30 Komplexe Zahlen und Polynome 29 147 Komplexe Zahlen und Polynome Lernziele: • Konzepte: Komplexe Zahlen • Resultate: Fundamentalsatz der Algebra • Methoden: Polarkoordinaten • Kompetenzen: Lösung kubischer Gleichungen, Faktorisierung von Polynomen, Partialbruchzerlegung rationaler Funktionen 29.1 Komplexe Zahlen. a) Gewisse quadratische Gleichungen wie x2 + 1 = 0 “ ” besitzen bekanntlich keine reelle Lösung; trotzdem wurden spätestens seit dem 16. Jahrhundert solche Lösungen als zunächst mysteriöse imaginäre und komplexe Zahlen gefunden“. Diese komplexen Zahlen können als Punkte einer Ebene“ veranschau” ” licht werden, welche die reelle Zahlengerade als x-Achse enthält; die präzise Fassung dieser Vorstellung wurde von C.F. Gauß und W.R. Hamilton im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt. b) Man definiert auf C := R2 eine Addition durch (x, y) + (u, v) : = (x + u , y + v) (1) wie in (28.2) und zusätzlich eine Multiplikation durch (x, y) · (u, v) : = (xu − yv , xv + yu) ; (2) für die imaginäre Einheit i := (0, 1) gilt dann i2 = (−1, 0) . Für (x, y) ∈ C erhält man daraus (x, y) = (x, 0) + (0, y) = (x, 0) + (0, 1)(y, 0) = x + iy mit der Identifizierung R ∋ x ↔ (x, 0) ∈ C . Es ist z = x + iy , x, y ∈ R , (3) die Standardbeschreibung komplexer Zahlen z ∈ C . Dabei heißen Re z := x und Im z := y (4) Realteil und Imaginärteil von z . Durch z̄ := x − iy = Re z − i Im z (5) wird die zu z komplex konjugierte Zahl definiert. Damit gilt stets z + z̄ = 2 Re z , z − z̄ = 2i Im z und z · z̄ = (x + iy) (x − iy) = x2 + y 2 ∈ R . c) Unter der oben definierten Addition und Multiplikation ist C ein Körper, d. h. es gelten die Axiome K aus Abschnitt 1. Dies wird einfach durch Nachrechnen bewiesen; x − iy für 0 6= z = x + iy etwa gilt (x + iy) · 2 = 1 . Die Nenner komplexer Brüche wz 2 x +y 148 V. Topologische Grundlagen der Analysis können durch Erweitern mit w̄ stets reell gemacht werden: z w = z w̄ w w̄ . d) Rechnungen in R , die nur die Körperaxiome K benutzen, bleiben auch in C gültig, so etwa die geometrische Summenformel (2.5), der binomische Satz 3.2 oder der Euklidische Algorithmus 11.5 für Polynome. e) Auf C existiert keine Ordnung, die Axiom O genügt. Aus diesem würde nämlich 1 = 12 > 0 und auch −1 = i2 > 0 folgen. f) Durch x 7→ (x, 0) wird R mit einem Unterkörper von C identifiziert. g) Die komplexe Konjugation z → 7 z̄ ist eine Bijektion von C auf C ; stets gilt z + w = z̄ + w̄ und z · w = z̄ · w̄ . Man hat z̄ = z ⇔ z ∈ R . h) Der Abstand einer komplexen Zahl z = x + iy ∈ C zum Nullpunkt (vgl. 28.2) heißt Betrag oder Absolutbetrag von z . Aufgrund des Satzes von Pythagoras ist dieser gegeben durch q √ | z | := x2 + y 2 = z · z̄ . (6) Offenbar gilt stets | z̄ | = | z | . Weiter gelten die in Feststellung ?? formulierten Eigenschaften des Absolutbetrages auch im Komplexen: 29.2 Satz. Für z, w ∈ C gelten: |z| ≥ 0; |z| = 0 ⇔ z = 0, | zw | = | z | | w | , |z +w| ≤ |z|+|w| (7) (8) (Dreiecks-Ungleichung). (9) Beweise zu diesem Abschnitt findet man in [A1], Abschnitte 27 und 28. Aus (9) folgt für die Abstände oder Distanzen von Punkten z1 , z2 , z3 ∈ C sofort | z1 − z2 | ≤ | z1 − z3 | + | z3 − z2 | , (10) wodurch die Bezeichnung Dreiecks-Ungleichung“ auch für (9) motiviert wird. ” 29.3 Polarkoordinaten. a) Komplexe Zahlen können gemäß (3) durch ihre rechtwinkligen oder kartesischen Koordinaten x, y , aber auch durch Polarkoordinaten r, ϕ beschrieben werden: b) Für z ∈ C setzt man zunächst r := | z | . Für z 6= 0 liegt dann zr auf der Kreislinie S = {ζ ∈ C | | ζ | = 1} , und aufgrund der Konstruktion von Sinus und Kosinus am Anfang von Abschnitt 24 gibt es Zahlen ϕ ∈ R mit z = r (cos ϕ + i sin ϕ) . (11) c) Gilt (11), so gibt ϕ den (im Bogenmaß gemessenen) Winkel an, den die Strecke [0, z] mit der positiven reellen Achse bildet. Jede solche Zahl ϕ ∈ R heißt ein Argument der komplexen Zahl z ∈ C\{0} . Ist ϕ0 ein Argument von z , so ist arg z := {ϕ = ϕ0 + 2kπ | k ∈ Z} (12) 30 Komplexe Zahlen und Polynome 149 die Menge aller Argumente von z . Es ist also arg z eine Äquivalenzklasse reeller Zahlen unter der Äquivalenzrelation ϕ1 ∼ ϕ2 ⇔ ϕ1 − ϕ2 ∈ 2πZ“. Ähnlich wie bei ” Stammfunktionen (vgl. Bemerkung 17) schreibt man aber oft ϕ = arg z statt ϕ ∈ arg z . (13) Mit Arg z wird der Hauptwert des Arguments von z ∈ C\{0} , d. h. das eindeutig bestimmte Argument im Intervall (−π, π] bezeichnet. Die Abbildung z 7→ Arg z kann als Schraubenfläche“ über der gelochten Ebene“ C\{0} veranschaulicht werden. ” ” d) Zur Berechnung von Arg z = Arg (x + iy) kann man mehrere Fälle unterscheiden (vgl. [A1], 27.5 b). Mit sign y := ( 1 , y≥0 −1 , y < 0 (14) hat man die Formel Arg (x + iy) = sign y arccos √ x x2 +y 2 . (15) e) In reeller Schreibweise ist dann mit X = R2 \{(0, 0)} und U := (0, ∞) × (−π, π] Ψ : U 7→ X , Ψ(r, ϕ) := (r cos ϕ , r sin ϕ) , (16) die Transformation auf Polarkoordinaten. Es wird nun zur Abkürzung die Notation (vgl. Satz 37.5) E(ϕ) := cos ϕ + i sin ϕ für ϕ ∈ R (17) eingeführt. Aus den Funktionalgleichungen von Sinus und Kosinus ergibt sich: 29.4 Satz. Für komplexe Zahlen z1 = r1 E(ϕ1 ) und z2 = r2 E(ϕ2 ) gilt z1 · z2 = r1 r2 E(ϕ1 + ϕ2 ) . (18) 29.5 Beispiele und Bemerkungen. a) Bei der Multiplikation komplexer Zahlen werden also die Beträge dieser Zahlen multipliziert und ihre Argumente addiert. Insbesondere liefert die Multiplikation mit E(ϕ) eine Drehung der Ebene um den Winkel ϕ. b) Durch Ausrechnen des Produkts (cos ϕ + i sin ϕ) (u + iv) erhält man die reelle Schreibweise Dϕ (u, v) = (cos ϕ · u − sin ϕ · v , sin ϕ · u + cos ϕ · v) . (19) √ Für ϕ = π4 gilt sin ϕ = cos ϕ = 12 2 ; die Drehung Dϕ führt beispielsweise das Polynom Q(x, y) = xy über in (Q ◦ Dϕ )(u, v) = 21 (u2 − v 2 ) . c) Aus Satz 29.4 ergibt sich die Formel arg (z1 · z2 ) = arg z1 + arg z2 := {ϕ = ϕ1 + ϕ2 | ϕ1 ∈ arg z1 , ϕ2 ∈ arg z2 } . Insbesondere gilt stets Arg z1 + Arg z2 ∈ arg (z1 · z2 ) ; diese Summe muß aber nicht = Arg (−i) + 2π . = Arg (z1 · z2 ) sein. So gilt etwa Arg i + Arg (−1) = π2 + π = 3π 2 150 V. Topologische Grundlagen der Analysis Aus Satz 29.4 ergibt sich die Formel von de Moivre: 29.6 Folgerung. Für z = r E(ϕ) und n ∈ N gelten z n = r n E(nϕ) , 1 z = 1 r (20) E(−ϕ) . 29.7 Satz. Für n ∈ N und w ∈ C\{0} gibt es genau n Lösungen der Gleichung zn = w . 29.8 Einheitswurzeln. Die Gleichung z n = 1 hat die n verschiedenen Lösungen ) . Diese n-ten Einheitswurzeln bilden die zn,k = ǫkn , k = 0, . . . , n − 1 , mit ǫn := E( 2π n Eckpunkte eines regelmäßigen n-Ecks mit Umkreis S = {z ∈ C | | z | = 1} . 29.9 Polynome mit komplexen Koeffizienten sind gegeben durch P (z) := m P k=0 ak z k ∈ C[z] , ak ∈ C ; (21) sie definieren stetige (vgl. Abschnitt 31) Funktionen P : C 7→ C . Wie in Abschnitt 11 ist im Fall am 6= 0 der Grad von P gegeben durch m = deg P . Einige elementare Überlegungen unter Verwendung von Satz 29.7 und Folgerung 34.11 genügen bereits zum Beweis des folgenden wichtigen Resultats (vgl. [A1], 27.16). Ein sehr kurzer Beweis wird in der Analysis III behandelt. 29.10 Theorem P (z) = m P k=0 (Fundamentalsatz der Algebra). Für jedes Polynom ak z k vom Grad m ≥ 1 gibt es z0 ∈ C mit P (z0 ) = 0 . Wie in Satz 11.6 (Abspalten von Nullstellen) ergibt sich daraus: 29.11 Folgerung. Für ein Polynom P ∈ C[z] vom Grad m gilt P (z) = α r Q (z − zj )mj , j=1 α , zj ∈ C , r P j=1 mj = m . (22) 29.12 Beispiele und Bemerkungen. a) Die in (22) auftretenden Zahlen mj heißen Vielfachheiten der Nullstellen zj ; dabei wird zj 6= zk für j 6= k angenommen. Im Fall mj = 1 heißt zj einfache Nullstelle von P . b) Bekanntlich lassen sich quadratische Gleichungen z 2 + 2pz + q = 0 explizit lösen durch die Formel (man beachte Satz 29.7) z = −p ± q p2 − q . (23) c) Kubische Gleichungen z 3 +bz 2 +cz +d = 0 werden durch die Substitution z = w − 3b p auf die Form w 3 + pw + q = 0 reduziert. Setzt man w = v − 3v , so erhält man für 3 3 2 3 3 v die quadratische Gleichung 27(v ) + 27qv − p = 0 und somit wieder explizite Lösungen. 30 Komplexe Zahlen und Polynome 151 d) Es wird die von R. Bombelli im 16. Jahrhundert diskutierte Gleichung z 3 − 15z − 4 = 0 (24) gelöst. Mit z = v + v5 erfüllt dann also u := v 3 die quadratische Gleichung 27u2 − 4 · 27u + 153 = 0 oder u2 − 4u + 53 = 0 . Es folgt √ √ v 3 = u± = 2 ± 4 − 125 = 2 ± i 121 = 2 ± 11i . √ √ Es ist | u± | = 125 , also | v | = 5 für jede Lösung von v 3 = u± . Man hat Arg u+ = arctan 11 , für eine Lösung v+,0 von v 3 = u+ also 2 Arg v+,0 = 1 3 arctan 11 = arctan 12 . 2 Somit gilt v+,0 = 2+i ; in der Tat läßt sich (2+i)3 = 2+11i unmittelbar nachrechnen. Für die entsprechende Lösung von (24) ergibt sich z+,0 = 2 + i + 5 2+i = 2+i+ 5(2−i) 5 = 4, was man durch Einsetzen sofort bestätigt. Ähnlich findet man fünf weitere Lösungen v+,1 , v+,2 , v−,0 , v−,1 und v−,2 von v 3 = u± ; aus den sechs Lösungen√dieser Gleichung ergeben sich aber nur die drei verschiedenen Lösungen 4 und −2 ± 3 von (24). e) Natürlich kann man in d) auch die Lösung 4 raten und dann mit dem Euklidischen Algorithmus den Faktor z − 4 abspalten. Man erhält dann z 3 − 15z − 4 = (z − 4) (z 2 + 4z + 1) und hat nur noch eine quadratische Gleichung zu lösen. f) Ähnlich wie für kubische Gleichungen gibt es auch explizite Lösungsformeln für Gleichungen 4. Ordnung, was aber ab der Ordnung 5 nach einem berühmten Resultat von N.H. Abel (1826) nicht mehr der Fall ist. P 29.13 Rationale Funktionen. a) Quotienten R = Q von Polynomen werden als rationale Funktionen bezeichnet, Notation: R ∈ C(z) . Nach (29.22) lassen sich Zähler und Nenner in Produkte von Linearfaktoren zerlegen; durch Kürzen gemeinsamer Linearfaktoren läßt sich daher erreichen, daß für alle w ∈ C stets P (w) 6= 0 oder Q(w) 6= 0 gilt. b) Eine Zahl w ∈ C heißt Pol von R = PQ ∈ C(z) , falls Q(w) = 0 und P (w) 6= 0 gilt. Die Vielfachheit m von w als Nullstelle von Q heißt Polordnung von R in w . Im Fall m = 1 heißt w einfacher Pol von R . 29.14 Lemma. Es seien P, Q ∈ C[z] mit deg P < deg Q + k für ein k ∈ N , und es gelte Q(a) 6= 0 für ein a ∈ C . Zu R(z) := P (z) ∈ C(z) (z − a)k Q(z) (25) 152 V. Topologische Grundlagen der Analysis gibt es dann P1 ∈ C[z] mit deg P1 < max {deg P, deg Q} und c ∈ C mit R(z) = P1 (z) c + . k (z − a) (z − a)k−1 Q(z) (26) Durch (26) sind P1 und c eindeutig bestimmt. 29.15 Theorem (Partialbruchzerlegung). Es sei R = Funktion, und Q(z) = α r Q P Q ∈ C(z) eine rationale (z − zj )mj sei die Zerlegung von Q in Linearfaktoren j=1 gemäß (29.22). Dann gibt es T ∈ C[z] und cj,k ∈ C mit R(z) = T (z) + r m Pj P cj,k . k j=1 k=1 (z − zj ) (27) Durch (27) sind T ∈ C[z] und die cj,k ∈ C eindeutig bestimmt. 29.16 Beispiel. Zur praktischen Durchführung einer Partialbruchzerlegung setzt man (27) mit unbestimmten Koeffizienten an und berechnet diese anschließend. Beispiel: z 2 +1 R(z) = z 3 −2z 2 +z . 29.17 Faktorisierung und Partialbruchzerlegung im Reellen. a) Hat ein Polynom Q ∈ R[z] reelle Koeffizienten, so folgt aus Q(a) = 0 auch Q(ā) = Q(a) = 0 . Mit (x−a)k enthält das Produkt in (22) auch den Faktor (x−ā)k , insgesamt mit a = b+id also den reellen Faktor ((x − b)2 + d2 )k . Somit haben also irreduzible Polynome über R den Grad ≤ 2 ; jedes Polynom Q ∈ R[x] ist ein endliches Produkt von Konstanten, Linearfaktoren (x − a) , a ∈ R , und von quadratischen Faktoren (x2 + 2px + q) mit p, q ∈ R und p2 < q . c b) In der Partialbruchzerlegung (27) von R ∈ R(z) tritt mit (x−a) stets auch der k c̄ Term (x−ā)k auf. Für a = b + id erhält man dann die reellen Terme c̄ 2 Re (c (x − b + id)k ) c + = . (x − a)k (x − ā)k ( (x − b)2 + d2 )k Mittels des Euklidischen Algorithmus kann man diese in Summen von Termen der αx + β Form , ℓ ≤ k , zerlegen. ( (x − b)2 + d2 )ℓ b) Damit sind die bisher unbewiesenen Aussagen aus 21 und 21 auf den Fundamentalsatz der Algebra zurückgeführt.