellung einnimmt. Die militärische Revolution der beginnenden
Neuzeit ist dieser Auffassung zufolge ebenso wie die von ihr vorbereitete Industrielle
Revolution nur zu verstehen, wenn jenes geohistorische Ursachengefüge berücksichtigt
wird, in dem insbesondere die folgenden Glieder der Kausalkette der militärischen
Überlegenheit Europas eine wesentliche Rolle spielen:
✧ viele geeignete Arten von Wildpflanzen und -tieren;
✧ zahlreiche domestizierte Pflanzen- und Tierarten;
✧ Nahrungsüberschuss, Vorratshaltung;
✧ große, sesshafte, geschichtete Gesellschaften mit hoher Bevölkerungsdichte;
✧ technische Entwicklung;
✧ Kanonen, Stahlschwerter, seetüchtige Schiffe.
Die auf der Grundlage der ‘militärischen Revolution’ vollzogenen Eroberungen führten
nicht nur zur Unterwerfung, Versklavung und Tötung der Menschen in den Zielgebieten, sie waren auch von jenem Phänomen begleitet, das Crosby (1991) als ökologischen Imperialismus bezeichnet hat: Wo immer europäische Mächte überseeische
Gebiete in ihren Besitz brachten, führten sie einen ’biologischen Musterkoffer’ mit sich,
ein Ensemble von Lebewesen, die in der Fremde eine Lebensweise ermöglichen sollten,
die sich möglichst wenig von der vertrauten heimischen unterschied.
Als Folge ist in den neoeuropäischen Gebieten heute eine ganz andere Flora und
Fauna anzutreffen als vor der europäischen Invasion. Rinder, Schweine und Pferde wurden eingeführt, Weizen mitsamt den dazugehörigen Unkrautarten, Mäuse und Ratten
sowie die Gräser und Kräuter, die sich um die Häuser, Scheunen und Wassergräben
Jg. 4/2 (2003)
Auf der Suche nach der Goldenen Zeit
15
ausbreiteten (CROSBY 1991, 235). Darüber hinaus wurde in allen eroberten Gebieten
die Umwelt ‘europäisiert’, das heißt einem permanenten Prozess der Zerstörung und
Fragmentierung der Ökosysteme ausgesetzt. Die militärisch gestützte erste Welle der
europäischen Expansion nach Übersee verband also die bedenkenlose Vernichtung
von Menschen mit ebenso rücksichtsloser Schädigung der Umwelt.
Das von der ‘militärischen Revolution’ vorbereitete und flankierte Zeitalter der
Industriellen Revolution war von verschiedenen Schlüsselprozessen geprägt, die immer
wieder in komplexer Weise aufeinander einwirkten:
✧ dem durch wesentliche technologische Neuerungen eingeleiteten Übergang von der
agrarischen zur industriellen Produktion;
✧ dem Aufstieg des Bürgertums zur ökonomisch und politisch dominierenden Klasse
durch die bürgerliche Revolution;
✧ der Entstehung der Industriearbeiterschaft als wichtigster innergesellschaftlicher
Folge.
Eine zentrale Rolle spielte „der Übergang zu einer vom Marktgeschehen beherrschten
Wirtschaft” (POLANYI 1978, 72). Die Einrichtung des Marktes gewann seit der späten
Steinzeit zunehmend an Bedeutung, spielte aber bis zum Beginn der Neuzeit lediglich
eine Nebenrolle im sozioökonomischen Geschehen. Ab dem 16. Jahrhundert wurden die
Märkte immer zahlreicher und wichtiger. „Im merkantilistischen System wurden sie praktisch ein Hauptanliegen der Regierungstätigkeit, dennoch gab es immer noch kein Anzeichen der künftigen Herrschaft der Märkte über die Gesellschaft” (POLANYI 1978, 87).
Eben dieser Zustand, die Dominanz des Marktsystems über alle übrigen gesellschaftlichen Teilsysteme und die Gesellschaft als Ganze, stellte sich als Ergebnis der
‘great transformation’ zu Beginn des Industriezeitalters ein. Die Wirtschaft war nicht
mehr mit dienender und gesellschaftlich kontrollierter Funktion in die sozialen Beziehungen eingebettet, sie war vielmehr in der Form des Marktsystems an die Spitze der
gesellschaftlichen Kontrollhierarchie gerückt und begann alle sozialen Strukturen und
Entwicklungen zu beherrschen. Die für die Marktökonomie charakteristische Wachstumsdynamik sorgte in der Folgezeit mit einer bislang ungekannten Vehemenz und
Beschleunigung für die kontinuierliche Verstärkung sowohl globaler Einkommensdisparitäten als auch der Umweltdegradation.
Die damit skizzierte Transformation leitete ein Zeitalter ein, das John McNeills
(2000) Umweltgeschichte des 20. Jahrhunderts zufolge „something new under the sun”
brachte, nämlich eine beispiellose, akzelerierte Eskalation der anthropogenen Läsionskapazität und -intensität. Einige Daten aus der ‘Erfolgsbilanz’ des vergangenen Jahrhunderts sind in Tabelle 1 angeführt, um die behaupteten Eskalationsprozesse deutlich
werden zu lassen.
Erläutert seien an dieser Stelle lediglich exemplarisch die technischen Rahmenbedingungen des in der Tabelle 1 an letzter Stelle genannten Entwicklungstrends, der
unablässig sich fortsetzenden Verminderung der Waldfläche. Wie bei vielen menschlichen Arbeitsvorgängen und Kampfaktivitäten diente im Anfangsstadium der Menschheit auch beim Fällen und Bearbeiten von Baumstämmen das Allzweckgerät Faustkeil
als nicht sehr wirkungsvolles Hilfsmittel (KILLIAN 1983, 185). Die ständig verbesserte Axt
erhöhte die Effektivität der Holzernte und der Verarbeitung erheblich. Dennoch bildete
– ungeachtet der Tatsache, dass in manchen Regionen der Erde auch schon früher gewaltige Abholzungen stattfanden – bis ins 20. Jahrhundert der enorme Arbeitsaufwand
16
K. Henrich
Natur und Kultur
den ‘Flaschenhals’ des Holzfällens. Dies änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg,
als sich die bereits 1858 erfundene Kettensäge dank beständiger technischer Verbesserungen weltweit durchzusetzen begann und Bäume 100- bis 1000-mal schneller zu
fällen erlaubte als die Axt. Ohne die Kettensäge hätte – folgert McNeill (2000, 307f.)
– die umfassende Abholzung tropischer Wälder nicht oder viel langsamer stattgefunden. Zu ergänzen ist, dass mittlerweile auch die Kettensäge nicht mehr den neuesten
Stand der Abholzungstechnik repräsentiert. Computergesteuerte Vollernter (Harvester)
mit Leistungen zwischen 40 und 60 Bäumen pro Stunde haben die Effizienz der
Kettensäge noch einmal verzehnfacht.
Auf ähnliche Weise wie die Kettensäge haben Hunderte von ebenso prosaischen
Kleintechnologien die Umweltgeschichte des 20. Jahrhunderts in kleinen oder weniger
kleinen Schritten verändert (MCNEILL 2000, 308). Während Politik und Wissenschaft
sich um die Präzisierung von Nachhaltigkeitszielen bemühen, werden unablässig von
Technikern und Unternehmern meist ohne Rücksicht auf die Umweltkonsequenzen
Neuerungen entwickelt und auf den Markt gebracht, die den Strom der Umweltläsionen breiter und reißender werden lassen.
Tabelle 1: Ausgewählte Maßgrößen der globalen Umweltdegradation im 20. Jahrhundert
Kenngröße
Vervielfachungsfaktor 1890er
bis 1990er Jahre
Weltbevölkerung
Industrieproduktion
Energieverbrauch
Luftverschmutzung
Kohlendioxidemissionen
Schwefeldioxidemissionen
Bleiemissionen in die Atmosphäre
Wasserverbrauch
Meeresfischfang
Blauwalpopulation
Ackerland
Waldfläche
4
40
13
~5
17
13
~8
9
35
0,0025 (99,75 % Abnahme)
2
0,8 (20 % Abnahme)
Quelle: McNeill 2000, Seite 360f.
Das Ausmaß der via Durchsetzung der Marktökonomie und des Industriekapitalismus
beschleunigten Eskalation der Nachhaltigkeitsverletzungen und Naturläsionen sei –
ohne Anspruch auf Vollständigkeit – durch einige die Angaben in Tabelle 1 ergänzende beispielhafte Daten angedeutet, die ebenfalls der Studie McNeills (2000, 31, 54,
121, 247) entnommen sind:
✧ Die Entwicklung des ausbeutenden menschlichen Umgangs mit der Pedo- und
Lithospäre (Böden und Gesteine) verdeutlicht exemplarisch das Wachstum der
globalen Kohleförderungsmenge von 10 Millionen Tonnen auf 5 Milliarden Tonnen
(Vermehrungsfaktor 500 im Zeitraum von 1850 bis 1990).
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Auf der Suche nach der Goldenen Zeit
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✧ Die beschleunigt zunehmende Inanspruchnahme der Hydrosphäre (Gewässer) wird
an der Steigerung des weltweiten Süßwasserverbrauchs von 110 km3 im Jahre 1700
auf 5190 km3 im Jahre 2000 sichtbar (Vermehrungsfaktor: 47).
✧ Die gesteigerte raubwirtschaftliche Nutzung der Biosphäre wird an der Zunahme der
Erträge der Meeresfischerei von etwa 1 Million Tonnen im Jahre 1800 auf 74 Millionen Tonnen im Durchschnitt der Jahre 1994 bis 1996 erkennbar.
✧ Als Beispiel für die eskalierende Belastung der Atmosphäre und die mit ihr verbundene Schädigung von Menschen, Tieren, Pflanzen sei der Anstieg der Bleiemissionen von 1800 Tonnen im Durchschnitt der Jahre 1850 bis 1900 auf 340 000 Tonnen im Durchschnitt der Jahre 1981 bis 1990 angeführt (Vermehrungsfaktor: 189).
Die skizzierten Auswirkungen beschränken sich – anders als noch in den agrarischen
Gesellschaften – nicht mehr auf lokale und regionale Erscheinungen, sie berühren vielmehr das Erdsystem in seiner Gesamtheit. Pointiert lässt sich feststellen, dass der Entwicklungsweg des industriekapitalistischen Zeitalters vom urbanen Industriesmog zur
globalen Klimaveränderung geführt hat.
Die Eskalation der Schädigungsmöglichkeiten und -wirkungen zeigt sich nicht nur
daran, dass Störung und Zerstörung der natürlichen Umwelt das Erdsystem als Ganzes betreffen und sich nicht mehr auf lokale und regionale Ökosysteme beschränken,
sondern auch daran, dass in der Zivilisation der bürgerlichen Gesellschaft, also
innerhalb der Anthroposphäre, von Anfang an massenhaft ausgeübte physische
Gewalt eine wesentliche Rolle gespielt hat (VON OERTZEN 2001, 17f.):
In derselben historischen Epoche, in der sich jene humanitären und demokratischen
Werte entfaltet haben, die heute (zumindest pro forma) als die moralischen und
rechtlichen Grundlagen des Zusammenlebens aller Menschen und Völker auf
diesem Erdball anerkannt werden, hat eine massenhafte Beschädigung und
Vernichtung menschlichen Lebens stattgefunden, die sowohl qualitativ als auch
quantitativ mit den Ausrottungskampagnen des vergangenen 20. Jahrhunderts
verglichen werden können. Und es sind dieselben gesellschaftlichen Systeme – und
nicht selten dieselben Personen – für diese Taten verantwortlich gewesen, die in
derselben Zeit der Ideenwelt der Menschen- und Bürgerrechte zum Durchbruch und
zur Herrschaft verholfen haben.
Auf eine Auflistung der Megatötungen sei hier verzichtet. (Einige besonders hervorstechende Beispiele finden sich bei von Oertzen 2001; einen umfassenden Überblick
über die „menschengemachten Megatötungen jenseits des Krieges” vermittelt Heinsohn
[1999].) Erwähnt sei lediglich ergänzend noch die Tatsache, dass die ‘schwarze Ökonomie’, ein Komplex von geschäftsmäßig betriebenen, mit ständiger organisierter Gewalt
einhergehenden Aktivitäten – Drogenhandel, Waffenhandel, Frauen- und Kinderhandel,
Handel mit nuklearem Material, Schmuggel illegaler Einwanderer, Handel mit menschlichen Organen und Körperteilen, Schmuggel von Umweltgiften, illegaler Handel mit Müll
und Abfall – seit geraumer Zeit mit überdurchschnittlicher Geschwindigkeit wächst und
mittlerweile zu den Kernbestandteilen der globalisierten Wirtschaft gehört (KRÄTKE 2001).
Abschließend erläutert sei noch ein Trend, der weniger eine Verstärkung der direkten Läsionen erkennbar werden lässt, als vielmehr der ‘strukturellen Gewalt’ im Sinne
Galtungs. Gemeint ist die permanente Vergrößerung der globalen Einkommensdisparitäten, die sich als anscheinend unvermeidbare Folgeerscheinung der von gesellschaftlich-politischer Kontrolle befreiten Marktdynamik durchgesetzt hat.
18
Natur und Kultur
K. Henrich
Tabelle 2: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, regionale Durchschnittswerte, 0 – 1998
(Dollarwerte auf der Grundlage der Kaufkraft des Jahres 1990)
Jahr
Westeuropa
0
1000
1500
1600
1700
1820
1870
1913
1950
1973
1998
450
400
774
894
1024
1232
1974
3473
4594
11534
17921
Westliche
Ableger
400
400
400
400
473
1201
2431
5257
9288
16172
26146
Afrika
Welt
425
416
400
400
400
418
444
585
852
1365
1368
444
435
565
593
615
667
867
1510
2114
4104
5709
Quelle: Maddison 2001, Seite 264
Je weiter wir in der Geschichte der transnationalen Ökonomie zurückgehen, desto
mehr verringern sich die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern. Ungeachtet der Tatsache, dass eine Reihe von Ländern mit gewaltigen Entwicklungssprüngen ihren Einkommensrückstand zu vermindern oder aufzuheben vermochten, lässt
sich feststellen: „Die globalen Ungleichheiten nehmen seit nahezu zwei Jahrhunderten
ständig zu. Eine Analyse der langfristigen Trends in der Verteilung des Welteinkommens
(zwischen Ländern) zeigt, dass der Abstand zwischen dem reichsten und dem ärmsten
Land 1820 etwa 3 zu 1 betrug, 1913 11 zu 1, 1950 35 zu 1, 1973 44 zu 1 und 1992
72 zu 1” (UNDP 1999, 38).
Die transnationale industriekapitalistische Ökonomie hat somit offensichtlich in
keiner Phase ihrer langfristigen Expansion eine Verminderung der Einkommensungleichheit bewirken können, sie hat vielmehr durchgängig und mit zunehmender
Vehemenz die Einkommens- und Lebensverhältnisse polarisiert.
Die Ursprünge sozialer Diskrepanzen reichen freilich viel weiter in die Geschichte
der Menschheit zurück. Offenbar besteht – wie erläutert – ein enger Zusammenhang
zwischen der Domestikation von Pflanzen und Tieren, der Herausbildung sozialer Hierarchien und der Vermehrung des Potentials zur Umweltzerstörung. (Die Dezimierung
der Megafauna des Pleistozäns durch Gemeinschaften mit vergleichsweise geringen
sozialen Unterschieden zeigt indessen, dass es sich nicht um einen zwingenden
Zusammenhang handelt.) Die innergesellschaftliche Entwicklung von Hierarchien verband sich allerdings jahrtausendelang nicht mit einem internationalen Gefälle der
durchschnittlichen Einkommensverhältnisse und Lebenschancen. Diese Schlussfolgerung legt zumindest die umfassende, zwei Jahrtausende umspannende wirtschaftshistorische Datensammlung nahe, die Maddison (2001) im Auftrag des Oecd
Development Centre zusammengestellt hat. Tabelle 2 enthält einige exemplarische
Ergebnisse, die es erlauben, die Entwicklung der Relationen zwischen Afrika und Westeuropa beziehungsweise den westlichen Filialregionen zu verfolgen.
Die ehemals egalitäre Ausgangsposition, die noch im Jahre 1000 bestand und
sogar durch leichte Vorteile zugunsten Afrikas gekennzeichnet war, hat sich also bis
Jg. 4/2 (2003)
Auf der Suche nach der Goldenen Zeit
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etwa 1800 allmählich zugunsten Westeuropas verschoben, seither aber mit drastischer
Beschleunigung und Intensität vor allem zugunsten der westlichen Ableger. Technologische und ökonomische Antriebskräfte spielten dabei eine wesentliche Rolle, hätten aber
für sich genommen nicht ausgereicht, um solche Asymmetrien und Dominanzstrukturen
hervorzubringen und mit kontinuierlicher Verstärkung zu reproduzieren. Ausschlaggebend war und ist vielmehr die erläuterte flankierende Entwicklung militärischer
Stärke und Aggressionsbereitschaft.
5. Dynamische Nachhaltigkeit: Deeskalation und Erhaltung der Evolutionsfähigkeit
Das Ergebnis der Überprüfung der Frage nach der Existenz eines Goldenen Zeitalters
des nachhaltig-harmonischen Umgangs der Menschen mit der Natur lässt sich thesenförmig folgendermaßen zusammenfassen:
(1) Das Verhältnis der Menschen zur Natur und ihren Teilsystemen war schon immer
primär das einer Feind-Opfer- oder Ausbeuter-Opfer-Beziehung (enemy-victim- oder
exploiter-victim-relationship).
(2) Die anthropogen-technische Eskalation setzt die seit dem Auftauchen direkter
Feind-Opfer-Beziehungen im Kambrium (ab etwa 544 Millionen Jahre vor heute)
wirksame natürlich-biotische Eskalation mit neuartigen Erscheinungsformen unter dem
Einfluss besonderer sozioökonomischer Mechanismen fort.
(3) Als entscheidende Systemtransformationen, die sowohl innerhalb der Menschheitssphäre als auch in den Mensch-Natur-Beziehungen jeweils eine neue Stufe der
Struktur und der Entwicklung der Verletzungen und Gewaltbeziehungen eingeleitet
haben, sind die neolithische Revolution, die das agrarische Zeitalter initiierte, und die
militärisch-industrielle Revolution der beginnenden Neuzeit zu betrachten.
(4) Nachhaltigkeitsverletzungen und unheilbare Beeinträchtigungen der Natur hat
es somit stets in der Menschheitsgeschichte gegeben, verändert haben sich lediglich
ihre Intensität und die räumlichen Dimensionen: Die anfänglich nur lokalen Läsionen
sind im Spätpaläolithikum allmählich von regionalen, in der jüngsten Vergangenheit
dann von globalen Schädigungen abgelöst worden.
Zwei Kategorien von Antriebskräften sind für die Eskalationsprozesse verantwortlich:
biologisch-natürliche und kulturell-gesellschaftliche (REES 2003). Zum einen ist Homo
sapiens aufgrund der biologischen Bedingungen seines Verhaltens prädisponiert, sich
den gesamten ihm zugänglichen ökologischen Raum zu erschließen und ihn sich nach
Maßgabe der jeweiligen technischen Möglichkeiten anzueignen. Zum anderen beherrscht die soziokulturell begründete materialistische Vision der unbegrenzten Ausdehnung der Produktion und der Märkte das Denken und Handeln der neuzeitlichen
menschlichen Gemeinschaften. Nicht übersehen werden darf darüber hinaus die
wesentliche Grundlage der eskalatorischen Wirksamkeit dieser beiden Arten von
Antriebskräften – das durch keinerlei Prädationsdruck kontrollierte immer stärkere
Populationswachstum der Spezies Homo sapiens.
Die von den genannten Antriebskräften getragene unablässige Ausweitung der
zerstörerischen Einwirkungen auf die Natur hat zahlreiche Autoren veranlasst, von einem tumorartigen Wachstumsprozess der Menschheitssphäre zu sprechen, der mit der
tödlichen Bedrohung des Wirtsorganismus, hier der terrestrischen Natursphäre, auch
seine eigenen Existenzmöglichkeiten aufs Spiel setze. Besonders prägnant hat Hern in
mehreren Veröffentlichungen (1990, 1997, 1999) diese Analogie ausgearbeitet. Seine
Argumentation lässt sich thesenförmig folgendermaßen zusammenfassen:
20
K. Henrich
Natur und Kultur
✧ In der Onkologie (Krebsforschung) spielt die Verdopplungszeit des Tumorvolumens
(TVDT = tumour volume doubling time) eine wichtige Rolle.
✧ Für eine Reihe gefährlicher Tumoren sind abnehmende Verdopplungszeiten während
langer Phasen der Tumorentwicklung charakteristisch.
✧ Im Durchschnitt stirbt bei derartigen Tumoren nach 37 bis 40 Verdopplungsschritten
der Wirtsorganismus und mit ihm der Tumor.
✧ Die Hauptmerkmale von bösartigen Tumoren kennzeichnen auch das Verhalten der
Menschheitssphäre gegenüber der Natursphäre: invasives Wachstum, destruktive
Ausbreitung, Metastasierung (Streuung der zerstörerischen Zellen).
✧ Berücksichtigt man allein die Anzahl der Individuen, dann hat die Gattung Homo
seit dem Beginn ihrer Evolution mit fast durchgängig abnehmender ‘doubling time’
32,5 Verdopplungsschritte vollzogen; erst für die künftigen Verdopplungen zeichnet
sich eine Stabilisierung und leichte Zunahme der Zeitspannen ab.
✧ Gleichzeitig hat sich der durchschnittliche menschliche Energieverbrauch vervielfacht, so dass der als Indikator des Umweltzerstörungspotentials geeignete Gesamtenergieverbrauch sich bereits 36-mal verdoppelt hat.
✧ Die für die (größeren Organismen der) Biosphäre todbringenden Verdopplungsschritte 37 bis 40 werden in 200 bis 400 Jahren vollzogen sein, wenn die gegenwärtigen Wachstumsraten der Bevölkerung und des Energieverbrauchs nicht
entscheidend verringert werden.
Dass sich die Zunahme der Weltbevölkerung in Zukunft deutlich abschwächen wird, gilt
nach den neueren Prognosen als wahrscheinlich; diese Tendenz stellt auch Hern
(1999, 76) in Rechnung. Darüber hinaus sind zwei Gesichtspunkte zu beachten, die
Herns Argumentation zwar nicht entkräften, sie aber doch partiell relativieren:
✧ Die Menschheits- und Gesellschaftsentwicklung ist kein ausschließlich biologischer
Prozess, sondern bewusst und gezielt konzipierten Veränderungen zugänglich. Auch
wenn die nach mehreren Jahrzehnten umweltpolitischer Bemühungen im Wesentlichen ungebrochen ansteigenden Trends der Naturzerstörung wenig Anlass zu
Optimismus bieten, kann die Möglichkeit nicht völlig ausgeschlossen werden, dass
heute noch unbekannte Auswege gefunden werden und sich eine Nachhaltigkeitswende herbeiführen lässt.
✧ Die Übertragbarkeit des existenzvernichtenden Verdopplungsmusters – Tod nach 37
bis 40 Schritten – vom Verhältnis des Tumors zum individuellen Wirtsorganismus auf
die Kollektivbeziehung zwischen Menschheit und Natursphäre erscheint erörterungsbedürftig und müsste genauer begründet werden, als Hern das leistet.
Nichtsdestoweniger steht die von Hern formulierte Krebshypothese durchaus mit der
hier entwickelten und erläuterten Eskalationshypothese in Einklang.
Festzuhalten ist somit, dass Verletzungen der wie auch immer präzisierten Nachhaltigkeitsbedingungen immer schon stattgefunden haben, und zwar mit der ständig
eskalierenden Intensität eines bösartigen Tumors. Die Bedeutung dieses Aspekts wird
durch das von nahezu allen philosophischen Schulen geteilte ontologische Prinzip
unterstrichen, dass sich – im Sinne der Heraklit zugeschriebenen Aussage panta rhei –
alles im Fluss befinde, dass also Natur und Gesellschaft beständig dynamischen
Prozessen unterworfen sind und keinen Stillstand kennen. Daher erscheint es in mehrfacher Hinsicht als wenig sinnvoll, Nachhaltigkeit – wie das häufig ausdrücklich oder
mittelbar vorgeschlagen wird – als Erhaltung eines Status quo, eines bestimmten
Jg. 4/2 (2003)
Auf der Suche nach der Goldenen Zeit
21
bewahrenswerten Zustands zu definieren. Erforderlich ist vielmehr ein plausibles
Konzept einer dynamischen Nachhaltigkeit, das die Bedingungen der Bändigung und
Eindämmung der bedrohlichen, zerstörerischen Teilströme des vorherrschenden Fluxus
quo, des ständigen fließenden Veränderungsprozesses, präzisiert. Für ein solches
Konzept sind – wie im Folgenden erläutert wird – zwei Schlüsselmerkmale wesentlich:
✧ Deeskalation
✧ Evolutionsfähigkeit
Zunächst sei jedoch noch kurz daran erinnert, dass der Begriff der ‘dynamischen Nachhaltigkeit’ keineswegs neu ist, sondern insbesondere in der deutschsprachigen Forstbetriebslehre seit langem verwendet wird. Zwei Arten von Nachhaltigkeitsbegriffen
werden unterschieden (SPEIDEL 1984):
✧ Statische Nachhaltigkeit bezieht sich auf Bestandsgrößen und verlangt die dauerhafte Erhaltung der Waldfläche (Flächennachhaltigkeit), des Holzvorrats (Vorratsnachhaltigkeit) oder seines Werts (Wertnachhaltigkeit), des Betriebsvermögens
(Substanzerhaltung) oder des Kapitals (Kapitalerhaltung).
✧ Dynamische Nachhaltigkeit hat dagegen zeitraumbezogene Stromgrößen zum
Gegenstand: Langfristig garantiert werden sollen die Holzerträge in Masse und
Qualität oder – in monetärer Perspektive – die erwirtschafteten Gelderträge und die
Rentabilität des eingesetzten Kapitals.
In ähnlicher Weise wird in angloamerikanischen Veröffentlichungen in unterschiedlichen Zusammenhängen (Landbewirtschaftung, Städteplanung etc.) von ‘dynamic
sustainability’ gesprochen. Dabei geht es allerdings in der Regel – nicht anders als in
der Forstwirtschaft – weniger um die Frage, wie Natur erhalten werden kann und sollte,
sondern wie die Ausbeutungsfähigkeit natürlicher Ressourcen mittel- und langfristig
gesichert werden kann.
Im vorliegenden Zusammenhang wird der Begriff der ‘dynamischen Nachhaltigkeit’
jedoch in einem umfassenderen, über forstbetriebliche und andere begrenzte,
bereichsspezifische Perspektiven hinausweisenden Sinne verstanden. Grundlegend ist
dabei – wie erwähnt – zum einen das ontologische Prinzip, dass sich alles unablässig
im Fluss befinde, und zum anderen die Hypothese, dass die natürliche und die soziale Evolution durch eine fortdauernde Läsionseskalation gekennzeichnet seien, die sich
einerseits in einer ständigen Verstärkung der Naturverletzungen und andererseits in
einer Verschärfung der von Menschen einander zugefügten Läsionen äußert. Daraus
leitet sich ein erstes Grundmerkmal der dynamischen Nachhaltigkeit ab, die Deeskalation: Zur Neutralisierung, Kompensation und Reduktion des biologisch begründeten
und gesellschaftlich verstärkten Eskalationstrends, der Intensivierung der Angriffs-,
Durchsetzungs- und Aneignungsmöglichkeiten, müssten alle geeigneten kulturellen
Mittel und Fähigkeiten mobilisiert werden, die den menschlichen Gemeinschaften zugänglich sind, insbesondere wirtschaftspolitische, technologiepolitische und bildungspolitische. Bisher ist allerdings konsequent der entgegengesetzte Weg beschritten worden: Die biologisch-körpergebundene Eskalation ist ergänzt und unermüdlich erweitert
worden durch kulturell-technische Hilfsmittel. Der gewaltige und durchschlagende
Erfolg der Gattung Homo und der Spezies Homo sapiens stützt sich gerade auf die
Fähigkeit zu einer solchen die Grenzen des Körpers überschreitenden Eskalation, die
eine ständige Ausweitung der Beherrschung, Unterwerfung und Ausbeutung der Natur
zum Ziel gehabt und bewirkt hat.
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K. Henrich
Natur und Kultur
Akzeptiert man – ohne dass damit dem Anspruch an eine kausale Tiefenanalyse
Genüge getan sein soll – die IPAT-Gleichung (Environmental impacts = Population size
x Level of affluence or per capita consumption x Level of technology) als Grundlage für
die Erfassung der wesentlichen Eskalationsfaktoren und -komponenten, dann lässt sich
feststellen, dass drei durch Wechselwirkungen miteinander verknüpfte Schlüsseltrends
die insbesondere in den beiden letzten Jahrhunderten beschleunigte Eskalation der
Naturverletzungen getragen haben:
✧ das in ständig kürzer werdenden Verdopplungszeiten sich äußernde hyperexponentielle Bevölkerungswachstum;
✧ das asymmetrische, vor allem dem wohlhabenden Teil der Weltbevölkerung zugute
kommende Wachstum der Produktion und des Konsums, das durch rentabilitätsbestimmte Selbstverstärkungsprozesse der entfesselten, von gesellschaftlicher Kontrolle befreiten Kräfte des Marktsystems vorangetrieben wird;
✧ die weit mehr von Marktchancen und Herrschaftsinteressen als von demokratischen
Prinzipien und Verfahrensweisen gesteuerte Fortentwicklung der naturzerstörenden
Technik und des umweltbelastenden Energieverbrauchs.
Solange die Wirksamkeit dieser drei fundamentalen Eskalationsfaktoren und ihrer
Verursachungszusammenhänge nicht in Frage gestellt und unterbunden werden kann
oder soll, erübrigt sich im Grunde jeder Nachhaltigkeitsdiskurs.
Innerhalb dieses Bezugsrahmens lässt sich Deeskalation in einem ersten Präzisierungsschritt in drei wesentliche Komponenten auflösen:
✧ Depopulation: Bevölkerungsverminderung durch eine Reproduktionsrevolution.
✧ Dekapitalisierung: Konsum- und Produktivkapitalreduzierung durch eine Suffizienzrevolution.
✧ Dematerialisierung: Verringerung des durchschnittlichen Material- und Energieeinsatzes durch eine Effizienzrevolution.
Grundsätzlich könnte eine Deeskalation durch erhebliche Einschränkungen der Wirksamkeit eines der drei Faktoren herbeigeführt werden. Solange jedoch kein überzeugendes Beispiel für den nachhaltigen Erfolg einer solchen ‘einspurigen’ Veränderungsstrategie existiert, gibt es keinen Anlass, auf die sorgfältige Überprüfung der Begrenzungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten aller drei Einflussgrößen zu verzichten.
Dabei ist es wichtig zu beachten, dass nicht nur die Abschwächung des Wachstums der
Zerstörungskapazität ins Auge gefasst werden muss, sondern darüber hinaus eine
substantielle Reduzierung des bisher erreichten Wirkungsniveaus.
Die stärkste Beachtung hat bei derartigen Erörterungen bislang der dritte Ansatzpunkt
gefunden: die Dematerialisierung, das heißt die Verminderung des durchschnittlichen
Material- und Energieverbrauchs bei der Herstellung und der Konsumtion von Gütern
und Dienstleistungen. Die Attraktivität dieser Strategie verdankt sich vor allem der meist
mit ihrer Propagierung verbundenen Behauptung, es sei möglich, die Umweltbelastung
und Naturzerstörung durch eine ‘Effizienzrevolution’ zu verringern, ohne dass Wohlstandseinbußen in Kauf genommen werden müssten. Bis jetzt fehlt allerdings der Beleg
dafür, dass diese Strategie auch außerhalb der Köpfe und Verheißungen ihrer Urheber
mit umfassender Breitenwirkung die für möglich gehaltenen Erfolge zu erzielen vermag.
Zwei Spielarten der Dematerialisierung sind zu unterscheiden (TE RIELE ET AL. 2001, 11):
Jg. 4/2 (2003)
Auf der Suche nach der Goldenen Zeit
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✧ Absolute Dematerialisation bedeutet Reduzierung des gesamten Materialstroms und
seiner Umwelteffekte je Zeiteinheit.
✧ Relative Dematerialisation bezeichnet die Verringerung des Materialverbrauchs je
Einheit der physischen oder wertmäßigen Produktion.
In beiden Fällen ist gemäß der Formel M+E+P (Materials + Energy + Pollution) der
Naturverbrauch im umfassenden Sinne gemeint. Dass relative Dematerialisation allenfalls als Zwischenziel einer Politik der Umweltentlastung in Betracht kommen kann, liegt
für Te Riele et. al. (2001, 13) auf der Hand: Dematerialisierungspolitik ist eine „Politik,
die darauf zielt, die Entwicklung ökonomischer Systeme in der Weise zu beeinflussen,
dass die Umwelteinwirkungen des Materialflusses, die von jenem System verursacht
werden, signifikant und in ihrem absoluten Umfang verringert werden“.
In ihrem bilanzierenden Überblick kommen die zitierten Autoren (2001, 23-29) zu
dem Ergebnis, dass bislang weltweit kein einziges Land existiert, das sich um eine
konsequente Dematerialisierungspolitik bemüht. Zu fragen ist allerdings, ob in einem
von transnationalen Konzernstrategien beherrschten Weltsystem die nationalstaatlichen
Institutionen die richtigen Adressaten für die Forderung nach Dematerialisierung und
nach einer Effizienzrevolution sind, die zu einem deutlich verringerten relativen und absoluten Ressourceneinsatz führt. Maßgebende technische Neuerungen werden – wie
Narr und Schubert (1994, 68-74) hervorheben – immer weniger mit dem Blick auf
nationale Märkte und regionale Wirtschaftsräume konzipiert und eingeführt, vielmehr
immer stärker auf weltweiten Absatz ausgerichtet. Und dabei ist weit überwiegend nicht
die ökologische Intelligenz entscheidungsbestimmend, die Lehner und Schmidt-Bleek
(1999) so eindringlich fordern und beschwören, sondern viel häufiger die Raffinesse
der rentabilitätsorientierten Umweltmissachtung.
So erscheint es denn auch höchst problematisch, wenn Schmidt-Bleek (2001)
konstatiert: „Nachhaltigkeit wird auf dem Markt erreicht oder gar nicht.“ In dieser Feststellung nämlich manifestiert sich gerade das zentrale Problem nicht nur der Umweltpolitik: die Eliminierung aller anderen gesellschaftlichen Rationalitätsmaßstäbe und die
nahezu unbeschränkte Dominanz der auf den Markterfolg gestützten Rentabilität. Die
Tatsache, dass es nötig und sinnvoll ist, innerhalb der Machtstrukturen und Gewaltverhältnisse der Marktökonomie gegen weitere Verschlechterungen der Lebens- und
Umweltbedingungen anzugehen, rechtfertigt nicht die Verbreitung von Illusionen über
die (Un-)Fähigkeit dieses Systems, eine definitive Lösung der sich verschärfenden Nachhaltigkeitsprobleme herbeizuführen. Berücksichtigt man, dass die Marktdynamik – von
unbedeutenden Ausnahmen abgesehen – in ausschlaggebendem Maße die moderne
Läsionseskalation vorangetrieben hat, dann erscheint somit eher die Feststellung plausibel: „Nachhaltigkeit wird gegen die unablässig aktiven Zerstörungskräfte des Marktes durchgesetzt oder gar nicht.“
Der zweite Stützpfeiler der Deeskalation ist – so war behauptet worden – Dekapitalisierung. Menschlicher Wohlstand verdankt sich – das gehört zu den selbstverständlichen Grundeinsichten der Ökologischen Ökonomik – stets dem Zusammenwirken
von Naturkapital und anthropogenem Kapital. In der im Einleitungsabschnitt erwähnten ökologisch-ökonomischen Nachhaltigkeitsdiskussion wird intensiv erörtert, welches
Ausmaß der menschlichen Aneignung und der Umwandlung von Naturkapital in
sozioökonomisches Kapital noch akzeptabel sei. Diese auf einen abstrakten Optimalzustand bezogene Erörterung erweist sich jedoch im Lichte der erwähnten ständigen
Veränderung der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit als politisch-praktisch
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Natur und Kultur
irrelevant. Entscheidend ist vielmehr, dass der realiter vorherrschende Prozess der progressiven Kapitalisierung, das heißt der tumorartigen Infiltration des Naturkapitals
durch das sozioökonomische Kapital, bereits seit langer Zeit alle über die schwachen
Versionen des Nachhaltigkeitsprinzips hinausgehenden Kriterien in wachsendem Maße
verletzt. Wenn anspruchsvollere Vorstellungen als lediglich Pseudo-Nachhaltigkeitsziele verwirklicht werden sollen, kann daher die konsequente Schlussfolgerung nur lauten:
Der genannte Kapitalisierungsprozess muss abgeschwächt und von einem Prozess der
Dekapitalisierung abgelöst werden, der menschliches Wohlergehen auf anderen
Wegen sichert und verbessert als durch die unaufhörliche Vermehrung des sozioökonomischen Kapitals zu Lasten des natürlichen.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Möglichkeit der Selbstbegrenzung zu, der von
Illich (1998) so eindringlich geforderten Einschränkung des Verbrauchs von Gütern
und Dienstleistungen, die den Menschen wieder zu einem autonomen, nicht mehr der
„Logik seiner Werkzeuge“ unterworfenen Wesen werden lassen und den „Untergang
der Angemessenheit“ rückgängig machen könnte.
Damit wird freilich – ebenso wie mit den Zweifeln an der Realisierbarkeit einer
Nachhaltigkeitswende durch eine markt- und konzerndominierte ‘öko-intelligente’Technologieentwicklung – die Kernstruktur und -dynamik des modernen Weltwirtschaftssystems in Frage gestellt. Dieses System nämlich kennt keinen Rückwärtsgang,
und für die Handlungsträger der Kapitalakkumulation ist schon die Vorstellung, sich mit
einem vorhandenen Kapitalbestand zu begnügen und von weiterer Aufstockung abzusehen, eine systembedrohende Unmöglichkeit und Zumutung. Im Schöpfungsplan der
industriekapitalistischen Marktökonomie sind – das ist offensichtlich – Dekapitalisierung, Selbstbegrenzung (ILLICH 1998) und die bisweilen immer noch vielbeschworene
Suffizienzrevolution nicht vorgesehen. Wer deshalb der Meinung ist, Dekapitalisierung
bilde keinen erörterungswürdigen Sachverhalt, dem sei dies unbenommen. Von ernsthafter Nachhaltigkeitsdiskussion kann dann allerdings keine Rede mehr sein.
Als dritte wesentliche Komponente der Deeskalation ist Depopulation, verstanden
als Bevölkerungsverminderung durch eine Umwälzung des Reproduktionsverhaltens, in
Betracht zu ziehen. Wenn Umweltexperten aus Entwicklungsländern anmerken, die
Industrieländer des ‘Nordens’ sollten erst einmal eine „Geburtenkontrolle für Autos“
einführen, bevor sie von den Ländern des ‘Südens’ eine Geburtenkontrolle für Menschen verlangten (WICHTERICH 2002), dann ist diese Behauptung zwar insofern ‘politisch korrekt’, als sie auf einen wichtigen Teilaspekt der im vierten Abschnitt skizzierten
wachsenden globalen Ungerechtigkeit verweist; gleichzeitig ist die Feststellung aber
ökologisch fatal, weil sie ein Problem gegen das andere ausspielt und die Bedrohlichkeit des „Run-away-Effekts der Biomasse ‘Mensch’“ (GOPPOLD 2001) herunterspielt.
Einen knappen Überblick über die Begründung, die Probleme und die Möglichkeiten einer Politik der Bevölkerungsverringerung vermittelt Stenmark (2003, 16-18). An
dieser Stelle sei nur angemerkt, dass selbstverständlich alle politisch und ethisch inakzeptablen Wege und Mittel einer solchen Politik zu verwerfen sind.
Es wäre naiv zu ignorieren, dass die Prozesse der Dekapitalisierung und der Bevölkerungsverminderung, wenn sie tatsächlich in Gang kämen, erhebliche soziale und
politische Folgeprobleme entstehen ließen. Erinnert sei nur an die ohnehin bereits
prekäre Situation der Staatshaushalte und Sozialversicherungssysteme vieler Länder.
Diese Probleme und die mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Zielkonflikte zu
berücksichtigen und anzuerkennen, muss jedoch nicht heißen, in vorauseilendem
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Gehorsam den Nachhaltigkeitsbegriff zu verstümmeln und das Gefüge seiner Realisierungsbedingungen von vornherein in unglaubwürdiger Weise zurechtzustutzen.
Die IPAT-Gleichung, die als Bezugsrahmen für die vorstehenden Deeskalationsüberlegungen verwendet wurde, besitzt eine bemerkenswerte strukturelle Ähnlichkeit mit
Funktionsgleichungen, die in Anlehnung an Clausewitz das Zusammenwirken der
Bestimmungsfaktoren der militärischen Potenz eines Heeres darzustellen versuchen.
Wenn wir die Akzente zur Verdeutlichung der Parallelen nur geringfügig verschieben,
dann läßt sich konstatieren: Die Kampfkraft ist definiert als Produkt aus personeller
Stärke (P), Ausstattung mit Kriegsmaterial (A) und technischer Effizienz der Ausrüstung
(T), sprich dem durchschnittlichen Tötungs- und Zerstörungspotential. Im Gegensatz zu
den Urhebern der IPAT-Gleichung sind allerdings Clausewitz und seine kriegstheoretischen Gefolgsleute mit dieser Zusammenstellung noch nicht am Ende. Ein weiterer
wesentlicher Faktor taucht in allen einschlägigen Untersuchungen auf: die Motivation
oder Kampfmoral (vgl. z. B. Dieterich 1993). Wenn sie gering ist, wird die Wirksamkeit
der übrigen Faktoren mehr oder weniger deutlich eingeschränkt.
Damit ist aber ein für das hier erläuterte Deeskalationskonzept sehr wichtiger
Zusammenhang angesprochen: Die konstatierte Eskalation der menschlichen Naturverletzungen ist nicht zuletzt von einer entschiedenen Kampfmoral der Spezies Homo
sapiens getragen. Das praxisbestimmende anthropozentrische Grundverständnis kennt
Natur – insbesondere in ihrer ursprünglichen Form – zum einen als ausbeutungsfähige
Ressource, zum anderen aber als vorwiegend feindliche, störende und hinderliche
Gegenspielerin, die es mit unermüdlicher Energie zu überwinden, zu entfernen und
zurückzudrängen gilt. Angesichts dieser Motivationsstruktur lässt sich aus den angedeuteten kriegstheoretischen Überlegungen eine wichtige Schlussfolgerung für die
Deeskalation des ‘kriegerischen’ menschlichen Umgangs mit der Natur ziehen:
Wesentlich ist nicht nur die Abschwächung der Intensität aller von der IPAT-Gleichung
erfassten materiellen Faktoren, sondern auch und nicht zuletzt die psychosoziale
Demobilisierung, das heißt die grundlegende Verringerung der Gewalt- und Zerstörungsbereitschaft gegenüber der Natur.
Die Tatsache, dass die natürliche und die soziale Wirklichkeit sich ständig im Fluss
befinden, verbietet – wie gesagt – ein Nachhaltigkeitsverständnis, das auf die Erhaltung
eines wünschenswerten Status quo zielt. Stattdessen bietet sich an, der Grundvorstellung der Erhaltung der Evolutionsfähigkeit als zweiter Komponente eines dynamischen Nachhaltigkeitsbegriffs den Vorzug zu geben. In diesem Sinne fordert beispielsweise Pasche (1994, 111–115), Nachhaltigkeitsvorstellungen auf Überlegungen
der dynamischen Systemtheorien zu stützen und von einem lediglich mit kulturkritischer
Emphase vorgetragenen Ökokonservatismus Abstand zu nehmen. Das Merkmal der
Koevolutionsfähigkeit, das die gekoppelte Entwicklung von Menschheits- und Natursphäre in den Vordergrund rückt, als wesentliches Nachhaltigkeitskriterium betrachtend, spricht Pasche von einem durch dieses Kriterium eröffneten ‘Evolutionskorridor’,
in den die sozioökonomische Entwicklung zu leiten sei.
In ähnlicher Weise rückt auch Held (2000, 29) das Kriterium der Evolutionsfähigkeit in den Vordergrund. In der Nachhaltigkeitsdiskussion – vermerkt er kritisch –
wimmle es nur so von ‘Erhaltungssätzen’, die darauf zielten, bestimmte Zustände oder
Bestandsgrößen wie das Volumen des Naturkapitals festzuschreiben. Entscheidend sei
vielmehr, Merkmalen wie Flexibilität oder dem Anpassungs- und Reproduktionspotential einen angemessenen Stellenwert zukommen zu lassen.
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Der Begriff der (Ko-)Evolutionsfähigkeit wirft freilich unverzüglich umweltethische Fragen auf. Unter Koevolution versteht nämlich die Ökologie die „Herausbildung von
Merkmalen während der Evolution durch länger andauernde Interaktion zwischen zwei
Arten oder Artengruppen” (SCHAEFER U. TISCHLER 1983, 135). Koevolution kann – dies
ist bei Feind-Opfer-Beziehungen der Fall – nur für eine der beiden Arten vorteilhaft
sein, sie kann aber auch Vorteile für beide Seiten einschließen. Evolutionsfähigkeit der
Natur als Element eines dynamischen Nachhaltigkeitskonzepts könnte somit als
Möglichkeit der Evolution von entweder ausgebeuteter oder aber geförderter Natur
verstanden werden. Da es sich in beiden Fällen um heteronome, von menschlichen
Einstellungen und Aktivitäten abhängige Evolution der Natur handelt, ist darüber hinaus noch die vor allem von Katz (1997, 2002) thematisierte grundsätzliche Alternative
einer autonomen, von menschlichem ‘Imperialismus’ befreiten Evolution der Natur in
Betracht zu ziehen. Da der konstatierte Basistrend der Eskalation der Naturverletzungen gerade dem Bedeutungszuwachs und der Verschärfung der Feind-Opfer-Beziehungen entspringt, wäre nichts gewonnen, wenn Evolutionsfähigkeit als Komponente
einer dynamischen Nachhaltigkeit nicht ausdrücklich als verstärkte Möglichkeit autonomer und ohne Ausbeutungsabsicht geförderter Natur begriffen würde.
Unterwerfung, Ausbeutung und Zerstörung der Natur bedeuten Machtausübung in
einem doppelten Sinne:
✧ Zum einen werden in ‘imperialistischer’ und – wie Katz (1997) zu belegen versucht
– moralisch suspekter Weise Macht und Herrschaft gegenüber der zu erobernden
Natur ausgeübt.
✧ Zum anderen sind Umweltschädigungen und ihre von sozialer Ungerechtigkeit
geprägte Verteilung auch das Ergebnis von undemokratischen oder eingeschränkt
demokratischen gesellschaftlichen Verhältnissen.
Vor allem aus der letztgenannten Tatsache entspringt die Einsicht, dass Umweltpolitik
im Allgemeinen und Nachhaltigkeitsstrategien im Besonderen gefördert werden
könnten, wenn demokratische(re) Strukturen und Verfahrensweisen verwirklicht werden.
Die auf demokratische Entscheidungsverfahren zielenden Vorstellungen reichen von
der Verstärkung der Partizipation von Betroffenen im Rahmen bestehender repräsentativdemokratischer Verhältnisse bis zu umfassenden gesellschaftlichen Umgestaltungsentwürfen, die auch und gerade die wirtschaftlichen Aktivitäten wieder einer durchgängigen gesellschaftlich-demokratischen Kontrolle unterwerfen wollen.
„Die Auffassung, die höheren Stufen der Evolution würden sich in einem neuen
Menschentyp niederschlagen, der ihren gesteigerten Rationalitätsanforderungen
gewachsen wäre, gehört bekanntlich” – vermerkt Kondylis (1999, 45) – „zu den alten
Hüten der Geschichtsphilosophie.” Wenn Hern (1997, 103) konstatiert: „We can decide not to be a cancer”, dann lässt er zumindest die Möglichkeit der Hervorbringung
eines neuen Menschentyps anklingen, der zu ökologisch rationalem Handeln fähig und
bereit ist. Um diese Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen, wäre es freilich zumindest geboten, in der angedeuteten Weise der dominierenden ‘zynischen Vernunft’ der
Marktökonomie umfassend Einhalt zu gebieten statt ihre Herrschaft immer weiter
auszudehnen. Die biologischen und die präindustriell-gesellschaftlichen Eskalationsprozesse ergänzend und auf die Spitze treibend, haben nämlich die Freisetzung der
marktökonomischen Antriebskräfte und die Durchsetzung ihrer rentabilitätsbestimmten
Vorherrschaft zwar den materiellen Wohlstand einer globalen Minderheit beträchtlich
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gesteigert, gleichzeitig aber sowohl die sozioökonomisch verursachten Naturverletzungen als auch die zwischenmenschlichen Läsionen und Ungerechtigkeiten in grotesker
Weise verstärkt. Bisher hat somit die Menschheit ihre Denk- und Entscheidungsmöglichkeiten zunehmend dazu genutzt, ihr tumorartiges Ausdehnungs- und Zerstörungspotential auszuweiten statt abzubauen. Die Bestätigung dafür, dass sie zu einer
umfassenden Deeskalation fähig ist, steht noch aus.
Gernot Böhme (2002) ergänzend und variierend lässt sich abschließend feststellen:
Das Goldene Zeitalter nachhaltig-respektvoller Beziehungen der Menschen zur Natur
liegt auf jeden Fall nicht hinter uns. Wenn es überhaupt realisierbar ist, dann liegt es
als Möglichkeit der bewussten (Um)Gestaltung vor uns. Im Gegenzug zu der seit den
Anfängen der Menschheit mit unablässiger Verschärfung betriebenen Naturzerstörung
wäre eine uneigennützig geförderte oder weitgehend ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten
überlassene natürliche Evolution im Sinne der erläuterten Kriterien dynamischer Nachhaltigkeit erst herzustellen.
Dr. Károly Henrich
Universität Kassel
Cronstettenstr. 38; D-60322 Frankfurt am Main
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